Einführung
Die Nationalbewegung und der Einfluss der Aufklärung im osmanischen Südosteuropa und insbesondere in Griechenland sind viel diskutierte Themen. Die griechische Rezeption der hellenischen Paideia, d.h. der altgriechischen Bildung und Erziehung, die von der westlichen Aufklärung umgearbeitet worden war, hat die Forschung intensiv beschäftigt.1 Doch die Auswirkungen der Paideia auf den angeblichen Gegenspieler der Aufklärung – das heißt auf die Kirche, deren Struktur und Diskurs – sind seltener untersucht worden. Im Folgenden werden mit Blick auf die Transferprozesse in der modernen europäischen Geistesgeschichte einzelne Aspekte dieses Themas besonders hervorgehoben.
Die Frühzeit der osmanischen Herrschaft – Kirche und Hellenismus als Bildungs- und Identitätsfaktoren
Obwohl die Eroberung der byzantinischen Hauptstadt Konstantinopel durch das osmanische Heer im Jahr 1453 eine epochale Wende für die politische Unabhängigkeit der griechischen Bevölkerung in Südosteuropa markierte, war die Kontinuität der klassischen griechischen Bildung im ehemaligen oströmischen (das heißt byzantinischen) Reich schon im Vorfeld alles andere als gesichert. Ohne etablierte Bildungsinstitutionen (wie etwa Universitäten) und angesichts eines immer stärkeren brain drain nach Westen im 15. Jahrhundert schien das hellenistische Erbe unterzugehen, während es gleichzeitig in anderen Ländern im Zuge der Renaissance wiederentdeckt wurde. Die altgriechische Paideia war jedoch fest in der Sprache – besonders im Volksliedgut sowie in der Überlieferung von Ortsnamen – und im Alltag des griechischen Volks2 verwurzelt. Zudem war sie Teil der Theologie und der liturgischen Sprache der Orthodoxen Kirche, so dass der Hellenismus auf diesem Weg weiter gepflegt wurde. In der Volksmeinung galten die antiken Griechen als wunderbare Wesen, als sagenhafte Giganten, deren Werke überall präsent waren.3 Im Zuge der veränderten Verhältnisse sah sich die als millet4 organisierte Orthodoxe Kirche für das ganze orthodoxe Volk im politisch vereinigten osmanischen Ostmittelmeer in geistlicher und politischer Hinsicht verantwortlich. Unter anderem fühlte sie sich verpflichtet, die Bildung des Volkes und dadurch des eigenen Nachwuchses für den Priesterstand möglichst durch Bischöfe vor Ort selbst zu organisieren und zu finanzieren.5
Auf diese Weise nahm die griechische Orthodoxie eine doppelte Funktion ein. Durch Abgrenzung vom Islam bewahrte man die kulturelle und allmählich sich herauskristallisierende nationale Identität, zugleich gründete und verwaltete man die Bildungsinstitutionen. Das geschah jedoch nicht in einem Vakuum. Den Antrieb für den materiellen – in Form von Büchern – und – durch die Ausbildung von Lehrern – immateriellen Transfer des klassisch-griechischen Kulturguts, wurde mithilfe des bis dahin als Feind erfahrenen Westens ermöglicht, durch den sich die Orthodoxe Kirche ins Spannungsfeld der Konfessionskriege zwischen der Römisch-Katholischen Kirche und dem Protestantismus versetzt sah. Vor allem Venedig erschien als Ort, an dem der Transfer des hellenistischen Erbes gen Osten gelang. In den Buchdruckereien wurden griechische Bücher hergestellt und an der Universität von Padua, wo mehrere Generationen griechischer Intellektueller, Schriftsteller und Lehrer in sicherem Abstand zur päpstlichen Überwachung ausgebildet wurden, unterrichtete man die Lehre des Aristoteles (ca. v.384–v.322). Griechische Gebiete unter venezianischer Herrschaft wie Kreta dienten in diesem Transferprozess als Brücke.
