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Zum Begriff des Medienereignisses
Medien strukturieren Kommunikation. Sie selektieren, formen, übertragen und speichern diese, stellen punktuelle Kommunikation auf Dauer und machen sie erwartbarer. Der laufende mediale Kommunikationsfluss, der prinzipiell unendliche Vielfältigkeit besitzt, verdichtet sich dabei regelmäßig in Ereignissen, die größere Teile der Kommunikation auf eine Begebenheit fokussieren. In jüngster Zeit zählten dazu etwa der Terroranschlag vom 11. September 2001, der Tod von Papst Johannes Paul II. (1920–2005) oder die Wahl von US-Präsident Barack Obama (*1961)[] 2009. Derartige Medienereignisse sind allerdings keine Neuheit des Fernseh- oder Internetzeitalters. Vielmehr trugen sie bereits vor der Einführung elektronischer Medien maßgeblich dazu bei, raumübergreifend und relativ zeitgleich Wahrnehmungen zu prägen. Das gilt für politische Umbrüche (z.B. Revolutionen), Unglücke (Erdbeben, Attentate, Schiffsunglücke etc.), ungewöhnliche Leistungen (Entdeckungen, sportliche Rekorde etc.) oder etwa Zeremonielle (z.B. Tod oder Hochzeit von Herrschern).
Nach einer etablierten Definition von Reinhart Koselleck wird eine Begebenheit zu einem Ereignis, wenn sie sich durch "ein Minimum von Vorher und Nachher" auszeichnet, wodurch eine Sinneinheit entsteht.1 Dieser Verweis auf die zeitstrukturierende Kraft ist eine wichtige Warnung, nicht für jedes Unglück, jede Wahl oder gar jede Sportveranstaltung inflationär den Ereignisbegriff zu benutzen. Historischen Ereignissen wird zudem zugeschrieben, geschichtliche Veränderungen herbeizuführen und sinnbildend an der Entstehung von Geschichte mitzuwirken.
Nachdem die wissenschaftliche Analyse von Ereignissen im Rahmen der strukturgeschichtlichen Wende seit den 1960er Jahren an Bedeutung verlor, nahm sie im Zuge der kulturgeschichtlichen Wende seit den 1990er Jahren wieder zu. Ereignisse wurden hierbei als Schnittpunkte von historischen Erzählungen betrachtet, die selbst wiederum Wirkungen entfalteten. Das historische Ereignis galt nunmehr als Ausdruck einer bestimmten zeitgenössischen Erwartungshaltung, also auch als Vorgriff auf die Zukunft, die ihrerseits erst im Rückblick Vorgänge als Ereignisse qualifizierte.2
Welche Bedeutung Medien für die Konstituierung von Ereignissen haben, wird sehr unterschiedlich bewertet. Viele Historiker berücksichtigen Medien oder kommunikative Grundlagen bei der Ereignisbildung nicht.3 Da dies nicht in ablehnender Weise geschieht, ist anzunehmen, dass sie die Medialität von Geschichte (wie in anderen historischen Feldern) schlichtweg übersahen. Dagegen entwickelten insbesondere Kommunikationswissenschaftler unterschiedliche Typologien von Ereignissen, die den Grad der medialen Einflussnahme als abgrenzendes Charakteristikum wählten. Sie unterscheiden insbesondere "genuine Ereignisse", "mediatisierte Ereignisse", inszenierte bzw. "Pseudo-Ereignisse" und "medieninszenierte Pseudo-Ereignisse", wofür Helmut Scherer und Daniela Schlütz den Eurovision Song Contest als Beispiel heranziehen.4
Diese Trennung mag graduell hilfreich sein, um die Rolle der Medien bei der Ereignisbildung zu spezifizieren. Generell bleibt aber die dort implizierte Annahme eines nicht-medialen Ereignisses oder gar "Pseudo-Ereignis" problematisch. Einerseits können medieninszenierte Handlungen wie der Eurovision Song Contest durchaus wirkungsmächtige Zuschreibungen und Handlungen auslösen, die den Ereignisbegriff rechtfertigen. Andererseits ist der Untergang eines Schiffes oder die Ermordung eines Politikers eben nicht per se ein Ereignis. Ein Schiffsunfall oder Mord in Afrika ist stets ein reales Unglück, aber eben kein Ereignis, wenn fast niemand dies zur Kenntnis nimmt und öffentlich darüber kommuniziert. Die notwendige breite Kommunikation vollzieht sich in der Neuzeit in überregionalen Räumen wiederum medial, ebenso die öffentliche Sinnbildung – sei es durch Boten, Flugblätter oder das Fernsehen, deren und dessen Zuschreibungen erst ein Geschehen zu einem Ereignis machen. Diese Einsicht bedeutet nicht, Handlungen konstruktivistisch in Diskurse aufzulösen. Natürlich sind etwa die toten Körper für sich real. Aber ob und wie sie als Ereignis gedeutet werden und sinnhaft Zeit in ein Vorher und Nachher strukturieren, ist durch Medienstrukturen geprägt. Wenn Medien grundsätzlich Ereignisse – in einem unterschiedlichen Grad – strukturieren, ist der Begriff "Medienereignis" zwar eigentlich tautologisch, dennoch hilft er, an die mediale Strukturiertheit von Ereignissen zu erinnern.
