Einleitung
Religiöse und theologische Ideen haben von jeher das Potential, konfessionelle und nationale Bezugsrahmen zu transzendieren. Transnationale religiöse Institutionen wie speziell die römisch-katholische Kirche oder überregional ausstrahlende Wissenschaftsinstitutionen wie die großen konfessionellen Universitäten boten dazu bereits in der europäischen Vor- und Frühmoderne die Infrastruktur. Während der europaweite Transfer neuer theologischer Ideen und kirchlich-religiöser Konzepte für die Epochen seit dem Mittelalter bis zum Zeitalter der Aufklärung teilweise gut erforscht ist, bietet das 19. Jahrhundert und damit das Zeitalter der sich entwickelnden Nationalstaaten offensichtlich größere Schwierigkeiten für die Rekonstruktion transnationaler Austauschprozesse im kirchlich-religiösen und im wissenschaftlich-theologischen Feld.1 Das muss nicht verwundern angesichts des Befundes, dass auch die Wechselwirkungen von protestantischer und katholischer Theologie und Kirche in der die Moderne prägenden "Sattelzeit" noch kaum Gegenstand systematischer Erforschung geworden sind – ja, dass in vieler Hinsicht auch weiterhin Grundlagenforschung betrieben werden muss, was die positionelle Ausdifferenzierung und die tiefen Konfliktlagen angeht, die speziell den deutschen Protestantismus seit dem Aufklärungszeitalter vor eine Folge von Zerreißproben stellten. Lange Zeit wurde die Heuristik des Vergleichs wenn überhaupt, dann nur punktuell und jeweils zur vornehmlich systematisch interessierten Konfrontation einzelner Theologen eingesetzt – oft mit nur beschränktem Interesse an den jeweiligen historischen Kontexten.2 Daneben stand die traditionelle geistesgeschichtliche Fragestellung nach Rezeptionsprozessen, die hin und wieder auf historische Wirkungen der eminenten Theologen jenseits des eigenen nationalen und konfessionellen Umfelds ausgeweitet wurde.3
Der internationale Vergleich und die Frage nach transnationalen Transferprozessen sind in der theologie- und kirchenhistorischen Erforschung des Protestantismus erst in jüngerer Zeit und zögernd als notwendige perspektivische Bereicherungen entdeckt worden. Dort, wo deutschsprachige Theologie- und Kirchenhistoriker der Moderne diese Erweiterung des Blickwinkels erprobten, gerieten allerdings nicht in erster Linie Austauschprozesse auf der inner-europäischen Ebene in den Fokus des Interesses, sondern häufiger Verbindungen zwischen Deutschland und den USA, bei denen Beziehungen zu anderen europäischen Protestantismen allenfalls noch als minder wichtige Nebenaspekte eine Rolle spielten.4 Für das Themenfeld der Politischen Ethik etwa und, mit einer stärker erkennbaren kirchen- bzw. religionsgeschichtlichen Grundierung, für die unterschiedlichen Strukturbedingungen und Entwicklungstendenzen des deutschen und des nordamerikanischen Sozialprotestantismus sind hier in jüngerer Zeit erste Versuche unternommen worden.5
Die einstweilige Konzentration der Forschung auf die nordatlantische Perspektive geschah durchaus zu Recht. Zwar ist es dringend notwendig, auch die komplexen Interaktionen vor allem zwischen Deutschland und England, Schottland und dem protestantischen Frankreich im Zeitalter der aufziehenden Nationalismen und Imperialismen näher zu untersuchen – nicht zu reden von den traditionell engen, wenn auch einseitiger auf Deutschland als die gebende Seite ausgerichteten Verbindungen nach Skandinavien und in die Diasporagesellschaften Südosteuropas. Trotzdem trägt die Forschungssituation dem historischen Befund insoweit Rechnung, als der moderne deutsche Protestantismus im Verlauf des 19. Jahrhunderts engere Bande über den Atlantik hinweg knüpfte als zu den meisten anderen nationalen Diskursgemeinschaften des alten Kontinents. Nicht nur die selbstverständliche landsmannschaftliche Verbundenheit mit den deutschstämmigen Immigranten der Neuen Welt bot einen natürlichen Anknüpfungspunkt von deutscher Seite und schuf eine besondere Vertrautheit, die sich offensichtlich so nicht gegenüber der – trotz aller kulturellen Faszination – zunehmend als ambivalent bis feindlich erlebten protestantischen Weltmacht des Vereinigten Königreichs einstellte. Faktoren, die die beiden Kulturen des deutschen und des nordamerikanischen Protestantismus zu einem verstärkten Austausch prädisponierten, sind auf mehreren Feldern zu suchen: Seine strukturellen Voraussetzungen sind vor allem die Herausbildung eines modernen Wissenschaftssystems und einer internationalen Ebene des Verbandsprotestantismus. Medien wie die im 19. Jahrhundert massenhafte Verbreitung erreichenden Kirchenzeitungen und theologischen Fachzeitschriften spielten eine entscheidende Rolle, um den religiösen Transfer über die elitäre Ebene international direkt vernetzter Universitätsgelehrter hinaus zu erweitern auf breite Gruppen kirchlicher Praktiker und religiös-intellektuell interessierter Nichttheologen. Inhalte schließlich, an denen den Kommunikationspartnern auf beiden Seiten des Atlantiks viel lag, waren vor allem das Thema "Kirche" mit seinen vielfältigen gesellschaftlichen und politischen Assoziationen sowie – der modernen kirchlichen Institutionenbildung vorausgehend, sie aber auch immer wieder herausfordernd und beunruhigend – das Anliegen einer allgemeinen christlichen "Erweckung".
