Entstehung des Briand-Plans
Nach der wirtschaftlichen Stabilisierung Österreichs, Deutschlands, Polens und Ungarns in den Jahren 1922 bis 1924 und den Locarno-Verträgen vom Oktober 1925 avancierte der Genfer Völkerbund 1927 mit der Internationalen Weltwirtschaftskonferenz zur diplomatischen Arena für die durch die Paneuropa-Union, die Union douanière européenne (UDE) und andere Europa-Netzwerke artikulierten Konzeptionen für eine bessere Organisation des Kontinents.1 Vor dem Hintergrund der Konkurrenz durch die amerikanische Wirtschaft, die auf einem großen Binnenmarkt Massenartikel produzierte und damit auf den Weltmarkt drängte, regte der Leiter der Wirtschaftssektion des Völkerbundsekretariats, Sir Arthur Salter (1881–1975)[], im August 1925 vor der Völkerbundversammlung eine internationale Wirtschaftskonferenz an. Diese sollte mit Hilfe von Experten und Interessenvertretern einen Normenkodex für die Handelspolitik erarbeiten und in der Öffentlichkeit ein günstiges Klima für die weitere Wirtschaftsverständigung vor allem im zollpolitisch zersplitterten Europa herstellen.2 Im Vorfeld der Konferenz erstellten Ministerialbeamte sowie Fachleute aus der Wirtschaft und internationalen Organisationen Gutachten über die Vereinheitlichung von Zollnomenklaturen, Dumping, Niederlassungsfreiheit, Kartelle, Meistbegünstigung, Zollunion und ähnliche Fragen, die als Vorarbeiten für die Errichtung eines einheitlichen europäischen Wirtschaftsraums dienen konnten.3
Die Genfer Internationale Wirtschaftskonferenz 1927
Auf deutscher Seite erarbeiteten das Auswärtige Amt und das Reichswirtschaftsministerium im Hinblick auf die Genfer Wirtschaftskonferenz Pläne für eine stufenweise zu errichtende europäische Zollunion, befürworteten aber auch eine weltweite Handelsliberalisierung.4 Der Vertreter des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), Wilhelm Eggert (1880–1938), schlug auf der Wirtschaftskonferenz eine Resolution zugunsten einer europäischen Zollunion vor und wurde dabei von dem belgischen Gewerkschaftsführer Corneille Mertens (1880–1951) unterstützt. Der französische Regierungsvertreter Daniel Serruys (1875–1950) und der britische Delegierte sowie Herausgeber der einflussreichen Zeitschrift The Economist Walter Layton (1884-1966) lehnten die Resolution jedoch als zu "speziell" und mit dem Meistbegünstigungsprinzip5 unvereinbar ab.6 Das Problem der Universalität des Völkerbunds spielte hier mit hinein. Anstelle einer Lösung, die auf Europa beschränkt blieb, empfahl die Weltwirtschaftskonferenz allgemeine multilaterale Konferenzen zur kollektiven Handelsliberalisierung.7 Die Hauptresolution der Konferenz forderte dementsprechend den Abbau von Zöllen und sonstigen Handelsbeschränkungen "nicht allein für Europa, sondern die ganze Welt", wie Sir Walter Runciman (1870–1949), Präsident der Internationalen Industrie- und Handelskammer, betonte.8 Die am 16. Juni 1927 vom amtierenden Präsidenten des Völkerbundrats, dem deutschen Außenminister Gustav Stresemann (1878–1929)[], mit großem persönlichen Einsatz geforderte zügige Umsetzung der Resolutionen der Konferenz – einschließlich eines Programms für stufenweise Zollreduzierung und Harmonisierung der Zollnomenklaturen – wurde dann jedoch insbesondere vom britischen Außenminister Austen Chamberlain (1869–1940) ausgebremst. Nur sein belgischer Amtskollege Émile Vandervelde (1866–1938) unterstützte Stresemanns Vorschläge, die auch die Stärkung der Wirtschaftsorganisation des Völkerbunds umfassten, in vollem Umfang. Der französische Völkerbundsdelegierte Louis Loucheur (1872–1931) nahm zwischen diesen beiden Positionen eine vermittelnde Stellung ein.9
