Gründungsvoraussetzungen: Kontroverstheologie, Orthodoxie, Barock
Das Kiewer Kolleg entstand 1631 auf Initiative des Archimandriten Petro S. Mohyla (ca. 1596–1647)[] durch den Zusammenschluss der Schule der orthodoxen Bruderschaft in Kiew, die seit etwa 1615 bestand, und der Lehranstalt, die seit kurzem zu dem Kiewer Höhlenkloster gehörte. Mohyla, der im Jahr darauf zum Metropoliten von Kiew gewählt wurde, sah in dieser Gründung selbst eine seiner wichtigsten Leistungen, mit der er zugleich auf eine wesentliche Herausforderung seiner Zeit reagierte. Denn der Niedergang der orthodoxen Kirche in den Gebieten Polen-Litauens, zu denen damals auch Kiew gehörte, wurde vor allem in den höheren Kreisen von Klerus und Adel weitgehend mangelnder Bildung zugeschrieben. Der selbst aus einem moldauischen Fürstengeschlecht stammende Mohyla unterstützte das Kolleg mit beträchtlichen Mitteln aus seinem Privatvermögen und stellte auch den Grundstock einer Bibliothek zur Verfügung.1
Bevor der Lehrbetrieb aufgenommen werden konnte, waren allerdings auch große Widerstände in der orthodoxen Bevölkerung und vor allem innerhalb des konservativen Mönchtums zu überwinden. Dem Widerstand schlossen sich Regimenter der in der Ukraine aktiven Zaporoger Kosaken2 an, die sich zusehends als Verfechter des orthodoxen Glaubens empfanden und zu den einfachen Mönchen sowie zu einzelnen Klöstern teils enge Verbindungen unterhielten.3 Diese Auseinandersetzungen verdienen deshalb eine kurze Schilderung, weil sich in ihnen die unterschiedlichen Auffassungen über den Wert höherer Bildung in der Orthodoxen Kirche widerspiegeln, die es zunächst auszugleichen galt. Petro S. Mohylas Innovation, die sich anhand der Gründungsphilosophie des Kollegiums zeigt, bestand darin, Formen höherer Bildung in der orthodoxen Welt salonfähig zu machen. Damit legte das Kiewer Kolleg einen Grundstein für die Entwicklung einer neuzeitlichen orthodoxen Theologie. Die offensichtlich weitgehende Übernahme westlicher Lehr- und Organisationsformen – bereits von vielen Zeitgenossen mit Misstrauen gesehen – war Teil dieser Innovation und wurde seither kontrovers diskutiert. Von einer bloßen unkritischen Nachahmung zu sprechen, wie in der Vergangenheit oft geschehen, ist sicher zu einfach.
Um die genannten Auseinandersetzungen und schließlich auch die Grundidee des Kiewer Kollegiums nachvollziehen zu können, muss zwischen heilsnotwendigem Glaubenswissen einerseits und theologischer Spekulation andererseits unterschieden werden. Grundsätzlich war diese Differenzierung auch im Westen bekannt, aber bei der Übernahme westlicher Lehr- und Organisationsmodelle kam es darauf an, das Verhältnis zwischen beiden Elementen eigenständig und entsprechend der orthodoxen Tradition zu bestimmen.
Zum erstgenannten Bereich, dem Glaubenswissen, wurden gewöhnlich katechetische Inhalte gerechnet, wie die Kenntnis grundlegender Schriftpassagen, christlicher Dogmen und Normen, des Glaubensbekenntnisses und einiger elementarer Gebetsformen sowie – für den orthodoxen Glaubensvollzug seit jeher zentral – liturgischer Formeln und Gesänge. Dies den Gläubigen in breiter Form zu vermitteln, galt als seelsorgerische Aufgabe, die "Unterweisung der Unwissenden" als Werk der Nächstenliebe. Dabei ging es zunächst kaum darum, die Glaubensinhalte mit dem Verstand zu durchdringen. Dies gehört eher einer zweiten Ebene an, die die Methoden und Werkzeuge der "weltlichen Wissenschaften", also der artes liberales und der klassischen "heidnischen" Philosophie, zu Hilfe nahm und versuchte, diese zur Vertiefung des Glaubensverständnisses zu nutzen. Auch die orthodoxe Tradition kannte seit jeher beide Ebenen – bereits Johannes Damascenus (675–749) sprach im 7. Jahrhundert von dem Nutzen, den auch die "weltlichen Wissenschaften" für das Studium des Glaubens haben könnten, freilich immer, wie im Westen, als "Dienerinnen" des Glaubens. Misstrauen gegen eine solch offene Haltung hatte sich aber besonders im christlichen Osten, hier vor allem im asketisch-mystisch ausgerichteten Mönchtum, gehalten. Eine breite Strömung, die auch in den ukrainischen Ländern und in Russland starke Fürsprecher hatte, war beherrscht von der Furcht, dass ein Zuviel an ungeleitetem Wissen in den Seelen unbedarfter Gläubiger Schaden anrichten könnte. Sie gab einer der Häresie unverdächtigen, weil schlichten Frömmigkeit den Vorzug.
