Einführung
Das Abendmahl war eines der zentralen Themen der Reformation. Theologische Abhandlungen dazu bilden quantitativ wie qualitativ einen unüberschaubar großen und reichhaltigen Hauptbestand reformatorischen Schrifttums. Die Auseinandersetzungen um die Abendmahlslehre hatten eine Breitenwirkung, die weit über den akademischen Rahmen theologischer Dispute hinausreichte. Um die Abendmahlslehre stritten nicht weltferne Theologen, das Thema hatte vielmehr hohe lebensweltliche Bedeutung und interessierte Gelehrte und Laien, Kirchengemeinden und Stadträte, Landstände und Fürstenhöfe, den Kaiser und die Reichstage. Denn das Abendmahl betraf die Grundordnung kirchlichen Lebens und damit die Grundordnung von Kirche und Gesellschaft sowie die Grundlage jeder politischen Ordnung im Mittelalter und der Frühen Neuzeit überhaupt. In der Forschung fand die lebensweltliche Dimension des Abendmahls jenseits der "verordneten Theologie",1 der liturgischen Praxis und seiner politisch-sozialen, kulturellen und frömmigkeitspraktischen Bedeutung dennoch verhältnismäßig wenig Beachtung.2
Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die lebensweltliche Wirkung der Abendmahlslehre und -praxis in ihrem Niederschlag in der Sachkultur aufzuspüren, wobei die Kirchenräume im Europa des 16. Jahrhunderts in ihrer Ausstattung, Nutzung und Bedeutung im Zentrum der Untersuchung stehen. Die Veränderungen, denen sie im Zeitalter der Reformation und der Konfessionalisierung unterlagen, werden als Niederschlag der diese Epoche maßgeblich beherrschenden Auseinandersetzungen um das Abendmahl gedeutet. Da sich der Beitrag auf weitgehend unbearbeitetem Feld bewegt, kann hierbei nur exemplarisch vorgegangen werden. Die Funktion und Ausgestaltung der Kirchen als konfessionelle Abendmahlsräume soll als epochenspezifisches Identitätsmerkmal dieser Räume bestimmt werden.3
Nur durch die Einbeziehung ganz unterschiedlicher Medien in die Untersuchung, wie theologischer Schriften, Verordnungen und Berichte einerseits und Bildern von Kirchenräumen und liturgischen Vollzügen sowie Überresten von Kirchenausstattungen andererseits, ist eine Annäherung an das Phänomen der verändernden Wirkung der reformatorischen Abendmahlslehre möglich. Im Blick stehen dabei die Bedingungen dieses Transfers, die intermedialen Bezüge sowie die Transformationsprozesse zwischen den Medien. Eine interdisziplinäre Herangehensweise ist unabdingbar.4 Das Abendmahl ist als Modellfall besonders geeignet, weil es ein symbolischer Akt von hoher Bildlichkeit ist, dessen Wirkung durch das Zusammenspiel unterschiedlicher Medien bestimmt wird. Die Bedeutung des Mediums des rituellen und auch des gemalten Bildes liegt dabei nicht nur in der Illustration und Dokumentation dessen, was in anderen Medien, etwa in theologischen Schriften, vorgegeben wird, sondern geht weit darüber hinaus: Die Bilder entwickeln eine eigene "Macht", in ihnen wird das Abendmahl erst zur erfahrbaren Wirklichkeit.5
Konfessionskirchen als Abendmahlskirchen
Die Veränderung des Kirchenraums im 16. Jahrhundert erfolgte aufgrund der konfessionellen Differenzierung, die insbesondere im Abendmahlsritus sichtbar wurde. Sie führte zur Ausbildung eines grundsätzlich neuartigen Kirchentyps, zur Konfessionskirche.
Während das ausgehende Mittelalter eine Zeit des Kirchenbaubooms war, in der sich das Erscheinungsbild der europäischen Städte durch die unzähligen, zum Teil riesigen gotischen Kirchenneubauten grundlegend wandelte, verlagerte sich der Wandlungsprozess im Verlauf des 16. Jahrhunderts auf die Umgestaltung und Erneuerung der kirchlichen Innenräume. Kirchenneubauten wurden zur Ausnahme.6 Lediglich in Frankreich und den Spanischen Niederlanden entstanden schon früh reformatorische Kirchenneubauten, da die Protestanten dieser Länder vorhandene Kirchenbauten nicht nutzen durften und stattdessen, wo es ihnen gestattet wurde, Kirchenneubauten errichteten, die sie, da ihnen die Bezeichnung église untersagt war, temples nannten.7 Überall sonst wurden alte Kirchen weitergenutzt, so dass der konfessionelle Wandel nicht in den Stadtsilhouetten ablesbar wurde. Dennoch war er im Innern der Kirchen von kaum zu überschätzender Wirkung, denn er verband sich mit einem grundlegenden Wandel der Nutzung und Bedeutung des Kirchenraums insgesamt: Im Prozess der Ausbildung der drei miteinander konkurrierenden Konfessionskirchen, der lutherischen, der reformierten und der römisch-katholischen, erfuhren auch die Kirchenräume eine Konfessionalisierung. Sie wurden zu Gottesdiensträumen der Konfessionskirchen und sollten als solche erkennbar sein. Bekenntniseinheit nach innen und konfessionelle Abgrenzung nach außen wurden zu bestimmenden Elementen der Raumgestaltung.
Im Zuge des Prozesses des Ausstattungswandels hatte die Abendmahlslehre und -praxis eine raumgestaltende Leitfunktion. Nicht die reformatorische Predigt, sondern das Abendmahl veränderte den Kirchenraum: Die reformatorische Predigt ging zwar in Wittenberg, wie an den meisten anderen Orten, der Einführung des reformatorischen Abendmahls zeitlich voraus und war für die Entstehung und Bewahrung konfessioneller Identität von überragender Bedeutung; sie veränderte den Kirchenraum jedoch nicht. Die konfessionelle Prägung einer Predigt wurde nicht sichtbar. Kanzeln blieben über die Zäsur der Reformation hinweg die traditionellen Predigtstühle; sie konnten zwar konfessionsspezifische Bildprogramme erhalten, insgesamt aber blieb die Kontinuität in der Gestaltung des Predigtortes jedoch stärker als die konfessionelle Differenzierung.8 In der Abendmahlsfeier wurde hingegen die konfessionelle Identität der Gemeinde sichtbar, und darüber hinaus erforderte die Praxis der lutherischen wie der reformierten Abendmahlsfeier und, nach dem Tridentinischen Konzil, auch die der katholischen Messfeier grundlegende Veränderungen der Kirchenausstattung. Insofern sind die Konfessionskirchen des 16. Jahrhunderts vor allem Abendmahlskirchen. Ihre Neuausstattung war durch diese Funktion geprägt, was im Folgenden in der exemplarischen Vorstellung einzelner überlieferter Kirchenausstattungen des 16. Jahrhunderts in drei Schritten beschrieben werden soll: Die Betrachtung führt vom Kleinen zum Großen, vom Altar, bzw. Abendmahlstisch (1), über den kirchlichen Teilraum, in dem die Abendmahlsfeier stattfand, z.B. den Abendmahlschor (2), zur Abendmahlskirche, das heißt zum Gesamtraum und seiner auf das Abendmahl bezogenen Neuausstattung (3). Die Auswahl der Beispiele ist nicht repräsentativ für ganz Europa, sondern konzentriert sich auf die Gebiete, in denen der Wandel seinen Ausgang nahm, auf das reformatorische Kernland. Das ist insofern legitim, als hier die Muster ausgebildet wurden, die – insbesondere durch die Strahlkraft Wittenbergs, des kursächsischen Hofes und der Cranachwerkstatt – in weiten Teilen Europas rezipiert wurden.9 Die Wirkung der Reformation auf die römisch-katholische Abendmahlslehre und -praxis muss künftigen Forschungen, insbesondere zu den Konfessionskirchen des 17. Jahrhunderts, vorbehalten bleiben.
Abendmahlsaltäre und Abendmahlstische
Am deutlichsten sichtbar wurde der reformatorische Wandel der Kirchenausstattung am Altar und seiner Ausstattung mit liturgischen Gerätschaften und Retabeln (Altaraufsätzen).
