Einleitung
Von den 1870er Jahren bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs erreichte der westliche Imperialismus seinen Höhepunkt. Die Idee einer westlichen Zivilisierungsmission in anderen Teilen, die auf technischem Fortschritt sowie der Vorstellung einer moralischen wie kulturell höheren Entwicklung beruhte, diente als ein Hauptpfeiler des Imperialismus.1 Diese Auffassung von Überlegenheit hatte jedoch auch eine Kehrseite, mit der sie dialektisch verbunden war: die Unsicherheit der Imperialisten und ihre Angst vor den unterworfenen und kolonisierten Völkern.2 Eine der Erscheinungsformen, in denen dieses Angstgefühl zum Ausdruck kam, war die Vorstellung der "gelben Gefahr", alternativ auch "gelbe Bedrohung" oder "gelber Schrecken" genannt. Diese rhetorische Figur lief auf die Behauptung hinaus, dass von den Völkern Ostasiens, die seit den 1840er Jahren durch ungleiche Verträge benachteiligt worden waren, für Europa und Nordamerika auf unbestimmte Weise eine Bedrohung ausging.
Bislang ist der Begriff "gelbe Gefahr" meist in politischen und sozialen Debatten als Schlagwort benutzt worden.3 Als solches ist er als mehr oder weniger kontinuierlich bestehender Ausdruck wahrgenommen worden, der in den 1870er Jahren in den Vereinigten Staaten entstand, in den 1890er Jahren nach Europa überschwappte (wo ihm Diskussionen über eine angebliche russische und amerikanische Bedrohung vorausgegangen waren) und schließlich bis zum Ersten Weltkrieg, in der Zwischenkriegszeit und darüber hinaus verwendet wurde. In diesem Beitrag stütze ich mich auf diese Forschungslage, verbinde aber den Diskurs um die "gelbe Gefahr"4 zugleich mit drei Medienereignissen: dem Japanisch-Chinesischen Krieg von 1894/1895, dem Boxerkrieg von 1900/1901 und dem Russisch-Japanischen Krieg von 1904/1905.
Die "gelbe Gefahr" zwischen Diskurs und Medienereignis
Der Diskurs um die "gelbe Gefahr" umfasste mehrere Entwicklungslinien.5 Vor 1905 richtete er sich in erster Linie auf die Wirtschaft und die langfristigen Folgen des Imperialismus. Dabei wurde argumentiert, dass die imperialistischen Rahmenbedingungen kurzfristig zwar dazu beitragen würden, Gewinne zu erwirtschaften, langfristig aber auch zur Industrialisierung Japans und Chinas führen würden. Die Folge wäre ein wirtschaftlicher Wettstreit mit den Volkswirtschaften des Westens. Diese Erkenntnis hatte praktische Auswirkungen. In den Jahren 1896 und 1897 entsandten Großbritannien, die Vereinigten Staaten und das Deutsche Reich jeweils eigene Kommissionen nach Ostasien, um die wirtschaftliche Lage vor Ort näher zu untersuchen; in allen drei Fällen betonten die später erstellten Berichte die konkreten Vorteile und nicht etwa die potentiellen Nachteile eines wirtschaftlichen Engagements in der Region.6 Die Angst vor wirtschaftlichem Wettbewerb und die Furcht vor ostasiatischen (besonders chinesischen) Arbeitsmigranten gehörten zweifellos zusammen, wodurch das Schreckensbild von billigen Arbeitskräften aus China entstand, die ihre Pendants in Nordamerika und Europa aus dem Feld schlagen würden. Es war diese Vorstellung, die zur Entstehung des Begriffs "gelbe Gefahr" in den Vereinigten Staaten, genauer gesagt in Kalifornien, beitrug. Der Widerstand gegen die Einwanderer aus China zwang die politischen Institutionen der USA dazu, den Chinese Exclusion Act of 1882 zu erlassen, der die Zuwanderung chinesischer Arbeiter massiv beschränkte.7 Die Furcht vor chinesischer Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt griff wenig später auf Europa über, wobei sie gelegentlich von konkreten Initiativen angeheizt wurde. Beispielsweise machten lokale Beamte und Landbesitzervereinigungen in Westpreußen in der Zeit zwischen 1890 und 1910 wiederholt den Vorschlag, chinesische Landarbeiter für arbeitskraftschwache Regionen zu rekrutieren, um den Arbeitskräftemangel zu kompensieren. Diese Idee löste eine Kontroverse aus, in der soziale und kulturelle Stereotypen mobilisiert wurden, um den Import chinesischer Arbeitskräfte zu verhindern.8 In der Tat hatte die Sozialdemokratische Partei Deutschlands vor chinesischer Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt gewarnt und das Schlagwort "gelbe Gefahr" in der Annahme eingesetzt, dass es eine allgemeinere Kritik des Kapitalismus vermitteln könne. Der Internationale Sozialistenkongress 1900 scheiterte beinahe an der Frage, ob nichteuropäische Arbeitskonkurrenz vom europäischen Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden solle. Erst im Jahr 1907 wurde dieser Vorschlag schließlich zurückgewiesen.
