Einführung
Wasser ist einerseits ein natürlicher Stoff: Der Planet Erde und der menschliche Körper bestehen zum großen Teil aus Wasser, es ist die Grundlage des Lebens auf der Erde. Wasser ist andererseits ein historischer Stoff: Nicht nur im alltäglichen Leben von "Wasser-Kulturen"1 wie Venedig und Holland spielt Wasser eine große Rolle.2 Wasser zeichnet eine soziale Ambivalenz aus "Lebensquell und Lebensgefahr" aus.3 Trotz dieser großen Bedeutung ist Wasser bislang kein Untersuchungsgegenstand der europäischen Geschichte. Stoff- und Umweltgeschichten, die zum Beispiel zum Holz vorliegen, sind für das Wasser noch nicht geschrieben.4 Das mag mitunter an dem fluiden Charakter des Gegenstandes liegen. Er ändert je nach Temperatur seine natürliche Form: Der Begriff "Wasser" ist strenggenommen nur die Bezeichnung des flüssigen Aggregatszustandes, gefroren ist dieser Stoff Eis, gasförmig Dampf. Als Bestandteil der Umwelt überschreitet es zudem Grenzen: Flüsse, Seen und Meere halten sich nicht an nationale Markierungen.
Bereits um 1930 hatte der Soziologe und Sinologe Karl August Wittfogel (1896–1988) für diese soziale Bedeutung von Wasser einen bündigen Terminus gefunden. Er prägte den Begriff der "hydraulischen Gesellschaft". Wittfogels Theorie sollte dem "marxistischen Weltbild eine weltweite Dimension"5 geben, indem sie auch außereuropäische Gesellschaften und deren Produktionsweisen einbezog. Sein Argument lautete, dass Bewässerungssysteme die Entwicklung der außereuropäischen Hochkulturen begünstigt hätten. Die Einrichtung von künstlichen Bewässerungssystemen habe einer zentralen Lenkung bedurft. Die Durchführung der Projekte erfordere eine Bürokratie, die auf Zwangsarbeit zurückgriff und despotische Züge trug. Diese These der "hydraulischen Bürokratie"6 baute er in seinem Werk Die orientalische Despotie im Jahr 1947 aus. Die hydraulische Gesellschaft, die sich an den großen asiatischen Flüssen (Euphrat, Indus, Yangtse und Nil) herausgebildet habe, bilde die Basis der zentralistisch organisierten "orientalischen Despotie", die bis in das 20. Jahrhundert fast unverändert in Asien fortbestehe.
Heute ist deutlich, dass Wittfogels Auffassung mehr westlichen Projektionen, denn lokalen Gegebenheiten entsprach, wie Beispiele der Wassernutzung von "Holland bis Sri Lanka" zeigen.7 Im übertragenen Sinn verweist Wittfogel mit dem Terminus der "hydraulischen Gesellschaft" jedoch auf den großen Stellenwert, den Wasser und Wassernutzung für die menschliche Geschichte haben. Um zu zeigen, wie der natürliche Stoff Wasser jeweils in der Gesellschaft sichtbar, angeeignet und genutzt wurde, stellt dieser Beitrag ausgewählte Funktionen vor, die Wasser in der europäischen Geschichte innehatte. Zunächst steht im Vordergrund, wie Wasser in den Naturwissenschaften Gestalt gewann und wie sich dieser Prozess der Verwissenschaftlichung historiographisch fassen lässt. In einem zweiten Schritt sollen drei verschiedene Facetten vorgestellt werden, die Wasser als Badewasser, Trinkwasser und Energiequelle in der menschlichen Lebenswelt einnahm. Die folgenden Abschnitte widmen sich speziellen Aufgaben des Wassers an ausgewählten Orten: Zunächst stehen die Rolle als Transportmedium sowie aquatische Infrastrukturen im Vordergrund, wobei diese Funktionen anhand von Flüssen und Hafenstädten spezifiziert werden. Ein übergreifendes Schlusskapitel, das zeigt, wie Wasser und Macht zusammenwirken, schließt den Beitrag ab.
