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Die Französischen Religionskriege – Eine Frage des Blickwinkels?
Die Französischen Religionskriege (1562–1598) waren einer der zentralen Konflikte in Europa in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.1 Nicht nur kämpften Katholiken und Protestanten über dreißig Jahre um die Ausgestaltung der konfessionellen Landkarte Frankreichs, sondern es wurden auch das Monarchieverständnis, die Herrschaftslegitimation sowie die politische Praxis in Frankreich verhandelt. Zudem wurde die Position der führenden adligen Familien und ihre Hegemonialstellung in Europa im Konflikt mit Spanien ausgefochten.
Daher verwundert es nicht, dass die Französischen Religionskriege von einem für die Epoche ungewöhnlichem Medienaufgebot begleitet wurden: Berichte vom tagespolitischen Geschehen, Verwaltungsanweisungen und ideologisch aufgeladene Schmähschriften wurden, ebenso wie Traktate zu hochaktuellen Themen wie z.B. dem Widerstandsrecht, als Flugschriften publiziert. Allein für die Phase zwischen 1585 und 1595 sind 130 Übersetzungen französischer Flugschriften ins Englische bekannt.2 Flugblätter und Flugschriften, die Informations- und Meinungsmedien des 16. Jahrhunderts, stellen Auseinandersetzungen mit den verfügbaren Informationen über Ereignisse, Personen, Gruppen und Diskurse dar, die ausgewählt, zusammengestellt und bewertet wurden. Durch Selektion, Kommentierung und (Neu-)Kontextualisierung bildeten sich die medial aufbereiteten Auseinandersetzungen mit den Religionskriegen als ein situationsabhängiges Produkt heraus. Diese Deutungen von Berichten, aber auch kursierenden Ideen und Gedankengebäuden aus dem Umfeld der Französischen Religionskriege erlebten eine erneute Transformation, wenn sie von Frankreich aus in die Nachbarländer gelangten.3
Nur in wenigen Fällen kennen wir Reaktionen auf diese Publikationen. Das wohl bekannteste Beispiel dürfte Pierre de l'Éstoile (1546–1611) sein, der neben tagebuchähnlichen Aufzeichnungen eine Sammlung der in Paris zwischen 1574 und 1610 kursierenden Flugblätter und -schriften in vier umfangreichen Alben erstellte.4 Ebenso ließe sich Hermann von Weinsberg (1518–1597) nennen, der in einem "Gedenkbuch", das an seinen potentiellen Nachfolger als Hausvater gerichtet war, Alltagserlebnisse wie auch die großen Umwälzungen und Konflikte seiner Zeit niederschrieb und kommentierte. Immer wieder kam er auf die Französischen Religionskriege zu sprechen,5 obgleich sie keineswegs der Hauptgegenstand seines Interesses waren, und kommentierte dabei auch seine unterschiedlichen Erfahrungen mit der medialen Vermittlung der Konflikte.6
Ein anderes ungewöhnliches Zeugnis der Rezeption bietet der Londoner Gelehrte Gabriel Harvey (ca. 1550–1630)[], der sich mit den Flugblättern und Flugschriften der Zeit in Randnotizen und Kommentaren auseinandersetzte. Zwar ist diese Quelle der Frühneuzeitforschung bestens bekannt, doch wurde sie bislang nicht systematisch auf ihre Bezugnahme zu den Religionskriegen hin untersucht.7 Ob sein Fall jedoch exemplarisch für eine Gruppe von Rezipienten steht, lässt sich nicht entscheiden: Zum einen sind die Quellen rar, die Aussagen zur Rezeption der Flugschriften im 16. Jahrhundert erlauben, so dass eine breitere Palette an Vergleichsfällen fehlt. Zum anderen liegt bislang keine systematische Untersuchung zur Rezeption von Flugschriften der Religionskriege in England vor, auf deren Klassifikation unterschiedlicher Lesertypen Bezug genommen werden könnte.