Für einige Zeit hatte sich daran auch die Antwort orientiert, die die orthodoxe Theologie auf die westliche Kontroverstheologie des Konfessionellen Zeitalters gab. Diese hatte in all ihren Ausläufern über das weite Gebiet Polen-Litauens hinweg längst auch die Gebiete des östlichen Christentums erreicht. Hierzu stellte der ukrainischstämmige Athosmönch Ivan Vyšens'kyj (ca. 1545–1620), die Gläubigen ermahnend, die rhetorische Frage, ob es nicht besser sei, mit Hilfe von Psalter, Oktoich (dem orthodoxen Gesangbuch) und einigen Gebeten und Übungen ein frommer Mensch zu werden, dem das ewige Leben verheißen sei, als – verführt durch Platon (ca. v.427–v.347) und Aristoteles (ca. v.384–v.322) – mit allen falschen Ehrungen eines angeblich weisen Philosophen in die Hölle zu fahren.4 Diese Frage hatte auch eine unverkennbare antiwestliche Note. Im Moskauer Reich dachte man bereits im 16. Jahrhundert ähnlich über die "Klügeleien" der "Lateiner".5
Wenn Petro S. Mohyla und seine Mitarbeiter an diesem Punkt andere Wege einschlugen, bedeutete dies nicht unbedingt, dass sie die genannte Zweiteilung prinzipiell ablehnten, und auch nicht, dass sie per se die menschliche Verstandesleistung und Wissenschaft höher bewerteten. Vereinfacht gesagt vertraten sie vielmehr die Ansicht, dass die wesentlichen Glaubensinhalte der christlichen Religion in all ihrer Tiefe nicht rational erfassbar seien und dies auch nicht über Gebühr versucht werden solle, sie aber gegebenenfalls erklärt oder gar verteidigt werden müssten. "Erklären können" setzte wiederum eine Vermittlung auf zwei Ebenen voraus: nämlich einerseits als Einführung in die Grundbestände, andererseits als Anleitung zur rechten Anwendung der "weltlichen Wissenschaften und Künste", um den Glauben mit der Kraft des Arguments zu verteidigen. Den Hintergrund für diese Haltung bildeten die kulturellen Gegebenheiten der politisch plural organisierten Adelsrepublik Polen-Litauen. Dort genossen eine gediegene Bildung, Kenntnisse klassischer Autoren und rhetorische Fertigkeiten vor allem in den Führungsschichten eine hohe Wertschätzung. Angehörige der östlichen Kirche, der "griechischen Religion", wurden dagegen regelmäßig damit geschmäht, einer Religion von Bauern anzuhängen und einer zurückgebliebenen Kirche anzugehören, die "selbst nicht weiß, was sie glaubt".6 Der Spott, der besonders im Zuge der Gegenreformation von den Jesuiten geäußert wurde, traf die weltlichen Eliten der östlichen Kirche in Polen-Litauen wie den Klerus gleichermaßen.
So wie die Aktivitäten des Kiewer Kollegiums inhaltlich demnach vor dem Hintergrund der Kontroverstheologie des Konfessionellen Zeitalters zu sehen sind, diente auch die Übernahme des Lehrmodells und der Organisationsformen von Lehranstalten der westlichen Konfessionen dem von außen herangetragenen Zweck – der orthodoxe Glaube mußte den Gläubigen erklärt und gegen Angriffe verteidigt werden. "Der Feind war mit den Waffen des Feindes zu bekämpfen", hat der Byzantinist und Historiker Ihor Ševčenko (1922–2009) treffend formuliert.7 Es ist im Nachhinein, insbesondere von der russisch-orthodoxen Kirchengeschichtsschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, oft kritisch über die "Kiewer Scholastik" und den "jesuitischen Einfluss" auf das frühe Kiewer Kolleg geschrieben worden. Tatsächlich hatten die Jesuiten selbst das Lehrmodell der Kollegien nur perfektioniert, verbreitet war es über ganz Europa und in nahezu gleicher Weise unter den protestantischen Konfessionen. Auch weltliche Mäzene folgten diesem Vorbild bei der Gründung eigener Schulen; ein Beispiel dafür ist die Akademie in Zamość, die Ende des 16. Jahrhunderts von Kronkanzler Jan Zamoyski (1542–1605) eingerichtet wurde. Dass diese Einrichtung für die Akademie in Kiew ein Vorbild war, ist schon deswegen anzunehmen, weil Petro S. Mohyla wahrscheinlich selbst einige Zeit am Unterricht in Zamość teilgenommen hatte. Ferner muss darauf hingewiesen werden, dass auch in diesem westlichen Modell der Kollegien die oben erwähnte Zweiteilung in Glaubenswissen und sekundäre Gelehrsamkeit präsent war. "Alles ist mit Bedacht so zu regeln, dass die Frömmigkeit in den Studien den ersten Rang einnimmt" heißt es etwa in der berühmten Ratio Studiorum der Jesuiten.8 In den Schuleinrichtungen aller Konfessionen war der Unterricht stets begleitet von regelmäßigen Gebetszeiten und Gottesdiensten, die den Tag der Schüler strukturierten und den äußeren Rahmen für die Studien abgaben. In Kiew wurden die beiden Aspekte der Bildung insofern anders gewichtet, als dass die Gelehrsamkeit hier eine weniger verständnisleitende als vielmehr erklärende und in gewissem Sinne "ornamentale" Funktion erfüllte.9