Wasser als Stoff und Forschungsgegenstand
Seit dem 19. Jahrhundert bildeten sich unterschiedliche Disziplinen heraus, die sich mit Wasser als Stoff befassten. Zwischen 1904 und 1919 verfassten Daniel Webster Mead (1862–1948) und Adolph Frederick Meyer (geb. 1880) hydrologische Grundlagentexte, die vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Wasserbauprojekte, wie dem Ausbau der Grundwasserversorgung, standen.8 August Thienemann (1882–1960) und Einar Naumann (1891–1934) entdeckten in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts die Binnengewässer (Weiher, Teiche, Seen, Flüsse, Binnenmeere) als limnologisches Erkenntnisobjekt.9 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts institutionalisierte sich die Ozeanographie oder Meereskunde und vereinte unterschiedliche Interessenfelder, von der Meeresbiologie bis zur Meeresgeologie.10
Diesen Wissenschaften ist gemeinsam, dass sie die Substanz Wasser in den menschlichen Lebenshorizont übersetzen: Je nach Methodenarsenal betonen sie die Eigenschaften von Wasser als Biotop, als geographischen Naturraum, als von physikalischen und chemischen Prozessen gesteuertes System oder als Bestandteil der anthropogenen Lebens(um)welt.
Der erste internationale hydrografische Kongress fand auf Initiative des amerikanischen Offiziers Matthew Fontaine Maury (1806–1873) im Jahr 1853 statt.11 Beginnend mit der Weltumsegelung der britischen Korvette Challenger (1872–1876) vermaßen großangelegte Expeditionen die Weltmeere.12 Wissenschaftler gründeten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit Regierungsgeldern auch meeresbiologische Stationen: Zu den ersten Stützpunkten zählte die deutsche Einrichtung in Neapel (1872).13 Mit Spezialwerkzeugen wie Dredgen oder Netzen ließen sich Proben des Meerwassers entnehmen, die dann vor Ort oder in eigens gegründeten Laboren ausgewertet wurden.14 Mikroskope machten Details des Wassers sichtbar, wie die Struktur eines Wassertropfens oder die Lebewesen, die in bestimmten Gewässerproben lebten. Diese Grundlagenforschung floss in Datenreihen und Tabellen ein, welche die Basis für größer gefasste Modelle bildeten. Diese wissenschaftliche Beschäftigung mit Wasser stand im Zusammenhang mit sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zwecken. So war das umfassende Interesse am Ozean an ökonomische Belange geknüpft, wie die Gründung des International Council for the Exploration of the Sea (1902), eines frühen Interessenverbands der Hochseefischerei, zeigt.15 Neben meeresbiologischen Stationen wurden auch limnologische Stationen gegründet, in denen Wissenschaftler die Qualität von Flüssen und Seen untersuchten.16 Das Wasser war nämlich nicht nur ein Forschungsgegenstand, sondern auch ein Bestandteil der menschlichen Lebenswelt.
Wasser und Lebenswelt
Seit der Antike wurde der Substanz Wasser eine heilende Wirkung nachgesagt. In der Frühen Neuzeit zählten Badekuren in inländischen Heilbädern zum Privileg des Hochadels.17 Bereits seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts reisten vornehmlich adelige Kurgäste ans Meer, um Melancholie und Missstimmung durch das kalte, salzhaltige Wasser zu kurieren. In den 1820er Jahren entstanden auf Initiative von Angehörigen des Hochadels, von Beamten und Ärzten an fast allen europäischen Küsten Badeorte.18 Als Modell dienten die Marinas Siziliens.19 Die großen Kur- und Seebäder wie Bath, Dieppe und Scarbourough prägten nicht nur eine Freizeitinfrastruktur, die zunächst an die Bedürfnisse des Hochadels und später des Großbürgertums gerichtet war, sondern trugen auch zur Entstehung des modernen Badestrands bei.20 Damit verschob sich die soziokulturelle Funktion des Wassers vom Heil- zum Freizeitmedium. Im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts erfuhr der Aufenthalt am Meer zwei Demokratisierungsschübe. Im Jahr 1841 wurde die Eisenbahn nach Brighton eröffnet. Auch in anderen europäischen Ländern machte der Ausbau der modernen Transportmittel Reisen an den Strand für unterschiedliche soziale Gruppen möglich. Adelige und wohlhabende Bürger verbrachten mehrere Urlaubswochen dort, wohingegen sich Arbeitern häufig nur einen mehrstündigen Ausflug leisten konnten.21 Die zweite, großangelegte Demokratisierung des Strandurlaubs fiel in das Zeitalter der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts, da die Nationalsozialisten die Möglichkeiten der unterschwelligen Propaganda durch Freizeit- und Unterhaltungsangebote erkannt hatten.22 So plante die Organisation "Kraft durch Freude" fünf großangelegte Badeanlagen an der Ostsee, auf Rügen, in Königsberg, in Kiel und in Danzig. Mit einer Kapazität von 20.000 Touristen pro Anlage sollten drei bis fünf Millionen Besucher pro Sommer einen zweiwöchigen Badeurlaub verbringen können.23 Die bereits von Alain Corbin (geb. 1936) für das 19. Jahrhundert festgestellte Tatsache, dass Sehnsüchte Architekturen hervorbrachten, gilt verstärkt für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. In dieser Zeit entstanden Hotelanlagen an den Küsten des Mittelmeeres und anderer beliebter Urlaubsorte in den Tropen. Gekoppelt mit Pauschalreiseangeboten und der Erfindung des Cluburlaubs, wurde die regenerierende Wirkung des Seewassers zum modernen Massenkonsumgut.