Der Reiz, gerade die Notizen und Randbemerkungen von Gabriel Harvey als Quellen zur Rezeption zeitgenössischer Flugschriften der Religionskriege zu betrachten, liegt auch darin, dass Harvey in den Konflikt nicht persönlich verwickelt war. Ohne unmittelbare Motivation durch private, politische oder wirtschaftliche Interessen in Frankreich setzte er sich mit den Konflikten auseinander. Was motivierte ihn also zur Lektüre? Welche Flugschriften las er? Wie erfolgte die Lektüre? Welches Bild der Religionskriege zeichnete Harvey? Zunächst wird dieser Beitrag allerdings einen Überblick über die Rezeption der Französischen Religionskriege im England der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts geben, um sich dann auf den Umgang Harveys mit den verfügbaren Flugschriften und seine Positionierung zu den Französischen Religionskriegen zu konzentrieren.
Zwischen Bündnispartner, Exilland und Profilierungsfeld – Die Auseinandersetzung mit den Französischen Religionskriegen in England
Das Interesse an Flugschriften zu der Situation in Frankreich8 war angesichts der engen Beziehungen zwischen der englischen und der französischen Politik, die auch das Heiratsprojekt der englischen Königin Elisabeth I. (1533–1603)[] mit einem der Prinzen aus dem Geschlecht der Valois umfassten, recht groß. Gleichwohl war diese Neugier auch, zumindest bis in die 1580er Jahre, mit einer anhaltenden englischen Angst vor französischen Plänen zur Unterstützung der schottischen Königin Maria Stuart (1542–1587) verbunden, die in erster Ehe mit Franz II. von Frankreich (1544–1560) verheiratet war. Darüber hinaus fürchtete man sich vor einer möglichen Beteiligung Frankreichs an einem übergreifenden katholischen Plan zur Bekämpfung des Protestantismus.9
So wurde die Auseinandersetzung mit den Französischen Religionskriegen als Gelegenheit genutzt, die katholische Kirche und den Papst im Allgemeinen zu desavouieren sowie der katholischen Partei in Frankreich im Besonderen mittels antikatholischer Propaganda zu schaden, vor allem der Heiligen Liga10 und dem Haus Guise. Mit den Nachrichten aus Frankreich und den Niederlanden wurde (auch) die Notwendigkeit einer protestantischen Gegenallianz begründet.11 In Zusammenarbeit mit John Wolfe (ca. 1547–1601) – dem wichtigsten Drucker und Verleger von übersetzten Flugschriften zu den Religionskriegen – soll daher William Cecil, 1st Baron Burghley (1520–1598) teilweise gemeinsam mit Sir Francis Walsingham (ca. 1532–1590), die Übersetzung und Veröffentlichung französischer Schriften mit antispanischer, antiligistischer und antikatholischer Zielsetzung betrieben haben.12
Daneben sorgten die hugenottischen Flüchtlinge aus Frankreich, die sich in England niedergelassen hatten – besonders nach der Bartholomäusnacht (24. August 1572) – für ein gestiegenes Interesse und eine tendenziöse Ausdeutung der französischen Situation. Zugleich war die zwischen 1570 und 1580 rasch wachsende französische Flüchtlingsgemeinde in England ein Bindeglied für den Nachrichten- und Ideentransfer, indem sie den Import, die Übersetzung und den Druck von Büchern und Pamphleten aus Frankreich beförderte.13
Neben den Flüchtlingsgemeinden fungierten offizielle Stellen (beispielsweise Lord Burghley oder Sir Walsingham), die zum Teil Flugschriften publizierten, als Informationsknotenpunkte. Dasselbe galt für ÜStudenten brachten von ihren Aufenthalten Gedrucktes ebenso mit wie mündliche oder aber handschriftliche Nachrichten. Handschriftliche Nachrichten, aber auch (seltene) Drucke kursierten im Kreis von Höflingen, Geschäftspartnern oder Freunden und Familie. Persönliche Beziehungen zu französischen Autoren von Druckschriften waren am Hofe Elisabeths I. keine Seltenheit: François Hotman (1524–1590) war Korrespondenzpartner Burghleys, und Jean Hotman (1552–1636) unterrichtete die Söhne von Amyas Paulet (1532–1588), dem Sekretär Leicesters in den Niederlanden und Informant Walsinghams. Sowohl Hubert Languet (1518–1581) als auch Philippe de Mornay (1549–1623) und Jean Bodin (1530–1596) standen mit Walsingham in Kontakt.14 Die Texte wurden zum Teil auch kopiert, so dass der tatsächliche Leserkreis jenseits des unmittelbaren Adressaten kaum bestimmbar ist.15