Drei europäische Visionen auf der Versammlung des Völkerbunds 1929: Hymans, Briand, Stresemann
Die Frage einer wirtschaftlichen Einigung Europas war damit jedoch noch nicht vom Tisch. Sie kam wieder auf die Tagesordnung, als der französische Premier- und Außenminister Aristide Briand (1862–1932)[] am 5. September 1929 auf der Völkerbundsversammlung die Errichtung eines "föderativen Bandes" unter den europäischen Nationen vorschlug. Die Ursprünge des Briand-Plans sind atmosphärisch teilweise in der Lobby-Arbeit der UDE sowie ihren engen Verbindungen zum französischen Außenministerium,10 teilweise in der deutsch-französischen Annäherung seit 1925 und teilweise im sicherheits- und wirtschaftspolitischen Umfeld zu suchen.11 So spitzte sich die schlechte Wirtschaftslage zu, und die auf den Genfer Wirtschaftskonferenzen 1927 und 1928 lancierten Liberalisierungsbemühungen stießen u.a. bei den ostmitteleuropäischen Agrarstaaten auf erhebliche Widerstände. Nach dem US-amerikanischen Börsenkrach im Frühjahr 1929 wurde ein den Hochprotektionismus verschärfender Zolltarif vorbereitet. Außerdem veränderte sich die Sicherheitslage für Frankreich durch die auf der Haager Konferenz (6. bis 31. August 1929) vereinbarte vorzeitige Räumung der Besatzungszonen im Rheinland (Koblenz, Mainz). Frankreich demonstrierte damit seinen guten Willen, verlor aber auch seine letzten Sicherheitsgarantien gegenüber Deutschland. Vor diesem Hintergrund kam es zu einer weiteren Annäherung zwischen Briand und Stresemann während eines Regierungsbesuchs und des Treffens des Völkerbundrats im Sommer 1929, bei dem u.a. der belgische Außenminister Paul Hymans (1865–1941)[] in die Pläne Briands eingeweiht wurde. Nicht zu unterschätzen sind auch die Resolution von Seiten der Internationalen Industrie- und Handelskammer im Juni und die positive Stellungsnahme Salters im August 1929, die sich beide für einen europäischen Freihandelsraum aussprachen: Die Zeit für eine innovative Initiative zur Beförderung der europäischen Wirtschaftszusammenarbeit schien gekommen.
Angesichts von Briands Initiative und der Vorbereitung des neuen, hochprotektionistischen Smoot-Hawley-Zolltarifs in den USA, der die von Europa und vom Völkerbund ausgehenden Liberalisierungsbestrebungen zu untergraben drohte, entwickelte Salter für die Session des Völkerbunds im September 1929 Vorschläge für die Errichtung einer europäischen Freihandelszone.12 Das weltwirtschaftliche Hauptproblem sah er in der zollpolitischen Zersplitterung Europas,13 das auf dem Weltmarkt mit amerikanischen Unternehmen konkurrierte, die auf einem in Größe und Kaufkraft mit Europa vergleichbarem Binnenmarkt operierten und mit den Vorteilen der Massenproduktion inzwischen einen viel höheren Lebensstandard erzielten.14 Ein Hindernis bestand darin, dass die meisten europäischen Staaten mit den USA Meistbegünstigungsverträge abgeschlossen hatten und aus diesem völkerrechtlichen Grund keine exklusiven Vergünstigungen unter sich vereinbaren durften. Salter argumentierte aber – übrigens entgegen der Meinung der britischen Regierung –, das Meistbegünstigungsprinzip sei faktisch entwertet, da die USA Hochprotektionismus betreiben würden und daher von einer Begünstigung eigentlich nicht mehr die Rede sein könne.15 In dieser Situation müsse es möglich sein, dass die Europäer untereinander Sondervereinbarungen träfen, um den notwendigen Zollabbau, wenn schon nicht weltweit, dann doch wenigstens in Europa durchzusetzen.
