Eine kurze Darstellung der Dreyfus-Affäre
Der Ursprung der Affäre ist auf den Spätsommer 1894 zu datieren. Die Spionageabwehr des Geheimdienstes der französischen Armee – "Sektion für Statistik" genannt – fand im Papierkorb des deutschen Militärattachés Maximilian von Schwartzkoppen (1850–1917) in der deutschen Botschaft einen Brief, der die Lieferung vertraulicher, die Landesverteidigung betreffender Dokumente (u.a. über ein 120 mm Geschütz, Veränderungen in der Ausbildung der Artillerie und Schießvorschriften) versprach und der fortan als Bordereau bezeichnet wurde. Nach einem zweifelhaften Untersuchungsverfahren (einem eher dubiosen Handschriftenvergleich) wurde der Brief dem Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus (1859–1935) zugeschrieben. Daraufhin wurde Dreyfus am 15. Oktober 1894 verhaftet. Die nationalistische Presse (La Libre Parole, Le Matin, La Patrie), aber auch der neutralere Figaro, berichteten in mehr oder weniger dramatischen Tönen über die Verhaftung eines Offiziers jüdischer Herkunft, so dass sich Kriegsminister General Auguste Mercier (1833–1921) gezwungen sah, auf eine rasche Verurteilung des (vermeintlich) Schuldigen zu drängen. Der Generalstab lieferte ihm einen in Zeiten des Revanchismus und des zunehmenden Antisemitismus idealen Verräter: Alfred Dreyfus stammte aus dem Elsass, war Jude und absolvierte im Generalstab gerade ein Praktikum. Am 19. Dezember 1894 wurde vor dem Obersten Kriegsgericht ein Militärprozess – unter Ausschluss der Öffentlichkeit – gegen ihn eröffnet. Da jedoch einige der Militärrichter aufgrund der unsicheren Aktenlage Zweifel an Dreyfus' Schuld äußerten, wurde seine Verurteilung schließlich durch eine "Geheimakte" herbeigeführt, die der Verteidigung vorenthalten wurde (ein Brief, in dem von "ce canaille de D." die Rede war – einer Person, die nie mit Sicherheit identifiziert werden konnte, sicherlich jedoch nicht Dreyfus war). Damit setzte sich das Militär bewusst über alle rechtsstaatlichen Prinzipien hinweg. Dreyfus wurde am 22. Dezember zur Höchststrafe für Hochverrat – Degradierung und Deportation auf Lebenszeit – verurteilt und im März 1895 auf die Teufelsinsel vor Französisch-Guyana verbannt.
Eineinhalb Jahre nach dieser Verurteilung entlarvte Oberstleutnant Georges Picquart (1854–1914), der neue Leiter der Spionageabwehr, Major Charles-Ferdinand Walsin-Esterhazy (1847–1923) als den eigentlichen Verfasser des Bordereau[]. Picquart versetzte man kurzerhand nach Nordafrika. Erst weitere eineinhalb Jahre später wurde Walsin-Esterhazy nach der Veröffentlichung ihn eindeutig belastender Dokumente vor ein Kriegsgericht gestellt und am 11. Januar 1898 freigesprochen. Das war für Emile Zola (1840–1902) der letzte Anstoß, den berühmt gewordenen "Offenen Brief" an Félix Faure (1841–1899), den Präsidenten der Republik, zu richten. Von da an stand die Wiederaufnahme des Prozesses gegen Dreyfus im Mittelpunkt der Debatten, der "Fall Dreyfus" wurde zur "Affäre Zola". Zeitweise trat das Schicksal des Artilleriehauptmanns dabei allerdings gegenüber prinzipiellen Fragen, wie zum Beispiel jenen nach der Vereinbarkeit von Justiz und Staatsraison, in den Hintergrund.
Mehrere Faktoren erklären, wie es zu einer eindeutigen Rechtsbeugung kommen konnte: zunächst die vorangegangenen Affären und Krisen der Dritten Republik (1889 der gescheiterte Putschversuch von General Georges Boulanger (1837–1891), der Panama-Skandal 1892 und ein Anarchistenaufstand 1894), dann die Stellung der Armee, die als unantastbares "Heiligtum" (Sanktuarium) und als Garant für eine zukünftige Revanche für die Niederlage gegen Preußen 1870 und den Verlust von Elsass-Lothringen galt und innerhalb der Nation ein gewisses Eigenleben führte, geprägt vom Fahnenkult und der Verachtung der republikanischen Politiker. Eine zentrale Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Sektion für Spionageabwehr. Diese Abteilung unterstand direkt dem stellvertretenden Generalstabs-Chef General Charles Arthur Gonse (1838–1917) und wurde zu Beginn der "Affäre" von Oberst Jean Sandherr (1846–1897) geleitet – einem ehemaligen Absolventen der Miltär-Schule von Saint-Cyr, Elsässer und Antisemiten, dem noch General Boulanger in seiner Zeit als Kriegsminister zu dieser Stelle verholfen hatte. Aufgabe dieser "Section des statistiques" war es u.a., die Kontakte zwischen den in Paris akkreditierten Militärattachés ausländischer Nationen (diskret) zu überwachen, besonders natürlich die der im "Dreibund" alliierten Armeen des deutschen Reichs (Oberstleutnant Max von Schwartzkoppen), Italiens (Alessandro Panizzardi) und Österreich-Ungarns (Oberst Schneider). Nicht zu unterschätzen ist schließlich auch der zunehmende Antisemitismus, der immer stärker ideologisch besetzt war, wie der Erfolg von Edouard Drumonts (1844–1917) erschienenem Buch La France juive und dessen 1892 gegründeter Tageszeitung La Libre Parole beweist. Der Druck der nationalistischen und antisemitischen Presse auf die Regierung erwies sich als ein entscheidender Faktor, da Auflagenstärke und Verbreitung von L'Intransigeant, Le Matin, La Libre Parole, La Patrie, Le Petit Journal und Le Petit Parisien ungleich höher waren als die der Dreyfus verteidigenden Blätter (anfangs kurzfristig Le Figaro, dann aber vor allem L'Aurore, Le Siècle, Le Temps, sowie La Fronde und Les Droits de l'homme, die übrigens erst im Laufe der Affäre gegründet werden).
