Impuls

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Prof. Dr. Helmuth Trischler, Leiter des Bereiches Forschung, Deutsches Museum, München. EGO-Fachherausgeber für Technik- und Wissenschaftsgeschichte.

Europäische Geschichte Online: Ein multi-/inter-/transdisziplinäres Projekt?

"Ist EGO ein transdisziplinäres, ein interdisziplinäres oder ein multidisziplinäres Projekt", dies ist auf den Punkt gebracht, die Frage, die uns von den Organisatoren des Symposiums gestellt worden ist. In guter geisteswissenschaftlicher Tradition muss dabei zunächst einmal geklärt werden, was wir unter dieser Frage verstehen. Für diesen kurzen Impulsbeitrag zerlege ich diese Frage analytisch in zwei Teile: Ist EGO erstens ein inter- bzw. multidisziplinäres Projekt? Ist EGO zweitens ein transdisziplinäres Projekt?

Ist EGO ein inter- bzw. multidisziplinäres Projekt?

EGO zielt auf die "interdisziplinäre Vernetzung der internationalen historischen Europaforschung", und EGO wendet sich an einen diversifizierten Kreis von "Lesern verschiedener Disziplinen". Kurzum, EGO versteht sich als interdisziplinäres Projekt.

Ich will mich an dieser Stelle nicht darin verlieren, die unterschiedlichen Konzepte von Interdisziplinarität auszubreiten und die Differenz von Interdisziplinarität und Multidisziplinarität zu diskutieren. Ceteris paribus lässt sich die Debatte über die beiden Konzepte dahingehend zusammenfassen, dass Multidisziplinarität eine eher "schwache" Form fachübergreifenden Arbeitens darstellt, bei der die auf der Ebene der Disziplinen erzielten Ergebnisse primär auf additivem Wege entstehen. Interdisziplinarität erwächst dagegen aus einer gemeinsamen konzeptionellen und methodischen Rahmenstruktur, die zwischen den Disziplinen angesiedelt ist.1

EGO ist demnach eher als ein multidisziplinäres denn interdisziplinäres Projekt zu verstehen, dessen Ziel darin besteht, eine multiperspektivische transkulturelle Geschichte Europas im Internet zu leisten. Multiperspektivisch heißt mit Blick auf die oben skizzierte Leitfrage, die je spezifischen Perspektiven der für die historische Europaforschung relevanten Disziplinen zu mobilisieren.

Inwieweit ist dies gelungen? Ich muss gestehen, ich habe mir nicht die Mühe gemacht, sämtliche Artikel von EGO auszuwerten. Werfen wir stattdessen einen Blick auf die disziplinäre Herkunft der Fachherausgeberinnen und Fachherausgeber, ausgehend von der begründeten Annahme, dass diese vornehmlich ihre je spezifischen disziplinären Netzwerke mobilisieren, um Autorinnen und Autoren zu gewinnen. Die 22 aktuellen und fünf ehemaligen Herausgeber lassen sich folgenden disziplinären Feldern zuordnen, wobei ich im Einzelnen auch Mehrfachzuordnungen vorgenommen habe:
Geschichtswissenschaften: 22;
Literatur- und Sprachwissenschaften: 4;
Theologie: 5;
Kunstgeschichte: 2;
Philosophie: 2;
Musikwissenschaften, Rechtswissenschaften, Ethnologie, Medienwissenschaften: je 1.

Zwei Fakten springen ins Auge: Erstens fällt die überragende Bedeutung der historischen Fachvertreter auf, wobei das ausdifferenzierte Spektrum an geschichtswissenschaftlichen Teildisziplinen gut abgedeckt ist – von der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Wissenschafts-, Medizin- und Technikgeschichte, Kulturgeschichte und Gendergeschichte, über die Politik- und Gesellschaftsgeschichte bis zur Migrationsgeschichte. Was anderes würde legitimerweise zu erwarten sein von einem Projekt, das die Europäische Geschichte zum Gegenstandbereich hat?

Zweitens fällt die geisteswissenschaftliche Dominanz auf. Die Sozialwissenschaften sind – sieht man einmal von den Medienwissenschaften ab – im Grunde nicht vertreten, weder die Soziologie noch die Politikwissenschaften, weder die Psychologie noch die Wirtschaftswissenschaften, und erst recht nicht die natur-, ingenieur- und lebenswissenschaftlichen Referenzdisziplinen. In der Fähigkeit Expertinnen und Experten der Sozialwissenschaften sowie Natur- und Ingenieurwissenschaften zu integrieren, ist das historisch-geisteswissenschaftliche Projekt einer Europäischen Geschichte Online ganz offenbar an seine disziplinären bzw. interdisziplinären Grenzen gestoßen.