Auf der Völkerbundtagung eröffnete Hymans am 5. September 1929 im Hinblick auf die bereits erwartete Initiative Briands die Europa-Debatte mit einem bewegenden Plädoyer für die Errichtung eines europäischen Zollverbunds.16 Trotz des kühnen Plans für wirtschaftliche Abrüstung, den die Weltwirtschaftskonferenz entworfen hatte, sei, so Hymans, die europäische Zollkarte immer noch von hohen Gebirgsketten durchzogen.17 Hymans rief die Staaten auf, ein Abkommen zu schließen, in dem sie sich verpflichteten, die Zölle nicht zu erhöhen, um auf dieser vorläufigen Basis das von der Weltwirtschaftskonferenz angeregte Programm einer stufenweisen Zollreduktion zu verwirklichen. Da die Entwicklungsunterschiede zwischen den Industrie- und Agrarstaaten jede gemeinsame Politik erschwerten, bliebe nur der Weg, Staatengruppen zu bilden, die bereit seien, die Politik der Handelsliberalisierung untereinander fortzuführen.18 Hymans Rede lief auf eine Zusammenfassung von Staaten zu einer Sonder- bzw. Freihandelszone oder Zollunion hinaus, die sich gegenseitige Zugeständnisse einräumten, ohne jene Zugeständnisse an die Staaten weiterzugeben, die sich nicht an die gleichen Regeln halten wollten. Seine Worte waren das deutlichste Bekenntnis zu einer wirtschaftlichen Einigung Europas bzw. von Teilen Europas, das auf der Tagung zu hören war:
La politique qui je viens d'esquisser pourrait amener, naturellement, un groupement d'États arrivés à un degré presque semblable au point de vue économique, un groupement d'États rapprochés par une solidarité naturelle et qui, en même temps, représentaient une unité géographique, à libérer leurs échanges des entraves qui en contrarient le développement.19
Briand, der als Außen- und Premierminister in einer Person etwas freier als sonst agieren konnte, nahm die Idee der Solidarität zwischen einzelnen Nationen auf und fügte die Aufsehen erregende Idee hinzu, dass diese Nationen durch ein "föderatives Band" miteinander verbunden sein sollten. Das war das große Wort, auf das alle gewartet hatten, die in Briands Plan eingeweiht waren. Dazu, wie er sich die europäische Föderation vorstellte, sagte Briand allerdings wenig. Er stellte lediglich klar, dass die Souveränität der Staaten unangetastet bleiben sollte, was den Föderationsgedanken bereits wieder aushöhlte. Tatsächlich bildete Briands Rede einen gewissen Kontrast zu dem Beitrag Hymans, da in ihr sicherheitspolitische Fragen dominierten. Die Völkerbunddebatte, während derer Hymans und Briand sprachen, stand im Zeichen der Harmonisierung des Völkerbundpakts mit dem Kellogg-Briand-Pakt von 1928. Es ging um den eventuellen "rechtlichen Ausbau des Völkerbundsystems der Friedenssicherung und der friedlichen Streitschlichtung durch die Einfügung einer Sanktionspflicht gegen Aggressoren".20 Vor dem Hintergrund der im Sommer 1929 auf der Haager Konferenz vereinbarten vorzeitigen Räumung des Rheinlands suchte Frankreich nach neuen Sicherheitsgarantien gegenüber Deutschland.21 Der Völkerbund müsse sein Sicherheitssystem und die Beistandspflicht rechtlich ausbauen.22 Briand sprach die Wirtschaftsverständigung nur kurz an, und sein Vokabular blieb auch hier der Sicherheitspolitik verhaftet. Er äußerte sich weder zu der von Hymans vorgeschlagenen Reduzierung der Zollgrenzen noch zur Schaffung eines europäischen Markts noch zum Gedanken eines vorläufigen Zollfrieden. Immerhin ließ sein Hinweis "l'association agira surtout dans le domaine économique: c'est la question la plus pressante"23 Interpretationsspielraum. Briand versuchte also, unter dem Deckmantel einer europäischen Föderation das Sicherheitssystem als solches zu festigen.24 Als Konzession stellte er, ohne allerdings konkret zu werden, eine europäische Wirtschaftsverständigung in Aussicht.25
Stresemann hob in seiner letzten Rede vor dem Völkerbund am 9. September zunächst die Meinungsverschiedenheiten zwischen Briand und ihm über die Friedenssicherung in Europa hervor: "On ne peut point prévenir la guerre en préparant la guerre contre la guerre, mais seulement en supprimant les causes de la guerre."26 Man müsse praktische Methoden der Zusammenarbeit entwickeln, die friedliche Streitschlichtung perfektionieren, die Abrüstung schrittweise vorantreiben und Kriege verhindern. Eingehend behandelte er in diesem Kontext das Minderheitenproblem, das vom Völkerbund aufmerksamer zu verfolgen sei. Hiermit deutete er auch eine intendierte Stoßrichtung seiner zukünftigen Völkerbundpolitik an, deren Durchführung ihm jedoch aufgrund seines frühen Todes im Oktober 1929 versagt blieb. Was den Plan der Schaffung eines föderalen Verbunds anging, griff Stresemann Hymans Konzeption auf und zeichnete das Bild einer Rationalisierung der europäischen Wirtschaftsordnung durch die Abschaffung der zollpolitischen Zersplitterung und die Vereinheitlichung des Geldwesens in einer Art vereintem Europa. Wie Hymans räumte er der Frage der europäischen Wirtschaftsordnung einen größeren Raum ein als Briand. Jede politische oder wirtschaftliche Barriere gegenüber den Vereinigten Staaten oder anderen Erdteilen lehnte er von vornherein ab.