Das Engagement von Emile Zola
Emile Zola war kein Dreyfusianer der ersten Stunde. Erst im Herbst 1897 – nach Abschluss seiner Städtetrilogie (Lourdes – Rome – Paris) – ließ er sich durch Gespräche mit dem Dichter Bernard Lazare (1865–1903), der schon zwei Broschüren zur Verteidigung von Dreyfus veröffentlicht hatte, mit Picquarts Anwalt Louis Leblois (1854–1928) und mit dem Vizepräsidenten des Senats, Auguste Scheurer-Kestner (1833–1899), von Dreyfus' Unschuld überzeugen und begann sich zu engagieren. Sein erster Artikel1 erschien am 25. November im Figaro und war "Monsieur Scheurer-Kestner" gewidmet. Der Schriftsteller verteidigte darin die vom Vizepräsidenten des Senats eingeleitete Kampagne für eine Wiederaufnahme des Dreyfus-Prozesses. In kurzen Abständen folgten dann mit "Le syndicat" ("Das Syndikat", Le Figaro, 1. Dezember 1897) und "Procès-verbal" ("Protokoll", Le Figaro, 5. Dezember 1897) zwei weitere Artikel, in denen Zola sich bemühte, die Affäre und ihren ideologischen wie politischen Hintergrund zu beschreiben. Auf die Ironie, mit der er zunächst die Legende vom berühmten "Judensyndikat" aufs Korn nahm, folgte dann im Artikel "Procès-verbal" die offene Denunziation des Antisemitismus und der "niederträchtigen Ausnutzung des Patriotismus" durch die Presse. Konservative Leser des Figaro drohten daraufhin mit der Auflösung ihrer Abonnements. Zola musste seine Kampagne in Form von Broschüren fortsetzen, die sein Verleger Fasquelle veröffentlichte: Lettre à la jeunesse (Brief an die Jugend) und Lettre à la France (Brief an Frankreich) sind Appelle an die Vernunft und Vorstufen zu seinem "J’accuse" an Staatspräsident Félix Faure, mit dem Zola auf den am 11. Januar erfolgten Freispruch von Walsin-Esterhazy reagiert.
Am 13. Januar erschien auf der Titelseite der Tageszeitung L'Aurore dieser "Offene Brief" an den "Präsidenten der Republik". Es war Zolas persönliche Darstellung der Affäre, die auf den vorangegangenen Artikeln basierte und mit einer Schlusstirade endete, in der Zola den höchsten Stellen des Staates und der Armee Rechtsbeugung vorwarf; dieser ist der berühmt gewordene Titel "J'accuse" – "ich klage an" – entlehnt.
Zola exponierte sich damit bewusst, wie er im Anschluss an die Anklage formulierte:
Indem ich diese Anklagen erhebe, weiß ich sehr wohl, dass ich mich den Artikeln 30 und 31 des Pressegesetzes vom 29. Juli 1881 unterwerfe, die Vergehen der Diffamierung unter Strafe stellen. Ich tue das in voller Absicht. ... Ich habe nur eine Leidenschaft, jene der Aufklärung, im Namen der Menschheit, die soviel gelitten und die ein Recht hat, glücklich zu sein. … Man soll nur wagen, mich vor ein Schwurgericht zu stellen, und die Untersuchung möge in aller Öffentlichkeit geschehen! Ich warte!2
Die Wirkung dieses gewagten Aktes war beträchtlich. Die Auflage von L'Aurore wurde verzehnfacht: von der betreffenden Ausgabe selbst wurden zwischen 200.000 und 300.000 Exemplare verkauft.3
Als journalistisches Werk war "J'accuse" eine kollektive Leistung. Georges Clemenceau (1841–1929), Politiker, Anwalt und damals Redakteur von L'Aurore, und der Herausgeber, Ernest Vaughan (1841–1929), waren in die Vorbereitungen der Veröffentlichung eingeweiht, da rechtlich gesehen die Zeitung für die Veröffentlichung verantwortlich war. Clemenceau formulierte unter Verwendung von Zolas immer wiederkehrender Anklageformel den Titel und sah den Kampf voraus, den der Artikel auslösen würde. In der Tat ließ die Reaktion der Regierung nicht auf sich warten. Am 18. Januar beschloss man im Ministerrat, dass der Kriegsminister vor dem Schwurgericht des Departements Seine gegen Zola und gegen Alexandre Perrenx, den Geschäftsführer von L'Aurore, eine Verleumdungsklage einbringen sollte. Womit Zola allerdings nicht gerechnet hatte, war der Versuch der Regierung, die Verleumdungsklage von der Dreyfus-Affäre zu trennen. Es wurden nämlich nur drei kurze Passagen aus "J'accuse" beanstandet, die "die Ehre des Militärgouverneurs von Paris in Frage stellen" und ausschließlich den Freispruch von Walsin-Esterhazy durch das Kriegsgericht vom 10./11. Januar 1898 betrafen. Damit wollten die Kläger verhindern, dass im Prozess gegen Zola und L'Aurore die Dreyfus-Affäre angesprochen wurde. Dies führte in der Folge dazu, dass der Vorsitzende des Schwurgerichts Fragen der Verteidigung, die auf den Fall Dreyfus anspielten, regelmäßig ablehnte. Letztlich schlug die Taktik der Regierung aber fehl: Zolas Anschuldigungen waren von der Dreyfus-Affäre nicht zu separieren.
