Der Kaukasus – eines der ältesten Zivilisationszentren der Menschheit – ist ein multiethnischer, multisprachlicher1 und multikonfessioneller Raum, der seit 1991 an Russland, die Türkei und Iran grenzt. Seine inneren und äußeren politischen Grenzen sind umstritten; seine kulturellen Grenzen äußerst verschwommen. Trotz ihrer Vielfalt bildet die Region aufgrund ihrer geographischen Lage als strategisch bedeutsame Landbrücke zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer eine historische Einheit.2 Die zivilisatorische und kulturelle Einordnung der Kaukasus-Region ist dennoch schwierig. Der französische Geograph und Ingenieur Félix Leprince-Ringuet (1873–1958) beispielsweise rechnete die gesamte Region zu "l'Asie Russe".3 Auf der Karte "The Caucasus and Transcaucasia", die der britische Russlandhistoriker Hugh Seton-Watson (1916–1984) in seinem Klassiker zur russischen Geschichte abdruckte, erstreckt sich der Kaukasus von Stavropol' und Maykop im Norden bis zu Artvin, Kars und Erzurum im Süden.4 Interessant ist dabei die Selbstverortung der Kaukasier, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts über die eigene Grenzlage klar wurden: Georgien befinde sich im Süden des europäischen Teils der Sowjetunion. Sein Territorium sei ein Teil des Kaukasus und liege an der Grenze Europas und Asiens, schrieb der sowjetisch-georgische Historiker Šot'a Mesxia (1916–1972).5
Den Kaukasus durchschnitten Jahrtausende lang wichtige Handelsrouten wie z.B. die Seidenstraße, er wurde zur Provinz großer Imperien (des Römischen, Osmanischen, Persischen, Russischen Reichs und schließlich der Sowjetunion) und im 21. Jahrhundert schließlich zu einem geopolitischen Zankapfel.6
Unter dem Kulturraum Kaukasus7 versteht man im Einzelnen die drei südkaukasischen Staaten Armenien, Aserbaidschan und Georgien sowie den Nordkaukasus, der als Južnyj Federal'nyj Okrug (Südlicher Föderaler Kreis) ein Bestandteil der Russischen Föderation ist.8 Letzterer besteht aus den Teilrepubliken Dagestan, Inguschetien, Kabarda, Tscherkessien, Nordossetien, Tschetschenien sowie Adygeja.9
Von der Antike bis zur russischen Herrschaft
Der Kaukasus ist bis heute ein Raum, der an der Schnittstelle verschiedener Kulturen liegt und in dem permanent Migrationsprozesse stattfinden.10 Besonders deutlich lässt sich dies an der Verbreitung der Religionen ablesen. Naturreligionen und der Zoroastrismus dominierten im Kaukasus im 4. und 3. Jahrhundert v.d.Z., als Alexander der Große (356–323 v.d.Z.) während seines Persienfeldzugs durch die Region kam. Im 1. und 2. Jahrhundert erreichten christliche Missionare den Kaukasus, und bereits im 4. Jahrhundert entstanden die Georgische,11 die Albanische12 und die Armenische Kirche.13 Während sich die ersten beiden anlässlich des Konzils von Chalzedon im 5. Jahrhundert für das Diophysitentum, das die Zweinaturenlehre Christi vertrat, entschieden, blieb die Armenische Kirche monophysitisch. Bis zum 7. Jahrhundert war der Kaukasus überwiegend christlich. Die Naturreligionen dominierten lediglich in den Bergregionen des Nordkaukasus. Die Bevölkerung von Baku blieb zoroastrisch. Im 7. und vor allem im 8. Jahrhundert wurde der Kaukasus von den Arabern erobert und teilweise islamisiert. Der Zoroastrismus sowie die Kaukasisch-Albanische Kirche verloren ihre bisherige Rolle, große Teile des heutigen Aserbaidschan wurden muslimisch. Die Armenische und die Georgische Kirche verteidigten die christliche Tradition, standen kulturell aber stark unter arabischem und seit dem 10. Jahrhundert unter persischem Einfluss, der sich vor allem in der georgischen Literatur nachweisen lässt. Am intensivsten wurde im Zuge der Islamisierung jedoch das ehemals zoroastrische und albanisch-christliche Aserbaidschan durch die arabisch-persische Kultur geprägt. Persische Literatur, ihre Motive und Stilarten beeinflussten etwa den auf Georgisch schreibenden Tifliser Dichter Šot'a Rust'aveli (1172–1216).14 Der aus der aserbaidschanischen Stadt Gence stammende Dichter Niẓāmī Ganǧawī (1140–1203)15 schrieb sogar hauptsächlich auf Persisch. Literatur und Wissenschaft erlebten eine Blütezeit.16
Sie endete im 13. Jahrhundert mit der mongolischen Eroberung und Herrschaft, die starke Zerstörungen mit sich brachte und die lokale Wirtschaft mit hohen Tributzahlungen belastete. Das gesamte Territorium wurde zu einer Arena kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen dem aus dem zentralasiatischen Choresm einmarschierten Feldherrn Djalāl al-Dīn (gest. 1231) und der mongolischen Armee. Erst unter König Georg V. (1314–1346) gelang es Georgien, die politische Unabhängigkeit zu erreichen, bis in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts in Gestalt des zentralasiatischen Eroberer Tīmūr (1336–1405) ein neuer Feind am Horizont erschien.17
Die tatarische Herrschaft wurde schließlich von der persischen und osmanischen Dominanz abgelöst: Die gesamte Region wurde zur Einflusszone der islamischen Staatsgebilde (Osmanenreich, Persien), was gerade die nichtmuslimische Bevölkerung des Kaukasus auf eine besondere Art herausforderte. Christen sollten eine Sondersteuer zahlen und wurden zu einer religiösen Minderheit. Viele der tatarischen Stämme blieben in der Region und vermischten sich mit der einheimischen Bevölkerung. Dasselbe galt auch für die persischen Beamten und Händler, die aus dem Süden in den Kaukasus einwanderten.