Stresemann verglich Europa mit Italien vor seiner Einigung und dem Deutschen Bund vor der Schaffung des Zollvereins. Die aus nationalem Prestige geborenen nationalen Währungen und sonstige Maßeinheiten bedeuteten für den europäischen Kontinent einen "außerordentlichen Nachteil", gegen den das einzige Rezept eine "Rationalisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse" sei, die übrigens "nicht nur den europäischen Konkurrenten, sondern auch den Lieferanten anderer Erdteile nützen würde".27 Die deutsche Regierung sei jederzeit bereit zu Verhandlungen, die der "Vereinfachung und dem Austausch von Gütern dienen". Allerdings deutete der Reichsaußenminister im gleichen Atemzug an, dass er auch die Einschränkung des industriellen Wettbewerbs zu den möglichen Methoden der Annäherung zählte, was als Konzession gegenüber den internationalen Kartellideen Frankreichs und Teilen der deutschen Wirtschaft gelesen werden muss.28 Der wirtschaftliche Teil seiner Rede endete so mit einem Missklang, der aber in den Ohren nur weniger Zeitgenossen auch als ein solcher empfunden wurde. Hauptinteresse Stresemanns blieb es, Deutschland den Zugang zu internationalen Märkten zu erleichtern sowie den internationalen Warenaustausch insgesamt zu befördern. Seine letzte Rede vor dem Völkerbund war nicht nur sein europapolitisches Vermächtnis, sondern muss auch im innenpolitischen Kontext gesehen werden: Deutschland wurde von einer SPD-geführten Koalition regiert, und diese Partei bekannte sich 1929 auf dem Magdeburger Parteitag zu einer aus ihren Augen "'zwingend gewordene[n] europäische[n] Wirtschaftseinheit". Bei längerer Dauer des Kabinetts unter Reichskanzler Hermann Müller (1876–1931) hätte dies das Gebiet größerer Initiativen werden sollen".29
Beim Mittagessen der europäischen Delegationsvorsitzenden, zu dem Briand am 9. September geladen hatte, wurde die französische Europa-Initiative informell besprochen. Briand machte deutlich, dass er durchaus an wirtschaftliche und soziale Fragen als mögliche Arbeitsfelder der Europaorganisation dachte, doch auch hier wies er darauf hin, dass "l'on ne pourra sans doute pas exclure toute pensée de solidarité politique".30 Mehrere Delegationen bemängelten das wenig Konkrete an Briands Vorschlag und baten daher um eine schriftliche Ausarbeitung.31 Die Briand-Rede, die eigentlich kein Plan war, sondern nur eine Leitidee andeutete, beflügelte 1929/1930 nichtsdestoweniger die Publizisten. Die Vielzahl der Veröffentlichungen32 zeigt beispielhaft, dass die Europa-Idee den Eliten Hoffnung auf eine bessere Zukunft mit höherem Wohlstand und ohne Krieg gab.