Im Folgenden sollen zunächst die Voraussetzungen für die dichten Interaktionsprozesse zwischen nordamerikanischem und deutschem Protestantismus im 19. Jahrhundert skizziert werden. Dann geht es um den Austausch im Rahmen der theologischen Wissenschaft, schließlich um die verbandsprotestantischen Aktivitäten. Gleichsam als Leitfaden bei der Darstellung soll der Briefwechsel zwischen zwei bedeutenden Theologen dienen, die mit einer jeweils zentralen oder zumindest äußerst prominenten Stellung sowohl innerhalb ihres nationalen Wissenschaftskontexts als auch in ihren Konfessionskirchen als wichtige Akteure innerhalb eines kaum überschaubaren kommunikativen Feldes charakterisiert werden können: der New Yorker Theologieprofessor Charles Augustus Briggs (1841–1913) und sein Berliner Kollege Isaak August Dorner (1809–1884). Die Korrespondenz bündelt stellenweise wie ein Brennglas die zahlreichen Aspekte des Themas.
Voraussetzungen
Der transatlantische Austausch der Protestanten im 19. Jahrhundert hat bereits eine längere Vorgeschichte. Wer sie kennt, kann klarer einschätzen, inwiefern die protestantischen Kommunikations-, Transfer- und Vergesellschaftungsphänomene des 19. Jahrhunderts eine neue Stufe "moderner" Organisation einer Religion repräsentieren. Der Anfang der Beziehungsgeschichten zwischen den in vieler Hinsicht, national wie konfessionell, unterschiedlichen Kulturen protestantischer Theologie in Deutschland und in Nordamerika liegt der Gründung der Vereinigten Staaten zeitlich voraus. Speziell die Forschungen zum frühneuzeitlichen Pietismus haben gezeigt, wie intensiv transatlantische Netzwerke bereits im 17. und über das gesamte 18. Jahrhundert hinweg in beiden Richtungen wirkten6 und dabei nicht nur theologische Ideen und Konzepte, sondern vor allem auch religiöses Erfahrungswissen austauschten. Die Migration europäischer Dissenters bot in vielen Fällen gleichzeitig Gelegenheit zum religiösen Transfer, und die Frömmigkeitsstile, die sich unter den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen der nordamerikanischen Kolonien herausbildeten, wurden wiederum interessant für die Radikalen und die Nonkonformisten in Großbritannien und auf dem europäischen Kontinent, die ihr Erweckungsstreben immer eindeutiger mit dem Willen zur weltweiten Mission verbanden.7 Gegenüber der wechselseitigen Erfahrung der Fremdheit – und speziell in der europäischen Perspektive des von der religiösen Norm Abweichenden –, die diese Konstellation ganz wesentlich bestimmte, mag dasselbe Terrain während des langen 19. Jahrhunderts auf den ersten Blick enttäuschend unspektakulär erscheinen. Arrondierten sich nicht die religiösen Gemeinschaften der Dissenters zu achtbaren mainline churches? Brachten nicht die großen protestantischen Auswandererströme speziell aus Deutschland und aus den skandinavischen Ländern homogene, in sich zunächst national-kulturell akzentuierte Versionen derselben lutherischen oder reformierten Bekenntniskirchen hervor, wie sie in den jeweiligen Herkunftsnationen bestanden? Übernahmen nicht die nordamerikanischen protestantischen Kirchen Ausbildungsmodelle und Wissenschaftsstandards der europäischen, speziell der deutschen Universitätstheologie?
Im Detail gestaltete sich der historische Wandel seit der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten und während der langsamen Entwicklung des neuen politischen Gebildes zu einem Nationalstaat selbstverständlich komplizierter, als derart einsträngige Entwicklungsmodelle suggerieren. Gewiss verliefen viele gesellschaftliche Prozesse wie die Urbanisierung oder die Industrialisierung streckenweise ähnlich. Außerdem markiert das 19. Jahrhundert in kirchengeschichtlicher Perspektive sowohl in Deutschland wie auch in den USA das Zeitalter der sogenannten "Kirchwerdung", d.h. der Institutionalisierung und Neuausrichtung der Kirchen als (mehr oder weniger) autonomer religiöser Organisationen im paritätischen, konfessionsneutralen oder gar laizistischen Staat.8 Und auch die inter- wie intrakonfessionellen Kulturkämpfe im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die zwischen politisch zunehmend arrondierten Liberalen und neu formierten wie intellektuell modern munitionierten Konservativen ausgefochten wurden, fanden nicht nur in vielen europäischen Ländern statt,9 sondern sie prägten auch die religiöse Kultur der Vereinigten Staaten.10 Doch die Lösungsmodelle, die Theologen und Religionsintellektuelle für ihre jeweilige gesellschaftliche Situation generierten, zeigen nicht nur eine große Vielfalt von Krisenbewältigungsstrategien. Sie führen auch vor Augen – und die Dorner-Briggs-Korrespondenz ist ein hervorragendes Beispiel hierfür –, dass an eine Beantwortung der "Lebensfragen" von Religion und Kirche (eine von den Zeitgenossen gern benutzte Formel) ohne die genaue Analyse und Diskussion der Situation protestantischen Christentums in anderen Nationen nicht mehr zu denken war. Allen Religionskulturen der westlichen Welt gemein ist, dass sie auf die religiösen Aspekte des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses – "[v]erstärkte religiöse Pluralisierung, interne religionskulturelle Gruppenbildung und vielfältige krisenreiche Traditionsbrüche" – reagieren mussten. Überwiegend geschah das im Medium intensivierter kollektiver Selbstreflexion.11 Wohl nirgendwo außerhalb der protestantischen Kirchen wurden allerdings auf derart markante Weise der internationale Austausch über alle Fragen des religiösen Lebens und der theologische Wissenschaftstransfer zu Faktoren des institutionellen Lernprozesses.
