Der Erste Weltkrieg als Medienereignis
Der Erste Weltkrieg war kein Medienereignis.1 In seinem Verlauf allerdings, so die hier vertretene These, waren die kriegführenden Parteien mehr und mehr darum bemüht, Medienereignisse zu konstruieren und für die Kriegführung nutzbar zu machen, um mit ihnen die eigene Bevölkerung, neutrale Staaten, Verbündete und Kriegsgegner zu beeinflussen. Aus der Vielzahl der Vorgänge im Krieg herausgehoben, sollten einzelne Kriegsereignisse als Medienereignisse dem Krieg in der öffentlichen Rezeption Struktur und Richtung geben, wobei nicht selten unterschiedliche Konstruktionen ein und desselben Ereignisses in Konkurrenz zueinander traten. In dieser Lesart war der Erste Weltkrieg also nicht ein Medienereignis, sondern bestand aus zahlreichen Medienereignissen (und nicht minder häufigen medialen Nicht-Ereignissen), die von den kriegführenden Mächten konstruiert wurden.
Beispiele hierfür waren bereits die Kriegsberichterstatter, die etwa im österreichisch-ungarischen Kriegspressequartier gerade zu Kriegsbeginn nur auf Basis von Heeresberichten darangingen, für die Leserschaft daheim die alltäglichen Geschehnisse "an der Front" als berichtbare Ereignisse zu erschaffen.2 Auch die im Kriegsverlauf zunehmend für wichtig gehaltenen Filme, wie der berühmte The Battle of the Somme, kreierten zusammenhängende Ereignisse innerhalb des sich über Jahre hinziehenden Stellungskrieges, um etwa die Einsatzbereitschaft der "Heimatfront"[] zu stärken – wobei schon aufgrund der technischen Möglichkeiten immer auch gestellte Szenen Teil der solcherart medial (re-)konstruierten Kriegsereignisse waren.3 Letztlich wurde sogar die Identität der jeweiligen Kriegsgegner als Gruppe durch Medienereignisse mit erschaffen. So spielten nicht zuletzt Postkarten und Poster[] eine zentrale Rolle in der erfolgreichen Konstruktion der barbarischen deutschen Gegner als "Boche" oder "Hun" durch französische wie britische Propagandisten.4
Bei aller Vielfalt der unterschiedlichen Medien waren allerdings im Ersten Weltkrieg die Zeitungen das Medium, das mit Blick auf die Verbreitung von Nachrichten und auch die politische Deutung des Konfliktes tonangebend war,5 und es waren die textlichen Berichte, die bei aller illustrativen Kraft etwa der Photographie den Krieg erzählten.6 Auf ihnen liegt daher der Fokus, wenn im Folgenden für die zentrale These dieses Textes argumentiert wird. Zu diesem Zweck wird zunächst am Beispiel der Seeschlacht vor dem Skagerrak eine umkämpfte mediale Ereigniskonstruktion aufgezeigt. Im Anschluss wird diese in die Überlegungen der an der Schlacht beteiligten britischen und deutschen Streitkräfte zum Einsatz von Medien und zur Konstruktion von Medienereignissen im Rahmen der Kriegführung eingeordnet, die hier als Beispiele ausgewählt wurden, weil diese beiden zentralen Konfliktparteien des Ersten Weltkrieges nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Kriegszeit eine besonders aktive Medienarbeit verfolgten, die immer wieder auch auf die des jeweils anderen bezogen war.7 Abschließend wird kurz eine zweite These angedeutet – nämlich diejenige, dass es nach Kriegsende sehr wohl Gruppen gab, die daran interessiert waren, den Ersten Weltkrieg in der Rückschau als ein Medienereignis neu zu konstruieren. Zunächst jedoch zur Seeschlacht vor dem Skagerrak.
Die Medienschlacht vor dem Skagerrak
Die Seeschlacht vor dem Skagerrak8 am 31. Mai und 1. Juni 1916 war die größte Konfrontation zwischen der britischen Grand Fleet und der deutschen Hochseeflotte. Sie hatte weitgehend "außer Sicht" stattgefunden, nicht nur der breiteren Öffentlichkeit der beteiligten Nationen, sondern auch der militärischen Spitzen und sogar der meisten Beteiligten, die sie im Inneren der Schiffe erlebten. Eine ähnliche Nicht-Sichtbarkeit gilt zwar für die meisten Schlachten des Krieges, allerdings war sie bei der Konfrontation zur See besonders augenfällig. Letztere wurde anschließend in den Medien von den militärischen Spitzen beider Seiten, jeweils unterstützt von Journalisten, als eigener Erfolg konstruiert. So wurden gegeneinander gerichtete Varianten der Schlacht erschaffen: konkurrierende Medienereignisse. Mit ihnen sollten Menschen in der jeweiligen Heimat ebenso wie in neutralen Ländern vom jeweils eigenen Sieg überzeugt, die Gegner verunsichert und die eigenen Verbündeten motiviert werden.