Eine prägnante und zugleich offene Definition von Medienereignissen haben Nick Couldry und Andreas Hepp vorgeschlagen: "media events are certain situated, thickened, centering performances of mediated communication that are focused on a specific thematic core, cross different media products and reach a wide and diverse multiplicity of audiences and participants."5 In welchem Maße Medien die Konstruktion und oft auch den Verlauf von Ereignissen beeinflussen, lässt sich in Ergänzung zu dieser Definition exemplarisch anhand der wichtigsten Charakteristika von Medienereignissen ausmachen. Zumindest sechs seien erwähnt:
- Medienereignisse zeichnen sich quantitativ durch ihre öffentliche Reichweite und kommunikative Verdichtung aus. Derartige Vorgänge erreichen in kürzester Zeit weite Teile der Menschen, die an massenmediale Kommunikationssysteme angeschlossen sind. Als "breaking news" unterbrechen sie alltägliche Kommunikation, was grenzübergreifende Öffentlichkeiten schafft und synchronisiert. Medienereignisse können damit eine gemeinschaftsbildende Kraft haben, auch wenn die Deutungen des Geschehens unterschiedlich ausfallen können.6
- Medienereignisse haben qualitativ einen besonderen Charakter, da sie eine spezifische "Aura" ausbilden, die mit einer emotionalen Ergriffenheit weiter Bevölkerungsteile einher gehen kann.7 Medienereignisse werden nicht lediglich als neue Nachricht zur Kenntnis genommen, sondern unmittelbar mit historischer Bedeutung aufgeladen. Die Soziologen Daniel Dayan und Elihu Katz sprechen daher vom "live broadcasting of history."8 Medien tragen dazu durch spezifische Beglaubigungsstrategien bei, etwa durch visuelle Evidenzbildung oder detaillierte Mikroperspektiven.
- Medienereignisse besitzen eine starke mediale Selbstreferentialität. Während derartiger Ereignisse thematisieren die Medien zugleich ihre eigene Kommunikation, und der mediale Umgang mit dem Ereignis bekommt einen hohen Nachrichtenwert.9 Dabei versuchen die Medien häufig, ihr Verhalten kritisch zu evaluieren, um so auch angesichts von Fehleinschätzungen ihre Deutungshoheit zu verteidigen.
