Einleitung
Im Versuch, soziale Bewegungen zu definieren, ist bereits viel Tinte geflossen. Dieter Rucht (geboren 1946) hat die These vertreten, es handele sich dabei um "ein Netzwerk von Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen, die auf Grundlage einer kollektiven Identität gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen (oder aufhalten) wollen, vorrangig auf dem Weg kollektiver Proteste in der Öffentlichkeit."1 Diese denkbar breite und umfassende Definition trägt der Tatsache Rechnung, dass soziale Bewegungen, einer Formulierung Sidney Tarrows (geboren 1938) zufolge, 'unscharfe' Grenzen haben und sich als 'bewegliche Ziele' häufig näherer Bestimmung entziehen.2 Charakteristisch für soziale Bewegungen scheint jedoch der Netzwerkcharakter ihrer Organisation zu sein. Friedhelm Neidhart (1934–2023) hat von einer sozialen Bewegung als einem 'mobilisierten Netzwerk von Netzwerken' gesprochen, bei dem Kopf und Mitte kaum auszumachen seien.3 Zusammengehalten werden diese Netzwerke vor allem durch die Identitätskonstruktionen ihrer Angehörigen, die mittels einer Vielzahl kultureller Prozesse ein 'Wir'-Gefühl stiften – insbesondere durch Identifikation mit bestimmten Themen, Anliegen und Forderungen. Diese können essentialistisch-exklusiver Art oder selbstreflexiv, verspielt und situativ sein. Der von Stuart Hall (1932–2014) formulierte Begriff der 'Identifikation' zielte darauf ab, emanzipatorischen sozialen Bewegungen eine begriffliche Grundlage zu verschaffen, auf der sie sich organisieren konnten, ohne dabei in die Falle des Essentialismus zu tappen.4
Seit den 1970er-Jahren hat sich mit der Bewegungsforschung ein neuer Forschungsbereich herausgebildet, der sich der Untersuchung sozialer Bewegungen verschrieben hat. Wie jede neue Disziplin hat sich auch diese ihre Forschungszentren geschaffen, in Deutschland etwa das Institut für soziale Bewegungen (ISB) an der Ruhr-Universität Bochum. Obwohl es eine herausragende Rolle in seinem Forschungsgebiet einnimmt, ist das ISB insofern ungewöhnlich, als es stärker historisch orientiert ist, während das Thema sonst eher von Sozialwissenschaftlern bearbeitet wird.5 Stärker sozialwissenschaftlich orientiert ist etwa eine weitere bedeutende Einrichtung in Deutschland, das Institut für Protest- und Bewegungsforschung.6 Vergleichbare Forschungseinrichtungen finden sich in zahlreichen Ländern, ebenso einzelne Forschende, die an den Universitäten und außerhalb tätig sind. Zu den einschlägigen Zeitschriften gehören beispielsweise Social Movement Studies, Mobilization, Interface: a Journal for and about Social Movements und Moving the Social: Journal for Social History and the History of Social Movements. Die ersten drei sind sozialwissenschaftlich ausgerichtet, während letztere die einzige internationale englischsprachige Zeitschrift ist, die sich speziell der Geschichte sozialer Bewegungen widmet.7 Ähnliche Zeitschriften gibt es auch in anderen Sprachen, auf Deutsch etwa das Forschungsjournal Soziale Bewegungen oder auf Französisch Le Mouvement Social.8 Außerdem sind zahlreiche Handbücher und Überblicksdarstellungen erschienen, die ein Gesamtbild der Disziplin und des Forschungsstandes geben.9 Mehrere Verlage haben Schriftenreihen aus dem Bereich der Bewegungsforschung im Programm, darunter auch zur Geschichte sozialer Bewegungen.10 Beim Blick über den Forschungsbereich wird deutlich, dass Sozial- und Politikwissenschaftler, Soziologen, Geographen und Ethnologen in ihm den Ton angeben, weshalb es kaum überrascht, dass insbesondere die sozialen Bewegungen der Gegenwart stark erforscht sind. Auch wo die Bewegungsforschung einen historischen Ansatz verfolgt, so bleibt er doch in der Regel im Rahmen der Zeitgeschichte. Nur selten gehen die Forschungen hinter das 'annus mirabilis' der Bewegungsforschung zurück, das heißt, hinter das Jahr 1968.
Im Kielwasser der 'Achtundsechziger' entstand eine Reihe neuer sozialer Bewegungen, die bald zum Gegenstand der neu aufkommenden Bewegungsforschung wurden, deren Protagonisten wiederum diesen Bewegungen gegenüber politisch sehr zugetan waren. Festzuhalten ist jedoch auch, dass einige der früheren Arbeiten namhafter historisch arbeitender Soziologen – neben Sidney Tarrow auch Charles Tilly (1928–2008) – soziale Bewegungen auch weiter zurück, bis ins 18. Jahrhundert, verfolgten.11 Auch zu sozialen Bewegungen in vormodernen Gesellschaften liegen Studien vor, etwa zu Bauernaufständen, Zunftbewegungen, Hungerrevolten, apokalyptischen Aufwallungen, Gesellenbewegungen und Aufständen für mehr soziale und politische Rechte in vorindustrieller, vorkapitalistischer Zeit.12 Marcel van der Linden (geboren 1952) hat betont, dass schon vor der Moderne soziale Bewegungen dem Streben nach sozialer Gerechtigkeit, sozialer Sicherheit und Anerkennung gedient haben.13 Doch die Mehrzahl der Forscher begreift soziale Bewegungen als dezidiert moderne Erscheinungen und die Vorstellung, dass gesellschaftliche Veränderung dem menschlichen Willen unterliegt, als Errungenschaft der im 18. Jahrhundert einsetzenden Aufklärung. Soziale Bewegungen in vormodernen Zeiten argumentierten eher in Begriffen 'naturgegebener' Rechte oder einer gottgefälligen Gesellschaftsordnung, die es wiederherzustellen gelte.14 Diese Tradition reichte jedoch weit in die Moderne hinein, wie etwa Edward P. Thompsons (1924–1993) Studie über die 'moralische Ökonomie' der Menge im 18. Jahrhundert nachweisen konnte.15 Die Beliebtheit, der sich dieser Begriff der 'moralischen Ökonomie' auch in der Erforschung moderner sozialer Bewegungen erfreut, gibt Anlass zur Überprüfung der scharfen Trennlinie zwischen modernen und vormodernen sozialen Bewegungen.16 Ein tieferer Blick in die Vergangenheit der sozialen Bewegungen, der hinter 1968 und sogar hinter die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückginge, könnte diese Grenze merklich verschwimmen lassen.