Eine Grundlage für die in diesem Zusammenhang besonders wichtige Verbindung zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland bildete das Interesse der protestantischen Funktions- und Wissenseliten an gegenseitigem kulturellem Austausch. Die häufig überwiegend negative Sicht der Nordamerikaner auf den alten Kontinent musste in den zunehmend wissenschaftsaffineren Kreisen der protestantischen mainline churches differenziert ausfallen: Man nahm dort die gesellschaftliche Stratifizierung und die Klassenschranken der europäischen Gesellschaften als antiquiert und kritikwürdig wahr.12 Noch negativer beurteilten nordamerikanische Protestanten das Staatskirchenwesen in den meisten protestantischen Ländern Europas, das in so eklatantem Widerspruch zur freiheitlichen Religionsverfassung der Vereinigten Staaten stand und, wie bekannt war, auch vielen europäischen Theologen und kirchlichen Meinungsführern als unbedingt reformbedürftig galt. Gleichzeitig brachte es die allmähliche Intellektualisierung der nordamerikanischen Protestantismen mit sich, dass man sich um eine Aneignung der protestantischen Traditionsbestände und damit auch des Erbes der frühneuzeitlichen Reformatoren bemühte. Nicht erst der Anteil überzeugter (Neu-)Konfessionalisten an den großen Immigrationsschüben des 19. Jahrhunderts und eine neukonservative Transformation der Konfessionskirchen im Zusammenhang einer internationalen religiösen Intensivierungsbewegung weckte dieses Interesse, das sich vorderhand besonders auf die Zentralgestalten der Bekenntnistheologie konzentrierte.13 Bald erweiterten wohlhabende Nordamerikaner – wenn auch wohl eher zögernd – im Zusammenhang von Bildungsaufenthalten an den europäischen und speziell an deutschen Universitäten ihre touristische Tour der klassischen Gedächtnisorte europäWittenberg.14 Die nach 1800 bald wieder hochangesehene Hochschulbildung, die ausländische Studenten an den deutschen Universitäten erwerben konnten, war womöglich der wichtigste Attraktionsfaktor überhaupt: Eine junge Elite aus den Vereinigten Staaten ging daran, sich das Beste, was die deutschen Wissenschaften von der Philosophie bis zur Physik anzubieten hatten, anzueignen und für die intellektuelle Entwicklung ihres Heimatlandes nutzbar zu machen. In der Theologie begann diese Welle zwar mit einer gewissen Verzögerung,15 doch sie verlief, wie im Folgenden gezeigt wird, prinzipiell gleichartig. Insgesamt lässt sich die nordamerikanische Perspektive also gut mit dem bereits seit längerer Zeit in die Transferforschung eingeführten Begriffspaar "Aneignung und Abwehr"16 beschreiben.
In der umgekehrten Blickrichtung faszinierte vor allem der Pluralismus des religiösen Lebens in den USA, auch wenn dieser von vielen – nicht nur neukonfessionalistischen und konservativ-vermittelnden – Theologen als prinzipiell im deutschen Rahmen nicht realisierbar beurteilt wurde. Das Interesse, das speziell liberale deutsche protestantische Theologen an der religiösen Situation der angelsächsischen Welt entwickelten, hat eine Tradition, die über das 19. Jahrhundert in die Frühe Neuzeit zurückreicht. Hermann Weingartens (1834–1892) bahnbrechende Studie über die englischen Revolutionskirchen,17 die eine Generation später zu einer zentralen Informationsquelle für Ernst Troeltschs (1865–1923) und Max Webers (1864–1920) Protestantismusdeutungen wurde, ist ein prominentes Beispiel für diese Blickrichtung aus dem Bereich theologischer Wissenschaft. Eine weit wichtigere Funktion für den direkten Informations- und Erfahrungstransfer in die Kirchenorganisationen hatten die sogenannten Kandidatenreisen des 19. Jahrhunderts: Begabten jungen Theologen ermöglichten ihre Kirchenleitungen oder private Stiftungen, nach Abschluss des Ersten Examens und vor dem Eintritt in den Kirchendienst Bildungsreisen zu unternehmen, und zwar nicht nur zu streng wissenschaftlichen Zwecken, sondern auch mit dem Ziel, sich allgemeine Kenntnisse über auswärtige Religionsverhältnisse anzueignen. In Zeitschriftenartikeln und Monographien berichteten die Stipendiaten nach ihrer Rückkehr einer interessierten Öffentlichkeit von ihren Erfahrungen und machten häufig im selben Zusammenhang Vorschläge, wie eine Übertragung der im Ausland wahrgenommenen wünschenswerten Charakteristika in deutsche Verhältnisse vorstellbar sei. Otto Pfleiderer (1839–1908) etwa, der spätere Jenaer und Berliner Praktische Theologe und Systematiker, unternahm als württembergischer Kandidat seine Stipendiatenreise nach Norddeutschland, in die Niederlande und nach Schottland.18 Die beiden auswärtigen Ziele Pfleiderers sind charakteristisch, denn diese Länder mussten wegen ihrer freieren kirchlichen Verhältnisse auf deutsche Theologen faszinierend wirken – sie bewiesen, dass auch auf europäischem Boden in weit überwiegend protestantischen Regionen das Korsett des Staatskirchensystems abgeschüttelt werden konnte.19
Was die Vereinigten Staaten angeht – die freilich in der ersten Hälfte des Jahrhunderts nur die wenigsten jemals persönlich zu besuchen hoffen konnten –, nahmen deutsche Theologen von Beginn an die enge und nicht zur Diskussion stehende Verknüpfung der nordamerikanischen Religionsverfassung mit der politischen Form der Demokratie wahr.20 Sowenig für die überwiegende Mehrheit der protestantischen Religionsintellektuellen diese Staatsform jemals auf die deutsche Situation übertragbar erschien, so interessiert war die protestantische Öffentlichkeit an der Schilderung von Kirchenorganisationen, die in allen organisatorischen Fragen allein ihren Mitgliedern verpflichtet waren. Das einseitig deutsche Interesse an "religionsstatistischer" Information21 konnte sich aber mit dem wechselseitigen Austausch akademisch-theologischer Wissensbestände verbinden.