Der Prozess, der sich über zwei Wochen – vom 7. bis 23. Februar – erstreckte, war Anlass für leidenschaftliche Debatten. Zola trug seine Erklärung vor den Geschworenen am 21. Februar vor und wiederholte tief bewegt seine innerste Überzeugung: "Dreyfus ist unschuldig, das schwöre ich. Ich schwöre es bei meinem Leben, bei meiner Ehre." Das Plädoyer seines Anwalts Labori erstreckte sich über drei Sitzungen vom 21. bis 23. Februar; darauf folgte ein kürzeres von Georges Clemenceau. Das Urteil wurde am Abend des 23. Februar verkündet: Perrenx wurde zu vier Monaten Gefängnis und 3.000 Francs Geldstrafe verurteilt, der Autor von "J'accuse" ebenfalls zu 3.000 Francs und einer Gefängnisstrafe von einem Jahr. Das Urteil war allerdings noch nicht rechtskräftig.
Zola zog sich nach dem Prozess in sein Landhaus in Médan zurück. Die von einigen hundert "Intellektuellen" unterzeichneten und in L'Aurore veröffentlichten Petitionen (18) täuschten nicht darüber hinweg, dass Zolas Engagement für Dreyfus und seine Verurteilung für viele der willkommene Anlass zu einer "Abrechnung" mit dem wenig geliebten naturalistischen Erfolgsautor war und dass die Mehrheit der Franzosen, auch die Mehrheit der Intellektuellen, keineswegs Dreyfusianer waren.
Nach der außerordentlichen Anspannung der Februartage 1898 versuchte Zola in den Hintergrund zu treten. Er hatte zwar den Prozess gewollt, die unzähligen juristischen Verfahren, die dieser nach sich ziehen würde, aber nicht vorhergesehen. Nach einer ersten Aufhebung des Urteils wegen eines Formfehlers und einer neuerlichen, identischen Verurteilung in zweiter Instanz, ging der Schriftsteller im Juli 1898 – auf Drängen seiner Freunde und Mitstreiter – ins Exil nach England, um die erhoffte Revision des Dreyfus-Prozesses abzuwarten. Diese erfolgte über ein Jahr später und endete im September 1899 mit einer neuerlichen Verurteilung von Dreyfus; er wurde jedoch von Präsident Emile Loubet (1838–1929) begnadigt. Zola, der schon im Juni aus dem Exil zurückgekehrt war, gehörte im Lager der Dreyfusianer zu denjenigen, die über diesen faulen Kompromiss zwar entrüstet waren, aber Verständnis dafür hatten, dass Dreyfus ihn letztlich annahm. Mit fünf "offenen Briefen" in L'Aurore beschloss Zola seine Dreyfus-Kampagne: "Justice" erschien am 5. Juni 1899, dem Tag seiner Rückkehr aus England, "Le Cinquième Acte" am 12. September als Reaktion auf die Bestätigung des Urteils gegen Dreyfus durch das Kriegsgericht von Rennes; am 22. September drückte Zola im Artikel "Lettre à Madame Alfred Dreyfus" sein Verständnis für die Annahme der Begnadigung aus; die Briefe "Lettre au Sénat" (29. Mai 1900) und "Lettre au Président de la République" (22. Dezember 1900) waren von den Debatten um das Amnestiegesetz inspiriert, durch das alle Beteiligten an der Affäre begnadigt wurden, und bildeten einen bitter-ironischen Abschluss von Zolas Engagement in dieser Angelegenheit.