- Medienereignisse bewegen sich in einem eigentümlichen Spannungsfeld von Erwartung und Überraschung. Denn obgleich die Ereignisse exzeptionell, überraschend und kontingent erscheinen, schafft erst die vorher aufgebaute Erwartung, dass etwas Derartiges passieren könnte, die große Aufmerksamkeit und Faszination. Erst das Zusammenspiel von Erwartung und Überraschung prägt die Erfahrung und ermöglicht eine rasche Sinnbildung.10
- Begebenheiten entwickeln sich erst zu Medienereignissen, indem sie narrativiert werden, also eine Erzählung bekommen. Die spezifische Einbettung eines Unglücks oder einer Errungenschaft in eine Geschichte verleiht dem Ereignis seinen spezifischen Sinn.11 Medien tragen dazu bei, indem sie das Ereignis in ihre jeweils charakteristischen Erzählformate (Flugblatt, Reportage etc.) und Erzählformen (Personalisierung und Ähnliches) einkleiden. Katz und Dayan bezeichnen daher Medienereignisse als "new narrative genre" und unterscheiden drei Formen der Narrativierung: "Contest" (z.B. Sportereignisse), "Conquest" (z.B. Mondlandung) und "Coronations" (z.B. Hochzeiten oder Beerdigungen). Dabei klammern sie allerdings, was nicht plausibel erscheint, ungeplante Ereignisse als "great news events" aus.12
- Eng damit verbunden ist ein charakteristisches Spannungsverhältnis zwischen Schock und Therapie, zwischen Herausforderung und Lösung. Insbesondere dem Fernsehen wurde dabei die "Doppelrolle des Beobachters und Beschützers" zugeschrieben, da seine ritualisierte Form des Berichtes (mit Sondersendungen, Experten etc.) Distanz und Lösungen verschaffen.13 Aber bereits den frühen Massenmedien, wie dem Einblattdruck, wird man jene therapeutische Funktion zuschreiben können, die bereits im 16./17. Jahrhundert Berichte über Massaker, Kometen oder Wundergeburten mit moralischen, meist religiösen Deutungen abrundeten.14
Medienereignisse sind in der Regel mit einer physischen Präsenz verbunden. Nicht nur unmittelbar Beteiligte, sondern auch die Zuschauer tragen im Sinne von Performanzansätzen zur Deutung des Geschehens bei, was dann wiederum medial perspektiviert wird. Dabei kommt es zu einer Verdoppelung der Beobachtung, da die Zuschauer eines Medienereignisses wissen, dass ihre Präsenz medial verbreitet wird und sie damit ein zentraler Teil des Ereignisses sind.
Das Auftreten von Medienereignissen hat somit eine sozial-, kultur- und mediengeschichtliche Grundlage. Die Häufung von entsprechenden Ereignissen in einzelnen historischen Phasen kann daher nicht allein, aber auch mit Veränderungen im medialen Ensemble erklärt werden. Dass sich etwa in den Jahrzehnten um 1500 und 1900, in den 1960er Jahren oder um das Jahr 2000 herum bahnbrechende Medienereignisse häuften, hängt auch mit der Erfindung des typographischen Buchdrucks, der Etablierung der Massenpresse, dem Beginn des Fernsehzeitalters und der Neuformierung des Medienensembles in den 1990er Jahren zusammen – aber natürlich ebenso mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen in dieser Zeit, die wiederum ihrerseits mit der neuen Medialisierung einhergingen.
Europäische Medienereignisse in der Frühen Neuzeit
Generell ist es in doppelter Hinsicht problematisch, von "europäischen Medienereignissen" in der Neuzeit zu sprechen. Denn die Reichweite von Medienereignissen orientiert sich nicht an den Grenzen von Ländern oder Kontinenten, sondern an den jeweiligen massenmedialen Kommunikationsstrukturen. Diese schlossen seit dem 18. Jahrhundert Nordamerika mit ein, während weite Teile Osteuropas bis mindestens ins 18. Jahrhundert hinein nicht mit regelmäßigen (Druck-) Medien über Ereignisse informiert wurden. Das trifft insbesondere auf die osmanisch beherrschten Regionen im Südosten zu. Andererseits ist Europa selbst ein Konstrukt, das keineswegs feste räumliche Grenzen aufwies und somit allenfalls ex post mit Kernbereichen ausmachbar ist.
Dass einzelne Ereignisse mit einer verdichteten Kommunikation in weiten Teilen Europas einher gingen, lässt sich punktuell bereits vor Erfindung des Buchdrucks ausmachen. So argumentieren Mediävisten, dass es im Zuge des Investiturstreits durchaus "ad-hoc" zur Formierung einer Öffentlichkeit mit einer breiteren, parteilichen und themenbezogenen Kommunikation gekommen sei.15 Für die Frühe Neuzeit lässt sich an vielfältigen Beispielen verdeutlichen, wie sich durch Medienereignisse ein europaweiter Kommunikationsraum konstituierte.