Der Einfluss der griechischen Paideia auf die geistlichen Aufgaben der Kirche lässt sich etwa anhand der Verbreitung klassischer griechischer Werke erkennen, die in Klöstern abgeschrieben oder in den Buchdruckereien von Kirchenangehörigen bestellt wurden.6 Auch der häufige Einsatz von Hilfsmitteln zum Erlernen der altgriechischen Sprache (Grammatiken usw.) wurde in kirchlichen Ausbildungsstätten und Klöstern bezeugt. Als ein weiterer Beleg für die Bedeutung der griechischen Paideia gilt der Gebrauch der altgriechischen Sprache (wenngleich in vereinfachter Form) in kirchlichen Enzykliken. Diese Aspekte stärkten die Auffassung, dass der Hellenismus zum heilsbedeutenden Werk der Kirche gehöre und dieses befördere.
Anhand von Wandmalereien in den Vorräumen christlicher Kirchen wurde diese Auffassung visualisiert; sie stellten altgriechische Philosophen gewissermaßen als Vorläufer des Evangeliums dar. Zwar war diese Abbildungspraxis schon in der spätbyzantinischen Zeit im Westen eingeführt worden, doch die Ausbreitung in Kirchen des 16. und 17. Jahrhunderts ist diesbezüglich sehr aufschlussreich.7
Die neuen Herausforderungen ab dem 17. Jahrhundert – Hellenismus als Emanzipationsaufruf der christlichen Rajah
Seit Mitte des 17. Jahrhunderts fand unter der osmanischen Herrschaft ein gravierender geistiger, sozialer und politischer Wandel in der Orthodoxen Kirche statt. 1624 lud der weitsichtige und innovative Patriarch von Konstantinopel, Kyrillos I. Loukaris (1572–1638), den in Padua in das moderne Aristoteles-Studium eingeweihten Philosophen Theophilos Korydalleus (1570–1646) nach Konstantinopel ein, um an der Hochschule des Patriarchats zu unterrichten. Loukaris war über den Druck der Römisch-Katholischen Kirche auf das orthodoxe Osteuropa zutiefst besorgt. Gleichzeitig sah er in der Erneuerung des orthodoxen Kirchenlebens und damit in der Bildung die wichtigste Voraussetzung, um die geistige Selbstständigkeit der Kirche verteidigen zu können. Im Kontext dieser Reformen standen die Anknüpfung an die calvinistische Lehre, der Aufbau einer Druckerei in Konstantinopel und die Einladung an Korydalleus.8 Korydalleus' Studium der Aristotelischen Schriften, das die theologische Thematik außer Acht ließ, streng auf den Text bezogen und hauptsächlich auf das Verständnis der Natur ausgerichtet war, markierte einen Bruch mit dem traditionellen Denken, das auf den Überbleibseln spätbyzantinischer theologisch-philosophischer Lehrkapitel basierte.9
Wenig später (1669) ging Kreta, wo die Verbindungen zwischen dem griechischen Osten und dem italienisch-romanischen Westen intensiv gepflegt worden waren, an die Osmanen verloren. Damit nahm der direkte kulturelle Austausch zwischen dem ehemaligen byzantinischen Kulturraum und Italien ab. In Konstantinopel ergaben sich jedoch durch die politische Oberschicht der christlichen Rajah (der nicht muslimischen Untertanen) neue Einflussmöglichkeiten. Reiche Händler gaben sich als Nachfahren byzantinischer oder lateinischer Adelsfamilien aus. Sie wohnten rund um das Gelände des Patriarchats im Stadtviertel Fanar (türk. Fener) und wurden daher als Fanarioten bezeichnet. Zum ersten Mal erhielt der Fanariote Panayiotis Nikoussios (1613–1673) wegen seiner diplomatischen Fähigkeiten, die er während der Belagerung von Herakleion auf Kreta bewiesen hatte, das Amt des Großen Dolmetschers bei der Pforte. Diese Position wurde später zum Amt des Außenministers ausgebaut. Ab 1711 begannen die Sultane, Fanarioten als Fürsten der halbautonomen Fürstentümer Moldau und Walachei einzusetzen. Die Fürsten gerieten dadurch in eine sehr instabile Lage, da sie nicht nur von den willkürlichen Launen und den Zuwendungen der Sultane bzw. der Wesire abhängig waren, sondern auch viel Geld und gelegentlich auch noch ihr Leben riskierten. Trotzdem versuchten viele Fanarioten, in den von