Unter allen Texten Zolas zur "Affäre" nahm "J'accuse" einen besonderen Stellenwert ein. Der Text dieses "Offenen Briefes" beruhte auf grundlegenden Überzeugungen, die wie ein "Credo" wiederholt wurden, ebenso wie auf der aufmerksamen Beobachtung der realen Vorgänge, die Zola in ihrer chronologischen Abfolge analysierte. Einige Ungenauigkeiten und kleinere Irrtümer Details betreffend, zum Beispiel die Fehleinschätzung der Rolle von Oberstleutnant Armand du Paty de Clam (1853–1916) gegenüber der von Major Hubert Henry (1846–1898), hingen vor allem mit dem damaligen Informationsstand der Dreyfus-Anhänger zusammen. Dies war aber nicht das Entscheidende. Das große Verdienst von "J'accuse" bestand darin, die besonders verwickelten Zusammenhänge klar dargestellt und ihre öffentliche Diskussion ermöglicht zu haben. Der (spätere) Sozialistenführer Léon Blum bemerkte dazu in seinem Artikel "Le Procès" (La Revue blanche, 15. März 1898): "Möglicherweise hat sich Zola in seiner Interpretation einzelner Fakten getäuscht. Aber wer könnte behaupten, dass der Sachverhalt in seiner Gesamtheit durch die Gerichtsdebatten nicht verifiziert und bewiesen worden wäre?".4
Pressereaktionen
Die Tragweite der Dreyfus-Affäre war, ebenso wie das Engagement Zolas, ohne das Medium Presse nicht denkbar. Auch als Medienereignis bekam die "Affäre" – gleich ab dem Herbst 1894 – eine internationale Dimension. Die größte Intensität erreichte die Berichterstattung sowohl in der französischen, als auch in der internationalen Presse zwischen dem Spätherbst 1897 und September 1899: Zolas "J'accuse" wurde – zumindest auszugsweise – in vielen ausländischen Tageszeitungen abgedruckt. Praktisch alle Zeitungen räumten, ungeachtet ihrer politischen Zugehörigkeit, den verschiedenen Ereignissen im Verlauf der Affäre großen Raum ein.
Da hier der Platz für eine umfassende Presseschau nicht ausreicht, seien als Beispiel die Reaktionen in der deutschsprachigen Presse resümiert und analysiert.5 Die deutschen Zeitungen waren schon allein deshalb an der Affäre interessiert, weil die nationalistische Presse Frankreichs (allen voran Le Matin und L'Intransigeant) von Beginn an behauptete, Dreyfus habe für Deutschland spioniert. Diesen Anschuldigungen gegenüber hielten sich die meisten deutschen Zeitungen an die offizielle Stellungnahme der deutschen Regierung: Die Dreyfus-Affäre sei eine rein innerfranzösische Angelegenheit, Deutschland habe mit ihr nichts zu tun – was im Hinblick auf Dreyfus richtig war, im Hinblick auf Walsin-Esterhazy aber nicht den Tatsachen entsprach. Im Deutschen Reich waren demnach die Aufnahme und die Interpretation der Affäre stark vom deutsch-französischen Gegensatz geprägt. Dieser jahrhundertealte Antagonismus hatte seit 1871 mit der Errichtung der Dritten Republik einen zusätzlichen Anhaltspunkt bekommen, der in Deutschland sehr widersprüchliche Reaktionen auslöste, da für manche Deutsche, vor allem für die national-liberal und republikanisch gesinnten, Frankreich "Gegner" und "Modell" zugleich war. Im Wesentlichen galt das – in abgeschwächter Form – auch für Österreich-Ungarn. Tatsächlich war Frankreich nicht nur ein "republikanisches", sondern vor allem auch ein "kulturelles" Modell und die französische Literatur (insbesondere Zola) nahm zu dieser Zeit im ganzen deutschen Sprachraum einen hohen Stellenwert ein.
So nahmen im Deutschen Reich auch die Presseorgane aller politischen Lager die Affäre wahr, die Interpretation und Wertung der Ereignisse hing freilich vom jeweiligen politisch-ideologischen Standpunkt ab. Prinzipiell standen einander – vereinfacht dargestellt – das rechte, konservative Lager und die liberalen Zeitungen gegenüber. Eckhardt und Günther Fuchs haben am Beispiel der Berliner Presse anhand von vier Aspekten – der Diskussion um das Regierungssystem (Republik oder Monarchie), der Rolle des Antisemitismus, der Geschichtssymbolik (Frankreich als Land der Revolution und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte) und dem Nationalismus – die Ausnützung der Affäre für unterschiedliche politische Zwecke untersucht.6
Für die rechts-konservative Presse – dazu gehörten u.a. im Deutschen Reich Blätter wie die stark antisemitisch ausgerichtete Staatsbürgerzeitung, Das Reich, die katholische Germania und die protestantische Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung), oder in Österreich das Deutsche Volksblatt und die Reichspost – bot die Affäre die Gelegenheit zur Verbreitung eines negativen Frankreich-Bildes und vor allem zur Kritik an der republikanischen Staatsform. Man spielte die Stärke der Monarchie gegen die angebliche Schwäche der Republik aus (Frankreich war zu dieser Zeit die einzige Republik unter den Großmächten) und schürte den deutsch-französischen Gegensatz. So bezeichnete etwa das regierungsnahe Deutsche Wochenblatt am 1. Juli 1899 Frankreich als "krankes Land", dessen Existenz von den Republikanern bedroht sei. Das Wochenblatt setzte auf die konservativ-nationale Öffentlichkeit und deren "sittliche Widerstandskraft", um die Republik zu beseitigen. Der Antisemitismus war in diesen Blättern unterschiedlich stark ausgeprägt. Während für die Neue Preußische Zeitung der französische Antisemitismus beispielsweise untrennbar mit einem Antigermanismus einherging und deshalb abgelehnt wurde,7 nutzten die betont antisemitischen Blätter, wie das in Wien erscheinende Deutsche Volksblatt, die Affäre zur Verstärkung ihrer antisemitischen Propaganda. Sie sahen in den Verteidigern von Dreyfus die Agitatoren eines internationalen Judensyndikats. Ließen sich die Dreyfus-Anhänger, wie zum Beispiel Zola, nicht als Juden brandmarken, unterstellte man ihnen, mit viel Geld bestochen worden zu sein (das antisemitische "humoristische Volksblatt" Kikeriki symbolisierte Zola etwa vorzugsweise als Schwein). Dreyfus wurde entweder überhaupt für schuldig gehalten, oder man wendete das von den Anti-Dreyfusards in Frankreich gebrauchte Argument der autorité de la chose jugée an, also die These, dass der Spruch eines Kriegsgerichts nicht in Frage gestellt werden dürfe. Keine Gelegenheit wurde ausgelassen, die Befürworter einer Revision des Dreyfus-Prozesses und besonders Zola mit zweifelhaften moralisierenden Argumenten in den Schmutz zu ziehen. Das Deutsche Volksblatt schimpfte den Schriftsteller einen "Pornologen" und "Pornographen", der "mit Vorliebe im Kot herum[wühle], so dass jeder anständige Mensch sein Buch bald mit Ekel aus der Hand legt" (17. Februar 1898)8 und nahm damit alte Klischees der konservativen Literaturkritik wieder auf.