Wie neue Kommunikationsformen und gesellschaftliche Umbrüche in europäische Medienereignisse mündeten, zeigte sich insbesondere während der Reformation. Ihre Beziehung zum medialen Wandel haben Vertreter unterschiedlicher Forschungsdisziplinen vielfach betont. Die Erfindung des Drucks wurde als Ausgangspunkt der Reformation gesehen16 und die Reformation als Medienereignis gedeutet.17 Ebenso sprechen Historiker von einer "Glaubens- und Kommunikationsrevolution", die einen "Strukturwandel der sakralen Kommunikation" geschaffen habe.18 Unstrittig ist, dass nicht nur die neuen Medien die Reformation prägten, sondern dass auch die Medienlandschaft durch die Reformation expandierte, volkssprachlicher wurde und neue Formate ausbildete. Sowohl der quantitative Anstieg an Drucken als auch die qualitative Veränderung der Texte mit ihrem mobilisierenden Gehalt ist evident. Nach Berechnungen von Hans-Joachim Köhler entstanden allein zwischen 1520 und 1526 11.000 Drucke mit einer Auflage von rund elf Millionen Exemplaren.19 Erst die Drucktechnik ermöglichte eine derartig breite, zeitgleiche und europaweite Auseinandersetzung mit der Reformation – sei es, indem reformatorische Schriften ins Ausland transferiert wurden, sei es, dass dort Gegenschriften entstanden. Ebenso war die öffentliche Verbrennung von Luthers Schriften, die von England bis Polen reichte, Teil dieses europäischen Medienereignisses.20 Trotz Verboten kursierten die Schriften grenzübergreifend – so in Frankreich von Genfer und Antwerpener Druckereien. Die medial tradierten Leiterzählungen über die Reformation, die insbesondere Martin Luthers (1483–1546) Handlungen heldenhaft oder abwertend personalisierten, prägen bis heute populäre Vorstellungen.
Vergleichbare Interaktionen zwischen neuen Medienformaten und europäischen Ereignisbildungen lassen sich für das Aufkommen der Zeitung im 17. Jahrhundert ausmachen. Obgleich die erste (bislang bekannte) gedruckte Zeitung, die Straßburger Relation, bereits 1605 erschien, war die Durchsetzung dieses Mediums mit dem Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs verbunden, dessen Beginn durch sie zu einem europäischen Ereignis gemacht wurde. In den kampfreichen Sommermonaten nahmen Kriegsmeldungen rund 70 bis 80 Prozent der deutschen Zeitungen ein, in den Wintermonaten immerhin noch rund 40 Prozent. Erst der Beginn des Dreißigjährigen Kriegs führte dazu, dass nach 1618 das Medium Zeitung ins westliche Europa expandierte und auch in England regelmäßig über den Krieg berichtet wurde.21 Einige Historiker nehmen an, dass die Zeitungen und Flugschriften dabei durchaus kriegstreibend und kriegsverlängernd wirkten.22 Ebenso veränderten die Zeitungen die politische Kommunikation und die Herrschaftspraxis. Wie die in den Zeitungen publizierten Akten, Dokumente und Kriegserläuterungen der Obrigkeiten belegen, zwangen ihre regelmäßigen Berichte die Herrscher zu einer verstärkten öffentlichen Legitimation ihres Handelns.23 Ebenso dokumentieren persönliche Aufzeichnungen (wie Tagebücher oder Briefe), dass die Berichte das Weltverständnis vieler Menschen veränderten. Entfernte Vorgänge wurden nun zu einem festen Teil der persönlichen Gedanken und Aufzeichnungen. Die periodischen Meldungen über entfernte Ereignisse, die mit Datum und Ort vermerkt wurden, trugen somit dazu bei, die Raum-Zeit-Relation zu verschieben.24
Ähnliches wie für den Dreißigjährigen Krieg in Zentraleuropa gilt für andere, zeitgleiche Konflikte. So ging in England der Bürgerkrieg der 1640er Jahre nicht nur mit der Etablierung einer meinungsfreudigen parteilichen Presselandschaft einher, sondern insbesondere die Hinrichtung von König Karl I. (1600-1649) entwickelte sich zu einem zentralen europäischen Medienereignis. Vom Flugblatt über gelehrte Bücher bis hin zu Theaterstücken entfaltete sich plurimedial eine europaweite Erschütterung und Debatte.