Blicken wir tiefer in EGO hinein auf die Ebene der Fachartikel, dann relativiert sich dieser Befund etwas. Für die beiden Kompetenzbereiche "Wissenschaft und Bildung" und "Wirtschaft und Technologie" etwa, die ich vertrete, lassen sich in einigen wenigen Fällen eben doch Vertreter natur- und technikwissenschaftlicher Referenzdisziplinen ausmachen, jedenfalls solche Vertreter, die in ihrer wissenschaftlichen Expertise an geschichtswissenschaftliche Forschungsperspektiven und Fragestellungen anschlussfähig sind. Zwei Beispiele: Der Artikel Historische Klimatologie Mitteleuropas stammt von dem Freiburger Geographen und Klimaforschers Rüdiger Glaser, und für den Beitrag Der Palladianismus: Von der italienischen Villa zur internationalen Architektur konnte der Architekt und Philosoph Carsten Ruhl gewonnen werden. Beide Autoren haben es vorbildlich verstanden, den je spezifischen Wissensbestand ihrer Disziplinen unter geschichtswissenschaftlichen Leitperspektiven in breite historische Kontexte einzuordnen.

Halten wir also in Bezug auf die erstgestellte Frage nach dem interdisziplinären scope von EGO fest: EGO hat – für ein Projekt, das die Geschichte als Gegenstandsbereich hat – ein durchaus breites multidisziplinäres Profil. Auch wenn EGO die Perspektiven und Ergebnisse der beteiligten Disziplinen weniger integriert als vielmehr aggregiert, ist dies mehr, als man von einem Projekt mit vielen Dutzenden von beteiligten Autorinnen und Autoren legitimerweise erwarten kann. Macht aber EGO von diesem Profil in seiner Selbstdarstellung Gebrauch und macht es dieses Profil für seine Nutzerinnen und Nutzer transparent? Die Antwort ist hier ein deutliches Nein. Die Nutzer erfahren faktisch nichts über den fachlich-disziplinären Background der Autorinnen und Autoren. Sie müssen diesen vielmehr selbst recherchieren, was umso mehr ins Gewicht fällt, als es im Sinne wissenschaftlicher Transparenz wichtig wäre zu wissen, aus welcher Perspektive des multiperspektivischen Unternehmens EGO der jeweilige Artikel verfasst worden ist.

Ist EGO ein transdisziplinäres Projekt?

Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage ist zunächst einmal festzuhalten, dass EGO dazu selbst keine Aussage macht. Ich vermute, das liegt daran, dass die Initiatoren und Projektverantwortlichen Transdisziplinarität im Grunde lediglich als eine weitere Spielart von inter- bzw. multidisziplinärer Forschung verstehen. Wir sollten stattdessen aber von einem Verständnis von Transdisziplinarität ausgehen, das diese als Prinzip integrativer Forschung fasst und damit Wissenschaft mit Gesellschaft und wissenschaftliches Wissen mit praktisch-lebensweltlichem Wissen verknüpft. Transdisziplinarität in diesem Sinne geht nicht allein von wissenschaftlichen Problemstellungen und Diskursen aus, sondern ist transitiv, indem es diese überschreitet und die Gesellschaft einbindet, oder wie der Wissenschaftsphilosoph Jürgen Mittelstraß formuliert: "Transdisziplinarität [ist] ein Forschungs- und Wissenschaftsprinzip, das dort wirksam wird, wo eine allein fachliche oder disziplinäre Definition von Problemlagen und Problemlösungen nicht möglich ist bzw. über derartige Definitionen hinausgeführt wird."2 Transdisziplinarität in diesem Sinne heißt insbesondere auch, die Gesellschaft in einen offenen und transparenten Dialog zu integrieren und die unterschiedlichen Perspektiven auf einen Gegenstandsbereich gegeneinander zu relativieren.

Wie wäre EGO als transdisziplinäres Projekt vorstellbar? EGO als transdisziplinäres Projekt könnte beispielsweise bedeuten, das konzeptionelle Design des Projekts, vor allem den Zuschnitt der Themenfelder, nicht nur im Kreis der Fachherausgeberinnen und -herausgeber zu bestimmen, sondern im Dialog mit ausgewählten Vertretern der Öffentlichkeit zu diskutieren. Es ist durchaus vorstellbar, dass ein solchermaßen gewonnenes, im Sinne von Helga Nowotny "sozial robustes" Design von EGO anders aussähe als das, welches wir nun im Netz vorfinden.3

EGO als transdisziplinäres Projekt könnte auch bedeuten, den spezifischen Vorteil von EGO als digitales Projekt zu nutzen, um es im Netz partizipativ und dialogisch zu gestalten: durch Kommentare, durch die Nutzung der sozialen Medien vor allem. Freilich würde es eines enorm großen Aufwandes bedürfen, einen solchen interaktiv-dialogischen Raum zu schaffen. Festzuhalten aber bleibt, dass EGO diesem Verständnis von Transdisziplinarität nicht gerecht wird, ja von seiner gesamten Grundkonzeption her nicht gerecht werden kann.