Wissenschaftstransfer
Theologische Ideen und Konzepte wandern nicht von selbst über konfessionelle wie nationale Grenzen hinweg, sondern sie werden von bestimmten Akteuren kommuniziert: den aus dem Ausland kommenden akademischen Schülern eines theologischen Schulhauptes, die nach der Rückkehr ins Heimatland dort dessen Ideen propagieren; Verlegern, die Übersetzungen veröffentlichen; Herausgebern von Zeitschriften, die regelmäßig über Debatten in anderen Ländern und Konfessionskulturen berichten lassen.
Schon im 19. Jahrhundert bestanden vielfältige und zum Teil sehr enge Beziehungen zwischen protestantischen Universitätstheologen aus Deutschland und den USA. Dies ist einerseits den jungen Amerikanern zu verdanken, die seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts in immer größerer Zahl zum Studium nach Deutschland kamen.22 Unter den ersten der bildungshungrigen protestantischen Nachwuchstheologen, denen die Ausbildung in der intellektuell engen und oft doktrinären akademischen Atmosphäre der theologischen Colleges und Seminare Nordamerikas nicht mehr ausreichte, war der spätere Lehrer von Charles A. Briggs am Union Theological Seminary, der Kirchenhistoriker und Systematiker Henry Boynton Smith (1815–1877). Er verkörperte wie kein zweiter nordamerikanischer Universitätstheologe den auf Ausgleich bedachten, jedem Konflikt über Bekenntnisfragen abholden Geist eines sehr gemäßigt liberalen Flügels innerhalb der presbyterianischen Kirche.23 Smith, der nach 1838 entscheidende Studienjahre in Halle bei dem erweckt-vermittelnden Theologen Friedrich August Gottreu Tholuck (1799–1877) und in Berlin bei dem ähnlich positionierten Johann August Wilhelm Neander (1789–1850) sowie bei dem zunehmend lutherisch-neukonfessionalistisch auftretenden Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869) verbracht hatte, trug entscheidend dazu bei, die Rezeptionshaltung der nordamerikanischen protestantischen Theologie von England und Schottland auf die Universitätstheologie der aufblühenden deutschen, speziell der preußischen Universitäten umzulenken. Gleichzeitig leitete er die Bindung der Nordamerikaner an die großen Vermittlungsfiguren wie Neander und Tholuck ein, die den kirchlichen Anspruch auf Bekenntnisbindung des Glaubens mit den Anforderungen neuzeitlicher Erkenntnistheorie und Ethik zu versöhnen trachteten, indem sie ohne Scheu erfahrungstheologische Muster ebenso wie romantisch-organologische und frühhistoristische Denkfiguren anwendeten.24 Die historische Kritik eines Ferdinand Christian Baur (1792–1860) in Tübingen etwa blieb für die Nordamerikaner zunächst eine unerhörte und häresieverdächtige Angelegenheit. Wer in den USA als Theologe seine Progressivität deutlich herausstellte, fand lange Zeit nur unter großen Schwierigkeiten Zugang zu den Institutionen höherer Bildung.
Auf der anderen Seite wirkten deutsche Akademiker als Brückenfiguren nach Nordamerika hinein: Sei es ein Emigrant wie der Schweizer Philip(p) Schaff (1819–1893), der trotz seines frühen Wechsels in die USA stets engen Kontakt zu seinen deutschen Kollegen hielt und unermüdlich die Errungenschaften "der" deutschen Universitätstheologie durch Rezensionen und Berichterstattung in der Neuen Welt bekanntmachte (wobei er eben den kirchlich etablierten Ausschnitt konservativer, aber nicht streng konfessionalistischer, vermittelnder Theologie, wie sie Tholuck in Halle oder Neander in Berlin vertraten, überproportional hervorhob);25 seien es konfessionalistische Neulutheraner, die wegen ihrer unangepassten Haltung, besonders aufgrund ihrer prinzipiellen Feindschaft zu den protestantischen Kirchenunionen, in Preußen und anderswo keine Zukunft für ihre Position in Deutschland mehr sahen. Motivationen und Umstände, die die Emigration der letztgenannten Gruppe charakterisieren, sind noch ungenügend erforscht.
Der Berliner Systematiker Isaak August Dorner siedelte zwar keineswegs nach Nordamerika über, vielmehr war er einer der kirchen- und theologiepolitisch einflussreichsten deutschen protestantischen Theologen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.26 Der gebürtige Württemberger hat lediglich eine Nordamerikareise unternommen. Dennoch muss er als einer der wichtigsten Kontaktpersonen zwischen den kirchlichen und theologischen Kulturen Deutschlands und der USA gelten, sodass in seinem Fall das ambivalente Etikett des "Vermittlungstheologen"27 seine besondere Berechtigung gewinnt. Er war in Berlin akademischer Lehrer einer ganzen Generation junger nordamerikanischer Theologen. Gleichzeitig baute er in Korrespondenzen und durch sein verbandspolitisches Engagement ein dichtes Kontaktnetzwerk auf, das über seinen Tod hinaus Austauschbeziehungen ermöglichte.