Die radikalste Lösung fanden die Reformierten: Sie schafften die Altäre ab und ersetzten den Hauptaltar durch einen Abendmahlstisch. Zeitlich am Anfang des Wandlungsprozesses stand hier die geordnete Ausräumung der Kirchen in Zürich 1524.10 Das ganze weitere Jahrhundert und noch darüber hinaus blieb die Ersetzung der Altäre durch Abendmahlstische europaweit ein gemeinsames Kennzeichen reformierter Kirchen unterschiedlichster Ausrichtung, durch die auch gerade die Abgrenzung zu den Lutheranern deutlich markiert wurde.11 Die nachfolgenden Kupferstiche zeigen diesen Ausstattungswandel exemplarisch: Es handelt sich nicht um einen konkreten Kirchenraum und seine Veränderung, sondern um einen idealtypisch stilisierten. Dennoch oder gerade deshalb ist die Gegenüberstellung der beiden Stiche für die Frage danach, in welcher Weise sich Kirchenräume im Jahrhundert der Reformation änderten, aufschlussreich, denn an ihnen lässt sich die diesem Artikel zugrunde liegende These der Leitfunktion der Abendmahlslehre- und praxis in der Ausgestaltung der Kirchenräume im 16. Jahrhundert in idealtypischer Verallgemeinerung entfalten.12
Die hier[] zu sehenden Kirchenräume sind nahezu identisch. Die Unterschiede markieren die konfessionelle Zuordnung und betreffen vor allem den Mess- bzw. Abendmahlsbereich: In der 1643 entstandenen, die katholische Vorlage von 1571 nur geringfügig variierenden Kopie (rechts) wurden im Chorbereich der Kirche zur Feier des reformierten Abendmahls der Altar und das Retabel weggeräumt. Stattdessen wurde ein Tisch aufgestellt, um den die Kommunikanten knien und von einem bürgerlich gekleideten Prädikanten das Abendmahl nicht mit der Oblate, sondern mit Brot von einem großen Leib und Wein aus einem Becher erhalten. Die übrigen Änderungen haben ebenfalls mit dem Abendmahl zu tun: Das Abendmahl wurde als einzige Form bildhafter Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens zugelassen, alle anderen Bilder, hier die Statuen der Apostel an den Säulen des Mittelschiffs, wurden entfernt. Auch die nach der Wegnahme des Retabels sichtbaren Chorfenster blieben ohne Bilder. Der pragmatische Umgang des Kupferstechers mit seiner Bildvorlage13 bildet dabei eine Analogie zu den Veränderungen, die tatsächliche Kirchenräume im Gefolge der Reformation erfuhren: Sie wurden weitergenutzt; dabei wurde die Innenausstattung den neuen Bedürfnissen angepasst, die insbesondere durch die veränderte Abendmahlslehre und -praxis entstanden waren.14
In lutherischen Kirchen war der Umgang mit den alten Altären weniger einheitlich: Einheitlich gehandhabt wurde lediglich die Aufhebung des Zusammenhangs zwischen Altären und Reliquien. Ein Altar bedurfte keiner Reliquien mehr, sondern wurde ausschließlich durch seine Nutzung als Abendmahlsaltar geheiligt. Sichtbar wurde die Abschaffung der Reliquien als Zeichen des Bekenntnisses zur Reformation z.B. in Wittenberg, wo das große Reliquiar, Herzstück der Reliquiensammlung Friedrichs des Weisen (1463–1525), seit 1516 nicht mehr auf dem Hochaltar in der Schlosskirche ausgestellt wurde, sondern aus dem Chorraum verschwand und in einem Raum des Schlosses untergebracht wurde. 1516 ist somit eines der frühesten Daten, in dem die Wirkung der reformatorischen Lehre in der kirchlichen Praxis sichtbar wurde.15 In der Regel blieben die ihrer Reliquien entledigten Hauptaltäre stehen, die Retabel wurden jedoch häufig verändert oder ausgetauscht, so dass konfessionell anstößige Darstellungen verschwanden. Allerdings bestand die Hauptfunktion von Retabeln nicht in der konfessionellen Standortbestimmung oder Abgrenzung, so dass sie nicht generell als konfessionelles Erkennungsmerkmal taugen.16 Entsprechend blieben die meisten Bildprogramme konfessionell uneindeutig. Dies gilt auch für einen Großteil der Abendmahlsdarstellungen auf Retabeln, die sich ikonographisch von gleichzeitigen Darstellungen in römisch-katholischen Kirchen nicht unterschieden.17
Neu war jedoch das Abendmahl als Darstellungsthema von Hauptaltarretabeln.18 Die Kommentierung des sakramentalen Geschehens am Hauptaltar durch Retabel, der Einsatz von Bildern des Corpus Christi zur Visualisierung des am Altar in der Eucharistiefeier vollzogenen Wandlungsgeschehens, war seit dem 15. Jahrhundert sehr verbreitet. Traditionellerweise dienten hierzu Darstellungen der Kreuzigung, der Kreuzabnahme, der Beweinung, der Grablegung oder auch der Anbetung des Kindes im Stall von Bethlehem.19 In lutherischen Kirchen behielten Retabel zwar die Funktion der Kommentierung des sakramentalen Geschehens am Altar. Ebenso wie sich die Lehre und die rituelle Praxis des Altargeschehens veränderte, veränderte sich jedoch auch die Kommentierung durch Bilder: Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts traten auf Retabeln in lutherischen Kirchen verstärkt Abendmahlsdarstellungen an die Stelle der traditionellen Bildthemen zur Darstellung des Corpus Christi. Dieser Themenwechsel lässt sich als Vorgang der Konfessionalisierung des Kirchenraums deuten: Weder am Altar noch auf den Bildern geht es mehr um die Verehrung und Anbetung des Corpus Christi, sondern ausschließlich um den liturgischen Vollzug der Abendmahlsfeier. In den Abendmahlsdarstellungen wird der biblische Bericht als alleinige Grundlage des sakramentalen Geschehens am Altar thematisiert. Weder die Hostie noch die Bilder dienen der Anbetung, sondern der Verwendung im Abendmahl bzw. der verinnerlichenden Betrachtung der Bilder. Das sakrale Geschehen verliert dabei nicht an Heiligkeit: Die Realpräsenz Christi im Abendmahl bleibt ebenso unangefochten wie seine Vergegenwärtigung durch Bilder. Die traditionellen Sakramentsbilder, besonders die Kreuzigung, werden auch keineswegs grundsätzlich abgeschafft. Aber ihre Verehrung mit dem Ziel des Heilserwerbs wird abgelehnt. Die erfassbare Anzahl von Abendmahlsretabeln aus dem 16. Jahrhundert und damit die konfessionelle Prägung lutherischer Kirchenräume durch Abendmahlsbilder wird in der Forschung allerdings häufig überschätzt.20
Konfessionell eindeutige und programmatische Bildprogramme traten erst seit Martin Luthers (1483–1546) Tod und verstärkt seit dem Interim und dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 stärker in den Vordergrund. Die in diesen Jahren aufbrechende innerprotestantische Identitätsdebatte drehte sich auch um die gestaltende Wirkung der reformatorischen Lehre. Die Frage nach der bekenntniskonformen Umsetzung der Abendmahlslehre in die liturgische Praxis wurde virulent. Es entstand ein Regelungsbedarf in Fragen der Abendmahlspraxis, die zuvor frei gehandhabt wurde, z.B. hinsichtlich der Kleidung der Liturgen, der Weiterverwendung der Kelche oder der Organisation der Abendmahlsausteilung. In diesem Zusammenhang wurde auch die Darstellung des letzten Abendmahls gelegentlich konfessionalisiert. Beispielhaft sei dies anhand der Abendmahlsdarstellung in der "Mutterkirche" der Reformation aufgezeigt, an Lucas Cranachs d.Ä. (1472–1553)21 Retabel in der Wittenberger Stadtkirche von 1547. Aufgrund der zentralen Bedeutung dieser Kirche, nicht nur für die Reformation, sondern auch für die Zeit der institutionellen Etablierung der lutherischen Kirchen in der Konfessionalisierung, ist die Wirksamkeit dieses Retabels für die lutherische Identitätsbildung insgesamt und speziell für den Wandel des Kirchenraums zu dem einer Konfessionskirche, in deren Zentrum die konfessionell geprägte Abendmahlsfeier stand, kaum zu überschätzen. Entsprechend soll die Konfessionsspezifik dieser Abendmahlsdarstellung im Folgenden etwas ausführlicher dargestellt werden.