Irreführend ist auf jeden Fall die Rede von den 'neuen' sozialen Bewegungen, die suggeriert, viele dieser Bewegungen seien erst aus nach 1968 aufkommenden Konflikten entstanden. Die prominentesten dieser 'neuen' sozialen Bewegungen – darunter die Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung – haben alle eine jahrhundertelange Vorgeschichte und klar zu bestimmende Vorläufer im 19. Jahrhundert. Zugleich sind auch vermeintlich 'alte' soziale Bewegungen, wie etwa die Arbeiterbewegung, auch im 21. Jahrhundert noch präsent und das Thema soziale Gerechtigkeit ist in vielerlei Hinsicht so aktuell wie schon im 19. Jahrhundert. Ebenso wenig ist es der Fall, dass es den 'alten' sozialen Bewegungen um materielle Interessen gegangen sei, während sich die 'neuen' eher um Fragen der Identität drehten: Schon vor Jahrhunderten standen kollektive Identitätsvorstellungen im Mittelpunkt sozialer Bewegungen, während materielle Interessen auch nach 1968 eine wichtige Rolle spielen.17
Im weiteren Verlauf dieser kurzen Einführung in die Geschichte internationaler sozialer Bewegungen vor 1945 möchte ich zunächst einige theoretische Fragen und Schwierigkeiten in der Erforschung dieser Bewegungen umreißen. Anschließend gebe ich einen Überblick über die bereits erforschten sozialen Bewegungen mitsamt den wichtigsten Forschungsergebnissen. Außerdem lenke ich den Blick auf einige Fragen, deren gründlichere Untersuchung mir lohnend schiene.
Wie kann die tiefere Geschichte internationaler sozialer Bewegungen erforscht werden?
Wenn die Bewegungsforschung gefordert ist, ein tiefergehendes Interesse an der Geschichte der sozialen Bewegungen zu entwickeln, dann ist sie ebenso gefordert, auch auf dem rechten Auge sehen zu lernen. Der überwältigende Teil der einschlägigen Forschung hat sich auf soziale Bewegungen links der Mitte konzentriert – ein Umstand der, wie bereits angedeutet, sicherlich den politischen Sympathien vieler Bewegungsforscher geschuldet ist. Einen Gegenstand zu untersuchen, der einem sympathisch ist, macht oft mehr Freude, als sich mit etwas zu beschäftigen, das einem im Kern zuwider ist. Und doch sind viele soziale Bewegungen der politischen Rechten zuzuordnen, weshalb diese Überblicksdarstellung sich in einem Abschnitt auch nationalistischen und faschistischen Bewegungen widmen wird. Überhaupt erweist sich die oft mit der Linken verbundene Geschichte der sozialen Bewegungen bei näherem Hinsehen als überaus mehrdeutig. So wird etwa die Umweltbewegung oft als Teil der politischen Linken betrachtet. Geht man aber ihren Wurzeln bis ins 19. Jahrhundert nach, so wird deutlich, dass es sich bei ihr auch um eine reaktionäre Bewegung handeln konnte. Bisweilen werden die Kategorien 'rechts' und 'links' als solche fraglich, weil soziale Bewegungen sich bei eingehenderer Betrachtung einer eindeutigen Zuordnung auf diesem Spektrum entziehen.18
Zudem wurden soziale Bewegungen lange in nationalen Kontexten untersucht, weil die Forschung sich lange mit dem Nationalstaat beschäftigte und nationalstaatlichen Kategorien verhaftet blieb. Eine Wende zu einem internationalen und vergleichenden Ansatz kam mit dem Erstarken der Globalgeschichte seit den 1990er-Jahren.19 Die Untersuchung von Interessengruppen und deren Netzwerken in der internationalen Politik hat die Aufmerksamkeit auf die vielfältigen grenzübergreifenden Verknüpfungen sozialer Bewegungen gelenkt.20 Ein stärker global geprägter Ansatz zur Erforschung der Geschichte der sozialen Bewegungen vor 1945 würde ihre Verbindungen untereinander und ihren echten Internationalismus sichtbarer werden lassen – nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Vergangenheit. Möglich wird damit aber auch eine genauere Bestimmung, inwiefern Handlungsmacht und Struktur sozialer Bewegungen einen territorialen Bezug hatten, in bestimmten Räumen und Zeiten wurzelten. Die Geschichte sozialer Bewegungen in globaler Sicht zu betrachten heißt auch, Chancen und Grenzen des Internationalismus kenntlich zu machen.21
Schon die Frage, ob der Begriff der 'sozialen Bewegung' als solcher ortsgebunden ist oder ob er in gleicher Bedeutung auf andere Erdteile angewandt werden kann, ist umstritten.22 Kernbegriffe der Geschichte sozialer Bewegungen – z. B. 'Freiheit', 'Gleichheit', 'Frieden' oder 'Emanzipation' – wurzeln ihrerseits in westlichen Traditionen, die in transnationalen und globalen Geschichten sozialer Bewegungen zuerst 'entwestlicht' werden müssen. Die transanationale Erforschung sozialer Bewegungen über den globalen Norden oder Westen hinaus wird deshalb auch zu einer Destabilisierung von Schlüsselbegriffen der Bewegungsforschung führen und dabei zeigen, in welchen Maß solche Begriffsbildungen sich ihrerseits in eine lange und fortdauernde Geschichte von Kolonialismus und Imperialismus fügen.23 Eine Begriffsgeschichte transnationaler sozialer Bewegungen wird den Verwandlungen des Begriffs auf seinem Weg durch Europa und Nordamerika sowie zwischen globalem Norden und globalem Süden genaue Beachtung schenken.24 Solche Wege führen stets durch verschiedene Formen der Übersetzung und damit zu Anpassungen und Änderungen kultureller und sprachlicher Art.25
Zweifelsohne gibt es internationale Momente des Protests, die sich nur aus transnationaler Perspektive als solche erkennen lassen. Vor 1945 war es vor allem die Periode zwischen der ersten russischen Revolution von 1905 und dem asturischen Aufstand von 1934, in die zahlreiche revolutionäre Bewegungen in unterschiedlichen Erdteilen fielen. Dabei erschienen Ideen politischer Demokratie oft im Verbund mit solchen von sozialer Gerechtigkeit und nationaler Befreiung. Dazu gehörte die Mobilisierung sozialer Bewegungen, die für diese Ideale kämpften.26 Für bestimmte soziale Bewegungen lassen sich auch Wellen der Mobilisierung ausmachen. So spielten gegen den Adel gerichtete soziale Bewegungen eine wichtige Rolle im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert,27 während anti-koloniale und anti-imperiale Bewegungen zwischen dem frühen 20. Jahrhundert und der Welle der Dekolonisation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs besonders stark waren.28 Soziale Proteste gegen den Krieg nahmen zu, wenn ein solcher in der Luft lag, so etwa im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg.29 Aus Arbeiterprotesten erwuchsen Streikwellen, die von Historikern der Arbeiterbewegung untersucht worden sind.30 Im Kampf für Frauenrechte kam es zu mehreren Mobilisierungswellen, erstmals heftig von den 1830er- bis zu den 1860er-Jahren.31 Man hat versucht, solche Protestwellen, die mit der Erfahrung einer Generation in Verbindung zu stehen scheinen, mit dem Generationenbegriff zu erklären.32