Wasser wurde seit dem 19. Jahrhundert auch verstärkt im häuslichen Leben verfügbar. Bis weit in das 19. Jahrhundert gewährleisteten Brunnen, Zisternen, Flüsse und Bäche die Trinkwasserversorgung in den europäischen Städten.24 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts richteten Städte aus hygienischen Gründen eine zentrale Wasserversorgung ein. Das benötigte Wasser kam aus dem Umland; so versorgte eine Fernleitung aus dem Mangfalltal die Stadt München mit Trinkwasser. Europäische Stadtplaner bauten parallel die Kanalisation aus, um die Wasser- und Abwassermengen zu bewältigen. In London begann der Ausbau der Kanalisation bereits in den 1860er Jahren. Obwohl die deutschen Städte Nachzügler waren, waren auch in Berlin im Jahr 1885 ungefähr 90 Prozent der Haushalte an die Kanalisation angeschlossen. Die kostspielige Entscheidung, Schwemmkanalisationen als feste Abwasserinfrastruktur auszubauen, legitimierten Planer und Gesundheitsexperten durch die Miasmentheorie, der zufolge giftige Gase und Dämpfe Krankheiten wie Cholera auslösten. Dadurch wurde die Entfernung von Abwasser zur gesundheitspolitischen Verpflichtung. Mit der Schwemmkanalisation waren jedoch langfristige, aber zeitgenössisch nicht absehbare Umweltprobleme verbunden. Die Einleitung des Abwassers in nahegelegene Gewässer verunreinigte Seen, Flüsse und Bäche. So entstanden in den 1880er Jahren erste Kläranlagen, die durch den Bau von Wasserklosets in den Häusern zusätzlich nötig wurden.25 Im Zuge der Technisierung der Städte und der Haushalte war Wasser nicht nur zum alltäglichen Gebrauchsgut geworden, sondern diente auch der Energiegewinnung.26
Bereits im Mittelalter und der Frühen Neuzeit nutzten die Menschen die Kraft von Flüssen, Bächen und Fließgewässern, um Mühlen anzutreiben. Um über saisonbedingte Schwankungen der Wassermenge hinweg kontinuierlich wirtschaften zu können, entstanden Teich- und Stausysteme und damit ein frühes Netz der Wasserkraftanlagen. Das hatte wiederum Eingriffe in Gewässerlandschaften, wie Flussbegradigungen, zur Folge.27 Doch erst im Lauf des 19. Jahrhunderts wurden im Zuge der ingenieurstechnischen Umgestaltung von Flüssen vermehrt Staudämme und Wasserkraftwerke gebaut. Die Erfindung der Turbinentechnologie in der Mitte des 19. Jahrhunderts ermöglichte es, die Wasserkraft der alpinen Flüsse, der Gletscher und des Schmelzwassers auszunutzen. Durch die Entwicklung der Energie-Fernübertragung in den 1890er Jahren konnte die freigewordene Energie für das Umland nutzbar gemacht werden.28 Der deutsche Bauingenieur Oskar von Miller (1855–1934) ließ 1892 ein Wasserkraftwerk in Schöngeising errichten. Die nahegelegene Kreisstadt Fürstenfeldbruck bezog daher als eine der ersten Städte Bayerns Energie für die elektrische Straßenbeleuchtung. Zwischen 1918 und 1924 leitete von Miller den Bau des Walchenseekraftwerkes, dem damals größten Speicherkraftwerk.