Im 15. Jahrhundert wurde die lokale muslimische Bevölkerung im östlichen und südwestlichen Kaukasus in neu entstandenen feudalen Staaten mit muslimischen Herrscherdynastien (die größten waren Qara-Qoyunlu und Ağ-Qoyunlu18) integriert. Die religiöse Einheit trug zum Abbau der Antagonismen zwischen Eroberern und Eroberten bei. Dies galt für die nordkaukasischen und aserbaidschanischen Muslime, weniger für die Christen des Kaukasus. Das christliche Georgien z.B. zerfiel Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts in mehrere feudale Kleinstaaten (Kartli, Kacheti, Imereti, Samcche, Guria, Abchazeti u.a.).
Der Kaukasus vor der russischen Eroberung
Der Kaukasus – geschwächt durch die tatarische Herrschaft – war somit seit dem 12. Jahrhundert andauernden Übergriffen aus dem Westen (Osmanenreich), dem Süden (Persien) und seit dem 17. und vor allem dem 18. Jahrhundert auch aus dem Norden (Russland) ausgesetzt.19 Umkämpft und abwechselnd in unterschiedliche Staatsgebilde und Imperien eingeschlossen, blieb der Kaukasus jeweils eine Peripherie dieser Imperien. Das gilt auch für das Ende des 18. und den Anfang des 19. Jahrhunderts, als der Kaukasus im Zuge der russisch-türkischen und russisch-persischen Kriege zum Bestandteil des russischen Zarenreichs wurde.
Vor der russischen Eroberung stellte der Kaukasus einen Raum dar, in dem zwei georgische Königtümer (Imeretien im Westen und Kartli-Kachetien im Osten des heutigen Georgien), mehrere nordkaukasische Fürstentümer sowie, auf dem Gebiet des heutigen Armenien und Aserbaidschan, muslimische Chanate (Fürstentümer) existierten. Die Bevölkerung war vor allem in den Städten sehr heterogen zusammengesetzt. Die Muslime und Georgier bildeten den Klerus, den Adel und die Bauernschaft. Die Armenier machten den Großteil der Bevölkerung in Tiflis aus, während sie in Jerewan eine Minderheit stellten. Die kaukasischen Städte – wie Baku, Ganca, Kutaisi, Derbent und vor allem Tiflis20 – entwickelten sich gerade im 19. Jahrhundert zu Zentren, also zu Orten "innerhalb eines größeren Zusammenhangs, wo sich Menschen und Macht, Kreativität und symbolisches Kapital zusammenballen".21 Dies traf vor allem auf Baku und Tiflis zu.22 An der Peripherie gelegen waren sie Empfänger und Sender zugleich. Die Impulse kamen aus der neuen imperialen Metropole Sankt Petersburg sowie aus den alten Kulturzentren Istanbul und Teheran; die neu gewonnene Ausstrahlungskraft der kaukasischen Zentren erreichte ihrerseits wiederum auch die "alten" Kulturstädte.23 Im Nordkaukasus hingegen stellte sich die Lage anders dar: Hier ließ Russland Militärfestungen errichten. Um diese herum entstanden Städte, die den kolonialen Charakter bereits in ihren Namen trugen.24
Der Kaukasus als Provinz des Zarenreiches
Abgesehen von einer kurzen Phase der Unabhängigkeit (1917/1918–1921) stand der Kaukasus vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1991 unter russischer bzw. sowjetischer Herrschaft. Nach der russischen Eroberung war das Geschehen in der gesamten Region von Konfrontation, Anpassung und Verflechtung geprägt. Die russische Herrschaft brachte zunächst vor allem Folgen für die religiöse Struktur des Kaukasus mit sich: In den ehemals von Persien annektierten transkaukasischen Provinzen verloren die Muslime ihre beherrschende Position, und das armenische Bürgertum gewann zunehmend an Gewicht.25 Während die Armenisch-Gregorianische Kirche von den russischen Behörden 1836 zusätzliche Autonomie erhielt und insgesamt zunächst von Petersburg toleriert wurde – nicht zuletzt um die Einwanderung der Armenier aus dem Nahen Osten in den nun russischen Kaukasus zu fördern –, wurde die Georgische Kirche um 1811 ihrer Selbständigkeit beraubt.26 Auch Muslime wurden in ihrer religiösen Freiheit beschränkt: So wurde ihnen ab 1821 der Hạddsch, die Pilgerfahrt nach Mekka, untersagt.27
All dies bedeutete jedoch nicht, dass die Völker des Kaukasus einen ständeübergreifenden und nachhaltigen Widerstand gegen Russland entwickelt hätten. Die Auseinandersetzung der Kaukasier mit Russland war facettenreich und vielschichtig, bestand aus Anpassung und Ablehnung zugleich. Es handelte sich um die Interaktion zwischen heterogenen Kulturräumen und die Interaktion zwischen Metropole und Peripherie. Die zaristische Politik unterlag einem andauernden Wandel, so dass man von den zaristischen Politiken in der Region sprechen kann. Während Sankt Petersburg Anfang des 19. Jahrhunderts noch an der Integration der kaukasischen Eliten interessiert war,28 ging es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer strikten Politik der Russifizierung und der Unterdrückung nationaler Bestrebungen über.
Das Leben des Bakuer Adligen und Intellektuellen Abbasqulu ağa Bakıxanov sowie die Geschichte des Lehrerseminars in Gori sollen im Folgenden als Beispiele dienen, um die Ambivalenz der Interaktion zwischen dem Zarenreich und einer seiner Peripherien zu verdeutlichen. Diese sind in ihren jeweiligen historischen Kontexten zu sehen: Das erste Beispiel steht für die erste Hälfte und das zweite für das Ende des 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts.