Wie diese gegeneinander gerichteten Medienereignisse mit Blick auf die genannten Ziele konstruiert wurden, zeigt eine Analyse der Berichterstattung des liberalen Berliner Tageblatts, das in den hier fokussierten ersten Juniwochen 1916 den verordneten politischen "Burgfrieden" noch einzuhalten bestrebt war, und der Londoner Times, die sich in der fraglichen Zeit im Besitz Lord Northcliffes (Alfred Harmsworth, 1865–1922) befand. Die Zeitungen können mit Blick auf ihre Beiträge zur Seeschlacht als beispielhaft füHerbert Kitchener, 1850–1916[]) kurzfristig die Schlagzeilen bestimmte. Nach zwei Wochen war die Intensität der Berichterstattung dann rückläufig, obwohl sie anlässlich besonderer Ereignisse wieder zunahm, etwa nach dem Erscheinen des offiziellen Berichts des britischen Kommandeurs Admiral John Jellicoe (1859–1935) im Juli 1916.
Die medialen Varianten der Schlacht wurzelten auf beiden Seiten im Ablauf der maritimen Auseinandersetzung. Diese hatte am 31. Mai 1916 im Seegebiet vor dem Skagerrak9 begonnen und sich bis in die frühen Morgenstunden des 1. Juni gezogen. Eigentlich hatte der zu Jahresbeginn zum Kommandeur der Hochseeflotte ernannte Vizeadmiral Reinhard Scheer (1863–1928) nur Teile der britischen Grand Fleet konfrontieren und schwächen wollen. Da aber der deutsche Funk entschlüsselt worden war, wusste Jellicoe von den deutschen Aktivitäten. Er lief vor dem Gegner aus, um diesen mit der gesamten Grand Fleet zu stellen. Zunächst trafen allerdings die schnellen Schlachtkreuzer beider Seiten aufeinander, wobei die britische Seite vergleichsweise schwere Verluste erlitt. Danach folgte die Konfrontation der Hauptteile beider Flotten. Aus dieser zogen sich die deutschen Seestreitkräfte bald schwer angeschlagen zurück. In der Nacht waren vor allem kleinere Einheiten beider Seiten aktiv. Am nächsten Morgen kehrte die deutsche Flotte in ihre Häfen zurück. Sie hatte der britischen Flotte schwerere Verluste zugefügt, als sie selbst erlitten hatte, die britische Seeherrschaft allerdings bestand fort.10
Da die Hochseeflotte vor ihrem Gegner in die eigenen Häfen zurückgekehrt war, konnte der deutsche Admiralstab die erste offizielle Nachricht über die Konfrontation auf der Nordsee verbreiten. So war in der Morgenausgabe des Berliner Tageblatts am 2. Juni 1916 zu lesen, es habe eine "[e]rfolgreiche Seeschlacht gegen den Hauptteil der englischen Flotte" stattgefunden.11 Die Größe des Erfolgs machte die Marineführung hier am Verhältnis der Verluste fest:12 Zwei verlorenen und einem vermissten deutschen Schiff wurden mindestens sechs britische Verluste gegenübergestellt.13 Im Verlauf der nächsten Tage gestand die deutsche Seite schrittweise ihre vollständigen Verluste ein, in Summe blieben sie jedoch geringer als die britischen.14 Der Marinefachmann der Zeitung, Kapitän zur See a.D. Lothar Persius (1864–1944),15 betonte in der Abendausgabe, dass die Royal Navy nicht nur wichtige Schiffe, sondern auch "Prestige" verloren habe. Denn obwohl schon weitere deutsche Verluste bekannt geworden waren, seien die hervorragenden Leistungen deutscher Seeleute und deutscher Technik unübersehbar. Der Hochseeflotte sei "ein empfindlicher Schlag" gelungen – auch wenn er bereits einräumte, dass ihr die Grand Fleet zahlenmäßig weiterhin überlegen war.16
Der Admiralstab und das seine Lesart weitgehend stützende Berliner Tageblatt verfolgten mit ihrer Darstellung der Seeschlacht drei Ziele: Zunächst sollte das Ansehen der deutschen Marine im Inland hochgehalten und die langjährige Flottenrüstung vor dem Krieg gerechtfertigt werden. Persius hatte diesbezüglich schon im Anschluss an die erste offizielle Meldung betont, dass der Ausgang der Schlacht "in Deutschland lebhafteste Freude und Genugtuung hervorrufen wird"17 und der Reichstagspräsident Johannes Kaempf (1842–1918) im Parlament hervorgehoben, dass "seitens unserer jungen Marine