Im Kiewer Kolleg wurden von Anfang an sowohl römisch-katholische Lehrbücher, lateinische Grammatiken und Lehrbücher der Logik als auch scholastische Kompendien sowie kontroverstheologische Werke in großem Umfang benutzt.10 Nicht umsonst wurde oft von der "Kiewer Scholastik" gesprochen. Wenn man allerdings etwas von der Scholastik übernahm, dann waren das weniger rigide Lehrsätze und Ideologien als vielmehr die Kunst des Disputs, die den Schülern nahegebracht werden sollte. Die Fähigkeit zu argumentieren stand grundsätzlich immer im Dienst der Verteidigung einer Glaubenswahrheit, die letztlich rational nicht erfassbar blieb – es galt eher aufzuzeigen, dass die kritische Ratio ihr, recht angewandt, nichts anhaben konnte. Streitgespräche waren im Kiewer Kolleg unter den Schülern eine regelmäßige Übung, und bisweilen wurden öffentliche Debatten sogar in theatralischer Manier vor Publikum inszeniert, eingeteilt in mehrere "Akte" und mit Chorgesängen im Hintergrund sowie in den Pausen.11 Bei allem intellektuellen Gehalt verraten im Allgemeinen auch die im 17. Jahrhundert in Kiew vorbereiteten Buchausgaben12 den gleichen Hang zur barocken Feier der Künste wie auch der Apotheose der "russischen" (hier zu verstehen in Anlehnung an die Kiewer Rus') Orthodoxen Kirche im Dienste eigentlich schlichter Glaubenswahrheiten. Folglich sah sich auch ein Kritiker der "Kiewer Scholastik" wie Georgij V. Florovskij (1893–1979) zu gewissen Nuancierungen gezwungen:
Auf diese Weise wurden nicht nur einzelne scholastische Meinungen und Ansichten, sondern die Psychologie und der geistliche Zuschnitt [der Scholastik] selbst übernommen und angeeignet. Natürlich war das nicht die "mittelalterliche Scholastik", sondern eine wiedererstandene Scholastik der Epoche der Gegenreformation …, eine tridentinische Scholastik, ein theologischer Barock.13
Dieses vor über 70 Jahren gefällte Urteil muss inzwischen differenzierter betrachtet werden. Sicher unterschied sich das Kiewer Kolleg und die Art, wie hier – zum ersten Mal in der orthodoxen Welt der Neuzeit – Theologie betrieben wurde nicht grundsätzlich vom Westen und von der Gegenreformation. In der beschriebenen Balance zwischen heilsnotwendigem Glaubenswissen und intellektueller Reflexion lag aber das Gewicht in Kiew eindeutig auf dem ersten Element. Dennoch war der Grundstein gelegt für die Aneignung und die Entwicklung von Gelehrsamkeit, und ob die beschriebene "orthodoxe Balance" ferner in allen Belangen, in allen Kursen und bei allen Autoren durchgehalten wurde, ist eine andere Frage. Die beschriebene Grundlage bietet Raum für Variationen. Kiewer Gelehrte hatten sich, wie die dort erstellten Kurskonzepte in Philosophie und Theologie, aber auch die publizierten Schriften verraten, westliche Gelehrsamkeit auf breiter Grundlage angeeignet und in teils recht individuellen Synthesen verarbeitet. Dies galt für beinahe jede intellektuelle Strömung des Westens seit dem späten Mittelalter, vom Humanismus, der Gegenreformation und der Pädagogik bis hin zum Staatsrecht niederländischer und deutscher Prägung, zur Naturphilosophie sowie zur Aufklärung in Deutschland, Frankreich und Italien.
Im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts wurde das Kiewer Kolleg, zusammen mit den Gebieten der rechtsufrigen Ukraine, allmählich in Staat und Kirche des Moskauer Reichs eingegliedert. Längst wirkten zu diesem Zeitpunkt westliche Bildung und Gelehrsamkeit auch innerhalb der Russischen Orthodoxen Kirche. Dieser Einfluss stieß in Moskau zeitweise auf Widerstand; in den Inhalten, den Organisationsformen der Bildung und in persönlichen Netzwerken setzte er sich aber durch. Man kann ohne Übertreibung davon sprechen, dass die Tore des Moskauer Reichs und der orthodoxen Welt teils lange vor den Reformen Zar Peters I. (1672–1725) gen Westen aufgestoßen wurden und dass dies vor allem über Kiew geschah.14
Institutionelle Entwicklung und inhaltliche Vermittlung (1631–1817)