Die Dezentrierung einer westlichen Perspektive auf all diese sozialen Bewegungen ist im Lauf der letzten Jahrzehnte zu einem wichtigen Anliegen geworden. Von herausragender Bedeutung ist hierbei die postkoloniale Theorie gewesen. Indem viele postkoloniale Wissenschaftler sich stark für Volks- und soziale Bewegungen – nicht zuletzt unter der bäuerlichen Bevölkerung – z. B. auf dem indischen Subkontinent und in Lateinamerika interessiert haben, haben sie das Augenmerk auf die sozialen Bewegungen unter den subalternen Klassen des globalen Südens gelenkt.33 Überhaupt war und ist es ein starkes Movens der Forschung, diesen subalternen Klassen durch ein Verständnis ihrer sozialen Bewegungen ihren rechtmäßigen Platz in der Geschichte zukommen zu lassen.34 Die Bewegungen der Indigenen in Südamerika waren oft getragen von Kleinbauern und landlosen Arbeitern, die von europäischen Großgrundbesitzern enteignet worden waren und vom 19. Jahrhundert bis heute für mehr politische, soziale und wirtschaftliche Rechte kämpften.35
Um soziale Bewegungen besser zu verstehen, hat sich die Forschung einer Reihe von Theorien mittlerer Reichweite bedient, wie sie einen Großteil der einschlägigen Literatur durchziehen.36 Auf die Neigung, soziale Bewegungen mit Modernität und Modernisierungsprozessen gleichzusetzen, ist bereits hingedeutet worden. Diese Gleichsetzung muss womöglich noch stärker hinterfragt werden. Oft hat man eine Verbindung zwischen sozialen Bewegungen und einem Wachstum der Öffentlichkeit unter Bedingungen der Moderne und damit gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen gezogen.37 Von anderer Warte hat man soziale Bewegungen als Bedrohung ausgemacht, als Gefahr für die Stabilität von Gesellschaften. Der direkte Appell an die Masse kann demokratische ebenso wie antidemokratische Folgen haben.38
Zahlreiche Studien haben zudem die 'Handlungsrepertoires' nachgezeichnet, die soziale Bewegungen über ein breites Spektrum hinweg charakterisiert haben. Um nur ein Beispiel zu nennen: Im neunzehnten Jahrhundert fand das sogenannte stumping39 zu transnational großer Verbreitung und konnte soziale Bewegungen in den USA, Australien und Großbritannien mobilisieren.40 Thematisiert wurden in der Forschung zu sozialen Bewegungen auch die 'politischen Opportunitätsstrukturen', die in der Vergangenheit das Aufkommen solcher Bewegungen begünstigt und deren Erfolg ermöglicht haben. Die Theorie der Ressourcenmobilisierung hat danach gefragt, wie die Organisatoren sozialer Bewegungen die vorhandenen Ressourcen nutzen, während ein anderer Zugang sich dem 'framing' widmet, das heißt der Frage, welche spezifischen Rahmensetzungen politisch-begrifflicher Art einer Bewegung genutzt oder geschadet haben. Welche Anreize gab es zur Teilnahme an einer sozialen Bewegung? Welche Bedingungen trugen dazu bei, dass Konflikte eskalierten? Viele dieser Ideen beruhten auf einer Kosten-Nutzen-Analyse, in der Vernunftabwägungen den Ausschlag für oder gegen den Erfolg einer sozialen Bewegung geben konnten.41 In jüngerer Zeit sind auch irrationale Faktoren stärker betont worden, darunter die Macht von Emotionen und symbolischen Formen in der Politik. Soziale Bewegungen lagen eingebettet in breitere Protestkulturen, deren kulturelle Bezugsrahmen sich nur kulturtheoretisch verstehen lassen.42 Der Erfolg internationaler sozialer Bewegungen hing nicht nur von der Überzeugungskraft ihrer (Vernunft-)Argumente ab, sondern auch von ihrer Fähigkeit, die Gefühle breiterer Bevölkerungssuchten anzusprechen. Entsprechend hat die Forschung versucht, die Emotionsgeschichte mit der Geschichte sozialer Bewegungen zusammenzuführen.43
Da viele soziale Bewegungen Zukunftsbilder zeichnen, täte die Bewegungsforschung gut daran, die Einsichten jener Historiker fruchtbar zu machen, die sich den Zukunftsvorstellungen der Vergangenheit gewidmet haben. Fruchtbar wären hier z. B. der von Reinhart Koselleck (1923–2006) geprägte Begriff der 'vergangenen Zukunft' oder die von Lucian Hölscher (geboren 1948) betonte Bedeutung der je nach Zukunftsvision unterschiedlichen Zeitlichkeit.44 Selbst hat Hölscher diese These an protestantischen und sozialistischen Bewegungen entwickelt.45 Andere Historiker haben Hölschers Begriff einer Geschichte der Zukunft aufgegriffen und auf ein breites Spektrum sozialer Bewegungen von links nach rechts angewandt.46
Wenn soziale Bewegungen sich in Hinsicht auf ihre radikalen Zukunftsvorstellungen untersuchen lassen, dann auch unter dem Aspekt der Erinnerungen, die sie hervorbringen, und wie Erinnerung als politische Ressource zum Erreichen bestimmter Ziele nutzbar gemacht werden kann.47 In jüngerer Zeit haben einige Studien versucht, Bewegungs- und Erinnerungsforschung entsprechend zusammenzuführen.48 Dabei hat sich gezeigt, dass Erinnerungen überaus nützlich sind, wenn es darum geht, Positionen abzustecken, politische Ziele zu rechtfertigen und um Unterstützung zu werben. Man hat soziale Bewegungen auch in ihrer Wirkung bei der Bildung kollektiver Erinnerungen untersucht. Der Gedächtnisaktivismus spielt seit jeher eine bedeutende Rolle in sozialen Bewegungen.49 Auch haben viele Gedächtnisaktivisten es vermocht, auf dem Weg über die Medien ihre Erinnerungen mit einer breiteren Öffentlichkeit zu teilen. Zahlreiche internationale soziale Bewegungen haben sich für ihre Kampagnen die Medien zunutze gemacht, von den Zeitungen im 19. bis zum Internet im 21. Jahrhundert, weshalb die Bewegungsforschung auch die sich verändernden Medienwelten berücksichtigen muss. Hier haben wir es mit einer Schnittstelle von Mediengeschichte und einer historisch orientierten Bewegungsforschung zu tun.50
Internationale soziale Bewegungen der Moderne vor 1945 – ein Überblick
Während sich auch in der Vormoderne soziale Bewegungen ausmachen und mit Gewinn untersuchen lassen, so kam es zwischen 1750 und 1850 im globalen Norden zu einem Einschnitt, der sich unter den Begriffen Industrialisierung und Demokratisierung zusammenfassen lässt. Dabei gingen grundlegende technologische und wirtschaftliche Neuerungen einher mit radikalen Veränderungen in Politik und Gesellschaft, in deren Zug eine zuvor relativ statische und nach Ständen geordnete Gesellschaft von einer dynamischeren, nach Klassen strukturierten Gesellschaft abgelöst wurde. Radikale politische Bewegungen, die auf diese Veränderungen reagierten, lassen sich bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen.51
Die Arbeiterbewegung