Das französische Memorandum für eine europäische Union
Das nach Vorarbeiten des Außenministeriums im Mai 1930 von der französischen Regierung, inzwischen mit André Tardieu (1876–1945) als Premier- und Briand als Außenminister, allen europäischen Regierungen vorgelegte Memorandum für eine europäische Union schlug eine Organstruktur vor, die vergleichbar mit der des Völkerbunds war: eine europäische Regierungskonferenz analog zur jährlichen Versammlung des Völkerbunds, ein politischer Exekutivausschuss bestehend aus einer reduzierten Anzahl von Regierungsvertretern und ein ständiges Sekretariat. Wesentlich innovativer und vielversprechender war das Arbeitsprogramm, das den Ausbau der europäischen Infrastruktur, Zusammenarbeit auf den Gebieten des Arbeitsschutzes, der Gesundheit, der geistigen Kooperation und vor allem den Aufbau eines solidarischen gemeinsamen Marktes umfasste. Ziel des gemeinsamen Marktes sei es, den Lebensstandard der Europäer auf dem Territorium der europäischen Gemeinschaft auf das höchstmögliche Niveau zu heben. Die Formulierung des Briand-Plans über den gemeinsamen Markt und die Hebung des Lebensstandards wurden 1957 im Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft fast wortwörtlich übernommen.
Das Briand-Memorandum trug jedoch auch französischen Interessen Rechnung. Die Hauptforderung, die Frankreich an den Plan knüpfte, war die Unterordnung der wirtschaftlichen unter die politischen Probleme. Dieser Grundgedanke stand im Zusammenhang mit dem Kernbegriff des politischen Teils des Memorandums, der "kollektiven Sicherheit": Frankreich versuchte, mit dem Gedanken des "föderativen Bands" einen europäischen Beistandspakt zu errichten, um die Versailler Friedensordnung dauerhaft zu festigen. Das bedeutete, dass eine wirtschaftliche Zusammenarbeit erst dann aufgenommen würde, wenn Deutschland auf seine bekannten Revisionsforderungen bezüglich der Ostgrenzen endgültig verzichten würde und die übrigen Staaten einem solchen allgemeinen Sicherheitspakt zustimmten.
Stresemann stand diesem im Kern bereits in der Briand-Rede enthaltenen Grundgedanken im September 1929 zwar nicht ablehnend gegenüber, hielt ihn aber für verfrüht:33 Die deutsche Öffentlichkeit und die Mehrheit der politischen Klasse waren noch nicht bereit, die Ostgrenze mit Polen als unveränderlich anzuerkennen. Das Briand-Memorandum vom Mai 1930 jedoch erlebte der im Oktober 1929 verstorbene Reichsaußenminister nicht mehr. Die deutsche Antwort oblag der im März ernannten Minderheitsregierung unter Führung von Reichskanzler Heinrich Brüning (1885–1970) und dem schneidigen, aber takt- und glücklos agierenden Nachfolger Stresemanns, Julius Curtius (1877–1948).34 Diese beiden Personen trugen die Verantwortung für die Ablehnung des Briand-Plans. Zwar ließ die Reichsregierung ihre Bereitschaft erkennen, wirtschaftlich enger zusammenzuarbeiten, doch lehnte sie es ab, politische Sicherheiten zu geben. Damit war der französische Vorschlag, die europäische Wirtschaftszusammenarbeit zu vertiefen, sofern Deutschland Konzessionen im sicherheitspolitischen Bereich anbot, gescheitert.
Auch die britische Regierung lehnte einen neuen Sicherheitspakt ab und versuchte stattdessen, den Fokus auf die Zusammenarbeit auf wirtschaftlicher Ebene zu verlagern. Sie betonte aber immerhin die Notwendigkeit engerer europäischer Zusammenarbeit. Sie lenkte die Diskussion dabei nicht auf einen gemeinsamen europäischen Markt, der ihr aufgrund ihrer außereuropäischen Commonwealth-Interessen zu weit ging, sondern auf einen "Zollfrieden", der jedoch ebenfalls scheiterte.35 Andere Regierungen, insbesondere die osteuropäischen, die an weiteren Sicherheitsgarantien interessiert waren, betonten hingegen den Zusammenhang zwischen Sicherheits- und Wirtschaftsfragen. Die Antworten der meisten europäischen Regierungen auf den Briand-Plan enthielten drei wiederkehrende Hauptpunkte: 1. Die Zusammenarbeit sollte nicht auf Kosten des Völkerbunds gehen, sondern in engem Zusammenhang mit diesem stehen. 2. Die Zusammenarbeit müsse die Souveränität der einzelnen Staaten respektieren, dürfe also keinen bundesstaatlichen, sondern nur staatenbündischen Charakter haben. 3. Eine Europäische Union dürfe nicht gegen andere Kontinente gerichtet sein.