Kurz nach den Wirren der ersten Gründungsphase, also etwa ab Mitte 1632, nahm das Kolleg seine Arbeit auf. Da eine Reihe von anfänglichen Mängeln, sowohl hinsichtlich der Bibliothek und der Lehrmittel als auch des Lehrpersonals, erst nach und nach behoben werden konnte, blieb der Lehrbetrieb in der Frühphase noch eingeschränkt und erreichte erst im Laufe des nächsten Jahrzehnts allmählich seinen vollen Umfang. Für die Anfangsjahre wird von etwa 100 eingeschriebenen Studenten ausgegangen, wobei Söhne von Adelsfamilien aus der Umgebung Kiews den Großteil ausmachten. Da die Schule von Anfang an aber Angehörigen aller Schichten offenstehen sollte, befanden sich auch Schüler offenkundig nichtadliger, teils kosakischer Familien darunter.15
Um das Kolleg entwickelte sich ein intellektuelles Zentrum neuer Art. Die vor allem auf Einladung Mohylas in Kiew versammelten orthodoxen Gelehrten begannen neben dem Aufbau des Lehrbetriebs auch damit, Buchausgaben zu konzipieren und kirchliche Texte zu redigieren. Im Höhlenkloster wurde bereits seit einigen Jahren eine eigenständige Druckerei betrieben, mit der die Lehrer der neuen Schule jetzt eng zusammenarbeiteten. Von offizieller Seite, nämlich vom polnischen König Władysław IV. (1595–1648) und seiner Entourage, wurde die Gründung einer orthodoxen Schule als Konkurrenzbetrieb zu den katholischen Kollegien nicht gern gesehen; dies war auch eine Folge der Lobbyarbeit katholischer Orden, die ihrerseits in Kiew Fuß zu fassen suchten. Der König ordnete 1634 sogar kurzfristig die Schließung "orthodoxer lateinischer Schulen" an, worauf Mohyla aber nicht reagierte. Im Jahr darauf erreichte dieser stattdessen, dass der Unterhalt seiner Lehreinrichtung offiziell genehmigt wurde; freilich mit der ausdrücklichen Auflage, den Lehrbetrieb nicht über den Umfang eines Kollegs hin auszuweiten. Das bedeutete, dass hier wohl die artes liberales, nicht aber höhere Kurse in Philosophie und Theologie unterrichtet werden durften.16
Doch auch diese Einschränkung wurde nur bedingt befolgt. In den Jahren danach gelang es Mohyla, die Schule auszubauen und ein Curriculum zu etablieren. Die Kursanordnung bestand aus zunächst sechs aufeinanderfolgenden Klassen. Im Mittelpunkt des Unterrichts standen Sprache und die Redekunst. Die Blüte der Rhetorik in Polen-Litauen und allgemein im europäischen Barock, wirkte sich auch auf das Kiewer Kolleg aus.17 Im ersten Kursjahr, gewöhnlich fara oder analogia betitelt, wurden zunächst Lesen und Schreiben sowie erste grammatische Grundlagen gelehrt. Von Anfang an fand der Unterricht in mehreren Sprachen statt, etwa auf Griechisch oder Altslawisch. Generell dominierten allerdings bis ins 18. Jahrhundert Lateinisch und Polnisch. Auswendiglernen und Rezitieren spielten eine große Rolle. Dem ersten Jahr folgte im zweiten der sogenannte infima-Kurs, in dem weiterhin vor allem grammatisches Basiswissen vermittelt wurde. Der allgemein als grammatica betitelte dritte Jahrgang beinhaltete die weiterführende Lektüre und die philologisch-formale Analyse von Texten in den unterschiedlichen Unterrichtssprachen. Praktische Übersetzungsübungen, aber auch Katechismus, Grundlagen der Arithmetik sowie (Kirchen-)Gesang und teilweise wohl auch Instrumentalmusik waren Bestandteile der vierten Klasse, der synaxima, mit der der erste Abschnitt endete.
Nach dem bewährten Schema folgten die sogenannten humaniora, also Unterricht in Poetik und Rhetorik innerhalb von zwei aufeinanderfolgenden Jahren. Hier wurden in verschiedenen Sprachen Wortschatz, Ausdruck, Rhythmus und Versmaß gelehrt. Die Schüler lernten Formen der Dichtung, etwa der Komödie, Tragödie, Elegie, Idylle, Satire und dergleichen mehr kennen. Poetik bildete einen Schwerpunkt der gesamten Schulbildung: "Nach der Popularität der Poetik zu urteilen, war der Kiewer Student weniger ein Gelehrter als ein ambitionierter Barde."18 Der Poetik-Kurs wurde vermutlich in polnischer und lateinischer Sprache erteilt, wobei man, wie in den "westlichen" Schulen, weitgehend polnisch-lateinische Vorlagen verwendete.19
Der darauf folgende eigentliche Rhetorik-Kurs rundete die Ausbildung ab. Man vermittelte nun die systematische Entwicklung und Darlegung der Rede. Bis zu einem gewissen Grad waren mit dem Kurs bereits Lektionen in Dialektik verbunden, die auf eine philosophisch-theologisch fundierte Gedankenführung und Argumentation, wie sie Teil einer überzeugenden Rede zu sein hatte, vorbereiten sollten.