Abbasqulu ağa Bakıxanov (1794–1847)
Ähnlich wie der aserbaidschanische Schriftsteller Mirzä Fätäli Axundov (1812–1878)29 gehörte Abbasqulu ağa Bakıxanov zu den prominentesten muslimischen Aufklärern im russischen Kaukasus. Bakıxanov wurde 1794 in der Nähe von Baku in eine adlige Familie geboren. Sein Vater entstammte dem Geschlecht der Bakuer Chane, seine Mutter war eine zum Islam konvertierte Georgierin. Die Kindheit und Jugendzeit verbrachte Bakıxanov in Baku und in der nordaserbaidschanischen Stadt Quba. Er genoss eine theologische Ausbildung und erlernte orientalische Sprachen. Um 1820 wurde Bakıxanov als Dolmetscher und Übersetzer nach Tiflis in die von General Aleksej Petrovič Ermolov (1776–1861) geleitete Militärkommandobehörde berufen. Hier widmete er sich dem Studium des Russischen und Französischen. Als Dolmetscher beteiligte er sich 1828 an den russisch-iranischen Verhandlungen, in denen es um die Aufteilung des aserbaidschanischsprachigen Siedlungsgebietes entlang des Flusses Araxes ging. Im selben Jahr wurde er mit dem Orden der Heiligen Anna 3. Grades ausgezeichnet. Bakıxanov war Aufklärer, Vermittler und Chronist seiner Zeit zugleich. In Tiflis lernte er die prominentesten georgischen und russischen Intellektuellen und Dichter kennen und reiste auch in die baltischen Provinzen, nach Warschau und Petersburg. Bakıxanov war zutiefst geprägt von der aserbaidschanisch-orientalischen Kultur sowie von der multiethnischen Atmosphäre der zaristischen Kulturmetropolen Tiflis und Sankt Petersburg. In Tiflis schrieb Bakıxanov Gedichte, geschichtsphilosophische Werke und wissenschaftliche Abhandlungen. Er verfasste eine persische Grammatik in russischer Sprache und widmete sie dem russischen Zar.30 Später schrieb er – auf Persisch – eine Geschichte des östlichen Kaukasus.31 1835 zog er sich auf das Familiengut bei Quba zurück. Sein Werk Geheimnisse des Weltalls, 1839/1840 verfasst, übersetzte er selbst ins Arabische. Mitte der 1840er Jahre bat er die russischen Behörden um die Erlaubnis, nach Mekka pilgern zu dürfen. Unterwegs präsentierte er in Istanbul sein Werk dem Gelehrtenkreis des osmanischen Sultans.32 Auf dem Weg nach Medina starb er und wurde im Städtchen Vadi-Fatima im heutigen Saudi-Arabien beigesetzt.
Das Lehrerseminar in Gori (1876–1917)
Der Adlige Bakıxanov bewegte sich in beiden Kulturräumen, und man kann in ihm einen Mittler sehen zwischen dem Zarismus, dem er freiwillig diente, und den kaukasischen Muslimen, deren Kultur er teilte. Die zaristischen Behörden versuchten auch ihrerseits die Anpassung der nichtrussischen Bevölkerung an der Peripherie zu fördern. Sie gründeten im Kaukasus mehrere Bildungseinrichtungen, um eine breitere regimetreue Intellektuellenschicht heranzuziehen.
Ein Beispiel dafür ist das Lehrerseminar (Zakavkazskaja Učitel'skaja Seminarija) in der georgischen Stadt Gori,33 das 1876 eröffnet wurde und bis zum Ausbruch der russischen Revolution und dem Zerfall des Zarenreichs bestand.34 Es verfügte über eine christliche und eine muslimische Abteilung sowie eine Musikabteilung, in der die Musiklehrer für die Schulen des Kaukasus ausgebildet wurden. Das Seminar besuchten vor allem Sprösslinge aus der Mittel- und Oberschicht der nord- und südkaukasischen Völker. Unter den Absolventen waren der Begründer der nationalen Komponistik in Aserbaidschan, Üzeyir Hacıbeyli (1885–1948), die aserbaidschanischen Sprachwissenschaftler Firidun Köçerli (1863–1920) und Reşid Efendiyev (1869–1942), der aserbaidschanische Schriftsteller Celil Memmedquluzâde (1866–1932) sowie der aserbaidschanische Komponist und Dirigent Muslum Maqomayev (1885–1937). Der prominente georgische Schriftsteller Važa Pšavela (1861–1915), der Aufklärer Iakob Gogebašvili (1840–1912) sowie der Arzt Micheil Cinamdzgvrišvili (1882–1956) und der Komponist Ia (Illia) Kargareteli (1867–1939) studierten ebenfalls am Seminar in Gori. Das Lehrerseminar hatte eine entscheidende Bedeutung vor allem für die Georgier und Muslime des Nord- und Südkaukasus, während die Armenier eigene Lehranstalten – das bekannte, 1824 gegründete Nersessian-Institut in Tiflis und das 1815 gegründete Lazarev-Institut35 in Moskau – besuchten.