ihnen regierten Gebieten Bildung nach griechischem Vorbild zu etablieren.10 Die höheren Schulen ("Akademien") von Jassy (gegründet 1709) und Bukarest (gegründet schon 1679), die von den rumänischen Fürsten mit der Absicht eingerichtet worden waren, die christliche politische Macht innerhalb der byzantinischen kulturellen Erbschaft weiter auszuüben bzw. wiederherzustellen, waren dazu gut geeignet. Die Einführung des Griechischunterrichts an diesen Schulen, die Errichtung einer griechischen Buchdruckerei sowie die eigene hohe Bildung und das literarische Schaffen der Fanarioten (wie im Fall von Nikolaos Maurokordatos [ca. 1670–1730])11 ermöglichten einen neuen Transfer aufklärerischer Ideen in den Osten.12 In den rumänischen Akademien wurde der Neoaristotelismus von Korydalleus gelehrt, indem Kommentare abgeschrieben und verbreitet wurden. Zudem entdeckte man das altgriechische Gedankengut wieder, was die Orthodoxe Kirche ernst nehmen musste, zumal die Fanarioten auf das Patriarchat einen starken Einfluss ausübten. Sie glichen oft dessen finanzielle Defizite aus, die durch zu hohe Steuerlasten und Bestechungen entstanden waren. Der Einfluss der Fanarioten auf die Angelegenheiten des Patriarchats stellt ein erstes Beispiel dafür dar, inwiefern ein hellenistisch geprägter sozialer weltlicher Träger auf die Kirchenleitung und somit auf die Kirchenstruktur einwirkte.
Neben den Fanarioten gab es noch einen weiteren Grund, weshalb das Monopol der Kirche im Schulwesen infrage gestellt wurde. Anfang des 18. Jahrhunderts gründeten reiche griechische Händler in mehreren Städten (wie Ioannina, Arta, Metsovo, Dimitsana, Moschopolis usw.) und auf Inseln (Chios, Patmos) des heutigen Griechenlands Gymnasialschulen, an denen aufklärerische Ideen in die Curricula und die Lehre aufgenommen wurden. Schwerpunkte lagen auf den Naturwissenschaften, dem Gebrauch des Experiments, der Lehre der antiken Philosophen mit Blick auf eine nicht theologisch begründete Lebensethik und auf der Übersetzung wichtiger Werke, etwa von John Locke (1632–1704), Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und Voltaire (1694–1778), ins Neugriechische. Dadurch wurden die Grundlagen der sogenannten neugriechischen Aufklärung geschaffen. Auch der traditionell gelehrte altgriechische Lehrstoff ließ sich nun innovativ vermitteln. Thematisch dominierten die erkenntnistheoretischen Probleme, die im Westen seit René Descartes (1596–1650)[] intensiv diskutiert worden waren, etwa die Anwendung der Vernunft, die Bedeutung der bürgerlichen Ethik sowie der Souveränität der Gesetze gegenüber willkürlichem Despotismus und Aberglauben.13 Solche Ideen beförderten Toleranz und Freiheit sowie die Abgrenzung vom moralischen Relativismus und nach der Französischen Revolution die politische Selbstbestimmung im Bereich des Osmanischen Reiches. Dass das altgriechische Gedankengut wieder etabliert wurde, ging maßgeblich auf den in Frankreich lebenden Philologen Adamantios Korais (1748–1833)[] zurück. Er edierte und erörterte ausführlich antike Texte, die er auf aktuelle Thematiken bezog. Zudem schrieb er Briefe und paränetische Werke, um das Bildungsniveau zu steigern und den Begriff der politischen Freiheit unter den Griechen fest zu etablieren. Er setzte sich auch für die "Umfüllung" ("Metakenosis") der europäischen in die griechische Kultur ein, wobei diese Kultur auf einer eigenen, durch die europäische Rezeption neu hervorgebrachten griechischen Paideia14 gründen sollte. Obwohl viele Kleriker, darunter der zwischen 1810 und 1815 tätige Metropolit der Großwalachei Ignatios oder Archimandrit Anthimos Gazēs (ca. 1764–1828), die Akademien und die renommierte von Korais gegründete Zeitschrift Logios Hermês Anfang des 19. Jahrhunderts unterstützten, wurde deutlich, dass die Kirche ihr Verhältnis zur griechischen Paideia überdenken musste.
