Predigt als Kommunikation
Bereits die Verbreitung der reformatorischen Erkenntnisse erfolgte durch Flugblätter und Flugschriften sowie die Predigt. Von den Kanzeln wurde Meinungsbildung betrieben: Ohne Predigt kein Erfolg der Reformation. Den Predigten kam in der Frühen Neuzeit auf der Ebene der Kommunikation die Funktion eines Massenmediums zu.1 Die Predigt wandte sich an die ganze Gemeinde: an alle Stände, an Leseunkundige wie Lesekundige, an Männer, Frauen und (Schul-)Kinder. Sie verband – so Tobias Wagner (1598–1680) – "grosse vnd kleine/ Reiche vnd Arme ohn allen Respect …".2 Die in den einzelnen Territorien entstandenen Kirchenordnungen stärkten den Einfluss der Predigt, weil sie den Besuch des Gottesdienstes und damit das Hören der Predigt verbindlich vorschrieben; Versäumnisse wurden von obrigkeitlicher Seite sanktioniert.3 Die katholische Kirche richtete sich in ihren Predigten ebenfalls an alle Gläubigen. Der Kapuzinerpater Amandus von Graz (1637–1700) schrieb über seine Kanzeltätigkeit in der Steiermark: "wo ich allerley Stands-Persohnen/ von höchern/ und nidern Adel/ von Obrigkeiten/ Räthen/ und Beambten/ bey unterschidlichen Gerichts-Stellen/ von der Weltlichen-Geistlichkeit/ und Studenten/ von Burgern/ Verheyrath/ Ledigen/ Handwerck- von Dienst- und Bauers-Leuthen ... zu Zuhörern gehabt."4 In allen Konfessionen bildete der Kirchgang mit dem Hören der Predigt einen festen Bestandteil des sozialen Lebens.5
Postillen im Kommunikationsprozess
Diese Stellung der Predigt war jedoch nicht grundsätzlich neu. Bereits im späten Mittelalter wurden in durchaus größerer Zahl deutsche Predigten gehalten.6 Persönlichkeiten wie der Straßburger Münsterprediger Johannes Geiler von Kaysersberg (1445–1510)7 hatten großen Zulauf. Von ihm stammt eine posthum von Johannes Pauli (ca. 1455–1530/1533) herausgegebene und mit Holzschnitten illustrierte Postille zu den Evangelien (Evangelibuch), die 1515 in Straßburg veröffentlicht wurde;8 1522 erschien ein zweiter Druck, der jedoch nicht wesentlich von dem von 1515 abwich.9
Einen Aufschwung erfuhr diese Quellengattung aber zweifellos durch die Reformation. Maßstäbe setzte Martin Luther (1483–1546) mit seiner Kirchenpostille (1522)10 und mit seiner Hauspostille (1544).11 Dass Postillen – u.a. von Luther, Johann Spangenberg (1484–1550)[], und Johannes Brenz (1499–1570) – ihrerseits als Quellenbasis für weitere Postillen dienen konnten, zeigt exemplarisch die erste bisher bekannte anonyme Predigtsammlung aus Litauen.12 Diese Handschrift (auch: Wolfenbütteler Postille)13 der evangelischen Postille Auslegung der Evangelien durch das ganze Jahr stammt aus dem Jahr 1573 und umfasst insgesamt 295 Folioblätter.14
Die meisten Predigten sind aber nicht handschriftlich, sondern gedruckt überliefert. Dabei musste die gedruckte Predigt nicht unbedingt mit dem mündlich vorgetragenen Predigttext identisch sein; Umarbeitungen – auch um der Zensur zu entgehen – kamen durchaus vor.15 Predigten konnten in Einzeldrucken publiziert oder zu ganzen Sammlungen vereinigt werden. Gerade durch diese Sammelwerke erreichten die Predigten einerseits einen den mündlichen Vortrag ergänzenden, weitaus höheren Verbreitungs- und Wirkungsgrad; andererseits konnten sie in der Druckfassung als eine Art Handbuch zur Predigtvorbereitung dienen.16 Die Nachfrage nach Predigtvorlagen war groß, und zu fast jeder Frankfurter Messe erschien eine (lutherische) Postille.17
Johann Heinrich Zedler (1706–1751) definierte in seinem Großen, vollständigen Universallexikon aller Wissenschaften und Künste ganz allgemein: "Postilla heisset eine gedruckte Sammlung von Predigten über die Evangelia, Episteln, Passionstext, Catechismus etc."18