Primäre Aufgabe der pädagogischen Bildungseinrichtung war die Ausbildung von Lehrkräften für die regionalen Schulen. Die Studenten konnten ihr Studium selbst finanzieren oder ein Stipendium beim Staat oder den Stadt- und Dorfgemeinden beantragen. Die Unterrichtssprache war von Beginn an Russisch. Aber auch die georgische, armenische und aserbaidschanische Sprache wurden regelmäßig unterrichtet. Gelehrt wurden außerdem Pädagogik, Mathematik, Geometrie usw. Das Lehrerseminar in Gori gehörte zu den führenden Lehranstalten im Zarenreich und wurde auf einer internationalen Bildungsmesse in Paris ausgezeichnet.36
1879, drei Jahre nach der Gründung, wurde eine aserbaidschanische Abteilung eingerichtet. Großen Anteil daran hatten der russische Intellektuelle Aleksej O. Černjaevskij (1840–1897)37 und der aserbaidschanische Aufklärer Mirzä Fätäli Axundov. Obwohl nun auch Aserbaidschanisch unterrichtet wurde, wurden nach wie vor keine Lehrer in der Sprache ausgebildet. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das Seminar in Gori scharf kritisiert. Der aserbaidschanische Intellektuelle Ahmet Ağaoğlu (1869–1939) bezeichnete die Arbeit des Instituts als "missionarische Pädagogik" und bezichtigte den Seminardirektor der Russifizierungsabsichten. Bakuer Intellektuelle forderten 1906 die Überführung der aserbaidschanischen Abteilung nach Baku. Schließlich wurden 1914 und 1916 jeweils in Ganca und in Baku separate Lehrerseminare gegründet. 1918 wurde dann auch die aserbaidschanische Abteilung des ehemaligen Gori-Seminars durch Erlass der Musavat-Regierung in die kleine aserbaidschanische Stadt Qazax (bei Ganca) verlegt. Auch unter den georgischen Intellektuellen wurde Kritik am Lehrerseminar geübt, und im Kontext der nationalen Emanzipation von den zaristischen Behörden wurde die Gründung einer georgischen Universität in Tiflis gefordert.
Neben- und Gegeneinander in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Während Bakıxanov ein repräsentatives Beispiel für eine erfolgreiche Integration des muslimischen Adels in die Strukturen des Zarenreichs darstellt, sah die Reaktion der breiteren muslimischen Bevölkerung auf die zaristische Politik in der Region anders aus. Im 19. Jahrhundert kam es im südlichen Kaukasus zu mehreren antirussischen Aufständen38 sowie antizaristischen Verschwörungen des georgischen Adels39 und im Nordkaukasus zu einem langjährigen Krieg unter der Führung des Imam Šāmil (1798–1871),40 den Russland deswegen erst um 1859 vollständig erobern konnte. In der Folge wanderten ab 1860 Hunderttausende nordkaukasischer Muslime in das Osmanische Reich ab.41
Im Zuge der alten ethnischen und religiösen Konflikte gewann nun auch der Nationalismus in der Region zunehmend an Bedeutung. Wie im gesamten mittelsüdosteuropäischen Raum kam es an den Peripherien des Zarenreiches (z.B. im Baltikum) – und parallel dazu an denjenigen des Osmanischen Reiches (z.B. im Balkan) – zu nationalistischen Bestrebungen.42 In den 1880er Jahren und vor allem um die Jahrhundertwende entstanden auch im Kaukasus mehrere politische Parteien,43 die über eigene Presseorgane verfügten, in der gesamten Region aktiv waren, Kontakte zu anderen Peripherien des Zarenreiches (vor allem zu Polen, den baltischen Provinzen und zu den Tataren der Krim)44 sowie darüber hinaus unterhielten und, nicht zuletzt, auf mehr Autonomie pochten. Während die Sozialdemokraten das politische Leben Georgiens prägten, dominierten in Aserbaidschan45 und Armenien46 die Nationalisten.
Die Unabhängigkeitsjahre 1917–1921
1917/1918 wurden die Städte des gesamten Kaukasus zu Orten des revolutionären Geschehens: Das Zarenreich verlor die politische und militärische Kontrolle über die Region, die Ethnien schlossen sich zu Nationen zusammen, die ethnischen Spannungen erreichten ihren Höhepunkt.47 Der gesamte Kaukasus löste sich von Russland ab, und es entstanden vier Staaten: die Nordkaukasische Bergrepublik, Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Die Delegationen der kaukasischen Staaten beteiligten sich an der Friedenskonferenz in Versailles und waren bemüht, diplomatische Vertretungen in den europäischen Hauptstädten einzurichten. Deutschland, Polen, die Türkei, Italien und einige andere Staaten eröffneten Konsulate in der Region. In Europa vertreten zu sein und europäische Botschaften zu beherbergen erschien den kaukasischen Politikern von entscheidender Bedeutung.48 Die Staatsmänner, die das politische Leben der neu gegründeten Republiken Armenien, Aserbaidschan und Georgien prägten, fühlten sich Europa verbunden. Der georgische Staatschef Noe Žordanija (1869–1953) z.B. hatte in den 1890er Jahren in Warschau Veterinärmedizin studiert, befand sich im Austausch mit dem deutsch-tschechischen Sozialdemokraten Karl Kautsky (1854–1938) und setzte sich intensiv mit der Arbeiterwegung in Großbritannien auseinander. Der georgische Politiker Giorgi Gvazava (1868–1941) hatte Rechtswissenschaften in Moskau und Paris studiert. Der armenische Premierminister Hovhannes Kačaznuni (1867–1938) reiste nach seinem Studium in Sankt Petersburg 1919/1920 mehrfach nach Europa.
Das europäische Hochschulwesen wurde zu einem Vorbild für die ersten nationalen Universitäten, die 1918/1919 in Tiflis, Jerewan und Baku gegründet wurden. Die Kaukasier stellten Europa dem bolschewistischen Russland gegenüber. Auch in der Vorbereitung der legislativen Reformen orientierten sich die politischen Eliten an Europa. Im Kaukasus entschieden sie sich für die republikanische Regierungsform und die Trennung von Staat und Religion.