Kirche und Hellenismus angesichts der Aufklärung
Die Verortung der hellenischen Paideia in der kirchlichen Lehre
Auf welche Weise hellenistische Einflüsse von den Kirchenmännern, zu denen auch der oben erwähnte Theophilos Korydalleus gehörte, aufgenommen wurden, lässt sich an ihrem Bemühen erkennen, Werke der klassischen antiken Autoren zum usu ecclesiae zu edieren, zu interpretieren und zu lehren, um dadurch "aggressive" Zugriffe auf das traditionelle kirchliche Weltbild zu verhindern. Damit ist primär der Kampf um die Interpretation von Aristoteles gemeint, dessen Erkenntnisse immer mehr von der experimentellen Physik, der Mathematik und der kopernikanischen Theorie verdrängt wurden. Dass die Anhänger der Aufklärung auch die Skepsis wieder einführten und neue ethische Fragestellungen aufgriffen, kommentierten die Kirchenmänner in ihrer Lehrtätigkeit und ihrem literarischen Wirken kritisch.
Welche theoretische Bedeutung solchen Debatten zukam, liegt außerhalb der Thematik der vorliegenden Untersuchung. Vielmehr beschäftigt uns hier, wie kirchliche aufklärerische Intellektuelle auf das Kirchenleben einwirkten. Sie übernahmen oft kirchliche Funktionen, wodurch sie etwa als Koordinatoren bzw. Stifter von Gemeindeschulen oder als Berater weltlicher Herrscher neue Aspekte in die kirchliche Arbeit einführten. Dadurch prägten sie auch die spätere Nationalbewegung im Umfeld der Orthodoxen Kirche in Südosteuropa im 19. Jahrhundert. Eugenios Voulgaris (1716–1806) war die angesehenste Persönlichkeit unter ihnen. Er war ein Sprachgenie, begabter Lehrer, Kleriker sowie Bischof von Cherson in Russland, der in verschiedenen Städten Mitteleuropas weilte und eng mit dem Zaren verbunden war. Vom scholastischen Aristotelismus nahm Voulgaris Abstand und schätzte die zeitgenössische Erkenntnistheorie hoch. Seine Werke schrieb er in einer gekünstelten altgriechischen Sprache.15 1766 führte er erstmals ein Fachwort für religiöse Toleranz ins Neugriechische ("Anexithriskeia") ein, zugleich distanzierte er sich immer mehr von der antireligiösen freidenkerischen Philosophie. Sein Bemühen, die traditionelle griechische Paideia, die moderne politisch-philosophische Maxime und die kirchliche Lehre miteinander zu verbinden, gilt bis heute als der umfassendste Versuch einer christlich verankerten Aufklärung, in die altgriechisches Gedankengut einfloss.
Doch auch andere Personen haben in diese Richtung gewirkt. Der Schüler von Voulgaris und orthodoxe Bischof von Kampanien zu Thessaloniki, Theophilos Papaphilou (1715–1793), bezeichnete in seiner Dogmatik griechische Autoren als Wegbereiter der christlichen Wahrheit.16 Patriarch Gregor V., der später, von den Türken für den Aufstand der Griechen im April 1821 mitverantwortlich gemacht, gelyncht und aufgehängt wurde, stiftete eine Buchdruckerei, in der er die antiken griechischen Autoren gemäß den Vorschriften der kirchlichen Autorität herausgeben konnte.17 In Synodalbeschlüssen, die die Ausbildung der Kleriker regelten, wurde die Bedeutung der Bildung in guter humanistischer Manier durch Verweise auf klassisch gebildete Kirchenväter wie Gregor von Nazianz (ca. 329–ca. 390) betont. In den Beschlüssen wurde klar gemacht, dass die Bildung "Ausschmückung der Seele und Vollendung des Geistes" ist, "den Menschen wahrhaftig zum Menschen macht" und "Gott ähnlich werden lässt".18 Der Mönch Kosmas ho Aitōlos (1714–1779), Missionar im griechischen Hinterland, trat in seinen Predigten nicht nur für die Erneuerung der christlichen Sitten und der Frömmigkeit ein, sondern gründete auch 200 griechische Schulen. Er hob ausdrücklich die Bedeutung der Bildung im Allgemeinen und insbesondere der griechischen Bildung als zur Frömmigkeit hinführend19 hervor. Zudem mahnte er die Christen, Griechisch statt des Albanischen, das zu dieser Zeit in Westgriechenland verbreitet war, zu sprechen.20 In seiner Predigt findet man jedoch kaum Spuren klassisch-griechischer Topoi der Philosophie oder antiker Mythen.21 Insgesamt lässt sich eine deutliche Wirkung des Hellenismus auf die Predigt und die Missionsaufgaben der Orthodoxen Kirche ausmachen.