Im späten 17. Jahrhundert setzte zudem eine Selbstthematisierung des Ereignisbegriffes ein, indem Schriften über das Medium Zeitung die Neuigkeit der Nachrichten in den Mittelpunkt stellten. Im 18. Jahrhundert lässt sich bereits ein moderner Ereignisbegriff in Lexika ausmachen, der auf das Überraschende verweist.25 Die kommunikative Verdichtung Europas im 18. Jahrhundert war nicht nur durch einen Ausbau des Zeitungswesens, sondern insbesondere durch die Etablierung von Zeitschriften gekennzeichnet, die reflektierenden Charakter hatten. Zudem entstanden neue öffentliche Orte wie Lesegesellschaften oder Kaffeehäuser, die die Kommunikation über Ereignisse förderten. Kriege, Katastrophen oder große Entdeckungen entwickelten sich dadurch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu Ereignissen, die noch wirkmächtigere Dynamiken entwickelten. Das Erdbeben von Lissabon 1755 ist ein Paradebeispiel für ein europäisches Medienereignis im 18. Jahrhundert, dessen Zuschreibungen das Denken in der Epoche der Aufklärung prägten, wie insbesondere die damalige Theodizeediskussion belegt. Nicht nur eine Stadt wurde hier erschüttert, sondern die Gewissheiten eines Kontinentes. Dies wurde erst durch einen entsprechenden Medienmarkt für derartige Reflektionen ermöglicht.26 Zudem rückte Portugal stärker in den Fokus der europäischen Öffentlichkeit, so dass die drei Jahre später erfolgte Ausweisung der Jesuiten aus Portugal wiederum den Charakter eines Medienereignisses annahm.27
Ebenso lassen sich die Revolutionen und politischen Umbrüche seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts als Medienereignisse fassen. Das galt bereits für die amerikanische Revolution. Sie entstand als ein Medienereignis, an dem zunächst zahlreiche amerikanische Journalisten mitwirkten, etwa durch die Eventisierung von Konflikten wie dem "Boston Massacre" 1770 oder der "Boston Tea Party" 1773, die maßgeblich im Redaktionsraum der Boston Gazette vorbereitet wurde.28 Zugleich war die amerikanische Revolution ein europäisches Medienereignis, das die Auflagen steigen ließ und die europäische Öffentlichkeit politisierte. Selbst in Ländern mit einer besonders strengen Zensur, wie in Frankreich vor 1789, erschienen regelmäßGazette de Leyde, verfochten auch hier die amerikanische Revolution.29 Dies trug wiederum maßgeblich zur Entstehung der französischen Revolution bei. Ebenso wurde etwa in den Niederlanden die "patriotische" Revolte 1786/1787 mit derartigen Artikeln in Verbindung gebracht.
Die Französische Revolution war sicherlich das wichtigste Ereignis des 18. Jahrhunderts. Sie lässt sich zugleich als Medienereignis fassen. Die Pamphletkultur sorgte im Vorfeld für ihre Dynamik, und nach 1789 verstärkten sich Medienexpansion und Ereignisbildung wechselseitig. Allein in den ersten Jahren nach 1789 entstanden jährlich über 300 neue Zeitungen und Zeitschriften, so dass bis 1799 rund 2.000 verschiedene erschienen waren, dazu rund 40.000 Flugschriften.30 Die Presse förderte Ereignisse, wie den berühmten "Marsch der Marktfrauen" nach Versailles, und gab ihnen eine entsprechende Bedeutung.31 Ebenso führte die Revolution auch in den Nachbarländern zu einer deutlich stärkeren Parteinahme und politischen Polarisierung der Presse, wobei die ausführlichen täglichen Berichte ebenfalls ihre Auflagen in die Höhe schießen ließen. Im Reich nahmen im Zuge der Berichte unverkennbar lokale Proteste zu, die die medial verbreiteten Symbole wie Kokarden oder Freiheitsbäume aufgriffen. Mitunter rechtfertigten die Medien sogar die Gewalt mit dem Kampf für die Freiheit. Andere räsonierten über die Ereignisse oder mahnten, die Revolution zeige, welche Folgen das Unterlassen von Reformen haben könne.32 Nachdem die Französische Revolution anfangs europaweit zu einem Aufblühen publizistischer Diskussionen geführt hatte, sorgte sie ab Mitte der 1790er für eine europaweite Einschränkung der medialen Kommunikation. Verantwortlich dafür war zunächst die Revolutionsfurcht der Regierungen, dann die Zensur im Zuge von Napoleons (1769-1821) Eroberungen. Die nachfolgenden Revolutionen von 1830 und 1848 zeigten strukturelle Ähnlichkeiten in ihrer Ereignisbildung.