In einem engeren Sinn umfassten Postillen – anders als sachthematische Predigtsammlungen (z.B. Erziehungs-, Türken- oder Kirchweihpredigten) – jene Predigten, die nach der Perikopenordnung den Sonn- und Feiertagen des Kirchenjahres zugeordnet waren (post illa verba textus).19 Sowohl im Luthertum als auch im Katholizismus lag den sonntäglichen Predigten die Perikopenordnung zugrunde, während die reformierte Kirche die fortlaufende Predigtauslegung ganzer biblischer Bücher (Continua-Predigten) bevorzugte. Insgesamt spielten die Postillen in der protestantischen Erbauungsliteratur besonders des 16. und 17. Jahrhunderts eine wichtigere Rolle als im Katholizismus, so z.B. bei Johann Arndt (1555–1621)[],20 Valerius Herberger (1562–1627),21 Johann Gerhard (1582–1637)[]22 und Johannes Heermann (1585–1647)[].23 Wie aber die Hand-Postille oder christkatholische Unterrichtungen (1690) des Prämonstratenserpriesters Leonhard Goffiné (1648–1719)24 zeigt, die bis heute über 120 Auflagen und Übersetzungen erlebte,25 gab es auch im Katholizismus einflussreiche Postillen. Dies wird z. B. durch das umfangreiche Predigtwerk des Abraham a Sancta Clara (1644–1709)[] unterstrichen.26
Was die Verbreitung der Predigtsammlungen anbelangt, so konnten beispielsweise in Inventaren von Tübinger Stadtbürgern aus den Jahren zwischen 1750 und 1760 insgesamt 148 Titel nachgewiesen werden, die direkt oder zumindest unter der Sammelbezeichnung Postille verzeichnet worden waren; hinzu kamen weitere 90 Titel, die unter der Rubrik Predigtbücher firmierten.27 Eine Abfrage (19.06.2010) im Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (VD 16)28 ergab allein zum Suchbegriff Postille 44 Titel, im VD 1729 fanden sich weitere 136 Postillen, andere Predigtsammlungen nicht einbezogen. Dieser Befund charakterisiert das 17. Jahrhundert als Hochzeit der Postillendrucke.30 Solche Predigtsammlungen gaben den Predigern einen reichen Materialfundus für die Erarbeitung eigener Predigten an die Hand; sie konnten aber auch als Vorlesebuch für die religiöse Unterweisung im Haus dienen – im Protestantismus wie im Katholizismus.31
Mancher Pfarrer wurde, indem er die Postille lediglich ausschrieb, zum sogenannten Postillenreiter.32 Dabei handelte es sich um "Prediger oder Candidaten des Predigtamts, die aus Faulheit, Ungeschicklichkeit und Unwissenheit eine Predigt nicht verfertigen konnten und daher zu den Postillen ihre Zuflucht nehmen, aus welchen sie gantze Predigten von Wort zu Wort noch ein mahl auf die Cantzel bringen".33 Um diese Praxis, die anders als noch bei Luther und in der frühen Reformation nun als Missbrauch gewertet wurde, wenigstens ansatzweise zu unterbinden, war es beispielsweise im Herzogtum Württemberg Pflicht, dass besonders Vikare ihre Predigten schriftlich ausarbeiteten und das Datum notierten.34 Doch auch gebildete Laien, die über Postillensammlungen verfügten, hatten ein wachsames Auge auf die Prediger: "wie manche seyn/ welche etwan die Nase ueber ein paar Postillen gehenckt haben/ und wenn sie in der Predigt etwas hören/ das sie in der Postill gelesen/ das Maul auffwerffen/ den praedicanten damit auffziehen und schimpffieren/ als wäre er ein Postillenreuter …"35
Noch weit bis ins 18. Jahrhundert hinein wurden lateinische Predigtsammlungen herausgegeben.36 Dabei handelte es sich um Postillen, die sich ganz dezidiert an die Prediger selbst wandten. Der katholische oberschwäbische Priester Joseph Ignaz Claus (1691–1775) erläuterte 1752 in der Vorrede zu seiner Postille, weshalb er sich entschieden habe, sie in Latein zu publizieren: erstens wegen der Kürze und Prägnanz der Sprache, zweitens wegen der Aussicht, auf dem gesamteuropäischen Markt rezipiert und gegebenenfalls unproblematisch nachgedruckt zu werden; aber auch aus einer didaktisch-pastoralen Überlegung heraus: "Drittens gedunckte mich die Lateinische Sprach besser zu seyn, damit die anfangende Prediger, die sich dieser Concepter zu bedienen belieben, veranlasset werden, dieselbige zu vertiefen und also mit eigenen, ihrem Naturell und Redens-Art ähnlichen Worten in der Mutter-Sprach vorzutragen …".37 Und auch auf protestantischer Seite finden sich noch bis ins 17. Jahrhundert hinein lateinisch verfasste Postillen.38