Zum einen ist Luther auf dem Mittelbild in der durch ein Gemälde und Holzschnitte von 1521 popularisierten Gestalt des Junkers Jörg in die Jüngerschar eingeordnet.22 Das Bildnis vergegenwärtigt ihn nicht als überzeitliche Lehrautorität, sondern zeigt ihn in der historischen Gestalt, in der er von seinem Aufenthalt auf der Wartburg die Stadt 1521 inkognito besuchte und 1522 vom Rat der Stadt zurück nach Wittenberg gerufen wurde, um dort mit seinen "Invokavitpredigten" die in seiner Abwesenheit unter der Führung von Andreas Rudolf Bodenstein von Karlstadt (1480–1541) eskalierte reformatorische Bewegung wieder in geordnete Bahnen zu lenken. An diesen Zeitpunkt wird mit Luthers Frisur erinnert.23 Das Abendmahl wird so zu einem Erinnerungsbild an die Einführung der Reformation in Wittenberg durch Luther. Er wendet sich aus der Tischrunde heraus und erhält von einem höfisch gekleideten Mundschenk den Weinbecher, der von den Zeitgenossen vermutlich als Lucas Cranach d.J. (1515–1586) identifiziert wurde.24 Der Becher wird durch diese Darreichungsszene herausgehoben. Der innere Zirkel der Jünger wird aufgebrochen und ein Außenbezug hergestellt, in dem der Maler eine entscheidende Funktion einnimmt. Man könnte in der Übergabe des Weinbechers eine Selbstdeutung des Künstlers und seiner Malerei sehen.25 Denn wie Cranach als Mundschenk das im Wein präsente Blut Christi darreicht, so repräsentiert die Farbe des Malers das Blut des Herrn. Er vergleicht durch diese Darstellung seine Kunst unmittelbar mit dem Abendmahl: Durch seine Kunst geschaffene Bilder vermögen eine Gegenwärtigkeit des Dargestellten zu erzeugen, die allein der Realpräsenz Christi im Abendmahl vergleichbar ist.26
Mit der Funktion Cranachs als Mundschenk korrespondiert die Luthers als Junker Jörg. Seine Frisur erinnert nicht nur an seine Rückkehr von der Wartburg, sondern auch an die Zeit, die er dort verbracht hat. Im Rückblick nannte er die Wartburg "sein Pathmos" und verglich sich selbst dadurch mit dem Seher Johannes, der nach seinem eigenen Bericht auf dieser Insel die Offenbarung niederschrieb.27 Der Vergleich zielt auf Luthers Tätigkeit während dieser Zeit: Er hatte das Neue Testament übersetzt. In ähnlicher Weise, wie der Weinbecher ein Bild für die Farbe des Malers ist, so ist er auch ein Bild für das von Luther übersetzte Testament, denn in den Einsetzungsworten nach Lukas erklärt Jesus: "Dieser Kelch ist das neue Testament in meinem Blut, das für euch vergossen wird" (Lukas 22, 20). Wenn Cranach sich selbst und Luther den Kelch gemeinsam halten lässt, dann beschreibt er dadurch auch eine Analogie zwischen seiner Tätigkeit als Maler und der Luthers als Übersetzer. Mehr noch: Cranach beschreibt hier ein komplexes Rollenspiel, in dem er selbst in der Rolle des Mundschenken, der den Wein reicht, zugleich die Rolle seines Namenspatrons, des Evangelisten Lukas einnimmt, der Christus die oben zitierten Einsetzungsworte über den Kelch sprechen lässt. Sein Pinsel legt in diesem Rollenspiel gewissermaßen dem Übersetzer und Liturgen Luther die Einsetzungsworte Christi im Abendmahl in den Mund. Das Rollenspiel mag einem heutigen Betrachter weit hergeholt erscheinen. Für einen Zeitgenossen Cranachs war der Namenspatron jedoch eine ganz selbstverständlich präsente Identifikationsperson.28 Und so mag der erste prominent ins Bild gesetzte Mundschenk in den nordalpinen Abendmahlsdarstellungen, derjenige Albrecht Dürers (1471–1528) in dem Abendmahlsholzschnitt der Großen Passion von 1510, ebenfalls schon als Allegorie des Maler-Evangelisten gelesen werden, der Jesus über den Kelch mit dem Wein, das zugleich Blut und Farbe des Malers ist, sagen lässt: "Dies ist das neue Testament". Die Farbe wird zum Medium, in dem das Heilsgeschehen als gegenwärtiges Geschehen visuell erfahrbar wird. Der Maler-Mundschenk und der Übersetzer-Reformator stehen gleichermaßen im Dienst der Verkündigung des Neuen Testaments "im Blut Christi". Das Abendmahl wird als Bundesmahl dargestellt, mit dem die Reformation in Wittenberg begann und von dem die Verkündigung des Evangeliums ausging.
Luther und Cranach sind die einzigen als Porträts gestalteten Personen des Bildes. Die Darreichung des Weines bleibt die einzige Szene, die keine unmittelbare Vorlage in einem Bibeltext hat. Anders als auf den Darstellungen der Flügel und der Predella (Sockel des Retabels), die die Taufe, Predigt und Beichte als zeitgenössische kirchliche Amtshandlung zeigen, wird auf dem Mittelbild die biblische Mahlfeier dargestellt. Offenbar ging es bei diesem Bild, anders als bei den übrigen, um den Schriftbezug. Das Abendmahl wird nicht nur durch seine Zentralstellung und seine Größe, sondern auch durch diesen biblischen Bezug herausgehoben. Es nimmt auf dem Retabel unter den kirchlichen Zeremonien eine Vorrangstellung ein, die seiner Zentralstellung im kirchlichen Leben sowie seiner Bedeutung als konfessionelles Identitätsmerkmal und Bekenntnisritual entspricht. Aber Cranach thematisiert nicht das Ritual der lutherischen Abendmahlsfeier selbst, sondern seine Schriftgemäßheit. Die Einreihung Luthers in die Jüngerschar lässt sich als Autorisierung seiner Lehre unmittelbar aus der Schrift deuten. An einem Ende des Tisches teilt Christus seinen Leib aus. Für den Wein ist am andern Ende des Tisches Luther zuständig. Die Darreichung des Brotes durch Jesus und das Halten des Weinbechers sind so ins Bild gesetzt, dass sie auf die Praxis der Abendmahlsausteilung am darunter befindlichen Altar Bezug nehmen. Denn in Analogie zur Darstellung wurden an der einen Seite des Altars das Brot und an der anderen der Wein ausgeteilt.
Ein weiteres Detail des Bildes ist als konfessionelle Aussage zu lesen: Jesus schiebt Judas das Brot so in der Mund, dass es durch seine Finger verdeckt wird und es aussieht, als schiebe er Judas seinen Finger in den Mund. Er scheint sich selbst darzureichen. So wird sichtbar, dass auch der Sünder im Sakrament kein ungewandeltes Brot, sondern Christus selbst empfängt. Die Mitteilung der Abendmahlsgabe, d.h. Christi selbst, geschieht unabhängig vom Glauben des Kommunikanten. Diese Lehrposition (manducatio impiorum) war zwischen Luther und Ulrich Zwingli (1484–1531) seit dem ersten Abendmahlsstreit 1525 umstritten. Darüber hinaus geschieht sie weder zeichenhaft, wie Zwingli und Karlstadt lehrten, noch vollzieht sich eine Wandlung allein der unsichtbaren Substanz, was die römisch-katholische Kirche seit dem IV. Laterankonzil von 1215 lehrte, sondern die Mitteilung von Gottheit und Menschheit Christi unter Brot und Wein vollzieht sich als sichtbare Wahrheit. Mit dieser Darstellungsweise wird die Abgrenzung zu Zwingli, Karlstadt und auch zu Johannes Calvin (1509–1564) sowie zur römisch-katholischen Transsubstantiationslehre sichtbar.29
Luther und Cranach werden beide betontermaßen als Angehörige des kurfürstlichen Hofes dargestellt: der kurfürstliche Reformator und Professor durch seine Darstellung als Junker Jörg und der Hofmaler durch seine Kostümierung als Mundschenk. Das biblische Abendmahl rückt dadurch in eine höfische Atmosphäre, die auch in der Architektur und in den Fensterausblicken weiter ausgestaltet wird.30 Diese Umgebung allein birgt keinerlei Konfessionsspezifik, da auch sonst das letzte Abendmahl in hochherrschaftlichen Räumen dargestellt wird. Durch die Kombination mit den Porträts verliert es jedoch seinen unbestimmten Charakter und wird zum Abbild des Wittenberger Hofs. Er bietet den Rahmen für die Darstellung und Feier des Abendmahls. Auch ohne dass der Kurfürst im Porträt auftaucht, ist er auf diese Weise auf dem Retabel als Schutzherr der Reformation präsent. Durch die Schutzhaft auf der Wartburg hat er Luther und mit ihm die ganze Abendmahlsgemeinschaft vor dem Zugriff von Kaiser und Reich sowie vor der römischen Kirche geschützt. Die Erinnerung an diesen Schutz war zur Zeit der Aufstellung des Retabels 1547 von großem aktuellen Interesse: Denn nach dem Tod Luthers 1546 und der Niederlage des Schmalkaldischen Bundes 1547 schien die Vergangenheit unwiederbringlich verloren: Kaiser Karl V. (1500–1558) und das katholische Reich hatten sich gegen Wittenberg gewandt und der Protestantismus schien keine Zukunft mehr zu haben. In dieser Situation erinnerte Cranachs Abendmahlsdarstellung an die ebenfalls von Kaiser und Reich bedrohten Anfänge der Reformation in Wittenberg und stärkte die Hoffnung auf die nah erwartete zukünftige, eschatologische Mahlgemeinschaft.