Als die Kaukasusrepubliken 1920/1921 von der Roten Armee erobert wurden, wanderten zahlreiche Intellektuelle nach Europa aus. Žordanija und Gvazava ließen sich wie der aserbaidschanische Politiker Ali Mardan Topçubaşi (1862–1934) in Frankreich nieder. Der Pariser Vorort Leuville-sur-Orge wurde zu einem bedeutenden Zentrum der georgischen und gesamtkaukasischen Exilgemeinschaft und erhielt den Beinamen la petite Georgie.
Der Kaukasus unter sowjetischer Herrschaft
Nach der kurzen Unabhängigkeit, die die Nordkaukasier, Armenier, Georgier und Aserbaidschaner in der ersten Jahreshälfte 1918 erlangt hatten,49 kam es bereits im April 1920 zur sowjetischen Okkupation Aserbaidschans und im November desselben Jahres Armeniens. Obwohl Georgien im Mai 1920 einen Friedensvertrag mit Sowjetrussland schloss50 und Sympathien sowie eine gewisse Popularität auf dem internationalen Parkett (vor allem in der europäischen Sozialdemokratie) genoss, marschierte die Sowjetarmee im Februar 1921 auch in Tiflis ein. 1920/1921 wurde der gesamte Kaukasus sowjetisiert und "die zweite Periode der nördlichen Dominanz im Kaukasus" begann.51 Kurz nach der Sowjetisierung kam es zu zahlreichen Auflehnungen gegen die Bolschewiki. Im Mai 1920 erhob sich ein Aufstand in Gäncä,52 1924 ereigneten sich mehrere Aufstände in Georgien. In den folgenden Jahren wurde die Region immer stärker in das ökonomische und staatliche Gebilde der UdSSR eingebunden. Nach der anfänglichen Einwurzelungspolitik (Korenizacija) setzte Moskau nun ähnlich wie zu Zarenzeiten auf Russifizierung und die Ausbeutung der regionalen Wirtschaft: Markant stieg die Zahl der eingewanderten Russen, Ukrainer und Weißrussen an, die zur Industrialisierung der Region beitragen sollten.53 Die kaukasische Intelligenzija war gespalten: Einerseits war die Erinnerung an die Jahre der Unabhängigkeit noch wach, andererseits gab es viele, die die Politik der Bolschewiki unterstützten. In den 1930er Jahren wurden nicht wenige Vertreter der kaukasischen Intellektuellenschicht – Literaten,54 die so genannten "Altkommunisten"55 und andere – zu Opfern der stalinistischen Repressalien. Dies betraf alle kaukasischen Nationen gleichermaßen.56
Der Kommunismus war zweifelsohne eine exogen, von außen aufgezwungene Ideologie,57 jedoch waren es gerade Kaukasier, die sich bereits um die Jahrhundertwende mit dem Marxismus solidarisierten58 und so maßgeblich zum Ausbau dieser Ideologie sowie zur Verbreitung ihrer Dogmen im Kaukasus und in der UdSSR beitrugen. Der "asiatische Berufsrevolutionär"59 Iosif Stalin (1879–1953)[], Anastas Mikojan (1895–1978), Năriman Nărimanov (1870–1925)60, Sergo Ordžonikidze (1886–1937)61, Mir-Džafar Bagirov (1896–1956)62, Stepan Šaumjan (1878–1918)63, Nikolaj Marr (1864–1934)64 und andere halfen, den Sowjetkommunismus aufzubauen.65
Im Zweiten Weltkrieg kämpften die Kaukasier auf beiden Seiten. Hunderttausende Armenier, Aserbaidschaner, Georgier, Dagestaner starben als Soldaten der Roten Armee. Die deutsche Wehrmacht konnte ihrerseits zahlreiche Bataillone aus Exilkaukasiern sowie den in deutsche Gefangenschaft geratenen Kaukasiern zusammenstellen.66 Gleichzeitig wurden Angehörige zahlreicher nordkaukasischer Ethnien (vor allem Tschetschenen und Inguschen) ebenso wie die Wolgadeutschen und andere mehr in den Jahren des Zweiten Weltkrieges nach Sibirien und Zentralasien deportiert.67
In der poststalinistischen Epoche waren es Ėduard Ševardnadze (1928–2014),68 Gejdar Aliev (1923–2003)69 und Karen Demirčjan (1932–1999),70 die ein paternalistisches, korruptes Herrschaftssystem installierten und sich nach dem Zerfall der Sowjetunion ein Comeback in der Politik ihrer eigenen Republiken sicherten. In derselben Zeit – also in den 1970er Jahren – entwickelte sich gerade im Kaukasus eine starke Dissidentenbewegung: Der Anglist Zviad Gamsaxurdia (1939–1993)71 und der Musiklehrer Merab Kostava (1939–1975) in Georgien, der Orientalist Äbülfäz Elçibäy (1939–2000) in Aserbaidschan und Parujr Hajrikian (*1949)72 in Armenien kritisierten den Sowjetkommunismus und die Russifizierungspolitik Moskaus scharf.73 Somit waren die Kaukasier sowohl Akteure als auch Opfer der sowjetkommunistischen Politik. Auch ließ sich in der Sowjetära ein erheblicher Teil der kaukasischen Eliten noch intensiver, als dies während des Zarismus der Fall gewesen war, in die von Russland dominierte politische und kulturelle Ordnung integrieren. Dies betraf nicht nur die Parteiapparatschiks, sondern auch Kulturschaffende.
Am Beispiel zweier kaukasischer Kulturschaffender – der georgischen Malerin Elene Achvlediani (1901–1975) und des armenischen Regisseurs Sergej Paradžanov (1924–1990) – sollen die komplizierten Lebenswege kaukasischer Intellektueller während des und nach dem politischen Tauwetter unter Nikita Chruščëv (1894–1971) dargestellt und deren Beitrag zu Ideentransfer und Kulturaustausch veranschaulicht werden.