Die höhere Ausbildung bestand aus einem dreijährigen Kurs in Philosophie, gefolgt von vier Jahren Theologie. Trotz des königlichen Verbots gehörte zumindest die Philosophie von Anfang an zum Programm, und nach manchen Angaben hat auch ein theologischer Kurs bereits zwischen 1642 und 1646 stattgefunden. Regulär wurde Theologie erst ab etwa 1680, also schon unter russischer Herrschaft, gelehrt. Welche Inhalte genau vermittelt wurden, ist aus den Beständen der Bibliothek, soweit diese rekonstruiert werden können,20 sowie anhand der von den Kiewer Dozenten eigenständig erstellten Manuskripte ersichtlich. Demnach wurde eine im Prinzip aristotelische Philosophie gelehrt, allerdings gestützt auf spätmittelalterliche westliche Interpreten, ergänzt um Lehrelemente von Augustinus (354–430), Thomas von Aquin (ca. 1225–1274), Johannes Duns Scotus (ca. 1266–1308) und Wilhelm von Ockham (1285–1347). Auch Humanisten wie Lorenzo Valla (1447–1500), Erasmus (1469–1536)[] oder, schon aus protestantischem Umfeld, Philipp Melanchthon (1497–1560)[] standen auf dem Lehrplan. Theologische Kurse basierten auf – durchaus kritischen – Kommentaren zu katholischen Theologen, darunter neben Thomas von Aquin etwa Robert Bellarmin (1542–1621), Francisco Suárez (1548–1617) oder der polnische Jesuit Tomasz Młodzianowski (1622–1686).21 Den ersten Versuch einer eigenständigen Systematisierung der ostkirchlichen Theologie stellt das 1640 von Kiewer Theologen unter dem Titel Confessio Orthodoxa zusammengestellte, nach Art eines Katechismus aufgebaute Kompendium dar.22
Das Kiewer Kolleg erlebte dank der Stiftungen einzelner einflussreicher Förderer und Mäzene mehrere Blütezeiten; wo diese in unsicheren Zeiten abrissen, folgten längere Durststrecken. Zuwendungen von Metropolit Mohyla selbst, der kurz vor seinem Tod im Januar 1647 in seinem Testament beträchtliche Summen für den weiteren Betrieb gestiftet hatte, waren für die erste Phase wohl entscheidend. Allmählich gelang es aber, weitere Unterstützung der Adelskreise des Kiewer Landes sowie der Führungselite der Zaporoger Kosaken zu gewinnen. Es spricht für die Anerkennung, die das Kiewer Kolleg auch unter den einstmals eher feindselig eingestellten Kosaken fand, dass diese sich in den nach 1648 mit Polen-Litauen geführten Auseinandersetzungen dafür einsetzten, das Kolleg polnischen Lehreinrichtungen gleichzustellen. Im Vertrag von Hadiacz von 1658 zwischen Polen-Litauen und dem Heer der Kosaken wurde dem Kiewer Kolleg folglich das Recht auf den Status und den Aufbau einer Akademie zugesichert, nach Rang und Aufbau ausdrücklich der Akademie von Krakau vergleichbar. Allerdings wurde dieser Vertrag vom polnischen Sejm, dem königlichen Reichstag, nicht angenommen, so dass es bis Ende des 17. Jahrhunderts dauern sollte, ehe dieser Status tatsächlich offiziell sanktioniert wurde.23 In den Wirren der Kriege zwischen Polen-Litauen, dem Kosakenheer und dem sich ausdehnenden Moskauer Reich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts musste der Lehrbetrieb in Kiew mehrere Male eine Zeit lang reduziert und sogar unterbrochen werden.
Generell haben seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Kosakenhetmane24 in den ukrainischen Gebieten die Rolle von Mäzenen und Förderern übernommen. Die meisten der führenden Persönlichkeiten der Kosakenelite waren Absolventen des Kiewer Kollegiums. Allerdings waren die Beziehungen zwischen der ursprünglich loyal zur polnischen Krone stehenden Kiewer geistlichen Hierarchie und der nach Autonomie strebenden Kosakenelite immer noch häufig angespannt.25 Bereits 1654 hatten sich die Lehrer des Kollegiums widerstrebend, und nur auf Druck von Hetman Bogdan Chmel'nyckyij (1595–1657), im Vertrag von Perejaslav zu Loyalität gegenüber dem Moskauer Zaren verpflichtet.26 1667 war im Vertrag von Andrusovo zwischen Polen-Litauen und dem Moskauer Reich eine Aufteilung der ukrainischen Gebiete beschlossen worden, der zufolge Kiew selbst und die gesamte linksufrige Ukraine an Moskau fallen sollte. Das bedeutete, dass zahlreiche Ländereien, aus denen die Einkünfte des Kollegiums stammten, verloren gingen und polnischen Studenten der Zugang verwehrt wurde. Im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts begannen jedoch auch die Kiewer Geistlichen und Intellektuellen die Zukunft der Einrichtung mehr unter der Obhut Moskaus zu sehen. Publikationen, wie die der sogenannten "Sinopsis" des Kiewer Rektors Innokentij Gizel'(1600–1683), aus den 1670er Jahren, verraten, wie die Herrschaft des Zaren und die neue Rolle des Kollegiums innerhalb der russischen Kirche allmählich angenommen wurden.27 1686, ein Jahr nach Abschluss des "ewigen Friedens" zwischen Moskau und Polen-Litauen, wurde die Eparchie Kiew in die russische Kirche des Zarenreichs eingegliedert. 1694 erhob Zar Ivan V. (1666–1696) das Kolleg per Dekret offiziell in den Rang einer Akademie, 1701 wurde dies von Zar Peter I. noch einmal bestätigt.28