Daneben wurden durch Gedichte und Theaterstücke (entweder französische Importe oder englische Bearbeitungen des Stoffs der Religionskriege wie Christopher Marlowes (1564–1593) Massacre at Paris) kommentierte Lesarten der französischen Ereignisse geboten.16 Die Druckimporte, Übersetzungen sowie eigenständigen Publikationen zu den Religionskriegen unterlagen jeweils den elisabethanischen Kontrollen und Zensurbestimmungen, auch wenn das von konkurrierenden Interessen geprägte System nur ein grobmaschiges Netz an Druckkontrolle bot.17
Während Heinrich von Navarra als Heinrich IV. von Frankreich (1553–1610)[] nach der Ermordung Heinrichs III. (1551–1589) den Thron bestieg und gegen die katholischen Opponenten kämpfte, ging die Produktion von Flugschriften zu den innerenglischen Verhältnissen stark zurück (1590–1595). Stattdessen begannen die Auslandsnachrichten, einen Großteil der Gesamtproduktion auszumachen,18 denn die Parallelen zwischen der offenen englischen Thronfolge aufgrund der Kinderlosigkeit der Virgin Queen und den in dieser letzten Phase um die Thronfolge geführten französischen Kriegen verliehen den Schriften aus Frankreich eine besondere Aktualität.19 Insgesamt fand die intensivste Flugschriftenproduktion zu den Französischen Religionskriegen in England parallel zu der militärischen Intervention Englands ab 1589 statt, die den Protestanten Heinrich von Navarra unterstützen sollte.20 Sind (wie oben bereits erwähnt) für die Phase zwischen 1585 und 1595 130 Übersetzungen französischer Flugschriften ins Englische bekannt, so entfallen allein auf die Jahre 1589/1590 mindestens 50, möglicherweise sogar 70 Übersetzungen.21
Bis 1593 war Heinrich IV. zur dominierenden Figur der englischen Nachrichtendrucke geworden.22 Während er zum Helden stilisiert und die englische Beteiligung an den Siegen gegen die katholische Liga besonders hervorgehoben wurde, wurden militärische Niederlagen sowie andere Nachrichten von mangelnden Essensvorräten oder desertierenden Truppenteilen "aussortiert". Der Umstand, dass Heinrich IV. im Juli 1593 aus pragmatischen Gründen zum Katholizismus übergetreten war, wurde in England ebenfalls totgeschwiegen.23 In den französischen Publikationen der Zeit war das dagegen nicht der Fall.
Das besondere englische Interesse an Nachrichten aus Frankreich spiegelt sich nicht zuletzt auch in einem 1593 erschienen Buch, das in englisch-französisch übersetzten Dialogen Konversationsübungen darbot und bereits das Vorwort mit der Frage einleitete: "Meßires, what newes of Fraunce can you tell?"24 Ein Exemplar dieses Buches besaß im Übrigen auch Gabriel Harvey.
Harveys Aneignung von Flugschriften der Religionskriege: Zirkulation der Schriften, Lektüreverhalten und Annotationspraxis
Der ehrgeizige Gabriel Harvey war durch Bildung aufgestiegen und hatte gute Kontakte in gelehrten Kreisen englischer Humanisten wie auch bei Hof – Sir Thomas Smith (1513–1577), der Sekretär von Elisabeth I., und Robert Dudley, Earl von Leicester (ca. 1532–1588), waren zeitweise seine Förderer.25 Obgleich Harvey also gut vernetzt war, gehörte er dennoch nicht zum inneren Zirkel bei Hof. Schon dies macht seine Notizen zu einer höchst interessanten Quelle.