Sein Korrespondenzpartner Charles A. Briggs war einer der bedeutendsten wissenschaftlichen Theologen Nordamerikas. Er trug an entscheidender Stelle dazu bei, eine zwar kirchliche, aber nicht streng biblizistische und am calvinistischen Bekenntnis ausgerichtete Theologie im Rahmen der Universitätsausbildung heimisch zu machen. Der Presbyterianer Briggs gehörte der ersten Generation nordamerikanischer Theologen an, der es nach einem Studium in Europa – meist in Deutschland und hier am häufigsten an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin – gelang, als Dozenten in die elitären theologischen Ausbildungsstätten der USA wie Union Theological Seminary in New York, Andover, Yale, Bangor oder Drew vorzudringen.28 Das kirchlich-theologische Erbe der frühen Liberalen, die im Umkreis der großen Erweckungen als Gemeindetheologen gewirkt hatten, wurde auf diese Weise wissenschaftlich legitimiert. Allerdings verschärften sich durch das Vordringen kritisch-wissenschaftlicher Positionen die Spannungen nicht nur im akademischen Feld: Auch in den Kirchenorganisationen, von denen die jeweiligen Ausbildungsinstitutionen getragen wurden, führte die Intellektualisierung teilweise zu schweren Konflikten.29 Vor allem die Vertreter einer Übergangsgeneration, zu denen Briggs gehörte, hielten in dieser Lage das deutsche Konzept einer "Vermittlungstheologie" für das beste Mittel, um die inneren Konflikte eines sich pluralisierenden nordamerikanischen Protestantismus langfristig zu überwinden.
1866 siedelte Briggs zur Fortsetzung seiner theologischen Studien nach Berlin über. Empfehlungsbriefe des erwähnten, am Mercersburg Seminary lehrenden und selbst mit den deutschen vermittelnden Theologen eng verbundenen Schaff öffneten ihm viele Türen. In Berlin schloss sich Briggs – der einer starr-konfessionalistischen Theologie, wie sie von Hengstenberg vertreten wurde, nichts abgewinnen konnte – bald eng an Dorner an, der, 1862 in die preußische Hauptstadt berufen, rasch zum führenden Kopf der Theologischen Fakultät avanciert war. Die beiderseitige Aufgeschlossenheit gegenüber der Erweckungsbewegung erleichterte den Kontakt. Unter dem Einfluss des Lehrers öffnete sich Briggs dem Programm einer moderaten historischen Kritik der biblischen Quellen.30 In der Korrespondenz mit Dorner werden Anregungen und Prägungen sichtbar, die bereits früh zu Briggs' Distanzierung von einer starr reformiert-biblizistischen Schriftlehre beigetragen haben. Gleichzeitig gab Dorner eine Linie kirchlichen Interesses und vorsichtiger Begrenzung der theologischen Forschung vor, die für Briggs attraktiv genug wirken musste, um sich den Ansprüchen der kritischen Bibelexegese auszusetzen.31 Dorner verabschiedete ihn mit der Mahnung: "Ich vertraue, dass Sie nie in Ihrem Leben die Liebe zur Wissenschaft und die Erinnerung an deutsches Universitätsleben verlieren werden."32
In der Korrespondenz, die bald nach Briggs' Rückkehr nach Amerika einsetzte, ist auf Seiten Dorners die Idee einer intellektuellen Überlegenheit des deutschen Bildungssystems gegenüber der Situation in den USA deutlich herauszuspüren – allerdings hätte diese seinerzeit auch kaum ein nordamerikanischer Akademiker bestritten. Dorner nimmt eine progressistische Perspektive ein, wenn er sich in vielen Punkten dafür engagiert, intellektuelle und organisatorische Modelle aus Europa und speziell aus dem Kontext des deutschen Protestantismus in die USA zu übertragen.33 Das staatlich koordinierte Schulsystem, der konfessionelle Religionsunterricht und konfessionelle Theologische Fakultäten im Rahmen von Volluniversitäten "im Deutschen Sinn" stellten in seinen Augen allgemeingültige Standards dar. Kern seiner Argumentation für staatliche Theologische Fakultäten war, dass nur mit diesem Organisationsmodell der Fortschritt theologischer Wissenschaft an die "nationale Intelligenz und ihre Fortschritte" angebunden werden könne, während er andernfalls dem Zufall und der Initiative Einzelner überlassen bleibe.34 Dieses Konzept musste allerdings den Nordamerikanern, denen quer durch alle Denominationen an einer klaren Trennung zwischen staatlichen und religiösen Institutionen gelegen war, fremd und womöglich bedrohlich erscheinen; es konnte sich beinahe nirgendwo durchsetzen.
Persönlich wies der Deutsche den New Yorker Kollegen ständig auf interessante wissenschaftliche Neuerscheinungen hin, beschränkte sich allerdings, auch wenn er ganze Literaturlisten übermittelte, stets auf das vermittelnd-konservative theologische Spektrum. (Die Werke freisinniger Kollegen erwähnte er, wenn, dann entweder absprechend oder mit Verweis auf eine kritische Rezension in einer seiner eigenen Position nahestehenden Zeitschrift.) Seinerseits bemühte er sich darum, ein möglichst vollständiges Bild der Theologieproduktion in Nordamerika zu erhalten.35 Die Anmerkungsapparate in Dorners großen dogmengeschichtlichen und systematisch-theologischen Überblicksdarstellungen verraten, dass ihm das zumindest in einigen Teilbereichen gelang. Dorner traute den Nordamerikanern beispielsweise eine besondere Expertise bei der Behandlung der Eschatologie zu.36 Übrigens beherrschte der Württemberger Dorner im Gegensatz zu vielen deutschen Professoren seiner Altersgruppe die englische Sprache wohl auch mündlich passabel. Briggs, der sehr gut deutsch sprach, versuchte er mehrfach gegenüber dem wichtigen Edinburgher Verlagshaus T. & T. Clark als Übersetzer seiner eigenen und anderer Werke ins Spiel zu bringen.