Prediger aller Konfessionen sahen sich mit Ausreden sogenannter "Studierter" und "Gelehrter" konfrontiert, die den Gottesdienst nicht besuchen wollten: "wir haben unsere Postill und Predig-Bücher zu Haus, wir können uns selbsten predigen, wir wissen schon, was uns einer sagen kann."39 Aber der Prediger hegte Zweifel, ob sie dies auch tun würden: "ganz recht, daß sie also reden, ich kann ein geistliches Buch lesen, denn daß ihnen dieses möglich sey, wird kein Mensch in Abrede stellen, ob sie aber dergleichen Lesungen öfters unternehmen, an dem trage ich einen billigen Zweifel …".40 Leute, die sich nicht einmal die Mühe gäben, "einem Prediger ruhig zuzuhören, wann werden sie sich die Mühe geben, ein Buch selbst mit ihrem Fleiß vor die Hand zu nehmen, und durchzulesen?" – so fragte sich ein Prediger.41
Um die Rezeption des Gehörten zu erleichtern, sollte der Prediger einige Grundregeln beachten. Dazu gehörte es, sich einer einfachen Sprache zu bedienen, deutlich zu sprechen und das Wichtige zu wiederholen, aber auch die Wahl anschaulicher Beispiele, "weilen der gemaine Mann nichts liebers höret/ als Historien/ auch mit disen die gantze Predig leichter fasset".42 Auf diese Weise sollte das Gesagte besser im Gedächtnis bleiben und so seinen Beitrag zur Gestaltung des Alltags leisten können.43
Der Kommunikationsprozess via Predigt war freilich ein ziemlich einseitiger. Lediglich in sogenannten "Einreden" spiegelten sich bisweilen auch kritische Meinungen der Hörer wider. So griff beispielsweise Tobias Wagner 1658 in einer Predigt die in der Gemeinde kursierenden Einwände gegen einen öffentlichen Schulunterricht auf.44
Religiöser Transfer
In den Jahren der Reformation diente die reformatorische Predigt als Kampfmedium; häufig wurden in polemischer Form protestantische Glaubenssätze gegen den "papistischen Aberglauben" abgegrenzt. Nachdem mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 feste Konfessionsräume geschaffen worden waren, war es nicht mehr in gleicher Weise erforderlich, die Predigt für die polemische Auseinandersetzung zu instrumentalisieren. Die in allen Kirchen von jetzt an engagiert betriebene Konfessionalisierung stärkte zugleich sichtbar die territoriale Identität des jeweiligen (frühmodernen) Staates nach innen wie nach außen. Die Reglementierung der Untertanen in ihrer religiösen und sittlich-moralischen Lebensführung galt als Garant politischer Stabilität.45 Abgesehen von konfessionell inhomogenen Räumen, wie beispielsweise der paritätischen Reichsstadt Augsburg,46 übten sich die Prediger nun seltener in Polemik, ohne freilich ganz auf sie zu verzichten. Die Grenzen waren also abgesteckt; in den festgefügten Konfessionsräumen begannen die Theologen aller Couleur nun mit der "Einprägearbeit".47 Mittels der Predigten versuchten sie, christliche, nicht selten konfessionell geprägte Vorstellungen von Lehre und Leben im Alltag zu implementieren. Die Predigt konnte jetzt konkrete Hilfen für die Lebenspraxis zu vermitteln suchen.48 Inwiefern diese Angebote für die Praxis die Lebenswirklichkeiten der verschiedenen Schichten nachhaltig beeinflussten, ist noch nicht abschließend zu beantworten. Zweifellos hat das Volk Vorgaben der religiös-moralischen Disziplinierung übernommen;49 wie groß deren Verbreitungsgrad aber vor allem außerhalb der "ehrbaren Stände" war, ist schwer einzuschätzen.