In vielerlei Hinsicht waren die Arbeiterbewegungen des 19. Jahrhunderts die Erben dieses Radikalismus, indem sie den Kampf für Demokratisierung mit der durch die Industrialisierung aufgeworfenen 'sozialen Frage' verknüpften. Arbeiterbewegungen kamen zuerst in den Industriezentren des globalen Nordens auf. Von dort breiteten sie sich in alle Erdteile aus und verwandelten sich in kulturellen Übersetzungsprozessen, die schließlich auf die Zentren des globalen Nordens zurückwirkten.52 Wenn Arbeiterbewegungen im globalen Norden im 19. Jahrhundert sich vor allem als Fürsprecher der in der Industrie beschäftigen Lohnarbeiter sahen, so hat ein besseres Verständnis der Vielfalt der Arbeitsregime unter dem Kapitalismus, darunter auch im globalen Süden, das Verständnis der Arbeiterbewegungen der von ihr vertretenen Arbeitergruppen erweitert. Der sozialistische Internationalismus bildete eine starke Kraft innerhalb der Arbeiterbewegungen und führte vor 1945 zur Bildung verschiedener Internationalen, auch wenn diese weiterhin stark auf den Westen bezogen blieben.53 Arbeiterbewegungen bildeten drei wesentliche Organisationspfeiler aus: Gewerkschaften, Genossenschaften und politische Parteien. Diese unterschieden sich wiederum in ihrer politischen Ausrichtung, wobei Sozialismus, Kommunismus, Anarchosyndikalismus, Christentum und Sozialliberalismus zu den bedeutendsten gehören.54
Moralische und religiöse Reformbewegungen
Die Arbeiterbewegung war vor 1945 nicht die einzige internationale soziale Bewegung, die sich dem Kampf für soziale Gerechtigkeit verschrieben hatte. Soziale Reformbewegungen wie jene, die Mahatma Gandhi (1869–1948)[] und Bhim Rao Ambedkar (1891–1956) in Indien anführten, konnten sich mit Arbeiterbewegungen verbünden, verfolgten jedoch weitergehende Ziele.55 Aus dem Gandhismus ging eine weltweite soziale Bewegung eigener Art hervor, die sich an den Lehren und Taten Gandhis orientierte. Dazu gehörten neben gewaltlosem Widerstand gegen koloniale Unterdrückung auch Wahrhaftigkeit, Schlichtheit der Lebensführung und Vegetarismus.56 Viele dieser Reformbewegungen standen der ersten Welle der Globalisierung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert äußerst kritisch gegenüber. Sie entwickelten eine Reihe von Techniken des Protests, mit denen sie dem Kapitalismus seine andauernde Hervorbringung sozialer Ungerechtigkeit vorhielten und vertraten alternative sozioökonomische Modelle, von denen sie sich die Erfüllung ihrer Forderung nach weltweiter sozialer Gerechtigkeit erhofften.57
In vielen sozialen Reformbewegungen spielte Religion eine wichtige Rolle. Die katholische Arbeiterbewegung in Europa bietet hierfür nur ein Beispiel; auch die religiöse Reformbewegung von Raja Ram Mohan Roy (1772–1833) in Indien kämpfte für soziale Gerechtigkeit.58 Auch viele andere soziale Bewegungen zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten waren auf bedeutende Weise von Religion (mit-)geprägt: Man denke nur an die Friedensbewegung, den Abolitionismus oder das Abstinenzlertum. In Kanada, Norwegen und den Vereinigten Staaten führten Kampagnen für ein Verbot des Verkaufs alkoholischer Getränke zu Phasen der Prohibition zwischen 1918 und den 1930er Jahren. Abstinzenzbewegungen sahen im Verzicht auf Alkohol eine Tugend, die zum gesundheitlichen, wirtschaftlichen und moralischen Wohlergehen von Individuum und Gesellschaft beitragen werde. Zu wachsen begannen sie in den 1820er Jahren, als gesellschaftliche Probleme nicht nur auf wirtschaftliche Not, sondern auch auf Alkohol zurückgeführt wurden. Ab den 1860er-Jahren wurde daraus eine internationale Massenbewegung, die besonders in Skandinavien, Großbritannien und den USA stark war. Überall spielten dabei Frauen eine wichtige Rolle;59 auf dem indischen Subkontinent verband sich die Abstinenzbewegung mit dem Antikolonialismus.60
Außer in der Abstinenzbewegung spielte die Religion ferner eine wichtige Rolle in Bewegungen, die sich einer wie auch immer verstandenen moralischen Besserung verschrieben. Im 19. und 20. Jahrhundert waren Adel und Bürgertum oft die wesentlichen Träger dieser philanthropischen Bewegungen. Als moralische Bewegungen lassen sich auch die Menschenrechtsbewegungen des 20. Jahrhunderts verstehen.61 Auch die Arbeiterbewegung war in vielerlei Hinsicht eine moralische Bewegung, brachte sie ihre Argumente für soziale Gerechtigkeit häufig in moralischen Begriffen dar. Aus den Abstinenz-, Antisklaverei- und Rotes Kreuz/Roter Halbmond-Bewegungen des 19. Jahrhunderts bildete sich ein moralisches Gewissen auf internationaler Ebene.62 Des Weiteren gab es Bewegungen nicht nur gegen den Alkohol, sondern auch gegen Drogen, Prostitution und andere Laster, die über einem klaren moralischen Kompass verfügten.63
Doch gab es auch transnationale soziale Bewegungen mit im engeren Sinn religiöser Orientierung, war der Glaube doch oft dazu geeignet, Staatengrenzen zu überwinden.64 Katholische Sozialbewegungen etwa wurden durch eine weltumspannende Überzeugung in Form der katholischen Soziallehre zusammengehalten.65 Katholiken wie Protestanten bemühten sich zudem um die Verbreitung ihres Glaubens durch Missionsbewegungen, deren Ehrgeiz in letzter Konsequenz globale Dimensionen hatte.66 Auch religiöse Erweckungsbewegungen konnten die Form sozialer Bewegungen annehmen.67 Im 20. Jahrhundert stellte die Befreiungstheologie für eine Reihe revolutionärer sozialer Bewegungen in Lateinamerika und darüber hinaus eine kollektive Identität dar.68
Jugendbewegungen
Das Verlangen nach einem neuen moralischen Kompass beschränkte sich nicht auf religiöse Bewegungen. Geteilt wurde es etwa von der Jugendbewegung, die im 19. Jahrhundert als Antwort auf industrielle Moderne und Verstädterung aufkam.69 Es war vor allem die bürgerliche Jugend, die den Ausbruch aus der zunehmend als Moloch empfundenen Stadt suchte und nach einem weniger entfremdeten Leben im Einklang mit der Natur strebte. Dabei verband sich eine romantisierende Sehnsucht nach Natur und Authentizität mit Ideen von Lebensreform, sexueller Befreiung und Reformpädagogik. So entstand eine internationale Jugendkultur, die sich rasch politisierte, wobei die völkische Rechte sich scharf von den Jungendgruppen, die der Arbeiterbewegung nahestanden, und von den kirchlichen Gruppen katholischer wie protestantischer Couleur absetzten. Daneben gab es zentristische Bewegungen mit weniger klar umrissenen politischen Zielen, deren einigendes Band in einer unbestimmten Freiheitssehnsucht sowie in der Naturerfahrung durch Reisen, Wandern, Zelten und Singen bestand.70 In der internationalen Jugendbewegung wurzeln etwa die Jugendherbergen (heute im Dachverband Hostelling International organisiert). Die Jugendherbergsbewegung spielte besonders in den deutschsprachigen Ländern eine wichtige Rolle, war jedoch auch darüber hinaus aktiv und hatte eine Europäische und gesamtwestliche Dimension. In der Hoffnung, auf diese Weise Frieden und Völkerverständigung zu fördern, bemühten sich Aktivisten wie der Brite Rolf Gardiner (1902–1971) um transnationale Verbindungen zu Jugendorganisationen in anderen Ländern, besonders in Deutschland.71