Zwischen New York und Berlin etablierte sich ein stetiger Verkehr von Menschen und Büchern: Da der Paketversand teuer war, gaben die beiden Theologen ihre Buchsendungen normalerweise privaten Atlantikreisenden aus ihrem weiten wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bekanntenkreis mit – seit Mitte der siebziger Jahre schickte Briggs regelmäßig Studenten vom Union Seminary zu Forschungsaufenthalten nach Deutschland. Einen gemeinsamen Bekannten, einen kongretionalistischen Geistlichen, der aus gesundheitlichen Gründen von den USA nach Berlin übergesiedelt war, charakterisierte Dorner als "a living bridge between Europe and N[orth]america".37
Auch in wissenschaftsorganisatorischer Hinsicht forcierte Dorner überall, wo es möglich war, den Informationsaustausch: Als Dorner 1873 die Vereinigten Staaten besuchte, nutzte er die Gelegenheit, um in kurzer Zeit vermutlich sechs führende theologische Ausbildungsinstitutionen im Osten des Landes kennenzulernen, darunter Harvard und Yale. Später unterrichtete der Berliner seinen ehemaligen Schüler, der plante, für fortgeschrittene Studenten eine forschungsbezogene Seminarveranstaltung anzubieten, detailliert über Zielsetzung und Arbeitsorganisation dieses in Deutschland bereits fest etablierten Veranstaltungstyps.38
Dorner konnte sein Ziel, die wissenschaftlichen Positionen des deutschen und des nordamerikanischen Protestantismus abzugleichen und einander anzunähern, allerdings nur teilweise erreichen. Die Ausgangslage war dabei äußerst ungünstig gewesen. Während die frühen Liberalen noch mit wenigen Ausnahmen ihren Blick auf die trinitätskritischen englischen Unitarier, auf die Erkenntnislehre und Moralphilosophie der schottischen Aufklärer sowie die Ästhetik Samuel Taylor Coleridges (1772–1834) gerichtet hatten, ließen sich die ersten erfolgreichen liberalen Universitätstheologen – vor allem Briggs und sein Bostoner Kollege Borden Parker Bowne (1847–1910) – immerhin bis zu einem gewissen Grad auf den philologisch-historistischen Neuansatz vieler deutscher Protestanten ein. Briggs und Bowne öffneten sich vor allem der an den deutschen Universitäten inzwischen zum professionellen Standard der protestantischen Theologie erhobenen historischen Bibelkritik, der die meisten nordamerikanischen Liberalen nach wie vor skeptisch gegenüberstanden. Das New Yorker Union Theological Seminary und die Universität in Boston, später auch die Universität von Chicago, avancierten so zu Kristallisationsorten einflussreicher Schulen. Briggs' Bibelhermeneutik und sein frühhistoristisches Verständnis der kirchlichen Bekenntnisse – er sah diese als in die historische Situation gesprochene, aber geistgewirkte Glaubensäußerungen der christlichen Kirche – wurden zwar bald durch die radikaleren Entwürfe Jüngerer überholt, die sich jetzt beim obligatorischen Studienaufenthalt in Deutschland im Bannkreis der Schule Albrecht Ritschls (1822–1889) bewegten. Moderate Bibelkritik im Sinne einer "Biblischen Theologie", die Dorner seinem Schüler immer wieder als Zukunftsperspektive für den nordamerikanischen Protestantismus empfahl,39 wurde in den USA selten heimisch. Bleibend wirkte Briggs jedoch durch die feste Verankerung wissenschaftlich anspruchsvoller Exegese im Studienplan der nordamerikanischen Theologen.40
Aufgeschlossenheit gegenüber auch nur marginal bibel- und dogmenkritischen theologischen Ansätzen war im nordamerikanischen Kontext nicht ohne Risiko: Theodore Parker (1810–1860) etwa, ein Unitarier, der eine an Immanuel Kant (1724–1804), Friedrich Schleiermacher (1768–1834) und der Tendenzkritik orientierte wissenschaftliche Theologie propagierte, war Opfer des ersten der zahlreichen Häresieverfahren, die seit ca. 1840 von Gemeinden und Synoden gegen liberale Theologen lanciert wurden. Das spektakulärste dieser Verfahren stellte der mehrstufige Prozess presbyterianischer Synodalinstanzen gegen Briggs dar. Als Folge dieses kirchlichen Eingreifens in eine kirchennahe Wissenschaftsinstitution sollte sich das Union Theological Seminary von der presbyterianischen Kirche emanzipieren – eine richtungsweisende Entscheidung. Insgesamt präsentierte sich die nordamerikanische liberale Theologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als vermittelnder "dritter Weg" zwischen Orthodoxismus und Unglaube – mit Dorners Worten: als "eine wissenschaftliche Vertretung einer besonnenen Mitte"41 – und war damit der von Dorner repräsentierten deutschen Vermittlungstheologie relativ nah.42 Es sollte allerdings wishful thinking bleiben, wenn Dorner seinem Korrespondenzpartner gegenüber die Devise ausgab: "Die amerikanische und die deutsche Theologie muß in den Principien – fides iustificans und Autorität h. Schrift bewußt einig werden: dann können beyde Arm in Arm marschieren, und unitis viribus sich dem Unglauben und Aberglauben durch wahre Wissenschaft entgegenstellen."43 Sehr konkret war das Bestreben, anhand des Wissenschaftstransfers dabei mitzuhelfen, den Trend zu wissenschaftlichem Anspruch im nordamerikanischen Protestantismus zu verstetigen, damit sobald wie möglich "eine theol[ogisch] durchgebildetere Generation" die Arbeit aufnehmen könne.44
Die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen trugen diesseits wie jenseits des Atlantiks zur Herausbildung einer bürgerlichen Theologie bei, die inhaltlich und auch in ihrer Darbietungsform für breite Schichten attraktiv wurde:45 Dorner und Briggs selbst waren – im Gegensatz vielleicht zu ihrem gemeinsamen Bekannten Schaff – nicht ausnehmend begabt dabei, den neu entstehenden Markt populärwissenschaftlicher und erbaulicher Literatur zu bedienen. Andere wie der von Dorner geschätzte liberale Prediger Henry Ward Beecher (1813–1887) sollten aber im selben kirchlich-theologischen Milieu massenwirksame Erfolge feiern. Transnationale Rezeptionsvorgänge zwischen ähnlichen religiösen Milieus auf der Ebene der Populärliteratur im 19. Jahrhundert sind noch kaum erforscht. In der populärwissenschaftlichen Literatur traten in Deutschland wie in den USA stärker Themen jenseits der engen Grenzen von Kirche und Wissenschaft in den Vordergrund, die erst die Schüler von Dorner und Briggs als zentrale Herausforderungen der Zeit identifizierten – etwa der Ausbau der Darwinschen Evolutionstheorie zu einer Weltanschauung, die in Antagonismus zum Christentum treten konnte, und die sozialen Folgen der Hochindustrialisierung. Allerdings kam es trotz ähnlicher Interessenlagen in dieser Generation wohl nicht mehr zu derart festen und produktiven deutsch-amerikanischen Konstellationen wie derjenigen zwischen Briggs und Dorner. Nach der Wende zum 20. Jahrhundert intensivierte sich zwar der Wissenschaftsaustausch zwischen Deutschland und den USA; auf der Weltausstellung von St. Louis 1904 war die deutsche Theologie mit Adolf von Harnack (1851–1930) und Ernst Troeltsch prominent vertreten. In den Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde schließlich ein regulärer Professorenaustausch institutionalisiert.46 Trotzdem ging die amerikanische Theologie auf vielen Feldern bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts eigene Wege.