Tobias Wagner betonte in der Vorrede zu seiner Epistel-Postill, dass ein "usus practicus" gleichrangig neben der Verkündigung der wahren Lehre im Zentrum der lutherischen Predigt zu stehen habe: Die einzelnen Predigten sollten deshalb folgendem Aufbau folgen: Analyse des Textes, Herausarbeitung der "quaestio principalis", praktische Anwendung "zum heilsamen Nutzen/ Straff/ Warnung/ Züchtigung in der Gerechtigkeit/ und kräftigen Trost für angefochtene Hertzen". 50 Gemäß dieser Vorgabe versuchten die Prediger, Normen für ein christliches Leben einzuprägen, was in ihren Worten hieß, "Laster mit Ernst zu strafen" und "Tugenden zu loben".51 Indem sich die Theologen aktiv der Aufgabe von Deutung und Gestaltung stellten, transferierten sie religiöse Vorstellungen in soziale Wirklichkeiten. Pacificus à Cruce52 wies nachdrücklich darauf hin, dass der Gläubige, der "mit Andacht und Auffmercksamkeit" der Messe beigewohnt habe; seinen Teil getan habe, wenn er jedoch die Predigt gehört habe, dann sei seine Schuldigkeit noch nicht beendet: "ihr müsset auch dasjenige ins Werck stellen, was ihr in der Predigt gehöret, und gelernet habt …".53
Mit Frustration musste allerdings auch der engagierteste Prediger fertig werden. Die bloße Darlegung und Erkenntnis fehlerhaften Handelns in der Predigt hatte längst nicht immer eine Besserung des Tuns zur Folge. Die Prediger beschlich mehr als einmal das Gefühl, "… daß ein jeder uns arme Prediger lehren und schreyen läßt/ thut buß und bekehret euch/ und thut doch gleichwol ein jeder was er wil. Die Obrigkeit thut nichts zur disciplin/ die unterthanen wollen ihr nit."54
Der Transfer religiöser Vorstellungen in sozialethische Anweisungen wurde in allen Konfessionen geleistet; einige Fallbeispiele finden sich im Folgenden unter den Punkten 3.1 bis 3.5.
Gesellschaftsordnung
Prinzipiell wurde die Ordnung der Gesellschaft als von Gott gegeben betrachtet. Jeder hatte das ihm von Gott zugedachte Amt, so unterschiedlich und ungleichgewichtig es auch sein mochte, zur Erhaltung der göttlichen Ordnung wahrzunehmen. Die Prediger traten für die Einhaltung der in politia (Obrigkeit), ecclesia (Kirche) und oikonomia (Haus, Familie) gegliederte Ordnung der Stände ein.55 Indem sie das sittliche und moralische Leben beeinflussten, übten sie eine die Gesellschaft stabilisierende Funktion aus. Andererseits schrieben sie den Herrschern aber auch ins Stammbuch, welches Verhalten von ihnen erwartet wurde.56 Ein Durchbrechen der mit der Ständeordnung verbundenen Verantwortlichkeiten und damit aller sozialer Schranken setzten sie letztlich mit einem Aufbegehren gegen die göttliche Ordnung gleich; soziale Mobilität war in diesem System nicht vorgesehen, weder horizontal durch Wechseln des "Berufs" noch vertikal durch Streben nach Höherem. Letzteres galt gar als Laster des Ehrgeizes.57 Jeder hatte seine Verantwortlichkeiten so zu erfüllen, dass er jederzeit nicht allein gegenüber den Menschen, sondern ebenso gegenüber Gott Rechenschaft ablegen konnte.