Harveys umfangreiche Bibliothek, deren Themenspektrum von Geschichte über Staatslehre, Recht und Medizin bis hin zur Literatur reicht, konnte bislang nur in Teilen rekonstruiert werden.26 Zu den nachgewiesenen Titeln aus Harveys Bibliothek zählen einige französische Flugschriften – jedoch keine Flugblätter – mit Bezug auf die Religionskriege. Diese Flugschriften reichen von informierenden Berichten (z.B. Heinrich IV.: Articles accorded for the truce generall in France [1593])27 über polemisierende Schmähschriften (z.B. Henri Estienne (ca. 1528–1598): L'Introduction au 'Traité de la conformité des merveilles anciennes avec les modernes' ["Einführung zur Abhandlung über die Übereinstimmung der antiken und der modernen Wunder", 1566])28 bis zu gelehrten politischen Traktaten (z.B. Pierre de La Place (ca. 1520–1572): Politique discourses, treating of the differences and inequalities of vocations [1578]).29
In den Flugschriften aus Harveys Sammlung, die aus dem Umfeld der Französischen Religionskriege stammen, sind somit französische und lateinische Exemplare gleichermaßen wie englische Übersetzungen zu finden. In zahlreichen Schriften hinterließ Harvey Kommentare und Randnotizen, die einen Lektüreeindruck wiedergeben, der jedoch stark gefiltert sein kann. Teilweise liegen lange Zeitspannen zwischen der Veröffentlichung und der ersten belegbaren Lektüre Harveys, wie im Fall von L'Introduction, Henri Estiennes Satire auf die Zustände der Kirche. Harveys früheste Auseinandersetzung mit der Ausgabe von 1566 lässt sich erst auf 1590 datieren.30
In anderen Fällen studierte er zeitnah zur Publikation die Schriften, vor allem Anfang der 1590er, als Harvey sich – nach bisherigem Kenntnisstand – intensiver mit den Religionskriegen beschäftigte: Von Guillaume de Saluste, Seigneur du Bartas (1544–1590), den er als "inspired & diuine spirit"31 verehrte, besaß Harvey A canticle of the victorie obteined by the French king (1590) und The triumph of faith … With a song of the victorie obtained by the French king (1592).32 Die Übersetzung des Gedichts über die Schlacht bei Ivry von du Bartas ist völlig zerlesen und sehr intensiv kommentiert: neben den Rändern nutzte Harvey auch leere Seiten für seine Notizen in Latein und Englisch.33 Harvey kommentierte gewöhnlich je nach der Sprache des Werkes in Latein, Englisch, Griechisch oder Italienisch, da er diese Sprachen gut beherrschte, jedoch kaum in Französisch.34
Auch die englische Übersetzung Excellent Discourse des zweiten Teils von Michel Huraults (gest. 1592) Discours sur l'estat de France ("Abhandlung über den französischen Staat", 1591)35 aus Harveys Bibliothek sowie die Articles accorded for the truce generall in France von Heinrich IV. (1593), welche Harvey jeweils noch im Jahr ihrer Erscheinung las, stammen aus dieser Phase, der auch Remonstrances, to the Duke de Mayne lieu-tenaunt generall of the estate and crowne of Fraunce (1593)36 zuzurechnen ist. Auf dem letzten Blatt des Excellent Discourse notierte Harvey den Zeitpunkt seiner Lektüre sowie die Wertschätzung des Gelesenen: "Gabrielharvey: this August: 1592. Il legere nutrica lo ingegno."37
Die besagte englische Übersetzung von Huraults Discours hatte Harvey von dem Drucker und Verleger John Wolfe38 erhalten. Wie ein Vermerk auf dem Titelblatt erklärt, hatte Wolfe Harvey das Exemplar mit dem Hinweis vermacht, dass es sich um "a special rare Discourse" handele. Offenbar kursierten die Flugschriften zu den Französischen Religionskriegen in diesem interessierten, gebildeten Zirkel, der auch beruflich mit Nachrichtenproduktion befasst war, und wurden so von einer weit größeren Leserschaft rezipiert, als die Auflagenzahlen angeben.39 In den 1580er und 1590er Jahren beriet Harvey den bekannten Drucker und Verleger bei Veröffentlichungen neuer Werke, wofür er im Gegenzug einige Drucke erhielt.40
Auch andere eher indirekte Bezugnahmen auf Autoren und Schriften aus dem Umfeld der Religionskriege zeigen, dass Harvey sich weitläufiger mit den Französischen Religionskriegen beschäftigte, als die bislang bekannten Flugschriften seiner Bibliothek vermuten lassen.41 Durch seine Rolle als aktiver Leser und Verbreiter der Schriften innerhalb seines Bekanntenkreises kann Harvey folglich für die Rezeption französischer Schriften zu den Religionskriegen als Schnittstelle eines Ideentransfers gesehen werden.42
Neukontextualisieren, organisieren, kommentieren – Gabriel Harveys Lektüre von Flugschriften der Französischen Religionskriege
Auf den französischen und lateinischen Exemplaren, die Harvey gleichermaßen wie englische Übersetzungen rezipierte, notierte er Kontextinformationen wie den Zeitpunkt der Lektüre oder Hinweise zur Provenienz. Zudem schrieb er knappe Inhaltszusammenfassungen in wenigen Worten oder ausführlichere, oft wertende Abhandlungen. Bei der Lektüre wies Harvey außerdem auf weitere Titel hin, die inhaltliche oder aber stilistische Parallelen zeigen. Wie einige Randnotizen und Kommentare belegen, las Harvey häufig mehrere Werke parallel zueinander und aufeinander bezogen, was ihm erlaubte, den Text in einen von ihm im Leseprozess konstruierten Kontext zu setzen.43 Dabei wurden die verfügbaren Informationen von Harvey neu zusammengestellt und nach eigenen Ordnungskriterien sortiert.