Medienereignisse in der neuesten Geschichte
Im ausgehenden 19. Jahrhundert häuften sich die Medienereignisse. Dies lässt sich zweifelsohne durch den neu entstandenen medialen Massenmarkt erklären: Die Etablierung der Telegraphie und Nachrichtenagenturen erlaubte eine sofortige und zunehmend flächendeckende Übermittlung von Neuigkeiten, der Siegeszug auflagenstarker Bildillustrierter ihre Visualisierung und die neue ausdifferenzierte Massenpresse eine reaktionsschnelle Deutung. Bereits in dieser Zeit setzte zudem ein verschärfter kommerzieller Wettbewerb zwischen mächtigen Verlegern und deren auflagenstarken Zeitungen ein, der die Konstruktion von Medienereignissen zusätzlich förderte.33 Alle diese Ereignisse waren freilich nicht mehr "europäischer Natur". Durch das imperiale Ausgreifen in dieser Zeit reichte die Kommunikationsverdichtung vielmehr von Japan über Indien und Südafrika bis nach Argentinien, wobei vielfach nur in den Küstenstädten entsprechende Medien aufzufinden waren.
Differenziert man die Medienereignisse nach dem Stellenwert der medialen Inszenierung und außermedialen Handlungen, so lassen sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vor allem fünf Typen von Medienereignissen ausmachen, die an Bedeutung gewannen:
- Die Zahl der durch die Medien selbst initiierten Ereignisse stieg im ausgehenden 19. Jahrhundert rasant an. So brachten Zeitungen entsprechende Wettbewerbe auf: Die französische Zeitschrift L'Auto rief beispielsweise 1903 ein jährliches spektakuläres Radrennen namens "Tour de France" ins Leben und der Berliner Ullstein-Verlag Flugwettbewerbe und Autorennen um die Welt. Der US-amerikanische Verleger Joseph Pulitzer (1847–1911) gab 1889 seiner Reporterin Nellie Bly (1864–1922) den Auftrag, in weniger als 80 Tagen um die Welt zu reisen. Ebenso kreierten die Massenblätter spektakuläre Entdeckungsreisen mit Ereignischarakter. So beauftragte der New York Herald den Journalisten Henry Morton Stanley (1841–1904), in Schwarzafrika den verschollenen schottischen Forscher David Livingstone (1813–1873) zu finden, woraus sich ein transnationales Medienereignis entwickelte.
- Die Medienexpansion und Professionalisierung sorgte dafür, dass Journalisten investigativ bestehende Missstände aufdeckten und sie emotionalisierend zu grenzübergreifenden Medienereignissen transformierten. Für diese Enthüllungen schmuggelten sich Journalisten verkleidet in Fabriken, Irrenhäuser oder Bordelle. Ein wegweisender Journalist wie der Brite William Thomas Stead (1849–1912) inszenierte 1885 etwa den Kauf eines dreizehnjährigen Mädchens in London, um den "white slaves trade" mitten in der Stadt zu belegen. Ebenso fokussierte der sozialistische Publizist Upton Sinclair (1878–1968) 1906 durch eine verdeckte Recherche in den Chicagoer Schlachthöfen die weltweite Aufmerksamkeit auf die unhaltbaren Hygiene- und Arbeitsbedingungen. Derartige Medienereignisse führten zu Gesetzesänderungen, grenzübergreifender Empörung und nachhaltigen Veränderungen der Wahrnehmung. In vielen Fällen, wie etwa bei der französischen Affäre Dreyfus[], spalteten sie die Menschen bis in die Familien hinein, einten sie aber zugleich durch die gemeinsamen Themen.34
- Gewaltsame Todesfälle erhielten nun vielfach den Status von transnationalen Medienereignissen. Betrachtet man Verbrechen wie die von "Jack the Ripper", so wird auch hier die Bedeutung der neuen Massenmedien deutlich. Die Zeitungen trugen zur Konstruktion des Ereignisses bei, indem sie die Leser interaktiv in die Verbrecherjagd einbanden, unterschiedliche gesellschaftliche Deutungen des Verbrechens aufbrachten oder die Verbrecher selbst zur Interaktion mit den Medien anstifteten.35 Gleiches galt für die zahllosen Attentate, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Könige, Präsidenten und Zaren bedrohten und vielfach auch töteten.36 Bereits dieser frühe Terrorismus setzte sich zum Ziel, öffentliche Ereignisse zu schaffen. Auch Schiffsunglücke waren an sich nichts Neues. Nun aber konnten sie, wie insbesondere der Untergang der Titanic 1912, zu globalen Medienereignissen werden, die eine breite Erschütterung und Empörung auslösten sowie vielfältige Deutungen über die Moderne und das Medienwesen hervorriefen.37
- Althergebrachte Zeremonielle und Staatsakte entwickelten sich nun vielfach zu europäischen Medienereignissen. Hochzeiten, Jubiläen oder Todesfälle von Monarchen erhielten durch den Medialisierungsschub eine neuartige lokale und grenzübergreifende Präsenz. Die Medialisierung förderte Massenaufläufe vor Ort, was wiederum den medialen Ereignischarakter verstärkte.38 Obgleich die Monarchen gerade in dieser Zeit an politischer Macht verloren, gewannen sie so an öffentlicher Bedeutung und wurden Kristallisationspunkte der Identitätsstiftung. Ebenso wie andere Staatsoberhäupter passten sie ihre Zeremonielle deshalb der veränderten Öffentlichkeit an.