Ehe und Haus
Im Zuge der Disziplinierung der Gesellschaft durch Obrigkeiten und Kirchen wurde das Haus endgültig zur dominierenden Größe der sozialen Ordnung.58 Indem Reformation wie katholische Reform das Haus zum Ausgangspunkt ihrer Sozialethik machten, erfolgte eine Stärkung der hausväterlichen Gewalt, die sich nicht nur auf häusliche Autoritätsstrukturen auswirkte, sondern auch obrigkeitliche Strukturen stärkte. Das Fundament der Ehe war nicht primär die Partnerwahl, sondern die Hausgründung.59
In der Reformation hatte die Ehe ihren Charakter als Sakrament verloren und wurde damit als weltlich gewertet. Im Kontext menschlicher Lebensmöglichkeiten erhielt sie jedoch einen deutlich höheren Stellenwert, weil der eheliche Alltag und seine Mühsal als Wille Gottes im Glauben bewältigt werden konnten. Dagegen bestätigte das Konzil von Trient (1545–1563) weitgehend die mittelalterliche Ehelehre.60 Die Predigt über das richtige Eheverständnis klärte Frauen und Männer nicht nur über ihre Aufgaben und Pflichten auf, sondern ebenso darüber, was sie von ihrem Partner zu erwarten hatten.
In den Württembergischen Summarien || oder gründliche || Auslegung || Uber die gantze Heil. Schrifft || Alten und Neuen Testamentes wurden von den zukünftigen Eheleuten Gottesfurcht, ein gottseliger (Lebens-)Wandel und fleißige Arbeit gefordert. Eheleute sollten darauf achten, dass sie
… ein eigen Hauswesen anstellen, darinnen ihr eigen Brod essen, und sich und ihre Hausgenossen mit eigener Nahrung versorgen sollen … Hierzu aber zu gelangen, ist vonnöthen, daß einer zuvor etwas redliches gelernet, oder in anderer Leute Diensten mit treuem Fleiß etwas zuwege gebracht habe, daß er von demselbigen eine eigene Haushaltung anfangen, und mit getreuer Zusammensetzung des weiblichen Einbringens dieselbige mehren möge.61
Die Prediger zeichneten ein realistisches Bild davon, was das Hochzeitspaar künftig zu erwarten hatte: Armut und Hunger waren nicht ausgeschlossen, Mühe und Sorgen beim Kindergebären und -erziehen gehörten dazu, Zank, ja selbst Eifersucht und Ehebruch konnten auftreten, und auch vor Krankheit und Tod waren sie nicht gefeit.62 Es ging im Ehestand nicht um Passion und emotionale Zuneigung, vielmehr war die Ehe eine Funktionsgemeinschaft: Jeder hatte die ihm zugeschriebenen Aufgaben zu übernehmen.63 Die Ehe war für die Prediger kein Selbstzweck, sondern direkt auf ein Leben als Hausvater bzw. Hausmutter bezogen. Kinder zu zeugen und aufzuziehen, war ihre ureigenste Bestimmung.64 Die notwendige Arbeitsteilung und das Aufeinanderangewiesensein der Eheleute zur Sicherung ihrer Existenz hatten freilich eine gewisse Gleichberechtigung der Frau zur Folge.65 Und auch in katholischen Barockpredigten wurde das Prinzip der Gleichheit unter Eheleuten betont.66
Arbeit und Beruf
Die Folge des in der Bibel berichteten Sündenfalls war, dass der Mensch sein Brot "im Schweiße seines Angesichts"67 verdienen musste. Arbeit diente nicht der Selbstverwirklichung, sondern der Erfüllung der jedem Menschen in seinem Stand zukommenden Verantwortlichkeiten: "Vnser leben wehret siebenzig Jar/ wens hoch kompt so sinds achtzig jar/ Vnd wens köstlich gewesen ist/ so ists Mühe vnd Arbeit gewesen/ Denn es feret schnell da hin/ als flögen wir dauon." Mühe und Arbeit wurden in dieser Übersetzung des 90. Psalms durch Martin Luther eng aufeinander bezogen. Für Lutheraner galt, dass jeder in einen gottgewollten "Beruf" hineingestellt war, dort hatte er seinen Verantwortlichkeiten nachzukommen, zu deren rechter Erfüllung Gottes Segen gehörte. Dazu dienten auch Predigt und Gebet: Nach dem Hören der Predigt war "gut schaffen und arbeiten".68 Die so verrichtete Arbeit konnte auf den Segen Gottes hoffen: "Es kommt zwar der Seegen GOttes denen Frommen im Schlaff; aber nicht durch den Schlaff. Hie heisset es: Hand an, und arbeite; dann erst Hand auf, und nimm den Seegen vom HErrn."69 Arbeit erhielt die menschliche Gesundheit und bewahrte vor dem Abgleiten in Armut.70 Zur Arbeit gehörte auch Zufriedenheit im Hinblick auf irdischen Besitz, an dem das Herz freilich nicht hängen sollte. Alle Arbeit, auch die geringste, war Arbeit gegenüber Gott;71 im Luthertum galt folglich alle Arbeit als gleichwertig.