Die Differenz zwischen den Konfessionen bezüglich der Abendmahlslehre wurde nicht nur am Bildprogramm der Retabel, sondern in der Regel auch am Altar selbst sichtbar: Da das Brot bzw. die weiter verwendete Oblate nach lutherischer Lehre ausschließlich dem Verzehr im Abendmahl, nicht jedoch – da man die Wandlung ablehnte – der Anbetung und Verehrung diente, wurde sie nach Einführung der Reformation nicht mehr zur Verehrung ausgestellt. Die dafür bis dahin verwendeten Monstranzen und Tabernakel, die in römisch-katholischen Kirchen auch außerhalb der Messe seit dem Ende des Konzils von Trient ausschließlich auf dem Hauptaltar ausgestellt wurden, wurden abgeschafft.31
An einigen Orten entstanden auch neue Altarformen, die der veränderten Funktion des Altars innerhalb des Gottesdienstes eher entsprachen: So wurden in Neubauten wie in der Schlosskapelle in Schmalkalden mit der Verbindung von Kanzel und Altar ("Kanzelaltar") an einem Zentralort im Osten der Kirche die protestantische Reduktion des Kultus auf Predigt und Abendmahl als Reduktion der Kultorte im Kirchenraum erfahrbar. Hier wurde zusätzlich sogar der Taufort mit dem Altar auf das engste verbunden, indem die Altarplatte auf den Taufstein gelegt und in der Mitte der Tischplatte eine Vertiefung zum Einsetzen der Taufschale eingearbeitet wurde.32
Diese Verbindung zwischen Taufe und Abendmahl findet sich schon früher auch in reformierten Kirchen, wo zum Abendmahl die Tischplatte unmittelbar auf das Taufbecken gelegt oder zur Taufe eine Schale auf den Abendmahlstisch gestellt wurde.33 Eine weitere Neuerung bestand in der Reduzierung der Altäre: Mit der Abschaffung der Privatmessen wurden die Nebenaltäre ihrer Funktion beraubt. Sie wurden nicht mehr benutzt, ausrangiert oder erhielten eine neue Nutzung: Bei großer Teilnahme am Abendmahl erwies es sich als notwendig, an mehreren Orten innerhalb einer Kirche Brot und Wein auszuteilen. In vielen Kirchen wurden bei großem Andrang daher die Nebenaltäre als zusätzliche Abendmahlsaltäre weitergenutzt.34
Abendmahlsorte im Kirchenraum
Das Abendmahl wurde nicht im Verborgenen, sondern öffentlich sichtbar an herausgehobener, zentraler Stelle innerhalb des Kirchenraums gefeiert. Grundsätzlich bestand in diesem Punkt kein Änderungsbedarf. In den meisten Kirchen vollzog sich die Abendmahlsfeier an derselben Stelle wie zuvor die Gemeindekommunion: am sogenannten Kreuzaltar, der vor dem Lettner oder der Chorschranke stand, durch die in den meisten Kirchen der Chorbereich vom Hauptschiff abgetrennt war. Die architektonische Raumausrichtung nach Osten blieb bestehen. In reformierten Kirchen wurde der Altar durch einen Tisch ersetzt, aber der Ort der Abendmahlsfeier war nicht konfessionsspezifisch.
In Kirchen mit abgeschranktem Chorraum führte die Reduktion des liturgischen Geschehens auf den Kreuzaltar und die Kanzel in der Regel jedoch zu einem Bedeutungsverlust des traditionellen Sakralzentrums der Kirche im Chor. Er wurde gar nicht mehr oder zumindest nicht mehr zum Gottesdienst genutzt.35 Dieser Umgang mit dem Chorraum ist von großem Pragmatismus geprägt. Es ist davon auszugehen, dass die Beendung der liturgischen Nutzung des Chorraums als großer reformatorischer Einschnitt wahrgenommen wurde. Denn mit dem Chor war die Vorstellung eines kirchlichen Exklusivraums verbunden, dessen Nutzung mehr oder weniger ausschließlich Klerikern vorbehalten war und dem mit besonderer Ehrfurcht zu begegnen sei, weil er als Aufbewahrungsort kostbarer Reliquien sowie als Bischofs- oder Herrschergrablege als besonders heilig galt. So wurde im Gefolge der Zentralisierung des gottesdienstlichen Geschehens auf den Kreuzaltar als Abendmahlsaltar und der damit verbundenen Aufgabe der liturgischen Nutzung des Chorraums die Abschaffung der Reliquien und des geistlichen Standes sichtbar.
Die gottesdienstliche Nutzung des Chorraums wurde mit der Reformation jedoch nicht überall aufgegeben. Besonders in lutherischen, aber auch in einigen reformierten Kirchen wurde der Chor zum Abendmahlschor umfunktioniert.36 Nicht der Kreuzaltar vor dem Lettner, sondern der Hauptaltar im Chor wurde so zum protestantischen Abendmahlsaltar. Die vorreformatorische Auffassung des Chorraums als Sakralzentrum der Kirche wurde dabei nicht aufgegeben, sondern konfessionsspezifisch überformt. Die Abschrankung blieb bestehen, wurde jedoch durch zusätzliche Durchgänge oder auch durch eine Ersetzung des steinernen Lettners durch ein Gitter besser einsichtig. Einige Kirchen erhielten sogar neue Lettner. Während in römisch-katholischen Kirchen infolge des Tridentinums der Hochaltar sichtbares Zentrum der Kirchen sein sollte und infolgedessen Lettner abgerissen werden sollten, kam es so in lutherischen Kirchen zu einer Renaissance des abgetrennten Chorraums.37 Das Chorgestühl blieb in der Regel erhalten, war jedoch nicht mehr den Klerikern vorbehalten, sondern diente der Abendmahlsgemeinde. Abendmahlschöre erfuhren häufig aufwendige Neuausstattungen mit Bildprogrammen, die den Abendmahlsraum als konfessionellen Bekenntnisraum charakterisierten. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist in der Brüdernkirche in Braunschweig überliefert, die unter Johannes Bugenhagen (1485–1558) 1528 eine Umwidmung von einer Bettelordenskirche zum gesamtstädtischen Reformationszentrum erfuhr.38 Schon der 1592/1593 entstandene Renaissancelettner war in seiner Ikonographie ganz auf die neue Nutzung des Chorraums als Abendmahlsraum bezogen.39 Er wurde 1903 durch einen neugotischen ersetzt. Die überlieferten Teile sowie eine Zeichnung des Braunschweiger Kupferstechers Anton August Beck (1713–1787) aus dem Braunschweiger Stadtmuseum ermöglichten doch einen detailgetreuen Nachbau, der heute im Eingangsbereich der Brüdernkirche ausgestellt ist.