ein großer schöner Erfolg erzielt worden ist."18 In der Auslandsausgabe des Tageblatts hieß es später sogar explizit, die Politik der Flottenrüstung habe sich als gerechtfertigt erwiesen.19 Zweitens ging es darum, in neutralen Ländern den Eindruck zu erzeugen oder zu bestärken, dass man der britischen Marine zwar nicht ebenbürtig, aber auch nicht ausgeliefert und deren Seeherrschaft keineswegs unangefochten sei.20 Immerhin war man darauf angewiesen, dass neutrale Reedereien trotz der britischen Seeblockade Waren für das Kaiserreich zu transportieren wagten. Drittens zielte die Darstellung darauf ab, Zweifel an der britischen Marine im gegnerischen wie im verbündeten Lager zu säen und somit möglicherweise den Kriegsverlauf zu beeinflussen.
Diese drei Ziele wurden – mit umgekehrten Vorzeichen – auch auf britischer Seite verfolgt. Im Hinblick auf die letzteren beiden traten die britischen und deutschen Konstrukteure der medialen Variante der Seeschlacht sogar in einen direkten Wettkampf. Die britische Admiralty begann aufgrund der späteren Heimkehr der Grand Fleet allerdings mit einer etwa eintägigen Verzögerung. Die ersten Meldungen erschienen in der Times am 3. Juni. Zunächst bestätigten sie scheinbar die jubilierenden deutschen Stimmen, denn die Admiralty räumte schwere Verluste ein. Allerdings betonte sie zugleich drei Aspekte, die diese relativieren sollten: Zum einen seien die Bedingungen der Schlacht sehr zu Gunsten der Deutschen ausgefallen, zum zweiten habe man dem Gegner Verluste beigebracht, die mindestens so schwer seien wie die eigenen, und drittens habe die Hochseeflotte die Flucht ergriffen, kurz nachdem der Hauptteil der Grand Fleet in die Schlacht eingegriffen habe.21
Auch in Großbritannien wurde die mediale Konstruktion des Admiralstabs von Journalisten unterstützt. Ihr Anteil an der Gestaltung des Medienereignisses war dabei größer als derjenige ihrer deutschen Pendants. Sie kritisierten die staatlichen Stellen freier, führten in stärkerem Maße selbständig recherchierte Informationen an und begründeten damit die eigene Interpretation. Angesichts der verspäteten Berichterstattung war dies von der Admiralty durchaus gewünscht; sie hatte diesbezüglich gezielt die Zensur gelockert.22 So stützte die Redaktion der Times nicht nur die Meldung der Admiralty mit Korrespondentenberichten und Kommentaren, sondern erweiterte sie auch. Sie betonte, dass die deutsche Marine nur erfolgreich gewesen sei, solange sie in der Überzahl war23 und stellte heraus, dass Zeppeline und minenlegende U-Boote eine wichtige Rolle für den deutschen Erfolg gespielt hätten, nicht allein das seemännische Können und die Qualität der Flotte,24 das dagegen auf der eigenen Seite herausragend gewesen sei.25 Vor allem aber, so hieß es, ändere der Ausgang der Seeschlacht nichts an der "naval situation": Die Blockade bestehe fort, die Alliierten könnten sich auf den Weltmeeren frei bewegen und Deutschland müsse sich, um dies zu ändern, weiterhin der Grand Fleet stellen.26
Damit waren die Grundzüge der Seeschlacht als Medienereignis(se) festgezurrt: In ihrer deutschen Version hatte sich eine aufgrund von politischer Weitsicht hervorragend ausgebildete, ausgerüstete und motivierte junge Marine ihrem überlegenen Gegner gestellt und diesem bei leichten eigenen Verlusten schwere Schäden an Menschen, Material und Ansehen zugefügt. Das britische Medienereignis hingegen war ein Abwehrerfolg: Die deutsche Flotte hatte dank zahlreicher für sie glücklicher Umstände schwere Schäden verursachen können, aber die traditionsreiche Royal Navy hatte sie in die Flucht geschlagen, ihr mindestens ebenso schwere Verluste beigebracht und einen Angriff auf ihre Seeherrschaft zurückgeschlagen. In den folgenden Tagen wurden diese Interpretationen verfestigt und ihre Rezeption bei den Zielgruppen im Inland, bei Neutralen, Verbündeten und Gegnern geprüft.