Die einflussreichste und insgesamt auflagenstärkste Presse im wilhelminischen Kaiserreich war zu dieser Zeit zweifellos die liberale Tagespresse. Auch sie sparte zwar meist nicht mit Kritik an den französischen Zuständen, erfasste die Affäre aber mehr als Widerstreit unterschiedlicher Regierungssysteme (der Kampf um die Revision des Dreyfus-Prozesses ist ein Kampf für die Wahrung republikanischer Grundsätze) und als Auswuchs des Antisemitismus. Eine herausragende Stellung kam dabei der Frankfurter Zeitung zu. Dieses linksliberal ausgerichtete Blatt war damals sicherlich die deutsche Zeitung mit dem höchsten internationalen Ansehen. Sie war auch jene, die in Deutschland der Dreyfus-Affäre den größten redaktionellen Raum widmete, und in dieser Hinsicht mit der Wiener Neuen Freien Presse vergleichbar. Ihr Pariser Korrespondent, Paul Goldmann (1865–1935), hatte schon sehr früh, nämlich 1896, seine Überzeugung von Dreyfus' Unschuld zum Ausdruck gebracht. Für Goldmann war Dreyfus das Opfer dunkler Machenschaften und der Wahnideen des Antisemitismus und Nationalismus. Am 14. November 1897 druckte die FZ ein Faksimile des Bordereaus und gleichzeitig eine Schriftprobe der Handschrift Walsin-Esterhazys ab, wodurch die Identität augenscheinlich wurde. In ihren Kommentaren drückte die FZ ihre Enttäuschung darüber aus, was aus dem Frankreich der Menschenrechte geworden war.
Eine ähnliche Linie vertrat das Berliner Tageblatt, das im Zusammenhang mit der Affäre immer wieder vor der Allianz von Kreuz und Schwert, von "Säbel und Weihwedel", warnte.9 Theodor Wolff (1868–1943), der spätere Chefredakteur des Blattes, war zu dieser Zeit Korrespondent in Paris. Das eigentlich Bedeutende an der Affäre, betonte er in seinen Berichten, sei "die Bewährung des einzelnen im Angesicht der Masse, das Beispiel bürgerlichen und moralischen Mutes gegen die herrschenden Gewalten, wo diese Unrecht taten".10
Nationalistischer eingestellt waren die Münchner Neuesten Nachrichten, die größte liberale Zeitung Süddeutschlands. Die Affäre wurde in erster Linie für eine innerfranzösische Angelegenheit gehalten und die antideutschen Attacken der französischen Nationalisten herausgestrichen.
Die Linie der Wiener Neuen Freien Presse hob sich von der der deutschen Blätter insofern ab, als sie hinsichtlich der Zugehörigkeit von Dreyfus zum Judentum äußerst diskret war. In den Berichten von Berthold Frischauer (1851–1924), der 1895 Theodor Herzl (1860–1904) als Paris-Korrespondent abgelöst hatte, trat die Rolle, die der Antisemitismus in der Affäre spielte, in den Hintergrund. Mit dieser Taktik sollte verhindert werden, dass der in Wien ohnehin schon starke Antisemitismus durch die Berichterstattung über Dreyfus noch weiter angeheizt wurde. Das Sprachrohr des liberalen Wiener (Groß-)Bürgertums sah in der Affäre in erster Linie einen Kampf für die Menschenrechte und hob dementsprechend den Einsatz von Zola für Dreyfus hervor. Er wurde als der Held des Rechts gefeiert und als der "Intellektuelle", der sich in einer öffentlichen Angelegenheit engagierte. Am 17. Juli 1898, also unmittelbar vor der Bestätigung von Zolas Verurteilung durch das Schwurgericht von Versailles, war in der NFP zu lesen: "Es ist kein Zweifel, das Verfahren Zolas ist ein revolutionäres. Aber welch eine wunderliche Revolution, die sich weder gegen die gesetzgebende, noch gegen die vollziehende, sondern gegen die richterliche Gewalt kehrt. ... Er ist ein 'bon bourgeois', aber ein wild gewordener 'bon bourgeois'."11
Freilich führten die Berichterstattungen der liberalen Zeitungen und das damit verbundene Pathos auch zu Abwehrhaltungen. Ein Hinweis darauf ist zum Beispiel Arthur Schnitzlers (1862–1931) Reaktion auf die (abermalige) Verurteilung von Dreyfus durch das Kriegsgericht von Rennes: "Auf Mercier und das Gesindel hab ich ein förmliche Wuth – trotz der Neuen Freien", schreibt der Wiener Schriftsteller am 9. September 1899 in einem Brief an seinen Freund Gustav Schwarzkopf (1853–1939).12 Auch die eigenwillige, umstrittene Haltung von Karl Kraus (1874–1936) gegenüber Dreyfus und Zola wird mit seiner Abneigung gegen die journalistische Ausschlachtung der Affäre erklärt.13 Kraus wirft den liberalen Blättern vor, über die Dreyfus-Aufregung die "Justizmorde" im eigenen Land zu vergessen.14 Besondere Aufmerksamkeit erregten die Artikel, die der deutsche Sozialistenführer Wilhelm Liebknecht (1826–1900) in Kraus' Fackel im September und Oktober 1899 veröffentlicht hatte. Liebknecht wollte darin nicht an die Unschuld von Dreyfus glauben. Es handle sich in seinem Fall um eine ganz normale Spionageaffäre und der Antisemitismus habe bei seiner Verurteilung keine Rolle gespielt. Liebknecht bezichtigte alle, die für Dreyfus Partei ergriffen, "hysterischer Verrücktheit".15 Seine Hauptsorge galt der Aufrechterhaltung der deutsch-französischen Beziehungen, seine Angst einem Sturz der Republik in Frankreich, was eine Gefahr für den Frieden zwischen den beiden Völkern bedeuten könnte. Die Dreyfusianer stärkten, so Liebknecht, sowohl den Antisemitismus, als auch den Militarismus. Eine ähnliche Haltung bezog paradoxerweise auch der monarchistisch gesinnte Maximilian Harden (1861–1927) in seiner Zeitschrift Die Zukunft: auch er sah den Frieden gefährdet, bezeichnete z.B. in der Ausgabe vom 5. Februar 1898 Deutschland als Land, "das in jeder Stunde vor der Gefahr eines neuen Kampfes mit dem westlichen Nachbarn steht", fügte seiner Kritik an den Dreyfusards aber auch noch frankophobe und antisemitische Töne hinzu.16
In der sozialdemokratischen Presse (Vorwärts, Neue Zeit im Deutschen Reich, Arbeiter Zeitung in Österreich)17 schließlich dominierten zuerst die Debatten darüber, inwieweit der Fall Dreyfus weniger eine interne Angelegenheit der Bourgeoisie sei (Dreyfus stammte schließlich aus einer reichen Industriellenfamilie) als vielmehr die Arbeiterschaft überhaupt betreffe. Mit der Veröffentlichung von "J'accuse" und dem Prozess gegen Zola wuchs aber auch das Interesse der Sozialdemokraten an den gesellschaftspolitischen Aspekten der Affäre, vor allem am Kampf gegen Militarismus und Klerikalismus. Diese seien "nicht nur die Vertretung der Revanche-Ideen, der nationalen Hoffnungen des Bürgertums, sondern auch das Instrument der Herrschaft über die große Masse des arbeitenden Volkes"18. Für die Wiener Arbeiter Zeitung wurde nach Zolas "Offenem Brief" die Verteidigung der republikanischen Institutionen wichtiger als der Rechtsfall Dreyfus selbst.
Diese "Presseschau" ließe sich im Einzelfall selbstverständlich differenzieren. Sie soll hier in erster Linie den geistigen und ideologischen Kontext illustrieren, in dem die Ereignisse um Dreyfus und Zola im deutschen Sprachraum von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Gleichzeitig macht sie auch Ängste und Obsessionen offensichtlich, die in den Artikeln und Briefen von Zola häufig wiederkehrten, und wohl auch sein bewusst eingesetztes Pathos.
Zola war, unter anderem, um das Ansehen seiner Heimat im Ausland, um die "Größe" Frankreichs, besorgt. Tatsächlich war gerade in der liberalen Presse immer wieder von der Beschämung darüber zu lesen, dass ausgerechnet das Land der Erklärung der Menschenrechte sich derartige Rechtsverletzungen zu Schulden kommen lasse. Das Erscheinen von Zolas "J'accuse" und die in den Tagen danach erfolgenden Veröffentlichungen von Petitionen, die von Schriftstellern und Wissenschaftlern unterzeichnet waren, gelten als Geburtsstunde des modernen "engagierten Intellektuellen".19
Auch Zolas Ängste vor einem Krieg wurden durch die Pressereaktionen bestätigt. Der Schriftsteller äußerte immer wieder die Besorgnis, dass die Affäre von der deutschen Regierung, die ja die Wahrheit kenne, im Kriegsfall als moralische Waffe gegen Frankreich benutzt werden könne. Tatsächlich schwangen in der Berichterstattung der nationalistischen Presse beider Länder immer wieder kriegerische Töne mit, da gerade erst 25 Jahre seit der letzten großen Auseinandersetzung vergangen waren. In Frankreich, das den Verlust von Elsass-Lothringen nicht verwunden hatte, heizte Ende November 1897 vor allem der Intransigeant von Henri Rochefort mit seinen "Enthüllungen", Kaiser Wilhelm II. habe persönlich mit Dreyfus Kontakt gehabt, die Kriegshysterie an. Von den deutschen Zeitungen wurden solche Unterstellungen auf das Schärfste zurückgewiesen; sie unterstützten weitgehend die Nichteinmischungsstrategie der deutschen Regierung, weil nur dadurch diplomatische Auseinandersetzungen und ein Krieg vermieden werden konnten. So kamen zum Beispiel die Berliner Neuesten Nachrichten in ihrer Ausgabe vom 24. Februar 1898 zu dem – dramatischen – Schluss, dass Frankreich mit seiner "Verblendung, Rechtsbeugung, Disziplin- und Sittenlosigkeit" Deutschland, den Frieden und die Weltkultur gefährde.