In der Mitte ragt bis kurz unter das Gewölbe das Kreuz Christi empor und erinnerte den Kirchenbesucher an das Erlösungswerk Christi, an dem er im Abendmahl teilhatte. Links von der Kreuzigungsszene befindet sich ein Relief mit der Errettung der Israeliten durch den Blick auf die eherne Schlange, die den Opfertod Christi präfiguriert, und rechts die Auferstehung Christi. Zwei große, rundbogig abgeschlossene Durchgänge sowie drei Fenster mit Ziergittern ermöglichten einerseits der Gemeinde den Ein- und Austritt in den Abendmahlsraum – getrennt nach Männern und Frauen, wie es die Kirchenordnung vorsah – und gaben andererseits den Blick vom Kirchenschiff in den Chorraum frei. Die vergoldeten Säulen und die flankierenden Engel, die die Durchgänge rahmten, erinnern an den Eingang der Stiftshütte bzw. des salomonischen Tempels und die Seraphim neben der Bundeslade und verweisen dadurch auf die besondere sakrale Würde des Chorraums bzw. seiner liturgischen Funktion. In dieses auf das Abendmahl bezogene Programm wurde nun an zentraler Stelle, auf dem mittleren Fenstergitter, zwischen den Durchgängen in den Chor, oberhalb des Altars und unterhalb der Uhr und des Kreuzes, das Braunschweiger Stadtwappen eingebunden. So wie der Rat die Kirchenordnung beschloss und verantwortete, deren Kernstück die lutherische Abendmahlslehre bildet, so ist sein Wappen hier auf dem Lettner, der Fassade des Abendmahlsraumes, als Bekenntnis zum lutherischen Abendmahl zu verstehen. Der Rat garantierte die Durchsetzung der Reinheit der Abendmahlslehre und damit auch der Abendmahlsgemeinschaft. Wer abweichende Meinungen vertrat, musste widerrufen, öffentlich Buße leisten oder wurde der Stadt verwiesen. Städtische Identifikation vollzog sich über das Bekenntnis zur offiziellen, vom Rat vertretenen Abendmahlslehre. Das Ratswappen gehörte daher zwischen Altar und Kreuz, zwischen Bekenntnis und evangeliengemäßen Ritus, an die Fassade des Abendmahlsraums, in dem nach der amtlichen Lehre das Abendmahl gefeiert wurde.
Auf diesem Blick in den Chorraum sieht man, dass der vorreformatorische Hochaltar an seinem Ort belassen worden war. Links und rechts von ihm waren ursprünglich – wie Wächter über die schriftgemäße Sakramentsverwaltung – Bildnisse von Luther und Philipp Melanchthon (1497–1560) aufgehängt.40 Das Chorgestühl diente – wie noch im Plan der Stuhlordnung von 1802 zu erkennen – als Kommunikantensitz, war also zum Laienstuhl umfunktioniert worden. Vermutlich saßen links die Männer und rechts die Frauen. 1597 wurden von dem Niederländer Reinhart Roggen aus Herzogenbusch die Rückwände des gotischen Chorgestühls oberhalb der Sitzlehnen innerhalb von vier Monaten mit 46 ganzfigurigen, nahezu lebensgroßen Bildnissen von Kirchenlehrern in chronologischer Reihenfolge von der Antike bis in die Braunschweiger Gegenwart bemalt.41 Als Vertreter der Braunschweiger Konfessionalisierungsgeschichte wurden einige Superintendenten dargestellt, die sich in besonderer Weise um die Durchsetzung einer gnesiolutherischen Position in der Stadt verdient gemacht hatten, unter ihnen auch Polycarp Leyser d.A. (1552–1610). An der Aufnahme seines Porträts in den Zyklus lässt sich die stadtpolitische Dimension der innerprotestantischen Lehrauseinandersetzungen um das Abendmahl und ihr Niederschlag im Ausstattungsprogramm des zentralstädtischen Abendmahlsraums aufzeigen: Eine Mehrheit unter den Ratsherren sympathisierte mit den kursächsischen sogenannten Kryptocalvinisten und wollte 1592/1593 die Entlassung des Superintendenten durchsetzen, während die Pfarrerschaft im Verein mit den Bürgerhauptleuten als Gemeindevertretern an ihrem Superintendenten festhielt. Die Bürgerhauptleute setzten sich durch: Sie machten eine Eingabe beim Rat. Bei der Übergabe versammelte sich ganz Braunschweig vor dem Altstadtrathaus, es kam zu Handgreiflichkeiten. Leyser blieb zwar nicht in Braunschweig, sondern folgte einem Ruf nach Wittenberg, aber er wurde nicht entlassen, sondern nur beurlaubt.42 In der Aufnahme seines Porträts in die Bekennerreihe des Chorgestühls spiegelt sich der politische Sieg der Oppositionspartei gegen den Rat, der zugleich ein Sieg der lutherischen Abendmahlslehre, insbesondere der von Polycarp Leyser in der Lehrtradition Luthers verfochtenen Lehre von der Omnipräsenz der Menschheit Christi, über abweichende, calvinistisch beeinflusste Lehrmeinungen war. Das konfessionelle Bekenntnis wurde zum Gegenstand des Bildprogramms des Abendmahlsraums einer zentralen Pfarrkirche und spiegelte zugleich den Bekenntnisstand der mit der Bürgergemeinde identischen Kirchengemeinde, der sowohl nach außen als auch gegen abweichende Lehrmeinungen nach innen durchgesetzt wurde.
Eine andere Umwidmung des Chorraums bestand in seiner Einbeziehung in den Predigtraum: Besonders in reformierten Kirchen in der Schweiz, aber gelegentlich auch im lutherischen Bereich, wurde der Chor mit auf die Kanzel ausgerichteten Kirchenbänken ausgestattet.43
Es gab auch Kirchen, in denen weder der Hauptaltar im Chor noch der Kreuzaltar zum Abendmahlsaltar wurden, sondern ein Altar an anderer Stelle genutzt oder auch neu errichtet wurde. Besonders in reformierten Kirchen war man bei der Aufstellung von Abendmahlstischen insgesamt flexibel, weil sich die Holztische leicht umstellen ließen.44
Abendmahlskirchen
Die Einrichtung eines gut sichtbaren Abendmahlsraums war in der Regel mit einer Ausrichtung des Gesamtraums auf diesen Teilraum verbunden. Das wurde entweder dadurch erreicht, dass das bisherige Sakralzentrum des Raums als Abendmahlsraum genutzt wurde, also vor allem in Kirchen, in denen Abendmahlschöre eingerichtet wurden.
Eine andere Möglichkeit bestand darin, eine Neuausrichtung der Kirche vorzunehmen, wie das in den ovalen oder leicht gestreckten oktogonalen Neubauten der temples in Frankreich – etwa für den Temple du Paradis in Lyon von 1564, für den 1577 begonnenen temple in La Rochelle und für den ebenfalls 1577 errichteten temple von Montpellier – erstmals erprobt und für reformierte Kirchen in den Ländern der Refuge etwa 200 Jahre lang verbindlich wurde. Ebenfalls neuartig ausgerichtet waren die späteren Quer- und Zentralbauten der Reformierten in Holland und Deutschland: Kanzel und Altar wurden in der Mitte des Kirchenschiffs an der Wand errichtet; die Sitzbänke und Emporen waren so angebracht, dass sie den Blick auf dieses Zentrum ermöglichten.45
Insgesamt wurde die Ausrichtung des Kirchenraums auf den Abendmahlsraum hin durch den zwar auch in vorreformatorischen Kirchen zu beobachtenden, jedoch erst seit der Reformation flächendeckend verbreiteten Einbau von Emporen und durch die ebenfalls zunehmend eingeführte Bestuhlung des Hauptschiffs viel stärker als früher in den Raum eingeschrieben. Während die Kirchenstühle zuvor häufig auf Korporationsaltäre oder Memorialstiftungen ausgerichtet waren, wurden sie nun einheitlich auf die Kanzel und den zentralen Abendmahlsaltar bezogen. Unterstützt wurde die Zentralisierung weitergenutzter Kirchen zudem durch die Reduktion der Teilräume, etwa der Nebenaltäre. Kirchen, die bislang ganz mit konglomerathaft nebeneinanderstehenden, im Aufwand der künstlerischen Ausstattung miteinander konkurrierenden Teilräumen ausgestattet waren, wurden nach der Ausräumung von Nebenaltären zu Räumen, die als Ganze allein auf Kanzel und Abendmahlsaltar ausgerichtet waren.46 Besonders eindrücklich erscheint diese Zentralisierung in der 1529–1554 neu errichteten Marktkirche in Halle, die, nachdem Kardinal Albrecht von Brandenburg (1490–1545) die Stadt 1541 verlassen hatte, unter dem lutherischen Rat als neuem Bauherrn fertiggebaut wurde. Es kam zu einer konfessionsspezifischen Neuplanung, nach der nur noch ein Hauptaltar vorgesehen war, auf Bilder und Grabmäler verzichtet wurde sowie Emporen eingezogen wurden, deren Brüstungen mit großformatigen deutschen Bibelversen beschrieben wurden. Kanzel und Altar wurden zwar nicht zusammengelegt, aber der Raum wurde auf diese beiden Zentren reduziert und ausgerichtet.47 So wurde die Konzentration des Gottesdienstes auf Predigt und Abendmahl in die Ausstattung lutherischer Kirchen eingeschrieben.