Elene Achvlediani (1901–1975)
Elene Achvlediani wurde 1901 in der georgischen Stadt Telawi in eine arme, jedoch gebildete Familie geboren. Von Kindheit an zeichnete und malte sie. Tiflis, seine Straßen und seine Parks blieben die wichtigsten Motive ihres Schaffens. 1919 beteiligte sie sich zum ersten Mal an einer Ausstellung in Tiflis, das zu der Zeit die Hauptstadt der Demokratischen Republik Georgien war. 1922, ein Jahr nach der Sowjetisierung Georgiens, wurde sie in die Tifliser Kunstakademie aufgenommen. Dort wurde sie von dem prominenten georgischen Maler Gigo Gabašvili (1862–1936), einem Absolventen der Münchner Kunstakademie, betreut und anschließend als eine der talentiertesten Studentinnen zum Praktikum nach Frankreich und Italien entsandt, wo sie sich bis 1927 aufhielt. Die Zeit in Europa prägte ihr ganzes Leben. Hier konnte sie ihr Interesse an urbanen Motiven – die Straßen von Paris und Venedig –weiterentwickeln. Nach ihrer Rückkehr nach Georgien konnte Achvlediani ihre Werke in mehreren Ausstellungen in verschiedenen Städten des Landes zeigen. Sie wurde zu einer gefragten Theatermalerin. In ihrem Spätwerk widmete sie sich hauptsächlich der Darstellung der Provinzstädte und der Berglandschaften Georgiens.
Achvlediani gilt allgemein als Schülerin der französischen und italienischen Malerei. Aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen trug sie entscheidend zu einem Transfer europäischer Ideen bei. Obwohl sie die Möglichkeit erhielt, das sowjetisierte Georgien zu verlassen und sich in Europa niederzulassen, kehrte sie in ihre Heimat zurück. Es kam zu einer partiellen Anpassung Achvledianis an die vom Stalinismus geprägte Künstlerschaft. Mehrere ihrer Gemälde aus dieser Periode sind z.B. der Darstellung sowjetischer Bauprojekte gewidmet; sie hat auch Moskau während des Zweiten Weltkrieges thematisiert. Achvlediani rebellierte nicht gegen das sowjetische Regime. Sie war gut in die sowjetische Malerszene integriert und ihre Werke wurden positiv in der wichtigsten sowjetischen Kunstzeitschrift Iskusstvo besprochen, zugleich vermittelte sie zwischen der europäischen und der georgischen Kunst. Achvlediani prägte auf diese Weise mehrere Generationen sowjetisch-georgischer Maler und Künstler – auch weil sie eine der wenigen im damaligen Sowjetkaukasus war, die unmittelbaren Kontakt zu europäischen Künstlern unterhielt.
Sergej Paradžanov (1924–1989)
Sergej Paradžanov gehörte zu einer jüngeren Generation kaukasischer Künstler. Er wurde im Januar 1924 als Sohn einer wohlhabenden armenischen Familie in der Hauptstadt der Georgischen Sowjetrepublik Tiflis geboren. Nach mittlerem Schulabschluss studierte er von 1945 bis 1951 an der bekanntesten sowjetischen Filmakademie Vsesojuznyj gosudarstvennyj institut kinematografii (VGIK)74 in Moskau. 1947 kam es zur ersten Verhaftung Paradžanovs. Der Homosexualität beschuldigt, verbrachte er einige Jahre im Gefängnis in Georgien. Nach der Freilassung präsentierte Paradžanov seinen ersten Kurzfilm Moldavskaja skazka ("Moldawisches Märchen") dem Publikum. Danach ging er in die Ukraine, wo er die dortigen Traditionen und westukrainische Themen aufgriff. 1961 erschien sein Werk Ukrainskaja rapsodija ("Ukrainische Rhapsodie") und 1964 Teni zabitych predkov ("Schatten der vergessenen Ahnen").75 Letztgenannter Film wurde zum "prägnantesten Ereignis des sowjetischen Filmes der ersten Hälfte der 1960er Jahre"76 – er wurde in seiner Bedeutung mit Sergej Ejzenštejns (1898–1848) Meisterwerk Bronenosec Potjemkin ("Panzerkreuzer Potemkin") verglichen.77
1966 reiste Paradžanov nach Armenien. Ein Jahr später präsentierte er seinen ersten Armenien-Film Akop Ornaťjan. Dies war eine Art Vorarbeit zu einem weiteren Meisterwerk: Sayat Nova.78 Aufgrund der sowjetischen Zensur wurde der Film redigiert und durfte unter dem Titel Cvet granata ("Die Farbe des Granatapfels") dem Publikum erst 1972/1973 vorgestellt werden. Zu diesem Zeitpunkt lebte Paradžanov wieder in Kiew. Hier wurde er wegen seiner regimekritischen Haltung 1973 erneut festgenommen und zu fünf Jahren Haft verurteilt. Auch aufgrund des Engagements des Schriftstellers Louis Aragon (1897–1982) und des Regisseurs Federico Fellini (1920–1993) wurde Paradžanov 1977 wieder freigelassen. Diesmal kehrte er nach Tiflis zurück. 1982 kam es erneut zu seiner Inhaftierung in Georgien. 1984 erschien sein nächstes Meisterwerk, Legenda o suramskoj kreposti ("Legende der Surami-Festung"). Diesmal stand die georgische Mythologie und Geschichte im Fokus. 1988 lieferte Paradžanov sein drittes Meisterwerk ab: Es handelte sich um die Verfilmung einer aserbaidschanischen Legende, Aschiq-Gerib, die der russische Dichter Michail Lermontov (1814–1841) beschrieben hat. Der Film wurde auf dem Filmfestival in Venedig gezeigt und mit dem European Film Academy's Felix Award ausgezeichnet. Auf diese Weise hatte der durch die Jahre im Gefängnis isolierte und erkrankte Regisseur Gelegenheit, europäische Kollegen zu treffen und mehrere Städte Europas zu besuchen. 1990 starb Paradžanov und wurde auf dem Ehrenfriedhof in Jerewan beigesetzt.79 "Alle wissen", sagte Paradžanov in einem seiner letzten Interviews, "dass ich drei Heimaten habe. Ich wurde in Georgien geboren, ich arbeitete in der Ukraine und will in Armenien sterben."80
Paradžanovs künstlerische Sozialisation fand zweifelsohne an der Moskauer VGIK-Akademie in der Zusammenarbeit mit den ukrainischen Kollegen Aleksandr Dovženko (1894–1956) und Igor' Savčenko (1906–1950) statt. Er widmete sich der Folklore der einzelnen Peripherien der Sowjetunion und setzte sich dabei insbesondere mit Moldau und der Ukraine auseinander. Fast alle seine Notizen auf den von ihm angefertigten künstlerischen Kollagen und sein Memoirenbuch Ispoved' schrieb Paradžanov allerdings auf Russisch.81 Im Zentrum seines Werkes stand jedoch der Kaukasus mit seiner Mythologie und seinen Legenden: Es waren vor allem die Straßen des alten Tiflis und seine Geschichte, die Paradžanov seine Inspiration lieferten. Paradžanov integrierte die kaukasischen Motive und Kulturelemente in die gesamtsowjetische Filmtradition. Vom kommunistischen Regime verfolgt und unterdrückt, agierte er als Mittler zwischen der russischen und der kaukasischen Welt.