Kirchliche Reaktionen in der Theologie und im literarischen Schaffen
Andere griechisch-orthodoxe Kirchenmänner schlugen eine weitere Richtung ein, insbesondere als die Französische Revolution deutlich machte, welche politische Tragweite das freie Denken und die Aufklärung auch im Osten entfaltete. Die osmanischen Machthaber wollten einen Import der liberalen politischen Ideen in ihren Einflussbereich verhindern. Die christliche Elite (Patriarchat und Fanarioten) verhielt sich politisch realistisch und verteidigte loyal die territoriale Integrität des osmanischen Reichs. Sie befürchteten einerseits die Auswirkungen, die revolutionäre Ideen auf die Sicherheit der christlichen Bevölkerung und nicht zuletzt auf ihre eigene Stellung im osmanischen Herrschaftssystem haben würden. Andererseits träumten sie von der Transformation des Osmanischen zu einem christlichen Reich (vergleichbar dem Umbruch im 4. Jahrhundert). Die Aufgabe, die kirchliche Alltagsethik zu erneuern, führte dazu, dass die Gruppe der sogenannten Kollyvaden die orthodoxe kirchliche Sozialethik wiederentdeckte. Deren Name leitete sich aus ihrer Überzeugung ab, dass die traditionelle Getreidespeise zu den Gebeten für die Verstorbenen (kollyva) nur am Samstag und nicht am Auferstehungstag, das heißt am Sonntag, gereicht werden dürfe. Der angesehenste unter ihnen, Nikodēmos Hagioreitēs (1748–1809), versuchte diese Wiederentdeckung mit Hilfe der traditionellen christlichen Askese positiv darzustellen. Er kommentierte und edierte in einer kritischen Ausgabe (die sogenannte Philokalia) eine Vielzahl von Texten und Werken asketischer Schriftsteller und Theoretiker wie etwa Evagrius Ponticus (ca. 346–399) und Symeon Novus Theologus (949–1022), der sogenannten Makarianischen Homilien, um sie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Er übersetzte eine byzantinische Sammlung von Heiligenviten (Synaxaristes) in die Volkssprache, wobei er alles, was im vorhandenen Text "gegen die Heilige Schrift und unglaublich für die gemeine Vernunft und Kritiker"22 war, bewusst korrigierte. An seiner Methode, seinen Absichten und seiner Sprache lässt sich das Programm einer christlichen Aufklärung erkennen, die Aspekte des christlichen Hellenismus wieder aufgreift. Im Gegensatz dazu verurteilte sein Zeitgenosse Athanasios Parios (ca. 1722–1813) das Studium der antiken Philosophie heftig und pauschal als eine verlockende Falle des aus dem Westen kommenden Atheismus. Zwar verteidigte er das Studium des alten Lehrstoffes mit altgriechischen und christlichen Lehreinheiten ("ta kala grammatika"), der größte Teil der antiken Paideia förderte ihm zufolge jedoch atheistische und anarchistische Sitten, die Hochmut und Frevel nach sich zögen.23 Hier handelt es sich deutlich um die extremste Reaktion, die sich im Zuge der vielfältigen Interaktion zwischen hellenischer Paideia und Griechisch-Orthodoxer Kirche ergab. Obwohl das Patriarchat nicht mit den extremistischen Ansichten mancher Kollyvaden einverstanden war, wurde 1791 die von Nikodēmos Hagioreitēs erarbeitete Kodifizierung des kanonischen Rechts bewilligt. Dies zeigte, dass der Gebrauch der Vernunft und das Studium der antiken Philosophie innerhalb einer kirchlich leicht überschaubaren, geregelten Lebensgestaltung begrenzt sein sollte.