Friedensbewegungen
Doch das Verhältnis der Jugendbewegungen zum Krieg war ambivalent. Manche unter ihnen verklärten den Krieg als Läuterung einer moralisch verkommenen bürgerlichen Gesellschaft, während andere sich in diversen Friedensbewegungen engagierten. Über Grenzen von Raum und Zeit hinweg hegten viele Friedensaktivisten eine moralische Abscheu gegen den Krieg, doch gingen die Friedensbewegungen dabei nicht immer von einem einheitlichen Begriff des 'Friedens' aus.72 Im 19. Jahrhundert wurde 'Frieden' vor allem von bürgerlich-liberalen Gruppen im Mund geführt, ehe das Anliegen in die Massenpolitik Eingang fand – unter prominenter Beteiligung sozialer Bewegungen. Auch wenn das Streben nach Frieden ein universelles Anliegen war – darin der Gleichberechtigung der Geschlechter vergleichbar – so hatten Friedensbewegungen häufig einen ausgeprägt nationalen Bezugsrahmen.73 Nicht alle Friedensaktivisten waren unbedingt Pazifisten, weil eine Befürwortung des Friedens unter bestimmten Umständen nicht unbedingt mit einer pauschalen Ablehnung der Gewalt unter anderen Umständen einherging. Friedensbewegungen traten tendenziell als Reaktion auf Kriege oder drohende Kriege auf den Plan; oft verschrieben sie sich der Friedenserziehung. Bestimmte religiöse Gruppierungen, insbesondere die Quäker, taten sich in vielen Friedensbewegungen hervor, wie es auch starke Überschneidungen mit der Frauenbewegung gab. In Europa war die Zeit von den 1860er- bis in die 1880er-Jahre, während derer die Bildung von Nationalstaaten unter mehreren Kriegen erfolgte, auch die Zeit der Friedensligen, in denen sich ein Bekenntnis zum demokratischen Nationalstaat oft mit dem Ziel verband, den von Immanuel Kant (1724–1804) geforderten 'ewigen Frieden' zu verwirklichen.74 Erfolgen sollte dies durch das Völkerrecht und eine internationale Schiedsgerichtsbarkeit. Nach dem Ersten Weltkrieg engagierten sich Friedensaktivisten für internationale Organisationen, die den Frieden wahren sollten, allen voran den Völkerbund.75 Es gründeten sich neue transnationale Organisationen wie die Internationale der Kriegsdienstgegner, doch zerstob sich spätestens 1939 die Hoffnung, der Ersten Weltkrieg habe allen weiteren Kriegen den Riegel vorgeschoben.76
Rechte und nationalistische Bewegungen
Die Friedensaktivisten des 19. Jahrhunderts hatten beträchtliche Hoffnungen in den Aufstieg des Nationalstaats gesetzt. Allerdings haben sich Nationalstaaten und die ihnen zugrunde liegende Ideologie des Nationalismus seitdem als die gefährlichsten Treiber von Krieg und Gewalt erwiesen. Die Idee der Überlegenheit der eigenen Nation vor anderen verschärfte nicht nur die Spannungen zwischen Ländern, sie führte in letzter Konsequenz auch dazu, dass dieser Anspruch gewaltsam eingelöst wurde – auch mit den Mitteln des Krieges. Die beiden Weltkriege ebenso wie die kolonialen Eroberungskriege lassen sich auf die nationalistische Überzeugung von der kulturellen oder biologischen Überlegenheit der eigenen Nation über andere zurückführen. Neben den Arbeiterbewegungen gehörten nationalistische Bewegungen zu den erfolgreichsten sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts: Sie mobilisierten die Massen und gaben ihnen mit dem Nationalismus eine politische Religion. Doch sie ließen es kaum je mit der Nation als kulturellem Verband bewenden, sondern strebten nach der Errichtung eines souveränen Nationalstaats.77
Eine Form des Hypernationalismus im 20. Jahrhundert war der Faschismus. Faschistische Regimes entstanden stets aus ihnen vorausgehenden faschistischen sozialen Bewegungen.78 Dass sie in Ländern wie Deutschland, Italien, Ungarn und Frankreich entstehen konnten, lag wiederum an der politischen Gewalt, die auf den Ersten Weltkrieg folgte. Ihren Ursprung hatten sie oft in paramilitärischen Formationen, die nach 1918 den Kampf gegen linke Revolutionsbewegungen antraten. Der Erfolg des Faschismus in Italien 1923 ermunterte auch andere nationale Bewegungen dazu, sich als faschistisch zu bezeichnen oder sich mit diesem zu identifizieren, auch wenn sie oft stark nationale Ausprägungen annahmen. Der deutsche Nationalsozialismus etwa vertrat eine biologistische Volksauffassung und sah die größte Bedrohung dieses Volkskörpers im sogenannten 'jüdischen Bolschewismus'. In anderen national geprägten Sozialbewegungen faschistischer Art, etwa bei den Pfeilkreuzlern in Ungarn und dem Croix de Feu in Frankreich, spielte der katholische Konservatismus eine bedeutende Rolle. Überall vertraten faschistische Sozialbewegungen einen dezidierten Maskulinismus, idealisierten die Frau als Mutter und äußerten sich abschätzig über die unabhängige, berufstätige Frau. Schon 1925 ließen sich in nicht weniger als 45 Staaten faschistische Bewegungen ausmachen.79 Auf den Bewegungscharakter des Faschismus legten die Faschisten selbst großen Wert, zeigte sich in ihm doch die Dynamik, mit der die Nation um eine einzige Ideologie herum vereint werden sollte.80
Von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis heute spielten und spielen Bewegungen der extremen Rechten, die oft auch als neofaschistisch gekennzeichnet werden, in unterschiedlichen Zeiten und Regimen eine Rolle.81 In unterschiedlichen Formen und Mischungsverhältnissen vertraten sie rassistische Positionen, die Ungleichheit der Geschlechter, und die Idee einer von inneren und äußeren Feinden bedrohten Nation oder Volksgemeinschaft. Zu beträchtlichen Synergien kam es dabei mit Bewegungen, die sich gegen Einwanderung oder Abtreibung aussprachen, ebenso wie mit fundamentalistisch-religiösen Bewegungen: z. B. in den USA mit der Christian Identity Movement oder in Indien mit der Hindutva-Bewegung. Seit 1945 traten rechtsextreme soziale Bewegungen oft als Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen wie Multikulturalismus, die Gewährung von Rechten an die LGBTQ-Gemeinschaft oder die Zunahme religiöser Diversität auf den Plan. Der eigenen Wahrnehmung nach handelt es bei ihnen um Entrechtete, die gegen gesellschaftliche Veränderungen, die sich ihrer Kontrolle entziehen, ankämpfen. Es wird eine essentialistische Identität konstruiert, von deren Bedrohung dann die Rede ist. Die eigene Opferrolle steht damit im Zentrum nationalistischer Mobilisierung auf der extremen Rechten, die vielerorts erfolgreich die Straße und den öffentlichen Raum für sich erkämpft. Die derzeitige Welle des Rechtspopulismus ist nur das jüngste Kapitel ein einer langen Geschichte rechter sozialer Bewegungen, die sich bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückverfolgen lässt.82