Mit Blick auf die eigene Bevölkerung betonte die Londoner Zeitung, dass die erlittenen Verluste nur ihre Entschlossenheit steigern würden: "Es wird sie zu erneuten Anstrengungen antreiben, es wird nutzlosen und schädlichen Optimismus vertreiben, es wird ihre unabänderliche Entschlossenheit stählen, diesen Krieg zu gewinnen oder unterzugehen." 27 Das Blatt bedauerte zwar, dass die deutsche Seite in der Lage gewesen sei, ihre "Version der Kämpfe" in zahlreiche neutrale Länder zu verbreiten, schließlich sei sie "wie üblich übertrieben und irreführend" und diene dazu, "gutgläubige Neutrale für den Moment zu beeindrucken und selbst ... bei einigen unserer Alliierten temporäre Entmutigung hervorzurufen".28 Letztlich aber könne man auf die Urteilsfähigkeit der Verbündeten wie auch der Neutralen vertrauen.29 Immerhin habe sich die New Yorker Börse von Kurseinbrüchen nach den deutschen Erfolgsmeldungen erholt30 und die niederländischen Medien fragten bereits, warum die angeblich erfolgreiche deutsche Flotte sich in ihre Häfen zurückgezogen habe.31 Am 5. Juni berichtete die Times, die öffentliche Meinung in den USA laute: "Britannia still rules the waves."32 Im verbündeten Frankreich hätte die Schlacht erstmals dazu geführt, dass die Größe des britischen Beitrags zum Krieg anerkannt würde.33
Auf deutscher Seite betonte Persius am Tag der ersten britischen Äußerung zur Seeschlacht, dass man damit rechnen könne, dass Großbritannien versuchen werde, eigene Verluste zu verbergen oder zu relativieren und auf deutscher Seite größere "zu konstruieren".34 Solche "Legendenbildungen", wie es der kaiserliche Admiralstab in einer weiteren Erklärung bezeichnete,35 seien freilich aussichtslos, da "[d]ie neutrale Presse" wisse, "daß der deutsche Admiralstab jeden Verlust meist sofort einräumte."36 Es sei unbestreitbar, dass es der Hochseeflotte "gelang, jenem übermütigen Wort 'Britannia rules the waves' wieder einen kräftigen Stoß zu geben."37 Das Berliner Tageblatt brachte zahlreiche Meldungen aus neutralen und verbündeten Ländern, die bezeugen sollten, dass die in den deutschen Medien konstruierte Variante der Seeschlacht diejenige sei, die sich mit der maritimen Realität decke.38 So wurden Berichte zitiert, nach denen die Schlacht "die größten weltgeschichtlichen Folgen haben" werde.39 Schwedische Zeitungen etwa hätten geurteilt, die britische "Herrschaft über die See erweist sich nun im höchsten Grade als zweifelhaft."40 Mit Blick auf Großbritannien selbst führte das Tageblatt am 4. Juni die Daily News als Kronzeugin an, die eine britische Niederlage anerkannt habe.41 Britischen Vorwürfen, man verschleiere eigene Verluste,42 entgegnete Persius: "Kein Urteilsfähiger … hegt daran einen Zweifel, daß der Admiralstabsbericht über unsere Verluste zutreffend ist."43 Auch nachdem die deutsche Marine weitere Verluste einräumen musste, was die britische Seite weidlich ausnutzte, um die deutsche Glaubwürdigkeit zu attackieren,44 blieb Persius unbeirrt. Man habe großes geleistet, dies bestätigten "Zeitungsstimmen aus Feindesland und aus Neutralien! Niemand kann … abstreiten, daß die Schlacht ein kostbares Ruhmesblatt in der deutschen Seekriegsgeschichte bildet."45