Auf der elften Vollversammlung des Völkerbunds im September 1930 trat die Uneinigkeit bezüglich der Priorität politischer oder wirtschaftlicher Zusammenarbeit verstärkt hervor. Der britische Völkerbunddelegierte Arthur Henderson (1863–1935) stellte klar, dass die sicherheitspolitischen Fragen im Kompetenzbereich des Völkerbunds bleiben sollten, und bemängelte die Abwesenheit der Abrüstungsfrage im Briand-Memorandum, die von britischer Seite als wesentlicher Schritt zu einer politischen Entspannung gesehen wurde. Da insbesondere die von der Wirtschaftskrise bereits voll betroffenen Staaten wie Ungarn, Österreich und Deutschland sich auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit konzentrieren wollten, und die italienische Regierung sogar dem Vorhaben insgesamt skeptisch gegenüberstand, wurde der Briand-Plan auf britischen und griechischen Vorschlag hin einem Studienausschuss übergeben, zu dessen Präsident Briand auf der ersten Sitzung, die noch im September 1930 stattfand, ernannt wurde.36
Das akademische und mediale Echo zum Briand-Memorandum reichte von enthusiastischer Aufnahme bis zu eher ausweichenden Meinungen, doch Skepsis war insgesamt recht deutlich zu vernehmen. Der erste Kommentar, der am 20. Mai 1930 im Journal de Genève erschien, in dem sich das diplomatische Geschehen der Zwischenkriegszeit wie in kaum einer anderen Tageszeitung widerspiegelt, lobt, kurz nach dessen Übergabe an die schweizerische Regierung, den Wagemut und Weitblick des Memorandums. Doch die Widersprüche zwischen Föderationsgedanken und dem Festhalten an der uneingeschränkten Souveränität, die Gefahr einer Schwächung des Völkerbunds durch eine europäische Parallelorganisation sowie der Kompetenzmangel der vorgeschlagenen Union wurden bereits schonungslos offengelegt.37 Der Völkerbund sei nicht durch seine Universalität gehemmt, sondern vor allem durch innereuropäische Streitigkeiten und durch die Abwesenheit der USA als Vermittler, so das Journal de Genève. Die wirtschaftliche Interdependenz sei global und beschränke sich nicht auf Europa. Was Europa brauche, sei nicht eine neue Organisation, sondern eine gemeinsame Politik. Hier könne der Briand-Plan den entscheidenden Impuls geben. Am 30. Mai hieß es in einem weiteren Beitrag aus schweizerischer Perspektive, Briands Gedanke einer europäischen Solidarität sei zu begrüßen.38 Auch in Schweden wurde das Memorandum nahezu uneingeschränkt positiv aufgenommen.39 In vielen von der Weltwirtschaftskrise geschüttelten Ländern war die Aufnahme hingegen zurückhaltend. Der italienische Diktator Benito Mussolini (1883–1945) etwa setzte in einer aggressiv-nationalistischen Rede mit der Forderung nach neuen Kolonien für sein großitalienisches Reich einen deutlichen Kontrapunkt.40
Vertreter aus dem Umfeld des Völkerbunds standen der Initiative insgesamt eher skeptisch gegenüber. Auf einer 1930 stattfindenden Genfer Expertentagung äußerten sich der schweizerische Historiker, Publizist und ehemalige Mitarbeiter der Internationalen Arbeitsorganisation William Louis Martin (1888–1934), der britische Professor und Leiter des Instituts für geistige Zusammenarbeit in Paris Alfred Zimmern (1879–1957), der Politikwissenschaftler und Begründer der Theorie des Funktionalismus in den internationalen Beziehungen David Mitrany (1888–1975) sowie der ehemalige Völkerbundmitarbeiter William Rappard (1883–1958) – allesamt politische Gelehrte, die sich als Unterstützer des Völkerbunds einen Namen gemacht hatten – eher kritisch: Einige fürchteten eine Schwächung des Völkerbunds, andere betrachteten den Plan als einen konservativen Rückzug Europas auf sich selbst.41
Die Europabefürworter freilich unterstützten das Vorhaben, so der Paneuropa-Kongress, der Ende Mai in Berlin zusammenkam, oder die am 5. Juni 1930 in Genf tagende Föderation der nationalen Komitées für europäische Verständigung. Dort meinte der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Rudolf Breitscheid (1874–1944), die europäische Union werde sich als eine notwendige Konsequenz aus dem europäischen Bewußtsein durchsetzen.42 Doch dieses Bewußtsein blieb 1930 ganz offensichtlich weit hinter dem dominierenden Nationalismus zurück.