Die Prediger verwarfen übertriebene Sorge um den Lebensunterhalt, weil sie das in der heiligen Schrift gebotene Gottvertrauen auslöschte, aber auch zu Geiz führte: "Denn der Geitzige könne nimmer ersättiget werden, dürffe darzu seines Guts nicht geniessen, und habe nichts davon, als Sorge, Angst, und grosse Mühe …".72 Die redlich erworbenen irdischen Güter aber konnten mit Freuden und gutem Gewissen genossen werden. Darin stimmten Luthertum und Katholizismus in gewisser Weise überein.
Reichtum und Armut
Die soziale Wirklichkeit, mit der sich die Prediger mehrheitlich auseinander zu setzen hatten, war die bäuerliche Knappheitsgesellschaft.73 Die Masse der Menschen war vom Absinken in Mangel und Hunger bedroht. Krankheit und Missernten führten schnell zu einem Leben unterhalb des Existenzminimums: "wan das Güetl nach und nach anfang zu zerrinnen, das wenige Heurathgut zu verschwindten ... wan nach und nach ein halbdutztet Kinder herzue wachsen, die weder zu nagen, noch zu beisen haben",74 dann konnte es rasch zu sozialem Abstieg kommen.
Man ging davon aus, dass die Arbeit ein Auskommen sicherte, nicht nur für die eigene Person sowie für Frau und Kinder, sondern auch, um Armen Almosen geben und Bedürftigen Geld leihen zu können.75 Auch wenn gutes Einkommen, Besitz und Vermögen als selbstverständliche Anzeichen eines allgemeinen Wohlstands galten, durfte darüber der "gemeine Nutzen"76 nicht in den Hintergrund treten. Das Streben nach Gewinnmaximierung und Profit stieß hier an die Grenze des öffentlichen Interesses. Das individuelle Handeln sollte auf das soziale Gefüge der Gemeinde bzw. des ganzen Landes bezogen bleiben.77 Auch Armut per se galt nicht mehr als geistlicher Wert, sondern war vielmehr in Geduld zu ertragen. Der Umgang mit Reichtum sowie die sich daraus ergebende Verpflichtung gegenüber Armen und Bedürftigen wurde von den Predigern deutlich hervorgehoben und die geforderte Sparsamkeit zugleich streng von Geiz und Kargheit abgegrenzt. Reichtum war keineswegs verwerflich, er wurde sogar benötigt, um Kirchen und Schulen zu unterhalten, der Obrigkeit Steuern zu zahlen, sich und die Seinen ehrlich zu ernähren und die Armen nicht zu vergessen. Die gegenseitige Hilfe erhielt Liebe und Einigkeit unter den Menschen. Keineswegs freilich sollte der Gläubige sein Herz an diese Güter hängen und sich auf irdisches Gut verlassen, sondern sie in Verantwortung für die ihm anvertrauten Menschen oder Institutionen nutzen.
Die sogenannten schwachen, also arbeitsunfähigen, Bettler eines Ortes konnten fest auf die Hilfe der Bürger zählen.78 Die starken, also arbeitsfähigen, Bettler hingegen bedrohten die ohnehin knappe Ernährungsgrundlage der dörflichen und städtischen Bevölkerung; sie konnten keine Hilfe erwarten. Wer durch eigene Schuld – sei es Trunkenheit, Verschwendung oder Verschuldung – verarmte, konnte nicht auf Unterstützung seitens der Gemeinschaft zählen. Wer dagegen durch Krankheit oder einen Todesfall bedroht war, konnte mit Solidarität rechnen, wenn auch die zumeist dürftigen Überschüsse nur wenig hergaben. Die Verantwortung für Kranke und Waisen wurde von staatlichen und kirchlichen Institutionen gestützt.