Dieser Akt bedeutete auch ein Entgegenkommen gegenüber dem Kosakenhetman Ivan Mazepa (1644–1709), seit 1687 eigentlicher Herrscher über die Ukraine, dem die Moskauer Zaren zunächst freundschaftlich verbunden waren. Allerdings sanktionierten die zarischen Dekrete nur einen bereits bestehenden Zustand. Seit den frühen 1680er Jahren standen für einen regelmäßigen Unterricht genügend qualifiziertes Personal und ausreichende Mittel zur Verfügung. Bereits von da an firmierte die Einrichtung in einschlägigen Dokumenten als "Akademie". Mazepa selbst hatte seine Ausbildung am Kiewer Kolleg erhalten. Als Mäzen förderte er nicht nur den Bau von Kirchen, sondern unterstützte auch die (neue) Kiewer Akademie großzügig, so dass Anfang des 18. Jahrhunderts ca. 2000 Studenten in Kiew eingeschrieben gewesen sein dürften. Diese "goldene Zeit" endete abrupt mit Mazepas Frontenwechsel an die Seite des Schwedenkönigs Karl XII. (1682–1718) im Großen Nordischen Krieg. Kurz nach der Niederlage bei Poltawa gegen Zar Peter I. 1709, die Mazepa selbst nur um wenige Monate überlebte,29 plünderten russische Truppen die Stadt. Bereits 1711 berichtete Rektor Rafail Zaborovs'kyj (ca. 1676–1747) nur noch von weniger als 200 eingeschriebenen Studenten. Allerdings spielte eine Persönlichkeit wie Feofan Prokopovič (1681–1736) – auch er ehemals Rektor der Kiewer Akademie und später Erzbischof von Nowgorod – durch sein "Geistliches Reglement" von 1721 eine Schlüsselrolle bei den Kirchen- und Bildungsreformen des reformfreudigen Zaren Peter I. Die Einflüsse aus der deutschen Staatsphilosophie, der protestantischen Kirchenlehre und der französischen Aufklärung, die in Prokopovičs Konzeptionen von Kirche und (dem besonders geistlichen) Schulwesen zu finden sind, hatten ihn letztlich über Kiew erreicht.30
Eine letzte Blütephase leitete Rafail Zaborovs'kyj, zwischen 1731 und 1742 Metropolit von Kiew, zusammen mit Hetman Danylo Apostol (1654–1734) ein. Mithilfe von Kursen in modernen Sprachen, darunter Französisch, Deutsch und – für Bibelstudien wichtig – Hebräisch, aber auch in Geschichte, Mathematik und Medizin modernisierten sie das Lehrprogramm im Sinne der Frühaufklärung.31 Im frühen 18. Jahrhundert wurden die Werke Christian Wolffs (1679–1754) auf Anordnung der russischen Kirchenleitung, des Heiligen Synod, zur Grundlage der Philosophiekurse in Kiew. Wolffs Einfluss auf die russische Philosophie ist spätestens ab diesem Zeitpunkt vielfach nachweisbar.32 1744 zählte die Akademie noch einmal über 1100 Studenten. Erst die Abschaffung des Hetmanats – und damit der verbliebenen "kleinrussischen" Autonomierechte durch Zarin Katharina II. (1729–1796)[] im Jahr 1764 – und die Säkularisierung der Klöster von 1786 entzogen der Akademie weitgehend die materiellen und administrativen Grundlagen. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts funktionierte die Einrichtung lediglich als geistliches Seminar, wenn auch immer noch mit beträchtlichen Studentenzahlen. 1817 wurde die Akademie schließlich geschlossen und erst zwei Jahre später im Zuge einer allgemeinen Reform des kirchlichen Bildungswesens als Kiewer Geistliche Akademie wieder eröffnet.
Netzwerke: Gelehrte, Bischöfe, Geistliche, weltliche Eliten
Zusammen mit der ebenfalls am Höhlenkloster in Kiew etablierten Druckerei bildete das Kiewer Kolleg ein intellektuelles Zentrum, das einerseits auf die orthodoxe Welt in Osteuropa einwirkte, andererseits selbst Einflüsse von beinahe allen westeuropäischen Kulturzentren aufnahm. Nur ansatzweise untersucht ist bisher die Wirkung, die das Kiewer Kolleg etwa auf die orthodoxen Kirchen in den rumänischen Fürstentümern und in Serbien hatte, woher nachweislich auch einige der Studenten kamen.33 Tatsächlich gab es zwei Hauptzweige des Netzwerks, nämlich einerseits einen eher rezeptiven Zweig, der sich durch Studienaufenthalte, Ankauf von Druckwerken und teils persönliche Korrespondenz mit dem lateinischen Westen ergab, und andererseits einen Zweig, der teils einen dominierenden Einfluss auf die Inhalte und Organisationsformen höherer Bildung, die im orthodoxen Osten entstanden, ausübte. Nur ausnahmsweise entfalteten die Werke der Kiewer Gelehrten auch umgekehrt im Westen ihre Wirkung; so etwa die unter Regie Mohylas zusammengestellte Confessio Orthodoxa, in der man lange ein autoritatives Kompendium orthodoxer Theologie gesehen hat,34 oder einige Werke Feofan Prokopovičs, die auch in westliche Sprachen übersetzt wurden.35