Abendmahlskirchen als Orte der Herrschaftsrepräsentation
Das Abendmahl ist als Ritual zur Konstituierung und sakralen Begründung politischer sowie sozialer und gesellschaftlicher Ordnung sowohl in der Zeremonialforschung als auch in der neueren Ritualforschung bislang weithin unberücksichtigt geblieben.48 Es war jedoch gerade im Zeitalter der Konfessionalisierung von überragender Bedeutung als Ritual der sakralen Fundierung und Legitimierung des konfessionell geeinten Gemeinwesens und diente so zur Repräsentation der ständischen Gesellschaftsordnung einerseits und der Herrschaftsordnung andererseits.49 Die Ordnung des Gemeinwesens wurde in der öffentlichen, in vielen Kirchen in einem bühnenartigen Raum hervorgehobenen Abendmahlsfeier sakral begründet und immer wieder erneuert. Die gesteigerte und veränderte Bedeutung des konfessionellen Abendmahls schlug sich auch in der Ausgestaltung der Konfessionskirchen nieder: Hoheitszeichen, wie Wappen, Grabmäler oder Bildnisse, wurden bevorzugt im Chorbereich aufgestellt, wodurch vor allem die Obrigkeit am Ort der Abendmahlsfeier vergegenwärtigt wurde.50
Max Weber (1864–1920) beschrieb das Abendmahl als konstitutiv für den spezifischen Charakter der westeuropäischen Städte, die er als Kultgemeinschaften verstand, in denen die Bürger über die ständischen Schranken hinweg miteinander verbunden waren.51 Das Abendmahl erhält in seiner Darstellung die Funktion eines gemeinschaftsstiftenden Ritus, in dem die Idee des städtischen Gemeinwesens als civitas christiana sichtbaren Ausdruck und sakrale Begründung fand. Ob mit dieser Deutung die Eigenart der westeuropäischen Städte im Mittelalter treffend charakterisiert ist, sei dahingestellt.52 In hohem Maße zutreffend ist Webers Charakterisierung jedoch für die Städte und Landesherrschaften, die im 16. Jahrhundert von der Reformation und der sich anschließenden Konfessionalisierung erfasst wurden. Denn im Zusammenhang des Auseinanderbrechens der konfessionellen Einheit erhielten Rituale der Konstituierung und Bestätigung kirchlicher Gemeinschaft ein ungleich höheres Gewicht als zuvor. Die Abendmahlsfeier wurde zum gemeinsamen Ritual der kirchlichen und der politisch gewollten Theologie, das heißt sie begründete die Einheit von Kirche und Staat und bildete die gemeinsame Wurzel ihrer Sakralisierung. "Citizenship was based on faith," formulierte Joseph L. Koerner (*1958).53 Sichtbar wurde die so verstandene Bürgerschaft im frühmodernen Staat in der Abendmahlsfeier.
Das Abendmahl wurde zudem zum Ritual der Abgrenzung zwischen den Konfessionen. In der Abendmahlsfeier wurde dabei nicht nur der persönliche Bekenntnisstand, sondern vor allem die Zugehörigkeit zum konfessionell vereinheitlichten Gemeinwesen sichtbar. Umgekehrt galt, dass überall da, wo keine Abendmahlsgemeinschaft herstellbar war, auch keine politische Einheit möglich zu sein schien: weder für den Einzelnen, der das Abendmahl verweigerte und damit zugleich seine Mitwirkung am Sakralisierungsritual der politischen Ordnung,54 noch für konfessionelle Gruppen oder Fraktionen, die im Fernbleiben ihre Ablehnung der konfessionspolitischen Einheit kundtaten55 oder auch gegen Widerstand am eigenen Ritus festhielten.56 Konflikte über die Abendmahlsordnung waren für die Obrigkeiten bedrohlich, weil sie mit der kirchlichen zugleich die politische Einheit und Ordnung in Frage stellten. So wurde insbesondere in der so genannten zweiten Reformation die Einführung des reformierten Abendmahls im Ritual des Brotbrechens durch den Landesherrn Auslöser für Widerstand in der Bevölkerung. Individuelle Gewissensentscheidung und verordnete Kultvorschrift traten in Konkurrenz und das Abendmahl verlor seine Wirkung als sowohl kirchlich wie auch politisch einheitsstiftend.57
Eine Besonderheit der Abendmahlsgemeinschaft sah Max Weber in ihrem Geburtsschranken überschreitenden Charakter. Ob diese Besonderheit tatsächlich in der Weise wirksam wurde, dass die Überwindung der Standesgrenzen auch außerhalb der Abendmahlsgemeinschaft wirksam wurde, ist fraglich. Denn die Abendmahlspraxis deutet darauf hin, dass der Zugang zum Abendmahl zwar standesunabhängig war, dass sich die Austeilung jedoch innerhalb des festen Rahmens der ständischen Ordnung vollzog. Die Abendmahlsgemeinschaft erscheint in ähnlicher Weise wie Prozessionen geradezu als Bild der Sakralität der Ständeordnung. Die Besonderheit des Rituals liegt nicht in der Egalisierung der Geburtsunterschiede, sondern in der Einbeziehung der Gesamtgesellschaft als Akteure: Jedes Gemeindeglied hatte Zugang. Die Abendmahlsfeier war ein Bild für das Ganze der Gemeinde unter Einschluss von Frauen und solchen, die kein Bürgerrecht innerhalb einer Stadt besaßen. Voraussetzung war lediglich die konfessionelle Zugehörigkeit. Nicht einer allein oder in Stellvertretung kommunizierte, während die Öffentlichkeit das Publikum bildete, sondern jeder.
Die protestantischen Abendmahlsfeier erhielt im Kirchenraum eine eminent politische Bedeutung: zum einen als Ritual der Standesrepräsentation (1) und zum andern in ihrer Funktion als Bekenntnisritus der territorialen Konfessionseinheit (2). Darüber hinaus wird am Zerbrechen der Abendmahlsgemeinschaft im Reich ihre bildhafte Bedeutung für die politische Einheit sichtbar (3).