Wasserkraft war zentral für die städtische Energieversorgung des 20. Jahrhunderts. Schätzungen der Vereinten Nationen besagten, dass Wasserkraft in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ein Viertel der Energieversorgung des europäischen Kontinents sicherstellte.29 Mit der Kernenergie verlor Wasserkraft zwar in Europa und Nordamerika an Bedeutung, ist jedoch bis heute eine Hauptquelle der Energieversorgung im globalen Süden.30
Infrastrukturen und Transport
Wasser war auch ein Transportmedium. Die Verschiffung über das Wasser war in der Frühen Neuzeit günstiger und in einigen Fällen praktischer als die Verfrachtung über Land: Holz konnte zum Beispiel durch die Trift, die Strömung des Flusses, ohne großen zusätzlichen mechanischen und finanziellen Aufwand von einem Ort zum nächsten gebracht werden. Flöße und Schiffe beförderten Güter und Menschen.31 Um die Kontinente zu verbinden, bauten die großen Handelskompanien, wie die britische East India Company oder die Niederländische Ostindienkompanie, transozeanischen Routen aus.32 Diese überseeischen Schiffsrouten erfüllten eine dreifache Funktion: Sie bildeten zunächst die Handelsverbindung zwischen den europäischen Staaten und der außereuropäischen Welt. Zudem hatten sie eine soziokulturelle Bedeutung, indem sie als Reiserouten und Postwege Menschen auf unterschiedlichen Kontinenten in Beziehung setzten, und die Kommunikation über den Ozean hinweg ermöglichten. Nicht zuletzt transportierten Schiffe auch Tiere und Pflanzen. Für diesen Austausch, der sich vor allem nach der Entdeckung der beiden Amerikas intensivierte, prägte der amerikanische Umwelthistoriker Alfred W. Crosby (1931–2018) den Begriff des Columbian Exchange. Nutzpflanzen aus der Neuen Welt, wie die Tomate oder die Kartoffel, erreichten über die Schiffsrouten Europa. Im Gegenzug gelangten Tiere und Pflanzen, aber auch Krankheitserreger wie die Pocken, nach Amerika.33
Obwohl sich der Weltverkehr im 19. Jahrhundert verstärkt auf dem Atlantik und Pazifik abspielte, erfuhr auch das Mittelmeer, das seine Blütezeit in der Frühen Neuzeit erlebt hatte, eine erneute Belebung.34 So ermöglichten der wirtschaftliche Boom der 1850er bis 1870er Jahre und die Dampfschifffahrt eine Integration des östlichen Mittelmeeres, der Levante, in die Weltwirtschaft. Aus wirtschaftlichen und handelspolitischen Überlegungen entstanden im 19. Jahrhundert Kanalbauten wie der Panama- oder der Suezkanal.35 Der Suez-Kanal, eines der größten zeitgenössischen Bauprojekte, wurde trotz Cholera-Epidemien unter den Arbeitern und diplomatischen Spannungen zwischen Großbritannien und Frankreich nach zehnjähriger Arbeit im Jahr 1869 als technische Meisterleistung feierlich eröffnet. Er verband das Mittelmeer mit dem Roten Meer und ermöglichte somit die Schifffahrt zwischen (Nord-)Atlantik und Indischem Ozean auf direktem Weg.36
Diese großen internationalen Kanalbauten des 19. Jahrhunderts hatten jedoch weniger bekannte Vorläufer auf dem europäischen Kontinent. Bereits seit dem späten Mittelalter verbanden künstliche Kanäle einzelne Flüsse. In den 1390er Jahren entstand der Stecknitz-Kanal, um Salz aus Lüneburg an die Ostsee zu verschiffen, und in umgekehrter Richtung Holz nach Lüneburg zu transportieren. Im 17. und 18. Jahrhundert bauten die europäischen Herrscherhäuser vermehrt Kanäle. Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620–1688) legte zum Beispiel den "Neuen Graben" (Friedrich Wilhelms-Kanal) an, der Oder und Elbe verband. Mit dem Bau des Canal du Midi in den 1680er Jahren entstand ein 240 km langer Wasserweg, der das Mittelmeer über Toulouse mit dem Fluss Garonne verband. Friedrich II. von Preußen (1712–1786) ließ den Plauer Kanal (1743–1745), den zweiten Finowkanal (1743–1746), den Storkower Kanal (1746), den Werbelinkanal (1765) und den Ruppiner Kanal (1786–1788) bauen. Damit erschuf er das märkische Wasserstraßennetz als Transportinfrastruktur.37
Im 19. Jahrhundert fanden Kanalbauten an fast allen großen Gewässern in Europa statt. Im Jahr 1846 ließ der bayerische König Ludwig I. (1786–1868) die Donau und den Main verbinden, wobei dieser Wasserweg ab den 1950er-Jahren zum Rhein-Main-Donau-Kanal ausgebaut wurde. Zwischen 1887 und 1895 entstand der Kaiser-Wilhelm-Kanal als Wasserstraße zwischen der Nord- und Ostsee. Waren bereits im 19. Jahrhundert Kanalbauten von Protesten des Heimat- und Naturschutzes begleitet, verschafften sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts die kritischen Stimmen verstärkt über Medien und Experten Gehör. So war der Rhein-Main-Donau-Kanal bis zu seiner Fertigstellung im Jahr 1992 von Kontroversen begleitet. Gegner und Fürsprecher des Kanalbaus führten Gutachten für die Richtigkeit ihrer jeweiligen Position an. Großprojekte des Wasserbaus galten in den 1980er Jahren nicht mehr als technische Meisterleistung, sondern als Ausdruck der menschlichen Hybris. Das mag die Aussage des Bundesverkehrsministers Volker Hauff (geb. 1940) im Spiegel verdeutlichen, der den Bau des Rhein-Main-Donau-Kanals als "ziemlich das dümmste Projekt seit dem Turmbau zu Babel" bezeichnete.38 Flüsse wie die Donau oder der Rhein spielten jedoch nicht nur in Kanalisierungsprojekten eine Rolle, sondern erfüllten auch weitreichendere Funktionen für die europäischen (Stadt-)Geschichten.