Die beiden Varianten der Seeschlacht als Medienereignisse standen also in direkter Konkurrenz zueinander. Verbunden waren sie mit der – wiederum auch mit Blick auf die heimische Leserschaft formulierten – Hoffnung, dass sie den Kriegsverlauf beeinflussen könnten. So betonte Josef Schwab (1865–1942) in der wöchentlichen Auslandsausgabe des Berliner Tageblatts am 6. Juni, der Erfolg der deutschen Flotte habe verdeutlicht, "dass die verbündeten Mittelmächte nicht mehr niederzuringen sind." Die "politische Bedeutung dieses unseres Sieges" müsse den Gegnern verdeutlicht werden, damit sie sich zum Friedensschluss bereit erklärten.46 Auf britischer Seite sah Winston Churchill (1874–1965) in der Schlacht "einen eindeutigen Schritt zur Erlangung des vollständigen Sieges"47 und ein Leitartikel der Times bestätigte, sie habe die Entschlossenheit im Land gesteigert, so dass es den von deutschen Agenten inspirierten neutralen Friedensvermittlungsvorschlägen widerstehen werde. "Das Ausmaß unserer Verluste an Männern und Schiffen hat uns die grimmige Entschlossenheit eingebrannt, diese Verluste nicht umsonst gewesen sein zu lassen."48
Gegen die andere Konstruktion durchsetzen konnte sich keines der beiden Medienereignisse. Denn, wie schon am 5. Juni der Marinekorrespondent der Times beobachtete: "Es kann niemanden überraschen, dass beide Seiten einen Sieg beanspruchen, die Deutschen, weil sie in ihrem ersten großen Aufeinandertreffen mit der stärksten Flotte der Welt nicht entscheidend geschlagen wurden, und die Briten weil sie verhindert haben, dass der Gegner sein Ziel erreicht und ihn zur Flucht zwangen."49 Freilich hielt das keine der beiden Seiten davon ab, weiter im Sinne der eigenen medialen Version der Schlacht zu schreiben: Die Wochenausgabe des Berliner Tageblatts vom 14. Juni endete mit einer Karikatur, die zwei Matrosen in der Nordsee zeigte. Der deutsche Seemann rief mit triumphierend erhobenem Gewehr dem sich davonstehlenden Briten hinterher: "'Heda, Engländer, du hast was verloren!' 'Was denn?' 'Die Seeherrschaft!'"50
Der öffentliche Streit um die Deutung der Seeschlacht endete nicht im Kriegsverlauf – er wurde in den Jahren danach weitergeführt.51 Ein Grund dafür mag sein, dass letztlich beide Versionen der Schlacht begründet werden konnten. Wenn man so will, wurden über die Dauer des Krieges hinweg zwei konkurrierende Medienereignisse konstruiert, die auch dazu gedacht waren, den Verlauf des Krieges selbst zu beeinflussen – indem sie die Heimat und Verbündete motivierten, Neutrale auf die eigene Seite zogen oder die Gegner demoralisierten. Dieses Vorgehen war kein Zufall. Tatsächlich hatten britische wie deutsche Streitkräfte im Kriegsverlauf zunehmend versucht, den Konflikt mittels medialer Berichterstattung zu beeinflussen.52
Medienereignisse in den Medienstrategien der Streitkräfte
Die Idee, mithilfe medialer Berichterstattung menschliches Handeln in größerem Umfang beeinflussen zu können, war vor dem Ersten Weltkrieg insbesondere im Nachrichtenbüro des Reichsmarineamtes der deutschen Marine53 verfolgt worden.54 Auf Basis der Erfahrungen aus Friedenszeiten und inspiriert von Beobachtungen des Russisch-Japanischen Krieges wurde bereits im Januar 1905 die Idee geäußert, das Büro in Kriegszeiten "für die Veröffentlichung von Kriegsnachrichten, der Kriegsberichte etc., sowie zu einer hierdurch möglichen Beeinflussung der Kriegslage" einzusetzen.55 Ein Jahr später hatte der Admiralstab diese Idee übernommen und vertrat die Ansicht, die deutsche Marine benötige im Krieg eine zentrale Stelle für die Arbeit mit den Medien, die "im Interesse der eigenen Kriegführung … Nachrichten in die Zeitungen bringt, … von denen man sich im Allgemeinen – namentlich im Auslande – einen Vorteil für die eigene Sache verspricht."56