Vorschläge des Studienausschusses für die europäische Union
Die wirtschaftlichen Probleme standen angesichts der aktuellen Krise von Anfang an im Vordergrund der Verhandlungen des Studienausschusses für die europäische Union, der allerdings keinerlei Entscheidungskompetenzen hatte, sondern lediglich den Auftrag, auf der nächsten Versammlung des Völkerbunds einen Bericht vorzulegen. Er stützte sich dabei auf zahlreiche Gutachten des Völkerbundsekretariats sowie externer Rechts- und Wirtschaftsexperten, die unter anderem einen besseren Kapitalfluss zur Stützung des Konsums, freiere, grenzüberschreitende Arbeitsmärkte, bessere Arbeitsvermittlungsdienste und Fortbildungsmaßnahmen für Arbeitslose forderten.43 Hymans und der niederländische Delegierte und Parlamentspräsident Hendrik Colijn (1869–1944) forderten auf der zweiten Sitzung im Januar 1931, man müsse über das Programm eines "Zollfriedens" hinausgehen und einen großen europäischen Markt bzw. Binnenmarkt ohne Zölle oder wenigstens mit systematisch und einheitlich gesenkten Zöllen errichten, um die europäische Wirtschaftskrise zu überwinden.44 In diesem Rahmen, so Hymans, könne das Absatzproblem der osteuropäischen Agrarstaaten und das der Handelsbeschränkungen zugleich bewältigt werden.45 Auf Wunsch der ostmitteleuropäischen Agrarstaaten wurde eine Agrarkonferenz anvisiert. Diese fand dann im September 1932 statt und empfahl die Gründung einer internationalen Kreditbank für die Landwirtschaft, die allerdings nie realisiert wurde.
Denn während die Wirtschaftskrise sich weiter verschärfte, waren die Großmächte zunehmend mit ihren eigenen Interessen beschäftigt. Schon die Verhandlungen auf den Zollfriedenskonferenzen hatten sich 1930 angesichts der Lage insbesondere in der Landwirtschaft und der sich vom Gedanken der Wirtschaftsintegration zusehends distanzierenden französischen Regierung als äußerst schwierig erwiesen. Großbritannien widersetzte sich grundsätzlich der Gewährung von regionalen Zollerleichterungen für die ostmitteleuropäischen Agrarstaaten mit dem juristischen Argument, dies verstoße gegen das Meistbegünstigungsprinzip. Die Schwäche der ostmitteleuropäischen Staaten als Chance witternd, begann das Deutsche Reich eine neue Hegemonialpolitik aufzubauen. Um Fortschritte auf dem Weg zu einer allgemeinen Zollunion zu verhindern, beantragte Reichsaußenminister Curtius bereits auf der Sitzung des Studienausschusses im Januar 1931, Russland und die Türkei hinzuzuziehen, was eine Einigung nur erschweren konnte.46 Darüberhinaus rechtfertigte er den massiven deutschen Agrarprotektionismus, der die Lage in Ostmitteleuropa verschlimmerte.47 Die Regierungen der kleineren Handelsstaaten, mit denen das Reich bis zum Februar 1930 in den Bemühungen um eine Handelsliberalisierung noch weitgehend konform gegangen war, wurden von Curtius im Stich gelassen. Die deutsche Regierung zielte nunmehr darauf ab, für einzelne Waren bilateral und regional Präferenzzölle abzuschließen, anstatt sich an einem großen Binnenmarkt zu beteiligen.48 Bei derartigen Verhandlungen würde das Reich seine wirtschaftliche auch in politische Macht umsetzen können.49 Mit seiner Politik bereitete Curtius das Terrain für das gleichzeitig geheim ausgehandelte deutsch-österreichische Zollunionsprojekt,50 das gegen die Friedensverträge von Versailles und St. Germain verstieß, und das Projekt einer deutschen Hegemonie im Donau- und Balkanraum. Für eine europäische "préference intégrale, je veux dire l'union douanière", stand die Reichsregierung nicht mehr zur Verfügung.51