Der Austausch mit dem Westen kam weitgehend über persönliche Verbindungen zustande. Bereits Mohyla sandte eine Reihe fähiger Studenten zum Studium ins lateinische Europa.36 Von da an verbrachten die meisten Kiewer Intellektuellen einige Jahre an westeuropäischen Universitäten. Die Liste reichte von jesuitischen Kollegien in Rom über die Universitäten Padua, Paris, Oxford und Cambridge bis zu den Zentren der deutschen Frühaufklärung in Leipzig, Jena und Halle im frühen 18. Jahrhundert. Die Studenten machten sich auf solchen Reisen ein eigenes, differenziertes Bild von den Verhältnissen vor Ort und kehrten mit einer individuellen Mischung aus positiven Eindrücken sowie ehrlicher Anerkennung einerseits, und spezifischen Abneigungen andererseits zurück. Studenten wurden auch im 18. Jahrhundert ausdrücklich ermutigt, ihre Studien durch einen Auslandsaufenthalt abzurunden. Dass für die Aufnahme in eine Lehreinrichtung außerhalb Russlands oft eine Konversion, in Polen etwa zum Katholizismus oder mindestens zur Unierten Kirche erwartet wurde, stellte bis ins erste Drittel des 18. Jahrhunderts offenbar kein echtes Hindernis dar. Erst danach sind Anzeichen erkennbar, dass sich die konfessionellen Gegensätze verschärften und der Austausch schwieriger wurde.37
Auf der anderen, institutionellen Seite war das Kiewer Kolleg von Beginn an nicht als Einzeleinrichtung geplant, sondern sollte nach dem Willen des Gründers Vorbild sein für weitere Einrichtungen. Bereits die Absichtserklärung Mohylas vor dem Kiewer Gründungsakt spricht von Schulen in der Mehrzahl, die es zum Wohl der Kirche zu errichten gelte.38 Allerdings führten weitere Initiativen zu Errichtung von Lehranstalten etwa im ukrainischen Winniza oder in Moldawien nicht zu dauerhaften Resultaten. Einstweilen ohne Ergebnis blieb auch der Vorschlag zur Errichtung einer Schule nach Kiewer Vorbild in Moskau, mit dem sich Petro S. Mohyla 1640 an den russischen Zaren wandte.39 Dennoch übte das Kiewer Modell im weiteren Verlauf des 17. Jahrhundert vor allem auf dem Gebiet des Moskauer Reiches bedeutenden Einfluss aus. Dies galt trotz aller Zurückhaltung, die man der Rechtgläubigkeit der "südrussischen" Nachbarn zunächst entgegenbrachte. Patriarch Nikon (1605–1681) setzte in seinen tiefgreifenden Reformen des kirchlichen Lebens vor allem auf die Vorlagen und Modelle aus Kiew. Unterdessen übernahmen Moskauer Theologen allmählich die Techniken der Kiewer Polemiker, um den orthodoxen Glauben gegen den Westen zu verteidigen, ungeachtet der eigentlich "westlichen" Herkunft dieser Methoden.40
An den Kiewer Gelehrten führte auch kein Weg vorbei, als man sich im Anschluss an Patriarch Nikons Reformen in Moskau darum bemühte, das kirchliche Bildungssystem zu verbessern. Obwohl der Nachfolger Patriarch Ioakim (1620–1690) über den aus Kiew nach Moskau gelangten Simeon Polockij (1629–1680)41 sagte, dass jemand, der für kurze Zeit bei den Jesuiten studiert habe, wohl kein rechtgläubiger Orthodoxer sein könne, wurde dieser nicht nur zu einer Schlüsselfigur bei der Einrichtung einer höheren Schule im Moskauer Zaikonospasskij-Kloster, sondern unterrichtete auch Zar Aleksejs ältere Kinder.42 In Moskau stritten eine Zeit lang Vertreter der griechisch-slawischen Richtung im Bildungswesen, wie die griechischen Brüder Leichudes, mit den Mönchen aus Kiew. Schon vor den Reformen Peters I. zeichnete sich ab, dass letztere die Oberhand behalten würden. Spätestens seit dem frühen 18. Jahrhundert war die Akademie im ganzen Reich ein Vorbild für weitere Gründungen.43
Die Ausstrahlung der Kiewer Akademie beruhte in erster Linie auf einem persönlichen Netzwerk, das die Absolventen wie die dort tätigen Lehrer gleichermaßen umfasste. Zudem nahm die Einrichtung in zweierlei Hinsicht eine institutionelle Vorbildfunktion ein: für den Ausbau höherer kirchlicher Bildung im Zarenreich und für die inhaltliche Vermittlung, die auch in konzeptionellen und programmatischen Schriften zum Ausdruck kam (die wichtigste davon ist wohl das bekannte "Geistliche Reglement" Prokopovičs). Ein vor einigen Jahren in Kiew herausgegebenes Lexikon mit Biogrammen wichtiger Persönlichkeiten, deren Namen in der einen oder anderen Form mit der Kiewer Akademie verbunden sind, bringt es auf über 1500 Einträge für den hier erfassten Zeitraum; und nach Angaben der beteiligten Herausgeber hätte diese Zahl unschwer noch vergrößert werden können.44 Absolventen der Akademie fanden sich, wie schon erwähnt, in großer Zahl unter der Führungselite des kosakischen Hetmanats, aber teils auch später unter der politischen Elite des Zarenreiches, wie etwa Aleksandr Andreevič Bezborodko (1747–1799), der ab 1775 Außenminister unter Katharina II. war.