Die Wirkung des aufklärerischen Hellenismus auf die kirchlichen Strukturen
Das von der abendländischen Aufklärung geprägte Studium des Hellenismus bewirkte zudem eine Anpassung der kirchlichen Strukturen. Zum ersten Mal führte das Patriarchat von Konstantinopel einen Genehmigungsprozess ein, mit der Absicht, den Druck atheistischer Bücher zu verhindern. Ein derartiger "Index" war für die Verhältnisse der Ostkirche neu. Obwohl Gennadios II. (ca. 1400–ca. 1473), der erste Patriarch nach dem Fall Konstantinopels, die Werke des Georgios Gemistos Plethon (ca. 1360–ca. 1452) öffentlich verbrannte, war das ein einsamer Akt der Abgrenzung von der Wiederbelebung "heidnischen" Denkens. Erst 1798 wurde die durch einen Ausschuss von sechs Mitgliedern gewährte Genehmigung zum Regelfall.24 Gleichzeitig setzte das Patriarchat sich dafür ein, Werke antiker griechischer Autoren in der eigenen Buchdruckerei herauszugeben (z.B. die Vitae Parallelae von Plutarch [45–120]),25 um deren Gebrauch kontrollieren zu können. In einem Synodalbeschluss von 1819 versuchte der Patriarch von Konstantinopel, Gregor V., allerdings, das Studium der klassischen griechischen Literatur zu fördern, indem er dieses den vom Westen herkommenden, sogenannten exakten Wissenschaften gegenüber stellte. Letztere führten angeblich zur Indifferenz gegenüber den kirchlichen Bräuchen (Fasten, Kultus usw.).26 Man erkennt, wie hier versucht wurde, das "gute" klassische Studium (Rhetorik, Grammatik usw.) als geistige Ausrüstung eines aufrechten Christen gegen die Vermischung der antiken Philosophie mit den modernen Wissenschaften bzw. mit den als verderbt betrachteten Idealen der Aufklärung auszuspielen.
Ein anderer Aspekt des Rekurses auf die griechische Paideia in der Kirche betraf die Sprache. Während die Anhänger, die für die ältere Form der Annäherung an das hellenistische Kulturgut (Aristoteles) standen, die Kontinuität mit der griechischen Antike betonten und die altgriechische Sprache verwendeten, schrieben die Anhänger der "neuen Philosophie" in zeitgenössischem Griechisch. Viele Kirchenmänner versuchten dagegen einen "Mittelweg" zu gehen. Sie führten Altgriechisch in vereinfachter Form ein, wie anhand der Musterpredigten gebildeter Kleriker wie Ēlias Mēniatēs (1669–1714) oder Nikēphoros Theotokēs (1731–1800) zu erkennen ist. Doch der Antrieb, die griechische Antike wiederzubeleben, konnte nicht unterdrückt werden. Viele Eltern gaben ihren Kindern seit Anfang des 19. Jahrhunderts antike Namen, und auch manche Lehrer riefen ihre Schüler mit Namen aus der Antike, um die Kontinuität mit dieser Zeit zu veranschaulichen, was konservative zeitgenössische Schriftsteller spöttisch kommentierten. Das Patriarchat verurteilte 1819 die Vergabe antiker Namen an Täuflinge.27 Der Einfluss des altgriechischen Kulturguts auf die Volkskultur wirkte auch auf den Diskurs der Nationalbefreiung ein. Dies geschag z.B. dadurch, dass man auf die Verhältnisse im alten Griechenland anspielte, wie dies General Theodōros Kolokotrōnēs (1770–1843), der Held des griechischen Befreiungskampfes, tat, nachdem er im Jahr 1812 eine heroische, in der Ilias überlieferte Rede Achills in neugriechischer Übersetzung gehört hatte.28 Auch andere bekannte Freiheitskämpfer bezogen sich in ihren Memoiren auf die antiken griechischen Heroen und Weisen im neuen Griechenland. Dazu zählte etwa General Iōannēs Makrygiannēs (1797–1864), der sich vorstellte, dass Napoleon Bonaparte (1769–1821) und Zar Alexander I. (1777–1825) im Hades die antiken Philosophen und Rhetoriker besuchten, um ihnen von den heroischen Taten ihrer Nachkommen zu berichten.29