Das Fürstenabendmahl und die ständische Ordnung der Abendmahlsgemeinschaft
Empfing ein Fürst das Abendmahl, vollzog sich dies in einem bis in die Details hinein ausgestalteten Zeremoniell, das man als "Fürstenabendmahl" bezeichnen kann. Da es nicht zum Gegenstand von Hofordnungen wurde, ist es quellenmäßig verhältnismäßig schwierig als Hofzeremoniell zu fassen. Das Fürstenabendmahl war eine auf das engste mit dem Rechtsakt des Erlasses einer territorialen Kirchenordnung verbundene Mahlzeremonie, die ausgeprägt höfischen Charakter hatte. Sie diente der Visualisierung der konfessionellen Abgrenzung sowie der auf den Fürsten ausgerichteten zentralistischen Kirchenordnung. Dies wird an der Beschreibung eines Fürstenabendmahls des Pommerschen Herzogs Philipp II. (1573–1618) anschaulich, die Philipp Hainhofer (1578–1647) im Reisebericht über seine Pommernreise 1617 niederschrieb. Die Pommernherzöge orientierten sich, wie die lutherischen Fürsten insgesamt, an den in Kursachsen, dem Mutterland der Reformation, für die konfessionelle Repräsentation ausgebildeten höfischen Zeremonien. Die Beschreibung kann daher als repräsentativ für die Zeremonie des Fürstenabendmahls in lutherischen Territorien im Zeitalter der Konfessionalisierung insgesamt angesehen werden.58
Darnach [nach der Predigt und nachdem der 'Priester' das Messgewand, das er zur Predigt abgelegt hatte, wieder angezogen hatte] sein wir alle aus den Stuelen gangen, auch das Frawen=Zümmer, und haben im Chor den Fürstenpersohnen bey der communion aufgewartet, welche auf aine schwarz sammetine Deckhin vor dem Altar geknuet, alß erstlich meines gst. Herrn, darnach meiner gst. Frawen, sodann Hzgl. Ulrichß F.F.F. G.G.G., denen der Marschalkh und der Hauptmann aine lange schwarz sammetine Deckhin an statt aines Tischtuchß fürgehalten, über welche der Priester Ihnen dreyen erstlich die ostiam in Mund, darnach allen dreyen den Kelch geraichet. Als die Fürstenpersohnen wider in Ihren Stuel khommen, sein das Frawen-Zümmer und wir auch wider in unsere Stuel gangen, und hat man die sammetine Deckhin auf der Erden auch wider aufgehebt, und nun die schwarz wulline darunder ligen lassen. Alß dan ist das Frawen=Zümmer umb den Altar herumb knueglet, und auch auf der Rayen herumb erstlich die ostiam, darnach den Kelch des Herrn empfangen. Darnach hab Ich müssen der erste beim Altar sein, forts der Hauptmann, der Marschalkh, der Stallmaister, und die anderen Offizierer, unserer 9. mit ain ander, die wir umb den Altar herumb knuet; darnach wider Ihrer 9, immer die Aeltesten und fürnemsten voran; darnach die paggi und Jungen, dan die Knecht und Stallbursch, und endlich die Mägdt mit ihrer Under=Hofmaisterin, under wehrender Communion sunge man Psalmen und gaystliche Lieder. … die Mittagsmalzeit hab Ich in Herzog Ulrichß Gemach eingenommen, und meim Herrn zu Ehren, weil mirs seine Leutt gerathen, disen Tag, auch bey der Communion, das erste mahl die mir gst. verehrte Kettin und Fürstliche Büldnussen angehenkht.59
Die beschriebene Abendmahlsfeier fand am 10. Oktober 1617 morgens um halb acht im Chor der Schlosskirche von Neustargard statt. Auffällig ist die höfische Ordnung des Rituals: Der Hofstaat wartete dem kommunizierenden Fürsten auf, das heißt alle verließen ihre Kirchenstühle und umstanden als Betrachter den fürstlichen Abendmahlsempfang. Wie das Zeremoniell der Hoftafel begann auch das des Abendmahls damit, dass Speise und Trank zuerst dem Fürsten gereicht wurden, wobei insbesondere der Kelchreichung, die ja zugleich ein konfessionelles Spezifikum war, die Darreichung des ersten Trunks durch den Mundschenk entsprach. Die fürstliche Familie empfing das Abendmahl nicht nur zuerst, sondern als einzige unter Aufwartung des Hofstaats und von der nachfolgenden Austeilung an den Hofstaat deutlich abgesetzt: Nur für die fürstliche Familie, das heißt für den regierenden Fürsten Philipp II. von Pommern-Stettin und seine Frau sowie seinen jüngsten Bruder Ulrich (1589–1622), wurde eine schwarze Samtdecke zum Knien vor dem Altar ausgebreitet, für die nachfolgenden Kommunikanten blieb lediglich die darunter befindliche wollene Decke liegen. Nur ihnen wurde von den ranghöchsten Hofleuten, dem Marschall und dem Hauptmann, eine ebenfalls schwarze Samtdecke als "Tischtuch" vorgehalten, über die hinweg ihnen die Sakramente gereicht wurden. Der Hofstaat erhielt das Abendmahl erst, nachdem alle in die Kirchenstühle zurückgegangen waren und die Samtdecke weggenommen worden war. Die nachfolgenden Gruppen von jeweils neun Kommunikanten waren streng nach Rang und Alter geordnet. Eine fürstliche Herrin, vermutlich die Ehefrau des nicht-regierenden Bruders Ulrich,60 führte die erste Neunergruppe an, während die übrigen Frauen erst nach den Männern an die Reihe kamen. Und schließlich ist bemerkenswert, dass der von Hainhofer als "Priester" bezeichnete Pfarrer für die Abendmahlsfeier wie schon zuvor für die Lesung des Evangeliums das traditionelle feierliche Ornat mit einem "Messgewand", das heißt vermutlich einer Kasel, aus schwarzem Samt über den weißen Chorrock anlegte, während er es zur Predigt auszog. Dieser auch andernorts belegte Brauch ist als Abgrenzung von den Reformierten zu werten, bei denen die Austeilung des Abendmahls von bürgerlich gekleideten Prädikanten vorgenommen wurde.61 Die herausgehobene Kleidung steigerte den Eindruck der sakralen Würde des Liturgen und der Sakralisierung der durch die Feier abgebildeten hierarchischen Ordnung der Kirche. Auch der Berichterstatter, der Kunstagent Philipp Hainhofer aus Augsburg, legte anlässlich der fürstlichen Mahlfeier einen besonderen Schmuck an: die Goldkette mit den Miniaturbildnissen des Fürstenpaares, die ihm in Anerkenntnis seiner Verdienste und Freundschaft kurz zuvor vermacht worden war. Dieses Schmuckstück ist Ausdruck der besonderen Nähe Hainhofers zum Fürsten und seines Ranges am fürstlichen Hof, dem auch seine Position innerhalb der Abendmahlsgemeinschaft entsprach: Er wurde dem gesamten Hofstaat vorgeordnet. Das Abendmahl hatte den Charakter eines Hofzeremoniells. Die Position in der Rangfolge des Abendmahlsempfangs entsprach der Nähe oder Distanz zum Herrscher und dem höfischen Rang.
Die Öffentlichkeit der Abendmahlsfeier bezog die anwesende Gemeinde, in Hainhofers Schilderung war das der gesamte Hof, zunächst als Zeugen des fürstlichen Sakramentsempfangs in das Geschehen ein und im Anschluss daran in unmittelbarer Teilhabe, wobei sich die Gemeindekommunikation ebenfalls nach der ständischen Ordnung abspielte, die dadurch zugleich immer aufs Neue als gottgewollte Ordnung konstituiert wurde. Jedoch nicht nur innerhalb des Hofes wurde im Abendmahl die ständische Ordnung der Gemeinde erlebbar, sondern auch außerhalb. In Quellen wird diese Ordnung vor allem dann fassbar, wenn sie durcheinander geriet, so z.B. im Streit zwischen den Medizinern und Juristen um den Vorrang beim Gang zum Abendmahl in der Leipziger Paulinerkirche.62 Die Teilnahme am Abendmahl war nicht exklusiv an Rang, Namen und Geschlecht gebunden, sondern stand außer Andersgläubigen und Kindern der gesamten Bevölkerung offen und verband sie zu einer ständisch geordneten Konfessionsgemeinschaft. Darstellungen von Abendmahlsfeiern fanden im ausgehenden 16. Jahrhundert große Verbreitung und wurden häufig in Kirchen aufgehängt. Oft wird auf ihnen der Fürst als Kommunikant dargestellt.63 Der Empfang des Abendmahls fungierte dabei zum einen als Bild seiner vorbildhaften Frömmigkeit, zugleich verkörpert der Fürst jedoch auch die Gesamtheit seiner Herrschaft. Bildhaft war er so als Kommunikant auch dann anwesend, wenn er nicht vor Ort war. Dieselbe Funktion übernahmen auch spezielle Abendmahlsstühle für den Landesherrn, die in einigen Kirchen zusätzlich zu den gegenüber der Kanzel angebrachten Patronatslogen aufgestellt wurden.64 Zudem gehörte in einigen Territorien eine Fürbitte für den Landesherrn als fester Bestandteil zur Abendmahlsliturgie, wodurch ebenfalls sein Sonderstatus vom Abendmahl her legitimiert wurde.65
Die Fürstenkommunikation diente als Bild für die Einführung und für Bestätigung des Abendmahls unter beiderlei Gestalt in einem Herrschaftsgebiet. Diese Form des Abendmahls war zugleich das Ritual, mit dem die Einführung der Reformation in einer Stadt oder einem Territorium vollzogen wurde. Das erste Abendmahl erhielt daher den Charakter eines Konfessionsstiftungsmahles, eines Bundesschlusses oder Rechtsaktes, der der sakralen Fundierung der neuen kirchlichen Ordnung diente. In Territorien, in denen die Einführung der Reformation wie in Brandenburg als obrigkeitlicher Akt vollzogen wurde, war das zugehörige Zeremoniell das der ständisch geordneten Abendmahlsfeier unter beiderlei Gestalt.66 Sie wurde zunächst im Beisein des Hofes sowie der evangelischen Pfarrer der Kurmark und der Bevölkerung der Städte Cölln und Berlin an der Residenz gefeiert, um einige Wochen später in allen Teilen des Landes unter Anleitung der Teilnehmer der ersten Abendmahlsfeier nach derselben Ordnung wiederholt zu werden.67 In ähnlicher Weise vollzog sich auch der innerprotestantische Konfessionswechsel von Landesherren, die sodann landesweit entsprechende konfessionsspezifische Änderungen veranlassten. Entlang der ständischen Ordnung wurde innerhalb kürzester Zeit im gesamten Territorium ein einheitliches liturgisch-theologisches Formular eingeführt, durch das die Landeskirche als Abendmahlsgemeinschaft konstituiert und geeint wurde. Nicht durch einen Weiheakt, sondern durch die Feier des Abendmahls unter beiderlei Gestalt in spezifisch konfessionellem Ritus wurde der Kirchenraum "lutherisch" oder "reformiert".