Zola appellierte in seinen Briefen und Artikeln immer wieder an die internationale öffentliche Meinung. Tatsächlich hatten die Zeitgenossen in Deutschland und in der Donaumonarchie nicht zuletzt aufgrund der ausführlichen Berichterstattung in den Zeitungen die Dreyfus-Affäre und das Engagement Zolas mit großer Anteilnahme verfolgt. Dies zeigten auch die zahlreichen Reaktionen, die sowohl Dreyfus als auch Zola aus der ganzen Welt zugegangen waren. Beate Gödde-Baumanns stellte bei der Durchsicht der Briefe an die Familie Dreyfus, die im Musée de Bretagne in Rennes aufbewahrt sind, fest, dass die Reaktionen aus Deutschland von berührender menschlicher Anteilnahme geprägt und apolitischer sind als jene z.B. aus Großbritannien, Belgien oder Italien, in denen häufiger die Enttäuschung über den Verrat an den republikanischen Hoffnungen zum Ausdruck kam.20
Die Medienwirksamkeit der Affäre und das besondere Interesse des deutschen Publikums an ihr ging auch aus einem Theaterereignis hervor, das man im Rückblick als Kuriosum bezeichnen könnte. Schon im Februar 1898 wurden die Protagonisten der Dreyfus-Affäre nämlich zu Helden auf einer populären Hamburger Vorstadt-Bühne, dem von Ernst Drucker geleiteten "Theater der Central-Halle" in St. Pauli. Dort wurden zwei Ausstattungs-Spektakel mit dem Titel Capitain Dreyfus und Zola aufgeführt. Autor der beiden als "große, sensationelle Zeitgemälde" angekündigten Stücke war der damals vor allem als Operettenlibrettist bekannte Georg Okonkowski (1865–1926). Es handelte sich um reines Unterhaltungstheater, in dem historische Richtigkeit Nebensache war und sogar die Namen mehrerer Protagonisten, nicht aber der von Dreyfus, geändert wurden (z.B. wurde aus Esterhazy "Sillassy" und aus General de Boisdeffre ein "General Lefèvre"). Bemerkenswert ist der Publikumserfolg dieser Stücke: die Zahl der Aufführungen (Capitain Dreyfus erlebte im Januar 1899 seine 150. Aufführung) lässt auf eine – insgesamt – sechsstellige Besucherzahl schließen, und schon bald wurden zwei andere Stücke zum selben Thema, Die Märtyrer von Frankreich oder der Sieg der Gerechtigkeit (1. Dezember 1898) und Madame Dreyfus, oder Die Rückkehr von der Teufelsinsel (25. Juli 1899, nach einer Uraufführung am 21. Juni 1899 in Königsberg) nachgereicht.21
Die Dreyfus-Affäre, Zolas Engagement und das Medienecho fanden an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert also international ein beachtliches Echo. Nicht nur im Deutschen Reich und in Österreich-Ungarn, wie oben ausgeführt, sondern auch in anderen europäischen Ländern wurden sie zum Katalysator ideologischer Standpunkte und Interessen. Die zahlreichen Veröffentlichungen zur Rezeption der Affäre in den verschiedenen Ländern lassen sich in der gebotenen Kürze nur schwer zusammenfassen. Im Wesentlichen zeigen sie, wie sehr die Auswahl der behandelten Ereignisse, ihre Darstellung und ihre Wertung einerseits von der politischen Situation im jeweiligen Land und von seinem Verhältnis zu Frankreich beziehungsweise dessen Geschichte und Kultur, andererseits von der jeweiligen ideologischen Ausrichtung des untersuchten Presseorgans abhingen. Die Gegensatzpaare in der Argumentation lauten, abgesehen von lokalen Gegebenheiten: Republik versus Monarchie, laizistische Trennung von Staat und Kirche versus enge Beziehung zwischen Staat und (katholischer) Kirche sowie Kosmopolitismus versus Antisemitismus. Dabei konnten die Grenzen fließend sein und sich Repräsentanten des konservativen Lagers in manchen Fällen im Lager der Dreyfusards finden. Dies geht sehr anschaulich aus der umfangreichen, groß angelegten Untersuchung von James F. Brennan hervor, die sich auf die ereignisreichsten und dramatischsten Jahre der Affäre von 1897–1899 konzentriert.22 Brennan analysierte die Pressereaktionen in Frankeich, Deutschland, Österreich-Ungarn, Russland und Italien. Die jedem einzelnen Land gewidmeten, in sich geschlossenen und selbstständigen Kapitel beginnen mit einer einführenden Darstellung des historischen, politischen und pressegeschichtlichen Hintergrundes des jeweiligen Landes und erlauben es so, die Reaktionen im jeweiligen nationalen Kontext zu erfassen.