Geschichte im Fluss
Flüsse waren die essentiellen Faktoren für die Gründung, das Wachstum und die weitere Existenz vieler, wahrscheinlich kann man sagen der meisten europäischen Städte. Die wichtigsten bereits im Mittelalter gegründeten europäischen Städte wurden in der Nähe einer Fluss-Fuhrt – klassischer Fall etwa Frankfurt am Main – oder einem anderen bedeutsamen Punkt im Verlauf des Flusses situiert.39
Flüsse prägten Stadtentwicklungen, aber auch Mythen und Legenden.40 Fast alle großen Metropolen verdankten ihrem Aufstieg einem Fluss: Wien der Donau und London der Themse, die die Stadt an frühe Verkehrsnetzwerke an- und mit dem Hinterland verbanden. Bereits die Geschichte historischer Zivilisationen war mit Flüssen verknüpft: Der Aufstieg des Zweistromlandes wurde von den Flüssen Euphrat und Tigris gespeist, Ägyptens Entwicklung hing vom Nil ab. Vor allem in ariden Gegenden, wie im amerikanischen Westen oder in Russlands Osten, hatten Flüsse eine zentrale Bedeutung für die Bewässerung der Landschaften.41
Drei Metanarrative prägen die Geschichtsschreibung über Flüsse: Eine kulturhistorische Tradition thematisiert die romantische Überhöhung, aus der auch eine nationalistische Vereinnahmung von Flüssen entstehen konnte. Ein zweiter Strang schreibt Flussgeschichte als eine Art Zivilisierungsgeschichte, in deren Rahmen menschliche Ansprüche die Natur der Flüsse umformten. Mit dem Aufkommen der neueren Umweltgeschichte wird, drittens, verstärkt die Interaktion von Mensch und Fluss analysiert.42
In der romantischen Tradition, die im späten 18. und 19. Jahrhundert ihre Wurzeln hat, gelten Flüsse als natürliche Urgewalten, als Quellen des Lebens und der Zerstörung. So prägten bereits historische Flussbeschreibungen den bis heute präsenten Topos, dass Wasser Geschichte schreibt. Für Willi Rickmers (1873–1965), der zur vorletzten Jahrhundertwende Mittelasien besucht und erforscht hatte, bot ein Rundgang durch die Städte Buchara und Samarkand Anlass zur Beschreibung des Flusses Zarafschan als Lebensspender und Ursprung der alten Zivilisation: "The Zarafshan is the very essence of life to Samarkand and Bokhara … This is the end, that was the beginning, and between them is the life-time and the work of a drop of water; between them are generations of men."43
Diese Reiseimpression zeigt nicht nur exemplarisch die spätromantische Überhöhung von Flüssen, sondern auch, dass Flüsse eng mit den Städten assoziiert wurden, die von ihrem Lauf abhingen.44 Flüsse, die an der Grenze zwischen Staaten lagen, konnten im Zeitalter des Nationalismus zu Argumenten der Propaganda werden wie der Rhein in den napoleonischen Kriegen und der Rheinkrise.45 Max Schneckenburger (1819–1849) verfasste das patriotische Kampflied "Die Wacht am Rhein" und Nikolaus Becher (1809–1845) "Der freie deutsche Rhein". Diese heroisierenden Phrasen konnten als Topoi des 20. Jahrhunderts reaktiviert werden, wie zum Beispiel in der antifranzösischen Kriegspropaganda des Ersten Weltkrieges.46
Jenseits dieses kultur- und ideengeschichtlichen Ansatzes rückten Flüsse in den letzten Jahrzehnten verstärkt als historische Umwelten in den Fokus.47 Das frühe 19. Jahrhundert gilt hier als Wegmarke: Bis zu den großangelegten Wasserbauprojekten des 19. Jahrhunderts sperrten sich Flüsse aufgrund ihrer Eigendynamik einer planbaren menschlichen Nutzung. Sie änderten ständig ihren Verlauf und schufen, je nach Wasserstand, neue Arme. Flüsse waren somit auch die Ursache von lokalen Konflikten, wenn sich durch die Änderung ihres Verlaufs die Wasserversorgung der umliegenden Gemeinden änderte. Flüsse konnten sogar Landesgrenzen verändern: "Landkarten waren" in der Frühen Neuzeit "immer Momentaufnahmen, und die Kartographen des 16. Jh.s. stellten Flüsse entsprechend ihrer Bedeutung meist überdimensional dar".48 Mit den großen Ingenieursprojekten des 19. Jahrhunderts setzte sich als Idealbild des Flusses der schiffbare, standardisierte Kanal durch.49