Pan-Bewegungen
Zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten haben Pan-Bewegungen eine wichtige Rolle in sozialen Bewegungen gespielt, die Kollektive unter dem Banner einer grenzüberscheitenden Ideologie vereinigen wollten.83 So vertraten beispielsweise der Panslawismus und die Alldeutsche Bewegung im 19. und 20. Jahrhundert Ideologien, hinter denen sich die imperialistischen Bestrebungen beziehungsweise Deutschlands verbargen: dieses wollte ein großes, zusammenhängendes Reich erreichten, jenes ein solches Reich verteidigen und erweitern.84 Dem Panskandinavismus ging es indessen darum, inmitten komplexer Staatenbildungsprozesse in Island, Finnland und Norwegen die Rivalitäten und Feindseligkeiten zwischen Nationalstaaten zu überwinden und deren kulturelle Verwandtschaft hervorzuheben.85 Der Paniberismus betonte die kulturelle Verbindung zwischen den zwei Nationalstaaten der iberischen Halbinsel sowie zwischen deren Kolonialreichen in Lateinamerika und Afrika. Der so konstruierte gemeinsame Zivilisationsraum konnte auch als Vehikel des Neoimperialismus dienen.86 Dagegen stellten Panarabismus, Panafrikanismus und Panasianismus im 20. Jahrhundert mächtige Waffen antikolonialen und antiimperialen Diskurses da, auch wenn der Panasianismus vor 1945 als antiwestliche Front für den japanischen Imperialismus diente.87
Nationale Befreiungsbewegungen
Nationale Befreiungsbewegungen entstanden im Kontext der im frühen 19. Jahrhundert einsetzenden antikolonialen Kämpfe in Lateinamerika, die sich im 20. Jahrhundert auf Kolonien in allen Erdteilen ausweiteten.88 Dazu gehörte auch Europa, wo Nationalbewegungen für die Befreiung 'ihrer' jeweiligen Nation aus den Fängen imperialer oder Vielvölkerstaaten kämpften, etwa in Irland oder auf dem Balkan.89 Um angeblich scharf abgrenzbare Nationalkulturen herum konstruierten nationale Befreiungsbewegungen neue Formen von Gemeinschaft und machten sich dementsprechend eine Reihe von Praktiken zu eigen, die ein Gefühl kultureller Zugehörigkeit nähren sollten.90 Nach der Unabhängigkeit unternahmen viele postkoloniale Staaten Entwicklungsprojekte, die ein Aufholen zu den kolonialen Metropolen ermöglichen sollten. Die 'Dritte-Welt-Bewegung' (tiers-mondisme bzw. third-worldism) wirkte auf eine Unterstützung der zumeist im globalen Süden liegenden Länder, die aus Zyklen von Armut und Unterentwicklung auszubrechen suchten.91 Diese Bewegung war stark international orientiert und bestrebt, zu zeigen, wie globale Verflechtungen und Strukturen der Ausbeutung die Länder der sogenannten 'Dritten Welt' systematisch und dauerhaft benachteiligten.
Frauenbewegungen
Die Ursprünge der 'Dritte-Welt-Bewegung' sind wie bei so vielen sozialen Bewegungen vor 1945 zu suchen. Das gilt auch für die Frauenbewegung, die im 19. Jahrhundert als internationale Bewegung zur Befreiung der Frauen von patriarchaler Unterdrückung entstand. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spaltete sich eine proletarische von der bürgerlichen Frauenbewegung ab, weil sie die Frage der Gleichberechtigung der Geschlechter als Teilaspekt einer ungleich strukturierten Klassengesellschaft ansah.92 Die Entwicklung universeller Formen des Feminismus war oft stark westlich Orientiert, eine Tendenz, die postkolonial geschulten Theoretiker kritisiert haben.93 Dennoch hat die Frauenbewegung mit der Befreiung der Frau ein globales und allgemeines Ziel. Vielerorts wurzelte die Diskriminierung der Frau in einer strengen Aufteilung geschlechterspezifischer Sphären, wobei Männer in der Öffentlichkeit und Frauen im Privaten zu wirken hatten. Den Entsprach die Gegenüberstellung einer (männlichen) produktiven und einer (weiblichen) reproduktiven Sphäre. Doch die Geschlechterordnungen, die aus dieser Aufteilung erwuchsen, blieben hochgradig zeit- und ortsspezifisch.94 Dementsprechend brachten sie auch unterschiedliche Strömungen der Frauenbewegung hervor, die wiederum unterschiedliche Diskurspraktiken und Symbolpolitiken erzeugten. Auch gingen sie unterschiedliche Bündnisse ein. Doch bei aller Vielfalt der Formen, in der sich die Frauenbewegung in unterschiedlichen Erdteilen äußern konnte, war sie doch vielfach vom Versuch geprägt, Bündnisse über nationale und kulturelle Grenzen hinweg einzugehen.95 Bereits 1888 gründete sich der Internationale Frauenrat (früher auch Frauenweltbund genannt) und 1904 der Weltbund für Frauenstimmrecht (International Woman Suffrage Alliance), der sich einem der Kernanliegen der Frauenbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verschrieben hatte, nämlich dem Wahlrecht. In der 1915 gegründete Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (Women's International League for Peace and Freedom) verband sich das Streben nach Frauenrechten mit einem weitergehenden Einsatz für Frieden und soziale Gerechtigkeit.96
Teile der internationalen Frauenbewegung kämpften auch für die sexuelle Befreiung der Frau. Im ausgehenden 19. Jahrhundert bildete sich eine lose zusammenhängende Bewegung für 'freie Liebe', die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Bedeutung gewann.97 Die Ehe galt dieser Bewegung als eine Form der Unterdrückung, die Frauen an patriarchalische Geschlechternormen binden wollte. Die Bewegung für freie Liebe verband sich teils mit Sozialismus und Anarchismus, teils mit Spiritismus und dem Lebensstil der Bohème und gewann so in unterschiedlichen Ländern prominente Fürsprecher wie William Blake (1757–1827), Mary Wollstonecraft (1797–1851), Charles Fourier (1772–1837), Edward Carpenter (1844–1929) und Emma Goldman (1869–1940). Unter den Befürwortern der freien Liebe fanden sich auch zahlreiche Stimmen für eine Aufhebung der Strafgesetze gegen Homosexualität. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegen auch die Anfänge einer internationalen LGBTQ-Bewegung. Zwar fehlte es noch an einem festen organisatorischen Rahmen, doch pflegten die Aktivisten regelmäßige internationale Kontakte zum Gedankenaustausch zugunsten einer Entkriminalisierung 'abweichender' Formen der Sexualität. Als Beispiel galt ihnen eine 1791 im Zuge der Französischen Revolution eingeführte Gesetzesreform, in der einvernehmliche homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen im privaten Bereich legalisiert wurden. Die französischen Reformen führten im frühen 19. Jahrhundert bald zu ähnlichen Reformen in anderen Ländern Europas, die aber nach 1815 fast überall wieder zurückgenommen wurden. Die Furcht vor Übergriffen, Verfolgung und Strafe standen einem offenen Eintreten für die Rechte von Homosexuellen und anderen Menschen nicht-heterosexueller Orientierung lange im Weg.98