Tatsächlich beeinflusste die Rückbesinnung auf den Hellenismus, die durch den europäischen Klassizismus verstärkt wurde, auch den Ausbruch des nationalen Kampfes im Frühling 1821. Anhänger des Philhellenismus riefen in Westeuropa dazu auf, die Bewegung zu unterstützen. Diese hatte auch christliche Motive und brachte Theologen wie Wilhelm Traugott Krug (1770–1842), oder klassische Philologen wie Friedrich Wilhelm Thiersch (1784–1860) dazu, den griechischen Befreiungskampf zu befürworten und sich sogar einzumischen.30 Die Führungselite der Orthodoxen Kirche in Konstantinopel, die die territoriale Integrität des Osmanischen Reiches und den friedlichen Übergang zu einem neubyzantinischen Reich propagierte, musste 1833 schließlich akzeptieren, dass im ursprünglichen Gebiet des antiken Griechenlands eine regionale Ortskirche entstand. Die Wiederbelebung des Hellenismus hatte nun konkrete politische – und damit auch kirchenpolitische – Folgen.
Die Rückbesinnung auf Hellas zur Zeit des Klassizismus und des nationalen Erwachens im 19. Jahrhundert
Für die Orthodoxe Kirche war der Aufbau einer separaten und autonomen Kirchenstruktur im Jahr 1833 in den Gebieten, die einst der Jurisdiktion des Patriarchats von Konstantinopel unterstanden hatten, die wichtigste Folge, die sich aus der Gründung des modernen griechischen Staates ergab. Zwar kam diese Entwicklung nicht unerwartet, da 1589 auch der Metropolitansitz von Russland seine Selbstständigkeit und die Erhebung zum Patriarchat mit Erfolg beantragt bzw. erkämpft hatte. Dabei hatte es sich jedoch um eine territorial und national deutlich getrennte kirchliche Gruppe gehandelt, die von Anfang an politisch unabhängig gewesen war. Im Unterschied dazu schmerzte der Verlust der Autokephalie Griechenlands die konstantinopolitanische Kirche besonders, da die Unabhängigkeit mit Gewalt durchgesetzt wurde.31 Es ist kein Zufall, dass die kirchliche Unabhängigkeitserklärung von Archimandrit Theoklētos Pharmakidēs (1784–1860) ohne Absprache mit dem Patriarchat vorangetrieben wurde. Pharmakidēs gehörte der Redaktion der Zeitschrift Logios Hermês an,32 des wichtigsten griechischen, philologisch-historischen Journals der Korais-Anhänger in Wien, für das auch Thiersch schrieb. Als Student in Göttingen kam Pharmakidēs mit dem Klassizismus in Berührung.33 Neben Lehrbüchern des Altgriechischen verfasste er Artikel und polemische Schriften, worin er das Recht der griechischen Ortskirche verteidigte, ihre Unabhängigkeit eigenständig zu erklären. Damit bezog er sich auf die politische Freiheit der griechischen Nation, die implizit die Umgestaltung der kirchlichen Struktur mit sich brachte.34 Für Pharmakidēs stand dieser Wandel im Einklang mit der bis zum 4. Jahrhundert vorherrschenden, pluralistischen Kirchenstruktur, in der alle Bistümer gleichrangig waren und nicht die Genehmigung einer übergeordneten Stelle benötigten. Offenbar basierte die primär theoretisch konzipierte hellenische Identität für Pharmakidēs auf der politischen Selbstbestimmung und der Souveränität des Volkes in der Kirche in Griechenland; folgerichtig wurde damit die konkrete Änderung der kirchlichen Strukturen notwendig. Die politischen Folgen für die Autokephalie waren nicht zu übersehen. In Griechenland etablierte sich im Zuge einer progressiven Reformmaßnahme die Staatskirchenhoheit. Die sogenante Synode ähnelte eher einem deutschen Konsistorium, und die Kleriker und kirchlichen Lehrbeauftragten (Religionslehrer, Bischöfe, Prediger usw.) erhielten 1837 eine neue Ausbildungsinstitution, die Theologische Fakultät, im säkularen Rahmen der ersten Universität von Athen.