Die Sitzungen des Studienausschusses im Mai und September 1931 waren dann vom Streit zwischen Frankreich und Deutschland um die am 26. März öffentlich angekündigte deutsch-österreichische Zollunion überschattet, mit der Curtius Stresemanns Verständigungspolitik den endgültigen Todesstoß versetzte. Der Zeitpunkt der Initiative war taktisch klug gewählt, da kurz zuvor das Zollfriedensabkommen gescheitert war. Das Zollunionsprojekt wurde vom Haager Gerichtshof mit knapper Mehrheit als mit den Friedensverträgen unvereinbar abgelehnt.
Nach dem Tode seines Vorsitzenden Briand im März 1932 löste sich der Studienausschuss im September 1932 auf, nachdem er den Misserfolg der meisten seiner Initiativen feststellen musste. Anstatt durch einen europäischen Binnenmarkt zu einer Gesundung der europäischen Wirtschaft beizutragen, wurde die Wirtschaftskrise durch nationalistische, unkoordinierte und destruktive Wirtschaftspolitiken deutlich verschlimmert.
Fazit
Lag das Scheitern des Briand-Plans daran, dass die französische Regierung zu spät zu einer konstruktiven Europa-Politik fand? Oder daran, dass die Wirtschaftskrise zu früh ausbrach? Man wird eher sagen müssen, dass die europäische Bewegung und damit auch der Briand-Plan an den nach 1919 weiter bestehenden und sich im Zuge der Wirtschaftskrise noch verhärtenden nationalistischen Mentalitäten der Großmächte gescheitert ist. Die deutsche Regierung trug daran einen großen Anteil. Denn das französische Angebot, eine zwar nur vage, doch immerhin in Aussicht gestellte wirtschaftliche Verständigung gegen neue sicherheitspolitische Garantien einzutauschen, hätte einen Rahmen für die dringend notwendige Stabilisierung und Fortentwicklung Europas geboten. Indem die Regierung unter Reichskanzler Brüning dieses Angebot und die damit verbundenen Chancen ausschlug, verschlimmerte sie die Wirtschaftskrise auch und gerade für die Deutschen. Großbritannien, Italien, die USA und zahlreiche osteuropäische Agrarstaaten standen dem Briand-Plan ebenfalls skeptisch oder offen feindlich gegenüber. Auch die ungarische Regierung lehnte den Plan ab, und mit der polnischen Regierung war 1930/1931 jede Form außenwirtschaftlicher Liberalisierung nicht umsetzbar.52
Trotz seines Scheiterns brachte der Briand-Plan wichtige, von der transnational vernetzten europäischen Zivilgesellschaft vorbereitete Ideen in das Forum des Völkerbunds, wo sie erstmals auf politischer Ebene diskutiert und zu politischen Leitideen weiterentwickelt wurden, wie die Zollunion und der Binnenmarkt als Alternative zur Zersplitterung der europäischen Wirtschaftsräume, sogar eine Währungsunion als Fernziel. Mit diesen Leitideen operierte die europäische Politik nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich souveräner, doch die Europabewegung zwischen den Kriegen hatte sie erstmals als gangbaren Weg identifiziert und programmatisch ausgearbeitet. Wie Joseph Barthélemy (1874–1945), Professor der Rechte an der Sorbonne, auf dem Paneuropa-Kongress in Berlin sagte: "Peut-être ne verrons–nous pas le grand jour … Nous aurons la gloire de l'avoir préparé."53 Dies gilt gewiss in besonderem Maße für Briand.