Transnationaler Verbandsprotestantismus
Parallel zum Wissenschaftstransfer sah der Protestantismus des 19. Jahrhunderts eine andere Transformationswelle zwischen Europa und den USA, bei der die alte Welt ganz überwiegend den Part des Empfängers übernahm: die neuen Missionsbewegungen. Seit Ende des 18. Jahrhunderts gewann weltweit ein herrschaftsferner, häufig den Erweckungsbewegungen der Zeit verpflichteter Missionsstil an Bedeutung, getragen von nonkonformistischen Kirchengemeinschaften, die sich eine gewisse Autonomie von den europäischen Konfessionskirchen zunächst in Auseinandersetzungen um die Heidenmission erstritten hatten. Seine Kennzeichen sind die theologische Entprofessionalisierung christlicher Missionare und eine neue Konzeption der Ökumene.47 Diese neuen Missionsorganisationen, die international effizient vernetzt waren48 und vor allem im aufstrebenden Bürgertum Nordamerikas eine breite Basis von Unterstützern sammelten, wendeten sich allmählich immer stärker auch missionarischer Aktivität in Europa zu. Die Idee, eine "imaginierte globale Pilgergemeinde" der erweckten Frommen zu bilden, äußerte sich hier durch die Gründung zahlreicher Missions- und Christentumsgesellschaften zwischen ca. 1790 und 1830,49 die Erfahrungen aus der globalen Mission in die westlichen Gesellschaften zurücklenkten. So sollte die dort diagnostizierte Säkularisierung und Veräußerlichung bekämpft werden. Langfristig generierte die Erweckungsbewegung aber auch eine Rückbesinnung auf die Konfessionalität, die eine neue Riege konfessionell gebundener Verbände und Missionsorganisationen ins Leben rief. Diese schlossen sich oft enger an die imperialistischen Kolonialmächte an und wurden so leichter anfällig für Politisierung unter nationalistischen Vorzeichen. Gegen Ende des Jahrhunderts intensivierten sich die gegenseitige Beobachtung und auch die Kommunikation zwischen deutschen und nordamerikanischen Protestanten vor allem noch im Kontext der anhaltenden Diskussionen um angemessene Formen des sozialdiakonischen Engagements der Kirchen.50
Die neue Dimension von Kirchlichkeit, die in erweckten Kreisen zum Ausdruck kam, ist auch in der Korrespondenz zwischen Dorner und Briggs Thema. Immer wieder erbat der New Yorker Informationen über den Fortgang der kirchlichen Reformen in Preußen. Dorner gab bewusst Insiderwissen, "was allerdings nicht aus Zeitungen kann vernommen werden", weiter.51 Detailliert schilderte der Berliner etwa den Fortgang der Synodalverhandlungen über die Einführung von frei gewählten Kirchengemeinderäten. Er charakterisiert dabei seine an gemeindlicher Mitbestimmung orientierte Position, die gleichwohl kein allgemeines Wahlrecht anstrebt, sondern eine durch "kirchliche Qualifikation" gebildete Kerngemeinde privilegieren möchte. Diese Organisation "nach kirchlichem Principe", so Dorner gegenüber Briggs, würde in die preußische Kirchenorganisation "eine ähnliche Unterscheidung und Gliederung, wie sie in Ihrer Kirche herrscht, aber in deutscher Weise" bringen.52 Auch in Zeitschriftenbeiträgen versuchte Dorner beim nordamerikanischen Publikum Verständnis für die von ihm als Mitglied der Kirchenleitung mitverantworteten kirchlichen Reformen in Preußen zu wecken.53
Zentrales Medium für die internationale kirchenpolitische und theologische Kommunikation der protestantischen Konfessionen wurden endgültig seit Mitte des 19. Jahrhunderts die religiösen Verbände, an erster Stelle die Bewegung der Evangelischen Allianz. Frei von obrigkeitlichen und bürokratischen Bindungen, denen die protestantischen Kirchenorganisationen in den Staatskirchensystemen noch immer unterlagen, konnten sich hier kirchlich engagierte Laien und Theologen als Privatleute in Form einer Basisbewegung vor allem auf regionaler Ebene vergesellschaften. Briggs und Bowne waren ebenso wie Dorner im internationalen Verbandsprotestantismus der Evangelischen Allianz engagiert. Ziel dieser 1845/1846 institutionalisierten überkonfessionellen Vereinsbewegung, die aus der schottischen Erweckungsbewegung hervorgegangen war, stellte die inhaltliche Kooperation und praktisch-strategische Koordination protestantischer Christen dar.54 Auf der Basis eines Glaubenbekenntnisses, das die innerprotestantischen dogmatischen Streitpunkte ausklammerte, hofften die Nationalvereine der Allianz, unter dem Banner der Verständigung aller Christen und mit einem speziellen Interesse an der weltweiten Beförderung von Religionsfreiheit den gesellschaftspolitischen und gegen den römischen Katholizismus gerichteten Anliegen eines gemäßigt-konservativen Mehrheitsprotestantismus eine öffentliche Stimme zu verleihen.