Bewegungen für die Gleichbehandlung der Rassen
Auch in sozialen Bewegungen, die für die Gleichbehandlung der Rassen kämpften, nahmen Frauen eine führende Rolle ein. Diese Bewegungen erstreckten sich vom Abolitionismus über die Bürgerrechtsbewegung in den USA bis zum Kampf gegen die Apartheid in Südafrika. Die gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufkommende Anti-Sklaverei-Bewegung stellte infrage, ob es moralisch zu vertreten sei, andere Menschen zu versklaven. Besonders in Großbritannien und den Vereinigten Staaten wurde die Anti-Sklaverei-Bewegung zur Massenbewegung, doch auch auf dem europäischen Kontinent gab es Pendants, die sich grenzübergreifend vernetzten. Zuerst wurde die Sklaverei 1794 abgeschafft, im Zuge der Französischen Revolution, woraufhin es in Haiti zu einem erfolgreichen Sklavenaufstand und der Gründung einer unabhängigen Republik kam. Haiti war das erste Land der westlichen Halbkugel, in dem die Sklaverei abgeschafft wurde.99
In den Vereinigten Staaten führte der Bürgerkrieg (1861–1865) zur Abschaffung der Sklaverei, doch herrschte weiterhin in allen amerikanischen Staaten eine massive Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung bis hin zu einer de facto-Apartheid. Mit dem Ku-Klux-Klan entstand eine rechtsextrem-rassistische soziale Bewegung, die mit Lynchmorden, Bombenanschlägen und anderen Mitteln des Terrorismus die Emanzipation der schwarzen Bevölkerung zu verhindern suchte.100 Hierauf antworteten die Afroamerikaner und ihre Verbündeten mit einem langen Kampf gegen die Rassendiskriminierung. Sie bildeten eine Bürgerrechtsbewegung, die sich gegen die sogenannten Jim-Crow-Gesetze der amerikanischen Südstaaten und damit gegen die institutionalisierte Rassendiskriminierung richtete. Sie machten mit bürgerlichem Ungehorsam in unterschiedlicher Form, mit Sit-Ins und Massenkundgebungen auf ihre Sache aufmerksam. Einen Durchbruch im hundertjährigen Kampf für die Gleichbehandlung der Rassen markierten die 1950er- und 1960er-Jahre, mit mehreren maßgeblichen Urteilen des obersten Gerichtshofs sowie dem Civil Rights Act von 1964. Doch noch heute unterstreichen Bewegungen wie Black Lives Matter, dass Afro-Amerikaner in vielerlei Hinsicht im eigenen Land Bürger zweiter Klasse geblieben sind.101
Nach 1945 formierte sich in Südafrika eines der schlimmsten Apartheidregimes. Den internationalen Widerstand dagegen mobilisierte eine Anti-Apartheid-Bewegung, die in Großbritannien am stärksten war, aber in aller Welt Unterstützer fand. Sie begann mit Aufforderungen zu einem Verbraucherboykott, zum Verzicht auf südafrikanische Waren. Es folgte der Kampf für wirtschaftliche und andere Sanktionen, etwa für den Ausschluss Südafrikas von internationalen Sportveranstaltungen. Ein erster Erfolg der internationalen Anti-Apartheid-Bewegung war der Ausschluss Südafrikas aus dem Commonwealth 1961; 1970 erfolgte der Ausschluss von den olympischen Spielen. Eine weitere Kampagne galt dem Abbruch akademischer Beziehungen zu südafrikanischen Universitäten. Über mehrere Jahrzehnte hielt die 'Free Nelson Mandela'-Kampagne ihr Anliegen mit Freiheitsmärschen und Rockkonzerten in der öffentlichen Aufmerksamkeit präsent.102 Insgesamt hat der Rassismus vielfältige soziale Bewegungen hervorgebracht, die ihn teils verfechten, teils bekämpfen – und das schon seit langer Zeit, angefangen mit den Kampagnen gegen die Sklaverei im 18. Jahrhundert.
Mächtige soziale Bewegungen entstanden auch im Kampf für die Rechte der First Nations, der indigenen Bevölkerungen in den USA, Kanada, Australien und anderen kolonisierten Ländern, die alle Rassismus und Diskriminierung in großem Maßstab erlitten.103 Seit dem Beginn der Kolonisierung im 16. Jahrhundert stritten sie gegen Entrechtung und Enteignung, für Selbstbestimmung und für den Erhalt ihrer indigenen Kultur. Sie verlangten eine bessere Gesundheitsversorgung[] und Zugang zu Ressourcen, um indigenen Menschen den Ausbruch aus dem Zyklus von Armut und Elend zu ermöglichen. Auch Umweltthemen und die Souveränität über ihre angestammten Gebiete standen auf der Agenda der indigenen sozialen Bewegungen weit oben. Die 2007 von den Vereinten Nationen verabschiedete Deklaration der Rechte indigener Völker wurde als großer Erfolg des Einsatzes für die First Nations gefeiert.104
Umweltbewegungen
In den Kämpfen der indigenen sozialen Bewegungen ging der Schutz indigener Menschen oft Hand in Hand mit dem Schutz der Umwelt. Insgesamt erstarkten Umweltbewegungen als Reaktion auf die Zerstörungen der Natur, die das Vordringen des Industriekapitalismus im 19. Jahrhundert mit sich brachte.105 Im 20. Jahrhundert avancierte die Umweltbewegung zu einem globalen Phänomen. Wie viele andere soziale Bewegungen wandten sich die Umweltbewegungen mit ihren Forderungen zunächst an ihre jeweiligen Regierungen, doch kam es auch hier schon früh zu grenzüberschreitenden Kontakten zwischen Aktivisten. Der Begriff 'Umweltbewegung' umfasst ein breites Spektrum von Anliegen, vom Vogelschutz bis zur Anti-Atom-Bewegung, die sich häufig als je eigenständige Anliegen verstanden und miteinander wenig zu tun hatten. Wie bei so vielen anderen der hier erwähnten Bewegungen hat auch im Fall der Umweltbewegung die postkoloniale Kritik an der Universalität ihres Anspruchs gezweifelt, bis hin zur Behauptung, es handele sich dabei nur um eine weitere Maßnahme des Westens, den globalen Süden kleinzuhalten. Den Internationalismus der Umweltbewegung vertreten länderübergreifende Organisationen wie Greenpeace, Friends of the Earth, World Wildlife Fund oder Flora and Fauna. Manche Bewegungen, etwa die Tierschutzbewegung, haben ihre Ursprünge im 18. Jahrhundert, doch die Internationalisierung der Umweltbewegungen nahm zweifelsohne nach 1970 Fahr auf – auch wenn sich schon um 1900 intensiv geführte Debatten unter den Umweltbewegungen des globalen Nordens ausmachen lassen.106 Einige Umweltbewegungen blicken auf eine ungewöhnlich lange Geschichte zurück: so etwa die Chipko-Bewegung im nordindischen Bundesstaat Uttarakhand, die gegen die Abholzung der Wälder in einem Vorgebirge des Himalaya kämpft. Ihr Kampf lässt sich bis in die Tage der britischen Ostindienkompagnie zurückverfolgen, die Lizenzen zur Rodung der Wälder hatte verkaufen wollen und damit auf einen Kollisionskurs mit der indigenen Bevölkerung geriet, die mit dem Wald ihren Lebensunterhalt bestritt.107