Auf dem Titelblatt des Excellent Discourse (1592) stellte er diesen in Zusammenhang mit unterschiedlichen Schriften aus dem Umfeld der Französischen Religionskriege: Neben dem Titel notierte Harvey den ersten Discours sur l'estat de France (1588) von Hurault. Diese Situationsanalyse des moderaten Pragmatikers Michel Hurault kritisierte scharf den amtierenden König Heinrich III., während der zweite Discours für eine Stärkung der Monarchie eintrat, ohne sie zu idealisieren.44 Der kritischen Position von Hurault stellte Harvey die offizielle königliche ergänzend zur Seite, wenn er zwei Amtsschriften – La harangue du Roy Henry Troisiesme ("Rede König Heinrichs III.", 1588)45 und La copie de la lettre de Roy Henry 4, escript au camp de St. Cloud ("Kopie des Briefes von König Heinrich IV., geschrieben im Feld von St. Cloud", 1589)46 – nannte, die zeitlich die Kernphase der Zuspitzung im Bürgerkrieg umreißen. Dieser Zeitraum reicht von der Ständeversammlung von Blois im Oktober 1588 bis hin zur Ermordung Heinrichs III. im August 1589.
Ob Harvey im Fall des Excellent Discourse seine Notizen aus der parallelen Lektüre mehrerer Flugschriften zu den Religionskriegen erarbeitete oder aber sich beim Lesen des Excellent Discourse auf andere, früher gelesene Schriften zurückbesann, geht aus den Anmerkungen nicht hervor. Wenn er den ersten und zweiten Discours, La Harangue und La copie de la lettre zusammengruppierte, mag ihm als Ordnungskriterium die zeitliche Nähe, die politisch verwandte Position (moderat-politisch) und die ähnliche thematische Ausrichtung der Schriften gedient haben.
Im gleichen Werk notierte er außerdem eine Reihe von Titeln, englische Übersetzungen französischer Flugschriften, auf dem Schmutzblatt, die im Erscheinungszeitpunkt und Thema stark voneinander abweichen. Vor allem scheint Harvey hier die rhetorische Kunstfertigkeit fasziniert zu haben, denn er kommentierte seine Auflistung mit:
Varieties of accidents, & manie pregnant practiques have refined divers French wittes, even abooue the Sharpest Italians, or Spaniards at this instant. Vignere, de Mornay, de Montaigne, du Bartas; This, & other fresh Discourses, how rare wittes?47
Harvey stellte also die bedeutenden politisch-programmatischen Werke aus Frankreich (u.a. von Philippe de Mornay, Michel de Montaigne (1533–1592) und du Bartas) über das Kriterium der literarischen Qualität in einen Zusammenhang und sah sie nicht ausschließlich, nicht einmal primär, als (konfessions-)politische Zeugnisse an. Dadurch erfuhren die Schriften in der Rezeption Harveys durch die veränderte Gewichtung eine zumindest partielle Umdeutung. Gerade in seinen Anmerkungen zu Huraults Discours lässt sich daher Harveys Zwiespalt zwischen Form und Inhalt, stilistisch-affektiver Wahrnehmung und dem politisch-praktischen sowie strategischen Interesse fassen.48
Daneben nahm Harvey mittelbar auf französische Autoren und Schriften aus dem Umfeld der Religionskriege Bezug, was seine breitere Kenntnis dieser Autoren und ihrer Schriften und zugleich seine Wertschätzung verrät. Beispielsweise zog Harvey bei seiner Lektüre von Titus Livius (59 v. Chr.–17 n. Chr.) gemeinsam mit Thomas Preston (1537–1598), dem Master of Trinity Hall, François Hotmans historische Studie Francogallia: Or An Account of the Ancient Free State of France (1574) hinzu.49
Zwischen Heldenkult, politischem Diskurs und rhetorisch-literarischem Interesse – Die Positionierung Harveys in Bezug auf die Französischen Religionskriege