Prediger, Obrigkeit und Untertanen
Durch ihre sozialdisziplinierenden Maßnahmen stabilisierten Prediger zweifellos politische Herrschaft; sie waren aber dennoch nicht nur Erfüllungsgehilfen der weltlichen Obrigkeit. Auch wenn sie im sozialpolitischen und -disziplinierenden Bereich mit den Zielen der Obrigkeit übereinstimmten, nutzten sie ihre Stellung als Mahner und Warner, um nicht nur den Untertanen ein gottgewolltes Verhalten beizubringen, sondern auch, um kritisch das Verhalten der Obrigkeit zu begleiten.79 Die Obrigkeit besaß keine "innerliche Kirchengewalt", das Predigtamt, die Absolution und das Spenden der Sakramente fielen nicht in ihre Kompetenz. In diesen Bereichen waren auch die Obrigkeiten verpflichtet,
als gehorsame Schaf die Stimm Christi zuhören/ und jhren Seelen-Hirten zufolgen … und soltens nochmalen Käyser/ König/ Fürsten/ und Hohe/ also die höchsten Potentaten in der Welt seyn/ welchen in allweg gebürt/ sich für den Dienern Christi in deren Ampt zu demütigen.80
Unter Zuhilfenahme der Autorität der Heiligen Schrift argumentierten sie mit Bildern, die von den Hörern ohne Schwierigkeit in die eigene Gegenwart transferiert werden konnten. Die biblische Argumentationsbasis bewahrte die Prediger – zumeist – vor möglichen Anschuldigungen, bei allzu harscher Obrigkeitskritik ein Majestätsverbrechen zu begehen. Sie beanspruchten – dies zeigt auch das Auftreten Abrahams a Sancta Clara als Prediger am kaiserlichen Hof zu Wien81 – ein Wächteramt gegenüber ihrer Obrigkeit.
Lebensstationen
Geburt, Kindheit und Jugend
Kinder machten die Ehe zum Haus, sie sicherten langfristig die Altersversorgung und das Erbe.82 Auf jeder Schwangerschaft ruhte Gottes Segen, denn Schwangere waren nicht nur "durch ordentliche Zusammenfügung Manns und Weibs" schwanger: Gott selbst – so die zeitgenössische Vorstellung – stand hinter der Bildung des Embryos, das Amt der Frau war es dann, das Kind zu gebären.83 Die Taufe spielte sowohl innerhalb der kirchlichen Praxis als auch in der Biografie der Eltern eine wichtige Rolle. Durch sie wurde nicht nur die Geburt ihres Kindes öffentlich angezeigt und die Fruchtbarkeit der Ehe sichtbar bestätigt, sondern in diesem Sakrament wurde das Heilshandeln Gottes am Neugeborenen erfahrbar.84 Nicht getauft zu sein, wäre einem Selbstausschluss aus der Gesellschaft und der Gemeinschaft mit Gott gleichgekommen. Erst die Taufe galt als Aufnahme in die Gemeinde und als soziale Bekräftigung der Geburt.