Zusammenfassung: Zwei Jahrhunderte Geschichte des Kaukasus
Ein 1994 herausgekommener Sammelband zur kaukasischen Geschichte und Gegenwart erschien unter dem Titel Dobre miejsce do umierania ("Ein guter Ort zum Sterben").82 Er spielte damit auf die ethnischen Konflikte an, die Ende der 1980er Jahre das Geschehen in der gesamten Region prägten.83 Diese ethnischen Konflikte und Kriege stehen in Kontinuität zum Geschehen im 19. und 20. Jahrhundert, als der Kaukasus zur russischen Provinz wurde. Wenn die Geschichte des Imperiums die Geschichte seiner Eroberung und Unterwerfung ist,84 dann ist die Geschichte der Peripherie des Imperiums die Geschichte des Widerstands und der Kooperation. Die Nationalitäten der Region befanden sich dabei immer wieder in Konfrontation mit den Kolonisten (antizaristische Verschwörungen der georgischen Adligen, bewaffnete Aufstände der kaukasischen Muslime sowie die nordkaukasische Šāmil-Bewegung im 19. Jahrhundert, der Widerstand der Armenier gegen die Konfiszierung der Kirchenschätze um 1904/1905, die antisowjetischen Auflehnungen in Georgien und Aserbaidschan 1920–1924, die Dissidentenbewegung der 1970er Jahre, schließlich die beschleunigte Ablösung von der UdSSR bereits 1989/1990 und die Tschetschenienkriege in den 1990er Jahren85). Die Feindbilder wurden innerhalb der Intellektuellenschicht tradiert. Zwar war die kaukasische Intelligenzija bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eng mit der russischen verbunden, sie blieb jedoch größtenteils kaukasus- und nationalorientiert. Die Intellektuellen waren Mittler: Sie setzten sich mit der russischen Kultur auseinander, gingen jedoch nicht in ihr auf. Die Kulturschaffenden aus dem Kaukasus wurden zur Brücke zwischen Sankt Petersburg, Moskau und der eigenen Region: Sie übersetzten die russische Klassik und die europäische Literatur aus dem Russischen in die eigenen Sprachen und protestierten damit gegen die zaristische Russifizierung der 1880er und die sowjetische Russifizierung der 1950er bis 1970er Jahre. Die beiden letzten Jahrhunderte waren ein Zeitraum der massiven Auseinandersetzung mit Russland, der Suche nach der eigenen Identität und der Selbstbehauptung der Nationen in der Region.
Eine Figur wie Bakıxanov beispielsweise trug auf der einen Seite zur russischen Orientalistik bei, vermittelte zwischen den zaristischen Behörden und den muslimischen Kaukasusvölkern. Er stand im Dienst der zaristischen Politik und war als Adliger gleichberechtigt integriert in die gesamtrussische Adelshierarchie. Auf der anderen Seite wollte er den russisch gewordenen Kaukasus verlassen, in dem er sich unwohl fühlte. Ähnlich ging es den georgischen Intellektuellen.86 Sie wurden in Petersburg, Warschau und Dorpat (heute Tartu) ausgebildet, waren mit der russischen Elite vernetzt: Trotzdem strebten sie schon in den 1860er bis 1880er Jahren mehr Autonomie für Georgien an.
Im 20. Jahrhundert nahm die Verflechtung der kaukasisch-russischen Kontakte noch mehr zu. Die kaukasischen Kommunisten, die ihre Karriere um die Jahrhundertwende in Tiflis und Baku begonnen hatten, wechselten bereits in den 1920er Jahren nach Moskau. In der Zeit des Roten Terrors wurden die russischen und kaukasischen Intellektuellen – wie auch Angehörige aller anderen Nationen der UdSSR – Opfer der Verordnungen und Beschlüsse der Moskauer Zentrale. Noch in den 1940er Jahren mussten die muslimischen Völker des Kaukasus die kyrillische Schrift übernehmen.87
In den 1950er Jahren wurde das Russische in der gesamten Region massiv gefördert. Zwangsläufig nahm auch die Verflechtung im Bereich der Kultur nach dem Ende der Stalin-Ära zu. In den 1960 und 1970er Jahren wurden neue Siedlungsrayons im Geist des "sozialistischen Realismus" gebaut, so dass sich das typische Bild der Städte deutlich veränderte – gewissermaßen eine "architektonische Sowjetisierung". Gleichzeitig entwickelte sich der Kaukasus zu einem Kurort von gesamtsowjetischer Bedeutung, zog Menschen aus den anderen Republiken und vor allem aus Russland an. Umgekehrt strömten Tausende von Kaukasiern zum Studieren und Arbeiten nach Moskau, Kiew und Minsk.