- Ein damit verbundenes Charakteristikum ist seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Zunahme vorhersehbarer und geplanter transnationaler Medienereignisse. Insbesondere im Bereich des Sports (Olympische Spiele, Welt- und Kontinentalmeisterschaften und Ähnliches) und der Kultur (Weltausstellungen, Musikaufführungen und Ähnliches) ist dies auszumachen. Freilich wurden sie nur zu Medienereignissen mit Zäsurcharakter, wenn sich währenddessen als außergewöhnlich angesehene Abläufe abzeichneten (in Deutschland etwa die Olympischen Spiele 1936 und 1972).
Mit der massenhaften Verbreitung des Fernsehens seit den 1960er Jahren gewannen diese für die Moderne typischen Formen des Medienereignisses zusätzlich an Bedeutung. Die audiovisuelle Verdichtung der Welt führte dazu, dass die wechselseitige Beobachtung und Deutung im Medienereignis an Anschaulichkeit und Emotionalität gewann. Umgekehrt verhalfen Medienereignisse (Krönung der englischen Königin Elisabeth II. (*1926) 1953 oder die Fußball-Weltmeisterschaft 1954) dem neuen Medium Fernsehen erst zum Durchbruch. So wurde selbst die Mondladung 1969 als ein globales Medienereignis gedeutet, welches vor allem den Siegeszug des Fernsehens markierte, das maßgeblich zur Durchführung der Mondlandung beigetragen habe.39 Selbst der Vatikan änderte 1958 sein Zeremoniell, um die Beisetzung der Päpste an das Fernsehzeitalter anzupassen.40
Mit dem Ausbau der Europäischen Gemeinschaft gewannen Medienereignisse mit spezifischem Europabezug an Bedeutung: etwa medieninitiierte Ereignisse (wie der Eurovision Song Contest seit 1956), investigative Enthüllungen von europäischer Bedeutung (etwa bei Umweltskandalen wie Seveso 1976), grenzübergreifende Verbrecherjagden (wie insbesondere bei der Terrorismusbekämpfung in den 1970er Jahren) oder spezifisch europäische politische Performanzen (wie Willy Brandts (1913–1992) Kniefall vor dem Mahnmal für das jüdische Ghetto in Warschau 1970).
Dennoch ist zugleich der Trend zur weltweiten Ausbreitung der Medienereignisse ungebrochen. Das Medienereignis 11. September ist hierbei sicherlich paradigmatisch, ebenso die sich anschließenden globalen Auseinandersetzungen (wie u.a. der Karikaturenstreit im Jahre 2005). Derartige Medienereignisse zwingen zunehmend Individuen und Staaten, sich zu ihnen zu positionieren. Dass sich ein Land wie China etwa nicht zum Tod Präsident John F. Kennedys (1917–1963) oder Papst Johannes Pauls II. äußerte, wurde entsprechend als Deutung vermerkt, die die westliche Konsensbildung durchbrach. Kennzeichnend ist dabei ein grenzübergreifender Kampf um das Aufbringen und die Deutung von Ereignissen. Dabei zeigten die Handy-Bilder von misshandelten Gefangenen im Gefängnis von Abu-Ghraib während des Irak-Kriegs, wie leicht globale Medienereignisse bestehende Deutungen erschüttern können. Steuerbar sind Medienereignisse damit selbst für eine mediale Supermacht wie die USA nicht.