Im Krieg begann die deutsche Marine ab dem 3. August 1914 damit, Nachrichten im eigenen Sinne publizieren zu lassen.57 Das Heer folgte ihr zunächst zögerlich und sah eine Informationsausgabe an die Medien vor allem als Gegenleistung für deren Kooperation bei der Geheimhaltung "militärisch relevanter" Punkte an.58 Ähnlich zugeknöpft gab sich anfangs auch das britische Militär.59 Hier wie dort änderten die Streitkräfte jedoch bald ihre Einstellung und fingen an, sich für eine mediale Unterstützung des kriegerischen Geschehens einzusetzen. Das deutsche Heer ließ vom Winter 1914/1915 an einzelne Kampfhandlungen für die Presse aufarbeiten. Im Dezember 1914 forderte Generalquartiermeister General Adolf Wild von Hohenborn (1860–1925) Berichte über heroische Leistungen, "den Helden zur Ehre, ihren Angehörigen zum Stolz, den jungen Mannschaften zum Ansporn."60 Eine Kriegsnachrichtenstelle61 hatte laut General Erich von Falkenhayn (1861–1922) "an der Hand der Gefechtsberichte einzelne in sich abgeschlossene Gefechtshandlungen, vor allem unter Berücksichtigung hervorragender Leistungen von Truppen oder Einzelpersonen der Öffentlichkeit zu übergeben."62 Es sollten, mit anderen Worten, militärische Geschehnisse in Medienereignisse transformiert werden, um die heimatliche Zivilgesellschaft zu motivieren, die Kriegführung zu unterstützen. Denn diese Unterstützung galt als elementar. In den Worten des Generalobersten Helmuth von Moltke (1848–1916): "Der Ausgang des Krieges hängt nicht allein von der Armee ab. Zur anderen Hälfte bestimmt das Volk selbst den Ausgang des Krieges. Die Haltung, die wir hier zuhause zeigen, wirkt durch Millionen Fäden zurück auf die Haltung unserer Soldaten."63 Derartige Versuche wurden im weiteren Kriegsverlauf ausgeweitet.64 Das britische Militär folgte dem deutschen auf dem Fuße, und obwohl den Medien hier größere Spielräume für eigene Initiativen gelassen wurden, nutzten führende Militärvertreter wie Feldmarschall Douglas Haig (1861–1928) die Zensur und persönliche Beziehungen zu Journalisten, um Berichte von militärischen Vorgängen in ihrem Sinne als Medienereignisse gestalten zu lassen.65
Neben der Heimat wurden neutrale Staaten in den Blick genommen. Wiederum wurden zuerst die deutschen Streitkräfte aktiv. Ihnen ging es nicht zuletzt darum, die Strategie des Einsatzes von U-Booten gegen Handelsschiffe als legitime Reaktion auf die Blockade Deutschlands erscheinen zu lassen.66 Das britische Militär, das hierin den Einsatz medialer Berichterstattung als "vierte Waffe" erblickte,67 legte im Gegenzug auf regelmäßigen Konferenzen die eigene Perspektive dar und verbreitete offizielle Berichte wie diejenigen Haigs.68 Die Konstruktion der Seeschlacht vor dem Skagerrak als Medienereignis zeigt beispielhaft, wie wichtig das Urteil neutraler Staaten über die eigene Darstellung der militärischen Vorgänge von den Streitkräften genommen wurde – und wie sehr sie sich untereinander beobachteten.