Indem das Kiewer Kolleg einen neuartigen Zugang zur intellektuellen Arbeit im Dienst der Orthodoxie fand, schuf es zugleich einen neuen intellektuellen Typus, den man zumindest in der ostslawischen Welt der orthodoxen Kirche so vorher kaum gekannt hatte. Eine ähnliche Richtung hatten allenfalls die Vorgänger-Institutionen des Kollegs in Kiew eingeschlagen, wie die Schulen der Bruderschaften in Lemberg und Wilna oder die um 1570 im wolhynischen Ostrog von dem Fürsten Kostjantyn K. Ostroz'kyj (1526–1608) gegründete slawisch-griechische Akademie, die freilich schon vor 1610 ihren Betrieb wieder einstellte. Dem begüterten Kiewer Metropoliten Mohyla gelang es – etwa durch das Angebot materieller Sicherheit –, diesen ersten Kreis ruthenischer45 Intellektueller am neuen Kolleg zu versammeln. Der Kirchenhistoriker Igor Smolitsch (1898–1970) hat diesen Typus als "gelehrte Mönche" charakterisiert und kritisiert. Formell gehörten die Kiewer Gelehrten dem Mönchsstand an, waren aber tatsächlich nur bedingt mit dem asketischen Klosterleben ostkirchlicher Prägung verbunden. Sie führten nicht nur das Leben des Gelehrten und Lehrers, sondern oftmals auch– dank ihrer administrativen Ämter im Kolleg und durch ihre Verbindungen zur weltlichen Elite – das des Verwalters und sogar des Politikers.46
Diese besonderen Qualitäten machten die Kiewer "gelehrten Mönche" im Moskauer Reich zu gesuchten Kandidaten für höhere kirchliche Ämter. Zwar war es vor allem Zar Peter I., der in seinen Bestrebungen, die Kirche zu reformieren, besonders auf die Kleriker aus der Ukraine setzte, doch wurde eine Reihe von ihnen bereits vorher in Moskau zu Bischöfen ernannt. Schließlich wurde das Episkopat des Russischen Reiches bis weit ins 18. Jahrhundert hinein überwiegend von ukrainischen Mönchen bekleidet, von denen die meisten nicht nur ihre Ausbildung in Kiew durchlaufen, sondern auch eine Zeit lang ein Amt als Lehrer, Präfekt oder Rektor an der Akademie ausgeübt hatten. Mit diesem neuen Typus der höheren Geistlichen hielt freilich auch eine andere Art der Amtsführung Einzug. Als ebenso gelehrte wie zugleich in ihren dogmatischen und moralischen Ansichten strenge und versierte Verwalter mit einem Hang zu Kontrolle und Effektivität, initiierten die Kiewer Bischöfe in den Provinzen des Russischen Reiches oft Reformen auf lokaler Ebene. Beliebt waren sie nicht; zahllos sind um diese Zeit die Klagen über ihr ungewohnt strenges Regiment. Zum Erscheinungsbild des bischöflichen Despoten trug oftmals auch bei, dass viele dieser Geistlichen aus dem mittleren oder gar höheren Adel der ukrainischen Provinzen stammten und einen herrschaftlichen Lebensstil beibehielten. Allerdings sieht man in der Forschung inzwischen auch die positiven Seiten der Reformen, die die Kiewer Geistlichen in der Russischen Kirche umsetzten.47
Die Rolle, die die Akademie bei der Ausbildung der einfachen Priester und niederen Geistlichen einnahm, soll ebenfalls Erwähnung finden, auch wenn wenige von ihnen die Ausbildung komplett durchliefen. In der oben beschriebenen Zweiteilung von religiösem Grundwissen einerseits und höherer Gelehrsamkeit andererseits wurde das Priesteramt zumeist von den Kandidaten selbst, aber auch von der Kirchenleitung vor allem der ersten Ebene zugeordnet. Allein dies bedeutete gegenüber früheren Verhältnissen, in denen die Klagen über unwürdige und unwissende Gemeindepriester nie abrissen, einen beträchtlichen Fortschritt. Seit Ende des 17. Jahrhunderts war das Bewusstsein für die einschlägigen Mängel der Gemeindegeistlichen gewachsen, den Akademien wurde dabei zunächst von der Kirche, dann auch von den staatlichen Behörden eine besondere Aufgabe zugewiesen. Ein von der Gemeinde gewählter Priester musste gegenüber Vertretern der Akademie unter Beweis stellen, dass er mit den Grundlagen des christlichen Glaubens und der orthodoxen Liturgie vertraut war, ehe er sein Amt antreten konnte. Überzeugte seine Vorstellung die Gelehrten nicht, hatte er einen mindestens sechswöchigen Kurs zu absolvieren. Oft blieben die Kandidaten länger, zumal mit Erlass des "Geistlichen Reglements" und aufgrund von Zar Peters Kirchenreformen nach 1721 ein gewisser Bildungsgrad verpflichtend war. Dies betraf nur die Elementarausbildung am Seminar, jedoch kaum den Lehrbetrieb der Akademie selbst. Doch erfolgte auch diese Ausbildung, mindestens in den "südrussischen" Eparchien, auf der Grundlage von Lehrwerken, die aus der Feder Kiewer Gelehrten stammten.48
Bei aller Ausstrahlung, die die Kiewer Akademie in den fast zweihundert Jahren ihrer Existenz in der ursprünglichen Form entfaltete, wird auch eine gewisse Einschränkung erkennbar. Ihr Fundament blieb wie zu Beginn ein orthodox geistliches, und im Laufe der Zeit wuchs ihre Bedeutung für die Orthodoxe Kirche stetig. Die weltliche Gelehrsamkeit entwickelte sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts jedoch in eine andere Richtung weiter, die man in Kiew nur teilweise und nach eigener Art mitverfolgte. Der "Wanderphilosoph" Hryhorij Skovoroda (1722–1794) ist einer der wenigen nichtkirchlichen bedeutenden Gelehrten, der die Akademie in Kiew ganz durchlaufen hat. Seine "spirituelle Anthropologie" und seine besondere Skepsis gegenüber dem Rationalismus sowie dem Technikglauben der Aufklärung, die seine Lehren durchziehen, gehen sicher auch auf seine Kiewer Ausbildung zurück.49 Seinen großen Zeitgenossen Michail Lomonosov (1711–1765), Gründer der Moskauer Universität, der ebenfalls 1733 nach Kiew zum Studium geschickt worden war, enttäuschte der Unterricht; er kehrte der Akademie nach ein paar Monaten den Rücken.