Welche Möglichkeiten eine dialogische Orientierung bieten kann, zeigt exemplarisch das Projekt "Inventing Europe", das ebenfalls darauf abzielt, eine europäische Geschichte online zu realisieren. Das Projekt ist aus dem durch die "European Science Foundation" (ESF) und anderen Stiftungen geförderten Forschungsnetzwerk "Tensions of Europe" entstanden, das 2014/15 mit der sechsbändigen, bei Palgrave Macmillan erscheinenden Buchreihe Making Europe: Technology and Transformations, 1850–2000 abgeschlossen werden wird.4 Parallel dazu haben sich unter der Führung der in Eindhoven ansässigen "Foundation for the History of Technology" zehn europäische Forschungsmuseen und Kulturinstitute zusammengeschlossen, um eine gemeinsame Webseite zum europäischen Kulturerbe im Bereich von Wissenschaft und Technik auf den Weg zu bringen.5 Die 2011 online gegangene Webseite bietet neben virtuellen Ausstellungen im Netz, die auch für die universitäre Lehre genutzt werden, den Nutzerinnen und Nutzen die Möglichkeit, im Rückgriff auf die Sammlungen der beteiligten Partner eigene Geschichten zu erzählen. Auf diese Weise wird Europäische Geschichte zu einem interaktiven Projekt, das auf buchstäblich transdisziplinäre Weise die Gesellschaft miteinbindet.

Helmuth Trischler, München6

Anhang

  1. ^ Vgl. Mittelstraß, Jürgen: Interdisziplinarität oder Transdisziplinarität?, in: Ders.: Die Häuser des Wissens: Wissenschaftstheoretische Studien, Frankfurt am Main 1998, S. 29–48; Blanckenburg, Christine von u.a.: Leitfaden für interdisziplinäre Forschergruppen: Projekte initiieren – Zusammenarbeit gestalten, Stuttgart 2005.
  2. ^ Mittelstraß, Jürgen: Transdisziplinarität oder: Von der schwachen zur starken Interdisziplinarität, in: Gegenworte 28 (2012), S. 11–13, hier S. 12. Dies im Unterschied zu jener Begriffsdefinition, die Transdisziplinarität als ein universelles theoretischen Einheitsprinzip versteht; siehe dazu Nicolescu, Basarab: Manifesto of Transdisciplinarity, Albany, NY 2002.
  3. ^ Nowotny, Helga / Scott, Peter / Gibbons, Michael: Wissenschaft neu denken: Wissenschaft und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewissheit, Weilerswist 2004.
  4. ^ Bisher erschienen: Oldenziel, Ruth / Hård, Mikael: Consumers, Tinkerers, Rebels: The People Who Shaped Europe, London 2013 (Making Europe: Technology and Transformations: 1850–2000, vol. 1), und Kohlrausch, Martin / Trischler, Helmuth: Building Europe on Expertise: Innovators, Organizers, Networkers, London 2013 (Making Europe: Technology and Transformations: 1850–2000, vol. 2).
  5. ^ Siehe die Webseite www.inventingeurope.eu. Beteiligt sind: Deutsches Museum (München), Museum Boerhaave (Leiden), Nemo Science Center (Amsterdam), Teknisk Museum (Stockholm), Science Museum (London), Nederlands Instituut voor Beeld en Geluid (Hilversum), Museum Centre Vapriikki (Tampere), Tropical Research Institute of Portugal (Lissabon), Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Eisenhüttenstadt) und Hungarian Museum of Science, Technology and Transport (Budapest).
  6. ^ Prof. Dr. Helmuth Trischler, Leiter des Bereiches Forschung, Deutsches Museum, München, Deutschland (h.trischler@deutsches-museum.de). EGO-Fachherausgeber für Technik- und Wissenschaftsgeschichte.

Redaktion: Claudia Falk

Zitierempfehlung

Trischler, Helmuth: Multi-/Inter-/Trans-Disziplinarität. Impuls, in: Joachim Berger (Hg.), EGO | Europäische Geschichte Online – Bilanz und Perspektiven, Mainz 2013-12-15. URL: https://www.ieg-ego.eu/trischlerh-2013-de URN: urn:nbn:de:0159-2014021723 [JJJJ-MM-T].

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