Während der ersten Jahrzehnte der Religionskriege liegen über Harveys Auseinandersetzung mit der französischen Situation nur wenige Informationen in Form von Randnotizen und Kommentaren vor. Allerdings ist aus einer anderen Quelle einiges über seine Haltung zum Frankreich der Religionskriege ablesbar: In seinem Elisabeth I. gewidmeten ersten Band der Gratulationes Valdinenses50 wagte sich Harvey mit einer kritischen Äußerung zu den Heiratsplänen der englischen Königin mit dem katholischen Herzog François d'Alençon (1554–1584), dem jüngeren Bruder Heinrichs III. und Sohn Caterinas de Medici (1519–1589), vor. In der Frage der Annäherung Englands an Frankreich teilte Harvey die Ablehnung des Earl of Leicester, dessen Haushalt er zwischenzeitlich angehörte.51 Insgesamt scheint Harvey vor allem Kontakte bei Hof gehabt zu haben, die der sogenannten war party zuzurechnen sind, also gegen Elisabeths Beschwichtigungspolitik auf dem Kontinent agierten.52
Bei seiner zwar indirekten, aber doch deutlichen Kritik der Außenpolitik Elisabeths I. konnte Harvey sich auf ironisch zitierte, populäre anti-machiavellistische Anspielungen zurückziehen.53 Durch die zahlreichen Anspielungen in den Elisabeth I. gewidmeten Texten auf Niccolò Machiavelli (1469–1527)[] wurden die Medici, besonders aber Alençon, unmissverständlich als ideelle Erben Machiavellis präsentiert, dessen Politikstil mit ihnen Einzug am französischen Hof gehalten habe.54 Mit den pauschal verurteilten "Italienern", die sich über alles, selbst über Könige erheben, könnte Harvey auf die beiden von Alençon persönlich entsandten Gesandten am Hof Elisabeths I. angespielt haben.55
Harveys Ablehnung des Hauses Valois wird auch in der Kommentierung der Flugschriften deutlich. Zu den Ereignissen der Bartholomäusnacht besaß er nicht nur De Furoribus gallicis ("Über die Wut der Franzosen") von François Hotman, der sich für die Beschränkung und Kontrolle der französischen Monarchie einsetzte, in englischer Übersetzung,56 sondern auch Ornatissimi cuiusdam viri, de rebus Gallicis, ad Stanislaum Eluidium Epistola… ("Brief eines gewissen Ehrenmannes an Stanislaus Eluidius, über die französischen Angelegenheiten") von Guy Du Faur, Seigneur de Pibrac (1529–1584).57 Letzteres Werk kolportierte im ersten Teil Gerüchte über die Verschwörung gegen die Valois-Familie im Vorfeld der Bartholomäusnacht, verneinte jedoch im zweiten Teil die Existenz dieser Gerüchte. Harvey neigte eher dieser zweiten Version zu.58
Vor allem in den frühen 1590er Jahren setzte sich Harvey mit Publikationen zu den Religionskriegen auseinander, wobei er zugunsten der Hugenotten und mehr noch zugunsten der Person Heinrichs IV. Partei nahm. Du Bartas' Umschreibung in seinem Gedicht zur Schlacht von Ivry, in dem er Heinrich IV. von Frankreich mit dem antiken Helden Achill gleichsetzte, griff Harvey mit doppelter Zustimmung auf, indem er du Bartas' literarisches Genie mit dem Homers (ca. 8. Jh. v.Chr.) verglich. Zu der als Schmeichelei für Navarra zu verstehenden politischen Parallele schrieb er: "The tru Achilles of Dubartas: a right heroical Prince."59 Harveys politische Verklärung Heinrichs IV. als modellhafter Protestant erhielt nicht nur durch dessen Vertrauten du Bartas, sondern auch durch den gemäßigten Hurault, der zeitweise im Gefolge Heinrichs IV. war und ihm ideologisch nahestand, weitere Nahrung.