Ein interessantes Beispiel für die ideologischen und nationalen Interessen unterworfene Darstellung der Affäre liefert Richard Barret am Beispiel Irland.23 Er zeigt wie die Dreyfus-feindliche Haltung vor allem der nationalistisch ausgerichteten, katholischen irischen Zeitungen (Freeman, Daily Independent und Daily Nation) eher einer Reaktion auf die Dreyfus-freundliche Berichterstattung in einem Großteil der englischen Presse entspringt und weniger einer (durchaus auch vorhandenem) antisemitischen Einstellung. So werfen diese irischen Zeitungen ihren englischen Kollegen Heuchelei vor, weil diese Dreyfus verteidigen, aber gleichzeitig den politischen Gefangenen aus Irland jedes Recht absprechen. Eher überraschend – und gleichzeitig Ausdruck für die spezifisch irische Situation – ist die Unterstützung, die Dreyfus in einem Teil der katholischen Presse entgegengebracht wurde. Barret sieht in ihr vor allem eine Reaktion gegen das säkularisierte Frankreich.
Aus- und Nachwirkungen
Die Dreyfus-Affäre, Zolas Engagement und das Medienecho, das sie fanden, entpuppten sich als Katalysator ideologischer Standpunkte und Interessen. So kam es in Frankreich im Zuge der Dreyfus-Affäre zur (Wieder-)Gründung der Ligue des Patriotes, der Ligue de la patrie française und der Action française auf der rechts-nationalistischen Seite und zur Gründung der Ligue des Droits de l'Homme seitens der Republikaner und Demokraten. Auch die öffentliche Meinung war lange gespalten, die Dreyfus-Affäre Zankapfel im Freundes- und Familienkreis, wie die berühmte Karikatur von Caran d'Ache im Figaro vom 14. Februar 1898 zeigt ("Ils en ont parlé").
In Frankreich, aber auch im Ausland wurden die Ereignisse um das Schicksal von Dreyfus zur Propagierung entgegengesetzter Werte (Rechtsstaat, Laizität, Demokratie versus Antisemitismus, Militärherrschaft, religiöser Fanatismus) ge- und missbraucht.
Für Heinrich Manns (1871–1950) Bewunderung von Zola, die er besonders in seinem im November 1915 in den Weissen Blättern von René Schickele veröffentlichten Zola-Aufsatz zum Ausdruck brachte, spielte dessen Engagement in der Dreyfus-Affäre eine wichtige Rolle. Gerade der Abschnitt über die "Affäre" ist reichlich mit Zitaten von Zola versehen, und man gewinnt den Eindruck, dass Heinrich Mann Zolas Werk als Antwort auf seine – Manns – deutsche Situation gelesen und seiner Verachtung gegenüber dem Kaiser und den deutschen Intellektuellen freien Lauf gelassen hatte. Sein Bruder Thomas Mann (1875–1955) nahm ihm das bekanntlich in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen sehr übel, in denen er wiederholt gegen "den Zivilisationsliteraten", d.h. den namentlich nicht genannten älteren Bruder, Stellung bezog.
In den (späteren) Jahren der Weimarer Republik gewann die Affäre neue Aktualität, und zwar ebenfalls als Vorbild der Verteidigung der republikanischen Staatsform. Wilhelm Herzog analysiert die Dreyfus-Affäre als "Kampf um die Republik",24 als "die heroische Periode der dritten Republik", die aus der Affäre, die wohl ihre "gefährlichste Kinderkrankheit" gewesen sei, "gereinigt, gestärkt und in sich gefestigter" hervorgegangen sei.25 Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg betonte auch Axel Eggebrecht (1899–1991) in der Wochenzeitung DIE ZEIT (18. April 1946) die Reinigungskraft der Dreyfus-Affäre, die Deutschland in den 1930er Jahren gefehlt habe.26 Unter dem Eindruck des Holocaust sollte diese Sichtweise aber gegenüber der Kritik an der "verderbten" französischen Gesellschaft und den antisemitischen Aspekten der Affäre in den Hintergrund treten. Während Hannah Arendt in dem der Dreyfus-Affäre gewidmeten Kapitel ihres Buches Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft leichtfertig das ganze Geschehen als Farce bezeichnet und Zola politisch inhaltloses Pathos vorwirft, interpretiert Siegfried Thalheimer (1899–1981) die Affäre als eine vom Generalstab der Armee gegen die Juden inszenierte Verschwörung und will dadurch seine Verachtung vor der Republik zum Ausdruck bringen, diese als den "wahren Schuldigen" darzustellen.27
Die ideologische Dimension der Affäre ist zumindest bis in die 1960er/1970er Jahre des 20. Jahrhunderts bemerkbar. Die "Gedenkjahre" zur hundertsten Wiederkehr entscheidender Daten der Affäre 1994, 1998 und 2008 (100-jährige Jubiläum der Überführung Zolas' sterblicher Überreste ins Panthéon) waren Anlass für Symposien und eine Vielzahl (mehr oder weniger) wissenschaftlicher Veröffentlichungen bis hin zu Kriminalromanen über Zolas Tod. Standen dabei vor allem das Schicksal von Dreyfus, das Engagement von Zola (und anderer Dreyfusards) und deren Bedeutung für den modernen Rechtsstaat im Mittelpunkt des Interesses, so interessiert sich eine neuere Studie28 vor allem für das – offenbar besonders mondäne und freizügige – Milieu der in Paris am Ende des 19. Jahrhunderts tätigen Militärattachés. Die Autoren sehen in der obsessiven Überwachung der Attachés durch den französischen Geheimdienst ein zusätzliches Element für die Erklärung der Affäre.29