Insgesamt begann gerade in dieser Zeit der Anteil der russischen Bevölkerung in der gesamten Region zu sinken, die Zahl der Einheimischen dagegen nahm zu. Die 1970er Jahre brachten der Region des Kaukasus eine Bildungsexpansion, eine "stille Revolution" und eine Blütezeit des Romans. In Musik, Literatur und Kultur dominierten die nationalhistorischen Motive nun eindeutig. Ähnlich wie im 19. Jahrhundert, als die russischen Intellektuellen sich vom Kaukasus faszinieren ließen,88 kam es verstärkt zu wechselseitigen Beeinflussungen zwischen dem Kaukasus und Russland. Die kaukasische und vor allem die georgische Filmindustrie und Gesangskultur gewannen an Popularität in der gesamten Sowjetunion.89 Mittlerweile setzte zumindest im südlichen Kaukasus der allmähliche Desintegrationsprozess von Russland ein – dieser Trend blieb bis zum Zerfall der Sowjetunion bestehen.
Die Geschichte des Kaukasus ist die Geschichte eines multinationalen und multikonfessionellen Raums, der über längere Zeitperioden fremdbestimmt war. Die Auseinandersetzung der Region mit den Nachbarländern und ihre Inkorporation in mehrere Imperien sind die beiden Komponenten, die die historische Entwicklung des Kaukasus intensiv geprägt haben. An der Peripherie der Imperien (Osmanisches Reich, Persien, Zarenreich, UdSSR) lebend schwankten zumindest die Eliten der Region zwischen Anpassung an die imperialen Ordnungen und Widerstand gegen die religiöse, sprachliche und politische Fremdherrschaft. Die Kultur- und Machteliten im Kaukasus im 19. und 20. Jahrhundert wurden zu Mittlern zwischen Sankt Petersburg und Moskau sowie der eigenen Region und nationalen Gemeinschaft. Im 19. Jahrhundert ermöglichten die kaukasischen Intellektuellen den Transfer der aus Paris und Berlin in das Zarenreich eingeflossenen europäischen Ideen aus Petersburg, Kiew und Tartu in die kaukasischen Städte. Dies gilt für Bakıxanov genauso wie für die georgischen und armenischen Intellektuellen, die in den Kaffee- und Teehäusern von Tiflis intensiv über Europa und den Kaukasus diskutierten. Nationalismus und Marxismus waren die wichtigsten europäischen Exportartikel des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Beide prägten fast die gesamte Bildungselite der Region, und die Lehranstalt in Gori wurde zum Prototyp eines Forums für die nationalen Kräfte in der Region. Die Kaukasier beteiligten sich am marxistischen Diskurs Russlands, wo man wiederum reges Interesse am sozialdemokratischen Diskurs in Westeuropa zeigte: Auf diese Weise waren die kaukasischen Intellektuellen bereits Ende des 19. Jahrhunderts in den gesamteuropäischen Diskurs zumindest der Sozialdemokratie integriert.
Während die Bolschewiki in Russland die Macht eroberten, etablierten sich im Kaukasus Nationalstaaten, die in ihrer Innenpolitik zwischen europäischer Sozialdemokratie und Nationalismus schwankten. Gerade während der kurzen Phase der Unabhängigkeit wurde Europa zum wichtigsten Orientierungspunkt der gesamten Kaukasusregion. Antibolschewismus und Antikommunismus wurden zur Grundlage, auf der sich Europa und der Kaukasus annäherten.
Nach der Sowjetisierung des Kaukasus wurde die intensive Auseinandersetzung der kaukasischen Intellektuellen mit Europa im europäischen Exil fortgesetzt. Der sowjetische Kaukasus aber wurde ein Teil des "politischen Großraumes Osteuropa". Wie im Baltikum und der Westukraine brachte die Sowjetisierung des Kaukasus jedoch keine absolute Gleichschaltung der Kultur mit sich. Das Russische konnte z.B. die lokalen Sprachen nicht verdrängen. Die Entwicklung der sowjetisch-kaukasischen Kulturen – unter den Bedingungen des "von oben" propagierten sozialistischen Realismus – wurde immer wieder durch das Wirken von "Abweichlern" geprägt. Zu diesen können z.B. die Malerin Elene Achvlediani und der Filmregisseur Sergej Paradžanov gerechnet werden. Wie Hunderte anderer Kulturschaffender wurden sie von der sowjetischen Realität geprägt; sie beherrschten Russisch und kannten sich ausgezeichnet in der russischen Kultur aus. Ihr Wirken entsprach jedoch nicht der von den Bolschewiki verkündeten Parole "National in der Form, sozialistisch im Inhalt", welche auf die Formel "Proletarisch dem Inhalt nach, national der Form nach" zurückgeht, die Stalin schon 1925 vorgeschlagen hatte.90 Die kaukasischen Intellektuellen bewegten sich bis zum Zerfall der Sowjetunion 1991 in parallelen Räumen, im sowjetisch-russischen und im eigenen, lokalen. Das galt – wenigstens zum Teil – auch für die kaukasischen Kommunisten und die Bevölkerung insgesamt.
So bestätigt es jeder Blick auf die Geschichte des Kaukasus: Nichts prägte diese so sehr wie die Grenzlage zwischen mehreren Großmächten, aber auch verschiedenen Kulturräumen – dem osmanischen, dem russischen, dem persischen und dem europäischen.