Ein völlig anderes Glaubenssystem gründete der gebildete Kleriker Theophilos Kaïrēs (1784–1853), der sich nach seiner Lehrtätigkeit in griechischen Gemeinden in Westeuropa am Unabhängigkeitskampf beteiligte und später ein Waisenhaus sowie eine Schule für arme Kinder gründete, die unter dem Krieg besonders gelitten hatten. Er verwendete aus dem klassischen Gedankengut entlehnte philosophische Lehren (z.B. schrieb er Notizen in dorischem Dialekt) zusammen mit theistischen Begriffen der Französischen Revolution, um eine "Religion der Vernunft" zu entwickeln.35 Nach Ermittlungen der Synode der Kirche Griechenlands wurde er der Leitung seiner Stiftungen enthoben und in ein Kloster auf der Insel Skiathos verbannt. Im Jahr 1853 starb er schließlich im Gefängnis auf der Insel Syros. Diese Beispiele verdeutlichen, wie differenziert der Gegenschlag ausfiel, den die Rückbesinnung auf den Hellenismus im Kirchenleben und hinsichtlich der Strukturen der Griechisch-Orthodoxen Kirche nach sich zog.
Noch anschaulicher wird diese Reaktion im Bereich der kirchlichen Kunst. Die besten Beispiele hierzu sind die im 18. Jahrhundert noch unter der osmanischen Herrschaft, vor allem aber die im 19. Jahrhundert errichteten Kirchenbauten. Viele große Kirchen im heutigen Griechenland zeigen Spuren des Neoklassizismus, dessen Gestaltungsprinzipien in mehreren europäischen Städten und auch in Athen an der Architektur der säkularen öffentlichen Gebäude zu erkennen sind. Ein zusätzlicher Faktor, der den Einfluss des Hellenismus auf die kirchliche Bauweise des neu entstandenen griechischen Staates begünstigte, war die große Zahl klassischer Tempel, die seit dem 7. Jahrhundert zu christlichen Kirchen umgebaut worden waren. In einer Zeit, in der mittelalterliche kirchliche Architektur gering geschätzt wurde – in Konstantinopel, ab.36 Der wichtigste Vertreter dieser Wende war Lysandros Kaftanzoglou (1811–1885), der in Rom und Paris Architektur studiert hatte. Als Kind der Aufklärung verstand er die Rückkehr des christlichen Ritus zu "Vernunft" und "Bescheidenheit" als sein wichtigstes Anliegen.37 Dieser Einfluss ist an den Merkmalen klassischer und römischer Architektur an orthodoxen Sakralbauten und wichtigen Kirchen – etwa in Athen, der neuen Hauptstadt des modernen Griechenlands, aber auch in anderen Städten – erkennbar.38 Bis heute zeugen diese Beispiele von der damaligen Abkehr der griechischen Orthodoxie von der byzantinischen Epoche. Die Rückbesinnung auf den Hellenismus zeigte auch in diesem Bereich eine offensichtliche Wirkung.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Rekurs auf den Hellenismus, unabhängig vom Einfluss auf die neugriechische Aufklärung und die nationale Befreiungsbewegung, auch auf dem Balkan die griechische Orthodoxie nach und nach durchdrang und auf vielen Ebenen wichtige Änderungen bewirkte. Theologische und asketische Strömungen (Kollyvades), Strukturwandel (neue Funktionen der Patriarchatssynode, Entstehung der Autokephalie) sowie neue Tendenzen in der kirchlichen Kunst lassen erkennen, dass ein oft ahistorisch oder gar monolithisch verstandenes historisches Subjekt wie die Orthodoxe Kirche in wichtige Transferprozesse eingebunden war und auf vielfältige Weise mit der Geistesgeschichte Europas verknüpft ist.