Die Allianz gehört im Kontext der deutschen Kirchengeschichte in die sogenannte vierte Phase des konfessionellen Vereinswesens, die durch staatsferne Organisationsformen und eine – wenn auch nur sehr allmähliche – Höherwertung der Weltanschauung gegenüber der politischen Richtung gekennzeichnet ist.55 In den meisten Staaten betrieben die Allianzvereine moderne Öffentlichkeitsarbeit, vor allem durch die Herausgabe professioneller Periodika, die häufig intensive und qualitativ hochwertige Berichterstattung über religiöse und theologische Themen mit orientierendem Tendenzjournalismus verbanden (z. B. Evangelical Christendom in Großbritannien; Neue Evangelische Kirchenzeitung in Deutschland). Der internationalen Kommunikation und Koordination dienten auf der offiziellen Ebene vor allem Konferenzveranstaltungen in unregelmäßigen Abständen, deren Termine von Anfang an (London 1851) häufig mit internationalen Ausstellungen koordiniert wurden. Nach einem ersten Treffen in Paris 1851 richtete der Anfang der fünfziger Jahre entstandene deutsche Zweigverein im Jahr 1857 in Berlin eine vielbesuchte Konferenz aus. Die Tagung der Evangelischen Allianz 1873 in New York, an der Briggs und Dorner teilnahmen, war von noch längerer Hand vorbereitet. Die Allianzbewegung der USA hatte bereits 1870 geplant, eine internationale Konferenz auszurichten – nicht nur als Gegenereignis zum 1. Vatikanischen Konzil, sondern auch, um den europäischen Delegierten zu veranschaulichen, wie erfolgreich sich evangelisches Christentum im Rahmen der Unionsdemokratie als "Religion of the Republic" bewährte, und nicht zuletzt auch, um das mit Europa verbindende religiöse Erbe herauszustellen. Mangelnde Koordination der europäischen Allianzgesellschaften und vor allem der Deutsch-Französische Krieg verzögerten das Unternehmen dann um drei Jahre. Umso größer war der Erfolg der New Yorker Massenveranstaltung mit 20.000 Teilnehmern.56
In der Langzeitbetrachtung stellt sich die Evangelische Allianz dar als "the most interesting meeting place where active Christians of both the New World and the Old came together to advance their cause". Dennoch, so ein generelles Fazit, war die Plattform zu keiner Zeit in der Lage, substantiell zu einer transatlantischen Solidarität im Zeitalter des Imperialismus beizutragen.57 Noch sind die Ursachen für diese Schwäche einer mit großen Hoffnungen willkommen geheißenen Institution nicht klar. Sicher liegt sie teilweise in der unterschiedlichen Herkunft bzw. mehr noch in der stark abweichenden kirchlichen Sozialisation der delegierten Repräsentanten begründet. Dass die Allianz allerdings daran ihre Grenze fand, dass die Amerikaner sie als offene Bühne für alle sahen, die mit am Reich Gottes in der Welt bauen wollten, wogegen Deutsche und auch Briten stets der religiösen Erweckung ebenso wie dem nationalen Erwachen des eigenen Vaterlandes Priorität eingeräumt hätten,58 ist sicher eine zu stark schematisierende Antwort.
Vor allem darf die negative Gesamtbilanz nicht vergessen lassen, dass über mehrere Jahrzehnte hinweg die Allianz als wichtigste Plattform des internationalen Verbandsprotestantismus kirchlich-theologischen Funktionären Begegnungen und Erfahrungen einer neuen Qualität ermöglichte und in vielfältiger Hinsicht individuelle Mentalitäten auf eine Transferperspektive hin synchronisierte. Was Dorner während seiner Nordamerikareise erlebte, beeindruckte ihn enorm. Gern hätte er die USA ein zweites Mal besucht, um an der ersten Weltausstellung in St. Louis anlässlich des hundertsten Jahrestags der Unabhängigkeitserklärung 1876 teilzunehmen.59
Heimweh nach Amerika
Dorner resümierte ein Jahr nach seinem Amerikabesuch, zurückgekehrt ins Getriebe der preußischen Kirchen- und Theologiepolitik: "Ja in dem Streit der Gegenwart kann mich oft eine Art Heimweh nach America befallen. Man ist dort, was den christlichen Common sense anlangt, weiter als unser Publicum, das so oft Kleines wichtig und Großes unwichtig nimmt, die Differenzen überschätzt oder unterschätzt je nach der Mode und Strömung."60 Immer wieder ergriff Dorner öffentlich Partei für in Deutschland umstrittene Erweckungsprediger und Theologen der USA, auch "aus dem Grund, weil so Viele bei uns America verachten, und alles Englische oder Americanische als Contrebande ansehen".61 Dorner pflichtete demgegenüber Briggs bei, der in klassisch liberaltheologischer Perspektive auf Seiten der Vereinigten Staaten ein enormes Zukunftspotential in intellektueller, moralischer und religiöser Hinsicht ausmachte, und er stellte der jungen Nation künftige wissenschaftliche, literarische und künstlerische Erfolge in Aussicht.62 Nicht nur Briggs ermunterte er mit den Worten: "Arbeiten Sie nur rüstig fort! Möglich, daß America uns bald wieder gibt und uns vergilt was wir ihm haben geben können."63