Terroristische Bewegungen
Viele internationale soziale Bewegungen vor 1945 standen vor der Frage, wie weit sie um ihrer spezifischen Ziele willen zu gehen waren. Sollten sie sich im Rahmen der nationalen Gesetze und völkerrechtlicher Vereinbarungen bewegen und sich auf friedliche, gewaltfreie Proteste beschränken, oder ließ Gewaltanwendung rechtfertigen? Der Terrorismus, auch wenn er an sich keine soziale Bewegung darstellt, wurde mitunter zu deren Begleiterscheinung oder ging aus ihnen hervor.108 Historisch tritt er in Verbindung mit rechten ebenso wie mit linken sozialen Bewegungen auf, wobei sich eine besondere Affinität zu religiösem Fundamentalismus und Anti-Imperialismus feststellen lässt. Wie so viele soziale Bewegungen wandte sich der Terrorismus in erster Linie an und gegen die Staatsgewalt, auch wenn such hier im Lauf der Zeit eine deutliche Tendenz zu Internationalisierung und Globalisierung ausmachen lässt. Staatliche Repression trug oft zur Radikalisierung sozialer Bewegungen und deren Hinwendung zur Gewalt bei: Soziale Bewegungen, die vor Verfolgung in den Untergrund wichen, griffen umso eher zu gewaltsamen Mitteln. Ein gutes Beispiel hierfür bietet die anarchosyndikalistische Arbeiterbewegung in hochgradig autoritären Staaten, so etwa im zaristischen Russland vor 1914.109 Nach dem Ersten Weltkrieg bedienten sich verschiedene rechtsradikale soziale Bewegungen terroristischer Mittel, um Demokratien zu destabilisieren und nationalistische, antibolschewistische und antisemitische Positionen zu vertreten.110 Ab Mitte der 1930er-Jahre gingen antikoloniale Bewegungen zum Terrorismus über, um ihre Ziele der nationalen Selbstbefreiung zu verwirklichen.111
Schlussbetrachtung
Viele antikoloniale Bewegungen bezogen ihre Inspiration aus anarchosyndikalistischen Ideen und verfochten diese.112 Darin liegt ein Beispiel unter vielen für die Verbindungen zwischen internationalen sozialen Bewegungen. Aktivisten in einer Bewegung wurden oft in einer anderen Bewegung tätig, waren diese Bewegungen doch oft durch gemeinsame Identitäten und Ziele verbunden – so etwa die proletarische Frauenbewegung und die Arbeiterbewegung. Deshalb ist es sinnvoll, soziale Bewegungen nicht nur für sich, sondern in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit, ihrer Intersektionalität, zu betrachten.113 Die Teilnahme an sozialen Bewegungen ist oft fließender Art, getragen von Formen der Selbstidentifikation, die sich nicht auf ein einziges Thema beschränken lassen. Der Einsatz für die Emanzipation der Frau konnte sich mit der Sache der Arbeiter, des Umweltschutzes oder der Rechte von Indigenen oder LGBTQ-Personen verknüpfen. Geteilte Identitäten, die oft auf Erfahrungen von Unterdrückung oder Verfolgung beruhten, bleiben oft nicht auf einzelne Bewegungen beschränkt, sondern stiften Verbindungen und motivierten zu gemeinsamem Aktivismus. Die Geschichte internationaler Bewegungen ist voll solcher Schnittstellen, an denen sich Aktivisten treffen, eine Zeit lang verbinden und dann wieder ihre eigenen Wege gehen, um später in anderer Konstellation wieder zusammenzufinden. Die Fluidität dieser Verbindungen ist bezeichnend für soziale Bewegungen, denen es an einer festen Struktur und klaren Hierarchien fehlt. Die Vielfalt unterschiedlicher internationaler sozialer Bewegungen, von der ich in diesem Überblicksartikel ein Bild zu geben versucht habe, muss als Beziehungsgeflecht untersucht werden – nicht als Ansammlung vereinzelter Bewegungen. Erfolgt dies zudem in transnationaler Perspektive, so wird erkennbar, wie sich in diesen Bewegungen sowohl universelle Bestrebungen als auch hochgradig zeit- und ortsabhängige Anliegen Gehör verschaffen.
Dieser intersektionale Charakter sozialer Bewegungen hat in der sozialwissenschaftlichen Forschung zum Thema zunehmend Beachtung gefunden.114 Für die Bewegungen vor 1945 gilt dies jedoch in weitaus geringerem Maße. Deshalb möchte ich zum Schluss noch einige Desiderate für die Erforschung internationaler sozialer Bewegungen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nennen. Erstens lässt sich die in der Bewegungsforschung oft vorausgesetzte Unterscheidung zwischen vormodernen und modernen sozialen Bewegungen nur dann systematischer hinterfragen, wenn mehr Untersuchungen über soziale Bewegungen vorliegen, die sich weiter auf historisches Terrain begeben, als dies bisher der Fall gewesen ist. Ebenfalls auf systematischere Weise hinterfragt werden muss (zweitens) eine weitere in der Bewegungsforschung häufig anzutreffende Unterscheidung, nämlich die zwischen 'neuen' und 'alten' sozialen Bewegungen. Drittens sollte sich die Forschung zu sozialen Bewegungen vor 1945 stärker den rechtsgerichteten sozialen Bewegungen widmen, einschließlich der im Vergleich zu linksgerichteten Bewegungen eher vernachlässigten nationalistischen und faschistischen Bewegungen. Viertens wird die transnationale Erforschung sozialer Bewegungen die Disziplin über den nationalen Rahmen hinaustragen und ihr zur Einsicht verhelfen, dass die meisten sozialen Bewegungen schon vor 1945 internationaler Art waren, auch wenn sie sich noch nicht international organisieren konnten (nicht selten konnten sie es aber eben schon, wie etwa die sozialistische und die Frauenbewegung zeigen). Nur in weiteren transnationalen Studien lassen sich die internationalen Momente sozialer Bewegungen ausmachen. Fünftens bedarf auch das theoretische Rüstzeug zum Verständnis von Entstehung und Wandel sozialer Bewegungen stetiger Weiterentwicklung. Dabei sollte die Untersuchung sozialer Bewegungen nicht zur Bestätigung von Theorien herangezogen werden; vielmehr sollen Theorien verstehen helfen, warum soziale Bewegungen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten mal mehr, mal weniger Erfolg in ihrem Bemühen hatten, Bürger zu mobilisieren und ihre Ziele zu erreichen. Hier haben, wie ich eingangs andeutete, der Postkolonialismus, Theorien "vergangener Zukunft" sowie Emotions-, Gedächtnis- und Mediengeschichte noch viel zu bieten. Insgesamt zeigt dieser knappe Überblick über internationale soziale Bewegungen vor 1945, welch riesiges Potential noch in der Erforschung ihrer Geschichte steckt – gerade wenn es darum geht, die internationalen und globalen historischen Prozesse, die über den Nationalstaat hinausgingen, zu verstehen.