Tatsächlich nahm die Seeschlacht eine Scharnierposition in der Medienarbeit der Streitkräfte im Krieg ein. In der zweiten Hälfte des Konfliktes wurde sie, unter ständiger Beobachtung des Gegenübers, immer weiter intensiviert und als Möglichkeit verstanden, den Gegner, nicht zuletzt in Gestalt seiner zivilen Bevölkerung, zu schwächen. Kurz vor der Begegnung der beiden Schlachtflotten in der Nordsee hatte der deutsche Marine-Medienexperte Karl Boy-Ed (1872–1930) betont, es sei wichtig, "die Seekriegführung, wenn immer es durch die Presse möglich ist, zu unterstützen."69 Auch aufseiten des Heeres wünschte er sich entsprechende Aktivitäten, denn der Krieg sei zunehmend "ein solcher der öffentlichen Meinungen geworden" und: "Die Taten allein tun es in unserer Zeit der Presse-Herrschaft eben nicht!"70 Die "Taten", mithin militärische Vorgänge, bis hin zu eigenen Siegen, mussten seiner Lesart nach, um sich auf den Kriegsverlauf auszuwirken, auch medial aufbereitet, mit anderen Worten als Medienereignisse inszeniert werden. Mit dieser Ansicht stand er nicht allein. Anfang 1918 betonte der Erste Generalquartiermeister Erich Ludendorff (1865–1937), dass Berichterstatter der Militärischen Stelle des Auswärtigen Amtes die Aufgabe hätten, "die militärischen Erfolge der deutschen Waffen durch Aufklärungsarbeit mittels Feder, Bild und Film und mündliche Propaganda im neutralen und feindlichen Ausland politisch auszuwerten".71 Die mediale Inszenierung der eigenen Erfolge war für ihn ein "Hilfsmittel zur Erreichung des Sieges"72 mit dem Ziel, "durch richtige propagandistische Auswertung unserer militärischen Siege den Kriegswillen der feindlichen Heimatarmeen zu zertrümmern."73 Schlachten als Medienereignisse zu inszenieren war angesichts der festgefahrenen Frontverläufe aus Sicht des strategischen Kopfes der Obersten Heeresleitung entscheidend, um den Krieg erfolgreich führen zu können. Die britischen Streitkräfte waren im Vergleich zu derartigen Formulierungen eher zurückhaltend. Doch auch hier war ein Interesse an der begleitenden medialen Inszenierung der militärischen Vorgänge ebenso vorhanden wie die Ansicht, dass diese sich auf die Resultate der Kämpfe auswirken konnten. So war Haig daran gelegen, die Schlacht an der Somme medial als Erfolg zu präsentieren,74 und die Eroberung Jerusalems Ende 1917 wurde mit einem aufwändig gestalteten Einmarsch General Edmund Allenbys (1861–1936) auch als Medienereignis inszeniert.75 Letztlich waren es allerdings auf britischer Seite vor allem Politiker und Journalisten, die den Krieg durch geschickt konstruierte Medienereignisse zu beeinflussen suchten. Der Zeitungsbesitzer Lord Beaverbrook (Max Aitken, 1879–1964), im Krieg zum Minister of Information ernannt, vertrat die Ansicht, diese mediale Seite des Krieges sei "nicht weniger entscheidend für den Sieg als Flotten und Armeen".76
Bei aller Bedeutung, die der medialen Inszenierung des Ersten Weltkrieges in dessen Verlauf zugeschrieben wurde, darf freilich nicht übersehen werden, dass er letztlich nicht in den Medien, sondern durch die materielle, personelle und militärische Überlegenheit der Alliierten in Kooperation mit den USA entschieden wurde – auch wenn diese Meinung nicht von allen geteilt wurde.
Der Erste Weltkrieg als Medienereignis
Nachdem die Waffen (weitgehend) schwiegen und der Erste Weltkrieg beendet war, gab es durchaus Stimmen, die weiter davon überzeugt waren, dass seine mediale Ebene von entscheidender Bedeutung gewesen war.77 Dies waren einerseits die als erfolgreich geltenden Macher der Propaganda auf der alliierten Seite, die auch über ihren Kreis hinaus die Ansicht verfochten, dass ihre Arbeit wesentlich zum Kriegsausgang beigetragen habe.78 In Deutschland stürzten sich andererseits rechtsnationale Kreise geradezu auf die Möglichkeit, die eigene Niederlage zu erklären, ohne militärische Unterlegenheit einzugestehen. Angelegt worden war diese Lesart bereits, als Moltke 1915 die heimische Bevölkerung für den Kriegsausgang mitverantwortlich machte. Im November 1918 aktualisierte sie Paul von Hindenburg (1847–1934), indem er betonte, es sei den Gegnern "durch planmäßige Propaganda gelungen, die Stimmung in Heimat und Heer bei uns herabzudrücken."79 Es waren die ersten Bausteine der Dolchstoßlegende und eine wesentliche Grundlage der Propagandabegeisterung des Nationalsozialismus80 – in deren Zentrum die Rekonstruktion des Ersten Weltkriegs als ein von geschickt gesteuerten Medien entschiedener Konflikt stand – wenn man so will also die rückblickende Konstruktion des Ersten Weltkriegs als Medienereignis.