Inhaltlich-thematisch war Harveys Lektüre auf ein kleines Segment der Religionskriege konzentriert, zum Teil, weil die in England erscheinenden Flugschriften die verfügbaren Informationen schon selektierten und gewichteten, aber auch, weil Harveys Aneignung der Schriften seiner auch in anderem Kontext fassbaren persönlichen Interessenlage und Überzeugung geschuldet war. So ist es sicher auch kein Zufall, dass Harveys intensivere Auseinandersetzung mit den Französischen Religionskriegen mit dem Zeitpunkt zusammenfällt, als Heinrich IV. den französischen Thron bestieg, und sich 1593 die letzten Rezeptionsspuren finden, also in dem Jahr, in dem Heinrich IV. zum Katholizismus übertrat.
Zudem wurde bereits deutlich, dass Harvey mit einem nicht ausschließlich (konfessions-)politischen Interesse die Schriften rezipierte, sondern sie auch als literarische Erzeugnisse bewertete. Sein besonderes Interesse richtet sich auf politisch-programmatische Werke "großer" Zeitgenossen wie Philippe de Mornay, Michel de Montaigne oder auch Guillaume de Salluste (du Bartas) – und weniger auf Berichte von konkreten Ereignissen der Französischen Religionskriege.60
Zusammenfassung
Die Notizen und Randbemerkungen des englischen Gelehrten Gabriel Harvey bei der Lektüre von Flugschriften der Französischen Religionskriege sind wegen Harveys Distanz zu den Konflikten eine besonders interessante Quelle, die Fragen nach Lesemotivation und Aneignungsprozessen aufwirft. Harvey rezipierte lateinische, für den gelehrten und vor allem überregionalen Bereich geschaffene Publikationen und übersetzte englische sowie französische Flugschriften. Textform und Zielsetzung der Schriften, ob Gedicht, Bericht oder längeres Traktat, stärker informierend oder meinungsbildend, waren dabei keine Ausschlusskriterien. Nicht jede der benannten Flugschriften hatte Harvey selbst gewählt, sondern manche waren auch – wie damals üblich – über das Zirkulieren von Schriften im weiteren Bekanntenkreis an ihn gelangt. Zu diesem Netzwerk, in dem Harvey Schnittstelle, Rezipient und Verbreiter war, gehörten auch Publizisten wie John Wolfe, der wichtigste Drucker und Verleger von übersetzten Flugschriften zu den Religionskriegen in England.
Wie es auch der Stoßrichtung der verfügbaren Flugschriften entsprach, zeigte Harvey in seiner Lektüre eine pauschal-antikatholische Haltung, die mit einer klaren, gleichwohl nicht über Stereotype und Klischees der Zeit hinausreichenden Ablehnung der als Erben Machiavellis bezeichneten französischen Valois einherging. Diese Abneigung galt vor allem dem Herzog von Alençon, der als Heiratskandidat für Elisabeth I. gehandelt wurde. Im Bemühen um eine Hofkarriere suchte Harvey so die Nähe zur war party am englischen Hof.
Als Gegenentwurf zu den Valois wurde Heinrich IV. in den Notizen Harveys zum vorbildlichen Protestanten und zur Identifikationsfigur stilisiert. Dieses Bild deckt sich mit dem vieler anderer Engländer, die ebenso wie Harvey die Religionskriege nur ausschnitthaft wahrnahmen, da von Seiten der Obrigkeit kritische Berichte oder Nachrichten zum Scheitern der Protestanten in Frankreich selten genehmigt wurden. Harvey war jedoch weniger an konkreten Ereignissen der Religionskriege als an einer politisch-staatsmännischen "Schulung" am Beispiel der französischen zeitgenössischen Denker und an literarisch-rhetorischer Fortbildung interessiert. Vor allem orientierte er sich an du Bartas. Durch diese Lösung der Schriften aus ihrem primär konfessionspolitisch geprägten Entstehungskontext und durch die veränderte Gewichtung wurden sie neu positioniert und zumindest partiell umgedeutet. Diese Lektüreausrichtung scheint – bei aller gebotenen Vorsicht bei Verallgemeinerungen – in der gesamtenglischen Flugschriften-Rezeption ein Sonderfall zu sein.