Obwohl Flüsse wie Donau, Rhein, Themse und Rhône ihre individuelle Geschichte haben, lässt sich als Muster feststellen, dass sie im 19. Jahrhundert verstärkt einer menschlichen Kontrolle unterworfen wurden.50 Akteure dieser Geschichte waren neben Monarchen auch Ingenieure, Unternehmer, Wasserexperten, Biologen, Fischer, Politiker, Diplomaten und Industrielle.51 Internationale Kommissionen überwachten den Umbau der Flüsse.52 Fragen des Kanal- und Dammbaus, der Veränderung der Wasserwege durch den Ausbau der Holzwirtschaft, der Eindämmung und der Begradigung im Zuge der Stadtentwicklung rückten auf die Tagesordnung. Die Folgelasten dieser Eingriffe wurden bereits frühzeitig sichtbar. Flussverunreinigungen waren ein zeitgenössisches Thema, so wie die Verschmutzung der Themse, die Charles Dickens (1812–1870) in seinen Romanen Oliver Twist oder Unser gemeinsamer Freund beschrieb.53 Jede Art des menschlichen Eingriffes in Flüsse veränderte auch das Ökosystem und reduzierte die Biodiversität. Aufgrund dieser Ambivalenz zwischen Verbesserungsmission und dadurch hervorgerufenen Schäden wurden die anthropogenen Veränderungen der Flüsse einerseits als Triumph der Ingenieurskunst über die Natur, andererseits aber auch als Zerstörung der Natur wahrgenommen.54 Die ökologische Wende der 1970er Jahren erfasste die Flüsse Europas in zweifacher Weise: Flüsse wurden zum Gegenstand von Umweltschutzkampagnen, wie etwa des Projekts, Lachse wieder im Rhein anzusiedeln. Dadurch änderte sich auch die Wahrnehmung der menschlichen Eingriffe: In den 1980er Jahren sprach die kritische Umweltgeschichtsschreibung von ausgelöschten, zum Schweigen gebrachten und vergewaltigten Flüssen.55
Vor dem Hintergrund der neueren Umweltgeschichte, die in den letzten Jahren das dynamische Interaktionsverhältnis zwischen Mensch und Natur betont, bildete sich ein drittes Narrativ heraus. Werke wie Richard Whites (geb. 1947) Organic Machine56 oder Mark Ciocs Eco-Biography des Flusses Rhein betonen die Interrelation zwischen Flüssen und Gesellschaft. Flüsse werden nun als Räume betrachtet, die in einem dauernden Austauschverhältnis zwischen Natur und Mensch stehen und in diesem Interaktionsverhältnis geformt werden, aber selbst wiederum die menschliche Gesellschaft formen. An die Stelle von Niedergangs- oder Eroberungsgeschichten sind nun Geschichten der Co-Evolution und Adaption getreten.57 Verena Winiwarter (geb. 1961) und Martin Schmid (geb. 1974) überwinden anhand ihrer Langzeituntersuchung der Donau die Trennung zwischen Natur und Kultur durch eine Untersuchung derjenigen Praktiken und Arrangements, die den Fluss und die Stadt Wien wechselseitig über Jahrhunderte geformt hatten.58
Hafenstädte
Die Städte am Fluss übernahmen ähnliche soziokulturelle Funktionen wie Hafenstädte. Hafenstädte, die entlang der Schiffsrouten lagen, waren Knotenpunkte vielfältiger Austauschbeziehungen und Transferprozesse. Seit dem 17. Jahrhundert verdichteten sich gerade in Hafenstädten Prozesse der Staatenbildung und des Seemachtstrebens. Mit Amsterdam und Rotterdam entstanden die ersten Hafenstädte im Norden Europas. Im absolutistischen Frankreich erhielten die Planung und der Bau von Hafenstädten den Charakter einer nationalen Aufgabe. Städte wie Lorient, Rochefort, Brest und Sète waren militärisch wichtige Häfen und bedeutende maritime Zentren. Seit den Zeiten des Merkantilismus waren im Seehandel Hafenstädte mit Küstensiedlungen vernetzt und dienten als Mittler für das Hinterland. Josef W. Konvitz (geb. 1946) bezeichnet Hafenstädte als "metropolitan colonies, recognizably dependent in purpose and fortune upon the French state".59 Häfen hatten im 17. und 18. Jahrhundert einen großen Einfluss auf das Wachstum der europäischen Städte, die in den Atlantikhandel involviert waren.60 Die Städte Liverpool, Bristol, Hull, Cardiff, Newcastle und Manchester verdankten ihren Aufstieg und ihren Charakter der Anbindung an das Meer.61