Das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern war in allen Konfessionen, wie im vierten Gebot beschrieben, durch Ehrerbietung und Gehorsam bestimmt.85 Die Eltern ihrerseits sollten ihre Kinder – als eine Gabe Gottes – "lieb und werth" haben.86 Die Prediger ermahnten die Eltern zu fürsorglicher Betreuung und christlicher Erziehung. Der oberbayerische Weltpriester Andreas Strobl (1641–1706) forderte, es sollten "alle getrewe Eltern sorgen für ihre Kinder, damit sie ihre gebührende Nahrung und Kleydung haben, sie lesen und schreiben/ ein ehrliche Kunst oder Handwerck lernen lassen/ auff daß sie heut oder morgen sich selbst erhalten/ oder ihr Stuck Brod suchen können".87 Zugleich aber schärften die Prediger den Kindern ein, ihren Eltern in Liebe und Treue beizustehen, ganz wie das vierte Gebot es forderte. Hier wandte sich der Prediger besonders an die erwachsenen Kinder, offensichtlich wegen der oftmals vernachlässigten oder sogar als lästig empfundenen Alten88 bzw. gegen das als Entzug aus solchen Verantwortlichkeiten betrachtete Klosterleben. In diesem Zusammenhang führte er weitere negative Seiten des Familienlebens auf, die darauf schließen lassen, dass das Verhältnis der Generationen untereinander und die Beziehungen zwischen Herrschaft und Gesinde keineswegs immer konfliktfrei verliefen.89
Zweifellos ließ das Eingebundensein der Eltern in den Arbeitsprozess nur wenig Raum für bewusste Zuwendung zu den Kindern, und doch zeigte sich eine aufmerksame Fürsorge. Die Familie war aber mehr als eine Arbeitsgemeinschaft, sie bot auch Raum für eine emotionale Absicherung der Kinder und vermittelte ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Oberstes Erziehungsziel war, dass jeder an seinem ihm in der Gesellschaft zugewiesenen Platz seine Arbeit zum Lob Gottes und "gemeinen Nutzen" erfüllen konnte. Die Konfessionen unterschieden sich darin in ihren Aussagen nicht wesentlich.
Krankheit, Alter und Tod
Die Unsicherheit und Vergänglichkeit des Lebens wurde den Menschen von den Predigern deutlich vor Augen gestellt und fand in den eigenen Erfahrungen hinreichende Bestätigung.90 Keiner konnte sicher sein, den Abend des angebrochenen Tages zu erleben, Tod und Gericht konnten jederzeit hereinbrechen.91 Wer unbußfertig lebte, dem stand ein Ende mit Schrecken bevor. Die Prediger warnten daher eindringlich davor, sich nicht erst im Alter auf den Tod einzustellen, denn nicht immer trat eine Krankheit als Vorbote ein, viele starben auch ganz plötzlich. Nur wer in steter Vergegenwärtigung den Tod antizipierte, den konnte er nicht schrecken.92
Körperliche Arbeitsbelastung, knappe Nahrungsangebote, unzureichende Wohnverhältnisse, alle Arten von Krankheiten, mangelnde Hygiene und vieles mehr setzten dem Leben zu: Der "ehrwürdige Pater [war] der Tod; der hat ein Red-Maul, und doch keine Zung; wird überall gehört, und hat keine Stimm; predigt an allen Orthen, und ist nirgends; redet alle Sprachen, und kann keine …".93 Krankheit war für die Prediger oft Folge der Sünde, wie umgekehrt Gesundheit von Seele und Leib als höchste Gaben in der Welt betrachtet wurden.94 In Krankheit, Verlust oder jeglicher Minderung des Daseins glaubte man, die Strafe Gottes für Verfehlungen zu erfahren. Umgekehrt wurde Förderung und Wohlergehen im Dasein als Zeichen für Vergebung und Erlass der Strafe gewertet. Das Verständnis von Krankheit als göttlicher Strafe schloss jedoch medizinische Fürsorge nicht aus: Medikamente sollten zur Heilung eingesetzt werden, denn sie waren Bestandteil der göttlichen Schöpfung.95 Der Patient sollte dem Arzt "… zu förderst sein Anliegen gründlich ohne Scheu berichten, ihm in der fürgeschriebenen Cur und Diät gehorsamlich folgen, und die Artzeney richtig gebrauchen; auch den Artzt gebürend belohnen, so gut er es im Vermögen hat".96
Alle kleinen und großen Katastrophen der Welt galten als Erweise eines zürnenden Gottes über ein verdorbenes Menschengeschlecht – dies war Protestanten und Katholiken gemein. Ziel vornehmlich der katholischen Predigt war es, den Menschen durch eine diesseitige Lebensänderung vor dem Weg in die ewige Verdammnis zu bewahren. Nach dem Tod war nur noch eines gewiss: die persönliche Verantwortung vor dem göttlichen Gericht. Das Leben erschöpfte sich also nicht im Diesseits, sondern korrespondierte einem Leben im Jenseits. Aus dieser Gerichtssituation heraus wurde der Tod auf das christliche Leben hin orientiert, wie die katholische Leichenpredigt zeigt.97 Evangelische Leichenpredigten stellten dagegen den aus der Rechtfertigung aus Gnaden sich ergebenden Trost heraus.98