Das Abendmahl als Bekenntnisritus der territorialen Konfessionseinheit
Die Einheit der Landeskirche war von fundamentaler Bedeutung für die Funktionsfähigkeit der Kirchenordnung als Vorreiter und Säule der frühneuzeitlichen Staatswerdung. Die Einheit von Lehre und Bekenntnis innerhalb der Landeskirche war daher von großer politischer Bedeutung. Während der innerprotestantischen Lehrstreitigkeiten der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts formulierten in vielen Kirchen Abendmahlsdarstellungen diesen Anspruch auf Lehr- und Bekenntniseinheit innerhalb eines Herrschaftsgebiets. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel bildet eine Darstellung des letzten Abendmahls von Lucas Cranach d.J. aus der Dessauer Residenzkirche St. Marien von 1565.
Das Abendmahl erscheint hier als Gründungs- oder Bestätigungsritual der konfessionellen Herrschaftsordnung. In Personalunion mit den Jüngern verkörpern zwölf Reformatoren in wiedererkennbaren Porträts das reformatorische Bekenntnis und die Lehrtradition, wobei das Abendmahl zugleich als Versöhnungsmahl über die Grenzen von Lehrdifferenzen hinweg fungiert.68 Mit ihm wird die Bekenntniseinheit konstituiert, die die Grundlage der kirchlichen und der staatlichen Einheit bildet: Nicht ein Kirchenraum, sondern eine fürstliche Tafelstube und damit einer der wichtigsten Repräsentationsräume des Schlosses bildet den Rahmen. In diesen fürstlichen Raum ist mittig eine Säule eingestellt. Sie erinnert eher an ein Repräsentationsmonument als an einen notwendigen, wirklich tragenden Bestandteil der Architektur, denn durch ihre klassische ionischen Form und das Material des weißen und im Sockel rot gesprenkelten Marmors wirkt sie in dem zu zwei Dritteln holzvertäfelten Raum mit einer hölzernen Kassettendecke, die nicht notwendiger Weise einer einzelnen Mittelstütze bedarf, wie ein Fremdkörper. Sie ist dem unmittelbar vor ihr sitzenden Jesus in der Weise zugeordnet, dass sein Haupt die Ecke des Sockels ausfüllt. Sowohl durch ihre Fremdheit in der Tafelstube als auch durch diese Zuordnung wird ihr zeichenhafter Charakter hervorgehoben: Als Herrschaftszeichen Christi bildet sie das Zentrum der Tafelstube, die ihrerseits in ihrer repräsentativen Ausgestaltung und in ihrer Funktion innerhalb des Schlosses als Bild der fürstlichen Herrschaft gelesen werden muss.69 Die Verschränkung zwischen der Sphäre des Schlosses und der der Kirche, zwischen politischer Herrschaft und religiöser Legitimierung, reicht jedoch noch weiter: Denn in Analogie zur Anzahl der Jünger und Reformatoren ist die Kassettendecke in zwölf Felder aufgeteilt. In der fürstlichen Tafelstube findet das letzte Abendmahl, das zugleich ein reformatorisches Bekenntnis- und Versöhnungsmahl ist, demnach nicht nur als Fürstenmahl statt, sondern in der Ausgestaltung der fürstlichen Tafelstube wird zugleich die Ordnung der Kirche als Herrschaft Christi und seiner Jünger bzw. seiner Reformatoren abgebildet.
Der vier Jahre vor Entstehung der Tafel verstorbene Fürst Joachim von Anhalt (1509–1561) kniet – wie bei Hainhofer in der Vereinzelung herausgehoben – in der Haltung eines Kommunikanten vor einer Brüstung. Als würdiger Empfänger des Abendmahls wird ihm Judas kontrastierend gegenübergestellt, der das Brot unwürdig und das heißt zum Verderben empfängt, während es dem Verstorbenen zur Aufnahme in die ewige Gemeinschaft gereicht. Ähnlich wie in Hainhofers Schilderung wohnen dem Abendmahl stehende Zeugen bei: die fünf männlichen Dynastieangehörigen, auf denen nach dem Tod Joachims die Herrschaft ruhte. Zwei weitere Angehörige des Hofes, darunter der am Wappenring eindeutig identifizierbare Maler als Mundschenk, übernehmen den Tafeldienst.
Cranach erhebt in gewisser Weise die "Interzeremonialität" zwischen Abendmahl und höfischem Tafelzeremoniell zum "Prinzip" seiner Dessauer Abendmahlsdarstellung und darüber hinaus seiner reformatorischen Abendmahlsdarstellungen insgesamt.70 Diese "Interzeremonialität" vergegenwärtigte das Abendmahl als Fürstenabendmahl und erinnerte dadurch an die Konfessionszugehörigkeit der Kirche als einer auf den Landesherrn als Summepiskopus und Oberhaupt ausgerichteten Landeskirche.
Die Abendmahlsgemeinschaft als Bild der politischen Einheit
Während England und Frankreich letztlich bis in die Zeit der Aufklärung hinein konfessionell einheitliche Herrschaftsräume blieben, gelang es Karl V. bekanntlich nicht, die sakrale Einheit des Reiches wieder herzustellen. Sichtbar wurde das Zerbrechen der sakralen Einheit im Abendmahl: Die protestantischen Reichsstände verweigerten die Teilnahme an Eucharistiefeiern und damit an den für die Konstituierung der sakralen Reichseinheit zentralen Zeremonien. Für die Krönungsfeiern wurden Hilfskonstruktionen gefunden: Die protestantischen Kurfürsten entfernten sich während der Messen für die Zeit der Eucharistiefeier aus dem Chorraum und begaben sich in die Sakristei.71 Der Kaiser verlor seine im Ritual der Krönungsmesse begründete sakrale Dignität. Kirchlich waren die protestantischen Reichsstände in ihren Territorien autonom. Der Kaiser hatte seine Autorität als Haupt der Einheit von Kirche und Reich verloren.
Schluss
Die Abendmahlslehre und -praxis verwandelte im 16. Jahrhundert Kirchenräume in ihrer Ausstattung und Nutzung. Durch die konfessionsspezifische Feier des Abendmahls wurden sie zu Konfessionskirchen lutherischer, reformierter und römisch-katholischer Herrschaftsgebiete. Spätestens seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 wurde im Reich in lutherischen und römisch-katholischen Kirchen die konfessionelle Einheit der Territorien in Bildern und Ritualen erfahrbar: In der Abendmahlsfeier wurde mit der kirchlichen die konfessionspolitische Gemeinschaft konstituiert und gegen Kirchen und Herrschaften anderer konfessioneller Zugehörigkeit abgegrenzt. Bekenntnisbilder und Hoheitszeichen formulierten den Anspruch der Inhaber des Kirchenregiments auf Lehr- und Bekenntniseinheit innerhalb ihrer Territorien. Die Abendmahlspraxis innerhalb eines Herrschaftsbereichs wurde vereinheitlicht, und auch in der Kirchenausstattung werden Tendenzen zu einer konfessionellen Uniformierung deutlich. Dabei lassen sich die grundlegenden Ausstattungsneuerungen alle auf die veränderte Abendmahlslehre und -praxis zurückführen: Sie veränderte nicht nur die Ausstattung und Funktion der Altäre sowie die Bildprogramme ihrer Retabel, sondern sie veränderte auch die Nutzung und Ausstattung der Abendmahlsräume sowie das gesamte kirchliche Raumgefüge, das ganz auf die alleinigen Prinzipalstücke Kanzel und Abendmahlsaltar bzw. -tisch hingeordnet wurde.