Im 19. Jahrhundert entwickelten sich die Hafenstädte zu kosmopolitischen Außenposten der europäischen Bourgeoisie. Das hatte Folgen für multiethnische Imperien im östlichen Mittelmeer, wie Österreich-Ungarn oder das Osmanische Reich. Aus Sicht der Forschung werfen kontinentale Hafenstädte neue Perspektiven auf die Geschichte der europäischen Landimperien. Beispiele wie die Stadt Thessaloniki im Osmanischen Reich mögen belegen, dass nationale Integrations- und Staatsbildungsprozesse mit Prozessen der Desintegration von Vielvölkerreichen verbunden waren.62 Hafenstädte als Tore zur außereuropäischen Welt verdeutlichen, dass auch die klassischen Kontinentalimperien wie Österreich-Ungarn vielfältige Bezüge zur See hatten. Triest band Österreich-Ungarn in ein globales Handelsnetzwerk ein, das zwischen Mitteleuropa, Nordafrika, der Kapkolonie, Argentinien, Brasilien, dem Nahen Osten, China und Japan verlief. Hafenstädte schufen nicht nur die Grundlage der globalen Welt, sondern waren auch Stützpunkte eines informellen Imperialismus.63
Am Beispiel von Triest lässt sich zudem erkennen, auf welche Weise die wirtschaftlichen Ambitionen der Akteure (vornehmlich der Händler und Bürokraten) mit einem weltläufigen Selbstbild verknüpft waren:
Bohemian manufactured goods, Viennese capital, and polyglot Habsburg subjects bearing expert knowledge and European civilization would integrate the Levant, East Asia, South Africa, and South America into the greater Austrian economy. (...) The terrestrial empire was, of course, centered on the imperial capital in Vienna … The maritime empire, on the other hand, was championed by the imperial port city of Trieste. Trieste, the Habsburgs' gateway to the world, sat at the center of … international trade … and transoceanic mobility in the late imperial period.64
Über diese Austauschprozesse entstanden zwei Arten von Imperien zu Land und zur See. In sozialer und kultureller Hinsicht bildeten Häfen einen spezifischen Typus von "Stadt" aus, der durch drei Kennzeichen charakterisiert war: In Hafenstädten herrschte ein erhöhtes Risiko für Epidemien, die Bevölkerungsentwicklung war von hohen Geburtenraten und der Abhängigkeit von Migrationsströmen geprägt. Wirtschaftlich dominierte die Seefahrt, wobei sehr viele ungelernte und Gelegenheitsarbeiter in den Hafenstädten beschäftigt waren, die von saisonaler oder zyklischer Arbeitslosigkeit bedroht waren.65 Diese wirtschafts- und sozialhistorischen Faktoren lassen sich durch ein spezifisches kulturelles Flair ergänzen. Bereits im Jahr 1935 findet sich eine Beschreibung von Hafenstädten als kosmopolitische Orte, die neue Arten des Wirtschaftens und des Zusammenlebens hervorbringen:
Port cities function most effectively in movements of peoples and their wares, in fusing ideas, institutions, and cultures distinctive of their hinterlands and markets.… Thus do the port cities of the world assume the cosmopolitan qualities that generally characterize and distinguish them, blending the effects of diverse lands and environments in an alchemy of culture that produces new phases of social and economic activity, new industries as well as ideas, new concepts of high and right living, new ways of progress.66
Diese Interpretation des Phänomens der Stadt am Meer hat sich bis heute erhalten. Hafenstädte gelten in der Forschung als Orte, an denen sich Prozesse der wirtschaftlichen und sozialen Globalisierung mit einem "global imaginary" vermischen, also den Vorstellungen, was die Weltgesellschaft ausmache.67 London, Tokio, New York City, Bombay, Buenos Aires, Amsterdam, Singapur, Hong Kong, Hamburg, New Orleans, Kopenhagen, San Francisco, Shanghai und Los Angeles, fast alle modernen Weltstädte waren früher Hafenstädte.68 Auf Grund dieser vielfältigen Interpretationshorizonte sind Hafenstädte in der Zwischenzeit zum klassischen Untersuchungsgegenstand der Globalgeschichte geworden.
Wasser und Macht
In Die Eroberung der Natur betont David Blackbourn (geb. 1949), dass Machtbeziehungen und Machtphantasien symptomatisch für die Rolle waren, die Wasser in der Geschichte spielte. Das konnte vermeintlich unpolitische Züge annehmen. Wasser diente bereits seit der Antike in Form von Wasserspielen und Springbrunnen der Zurschaustellung von Macht und Luxus.69 Wie jedes Naturgut erschuf und bekräftigte die Nutzung von Wasser Machtverhältnisse oder wertete bestehende um.70 Angefangen bei den Landgewinnungsprojekten Friedrich des Großen, über Flussbegradigungen, die Trockenlegung von Mooren bis hin zu den nationalsozialistischen Infrastrukturplanungen für ein zu eroberndes Osteuropa, alle diese Projekte lassen sich als eine Reihe von "Wasserkriegen"71 analysieren. Nicht nur der Kampf gegen die Natur war das Leitmotiv der Wasser(bau)projekte, sondern auch die gesellschaftlichen Verhältnisse spiegelten sich darin, wenn Gegner und Befürworter im Feld ungleicher Machtverhältnisse aufeinandertrafen. Die Durchsetzung von Wasserprojekten trug die Zeichen offener Gewaltausübung, wenn politischer oder militärischer Zwang zum Mittel der Umgestaltung wurde. Im Lauf des 19. Jahrhunderts übten innerhalb Europas verstärkt Gerichte, Parlamente und Behörden Gewalt in zivilisierter Form aus.
Zusätzlich war die Herrschaft über Wasser an Fragen epistemischer Macht geknüpft und mit modernen Formen des Wissens verbunden, wie Karten, Tabellen, Theorien und den praktischen Fertigkeiten der Wasserbauingenieure. Nicht nur Tiere und Pflanzen verschwanden im Zug der Umgestaltung, auch das lokale Wissen über Flussläufe, ihre Flora und Fauna wurde im Zug der Projekte marginalisiert.
Die Geschichte des Wassers in Europa war jedoch nicht nur von Konflikten, sondern auch von der Zustimmung geprägt, die Politiker, Beamte, Meinungsführer, aber auch die Bevölkerung zusammenschweißte, wenn es um Projekte des Allgemeinwohls, wie die Trinkwasserversorgung, ging. Doch bereits im 19. Jahrhundert mehrten sich Stimmen, die die umweltschädigenden Schattenseiten von Staudämmen, Flussbegradigungen und hydroelektrischen Projekten betonten. Vor allem vier Argumentationsstränge lassen sich ausmachen: Pragmatisch ausgerichtete Gegner befürchteten bereits frühzeitig, dass die Folgen der Eingriffe nicht abzusehen seien, und dass Eingriffe in den Wasserhaushalt der Erde Naturkatastrophen auslösen könnten. Die zweite Gruppe der Kritiker betonte vor allem ästhetische Belange und verwies darauf, dass die Schönheit der Natur unter Wasserkraftwerken, Staudämmen, und den Kanalbauten leide. Als dritter Strang ließen sich religiösen Gründe gegen die menschliche Hybris, die Schöpfung verbessern zu wollen, anführen. Zuletzt mehrten sich Stimmen gegen die Veränderung von Ökosystemen und die Verschmutzung von Gewässern sowie den dadurch ausgelösten Rückgang der Biodiversität.72 Diese Stimmen finden sich bis heute in umweltpolitischen Debatten. Die Geschichte des Wassers erzählt somit auch eine Geschichte der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse: "An der Art und Weise, wie die … Wasserwege umgeleitet wurden, zeigt sich deutlich, wie die Linien der Macht verliefen. Die Beherrschung der Natur durch den Menschen verrät uns viel vom Wesen der menschlichen Herrschaft."73