Neben Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung waren es aber vor allem politische Interessen, die den Diskurs um die "gelbe Gefahr" prägten, da Ostasien hauptsächlich als politische und militärische Bedrohung für Europa und Nordamerika wahrgenommen wurde. An dem einen Ende des politischen Spektrums vertraten Gegner des Imperialismus wie Johann von Bloch (1836–1902) und Hermann von Samson-Himmelstjerna (1826–1908) die Position, dass der Imperialismus selbst für das Entstehen der "gelben Gefahr" verantwortlich zu machen sei, da dieser den Hass auf den Westen gefördert habe. Aus ihrer Sicht war es notwendig, sich mit den Völkern Ostasiens zu arrangieren. Am anderen Ende des politischen Spektrums lud die Popularität der "Weltreichslehre" zu Spekulationen über eine Neuordnung der Welt ein, in der Europa seine führende Rolle verlieren werde. Neben den Vereinigten Staaten und Russland wurde auch Ostasien als ein aufstrebender Konkurrent betrachtet.9
Sich wie oben umrissen mit dem Diskurs um die "gelbe Gefahr" zu befassen, heißt, seiner stabilen und dauerhaften intellektuellen Karriere zu folgen. Wenn man den Diskurs wiederum als ein Medienereignis betrachtet, wie es dieser Beitrag tut, dann muss ein vollständig anderer Ansatz gewählt werden. Medienereignisse sind "hohe Feiertage der Massenkommunikation",10 die den gewöhnlichen Lebensalltag und die vielen, mehr oder weniger flüchtigen gesellschaftlichen Diskurse und Debatten unterbrechen;11 sie stechen als "außergewöhnlich" hervor, während sie gleichzeitig ernste Anliegen in den Vordergrund stellen. Vor diesem Hintergrund sollte das Augenmerk nicht so sehr auf der fortwährenden Entwicklung des Diskurses um die "gelbe Gefahr" liegen, sondern vielmehr auf den von drei Ereignissen verursachten Brüchen, die immer wieder als Auslöser des Diskurses genannt werden: der Japanisch-Chinesische Krieg von 1894/1895, der Boxerkrieg von 1900/1901 und der Russisch-Japanische Krieg von 1904/1905. Während der erste Krieg als eine Art Vorspiel bezeichnet werden kann, waren die beiden späteren Ereignisse globale Medienereignisse, die sich auf eine moderne und ausgereifte Technologie stützen konnten. Die Berichterstattung über den Boxerkrieg erfolgte durch ein Telegrafennetz, das im Jahr 1900 um die ganze Welt lief und an das China bereits in den 1870er Jahren angeschlossen worden war.12 Die Berichte, die Lionel James (1871–1955) für die Londoner Times über den Russisch-Japanischen Krieg verfasste, waren wiederum die ersten in der Geschichte des Journalismus, die drahtlos übermittelt wurden.13 Die Beziehung zwischen Medienereignissen und "wirklichen" Ereignissen bedarf noch weiterer Klärung. An dieser Stelle muss die Bemerkung genügen, dass beide zwar jenes "Minimum von Vorher und Nachher" als die maßgebliche "Sinneinheit" aufweisen, "die aus Begebenheiten ein Ereignis macht";14 nichtsdestotrotz stimmten die Ereignisse vor Ort nicht immer mit deren Darstellung in den Medien überein. Als "echte" Ereignisse fanden alle drei Kriege im Rahmen von Friedensverhandlungen und daraus resultierenden – wiewohl oktroyierten – Verträgen ihr formales Ende: in dem Vertrag von Shimonoseki von 1895, in dem Boxer-Protokoll von 1901 und in dem Vertrag von Portsmouth von 1905. Weder das Boxer-Protokoll noch der Vertrag von Portsmouth setzten jedoch der Berichterstattung über die jeweiligen Kriege ein Ende; gerade im Fall des Boxerkriegs setzte sich diese im Gefolge des Friedensabkommens noch weiter fort. Das galt insbesondere für den westlichen Büchermarkt, der von Augenzeugenberichten, ob von Soldaten oder Missionaren, geradezu überschwemmt wurde.15
Vorspiel: Der Japanisch-Chinesische Krieg von 1894–1895
Obwohl der erste Japanisch-Chinesische Krieg als globales Medienereignis von den folgenden Kriegen von 1900–1901 und 1904–1905 weit in den Schatten gestellt wurde, steht seine Katalysatorfunktion für den Diskurs um die "gelbe Gefahr" außer Frage. Seine Wirkung war indes von Land zu Land verschieden. Während das Schlagwort nach dem Krieg regelmäßig in der französischen und belgischen Presse auftauchte, war es in Deutschland nur gelegentlich anzutreffen, kam dort aber im Jahr 1900 erneut zum Vorschein. Der Boxerkrieg von 1900–1901 war zugleich der Zeitpunkt, an dem der Diskurs um die "gelbe Gefahr" erstmals in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten öffentlich in Erscheinung trat.16
Der Krieg zwischen dem ostasiatischen Inselstaat und seinem viel größeren kontinentalen Nachbarn ist ein bedeutender Moment im "mimetischen Imperialismus" Japans. Unter diesem Begriff versteht der amerikanische Historiker Robert Eskildsen (geb. 1956) die Strategie, den westlichen Imperialismus nachzuahmen, welche seiner Meinung nach wiederum ein integraler Bestandteil der Meiji-Restauration seit dem Jahr 1868 war.17 Die japanische Regierung in Tokio begann ihre imperialistischen Ziele im Jahr 1879 umzusetzen, als sie die dem chinesischen Reich untergeordneten Ryūkyū-Inseln annektierte und sie in Präfektur Okinawa umbenannte. Als Folge des Krieges von 1894–1895 erwarb Japan seine erste Kolonie: die Insel Taiwan. Aufgrund einer Kombination von formalem Kolonialismus und einer Reihe informeller Rechte, welche die japanische Regierung in China für sich in Anspruch nahm, konnte Japan bereits in den 1890er Jahren auf Augenhöhe mit den europäischen Mächten und den USA auftreten. Ironischerweise war das japanische Reich zur Zeit seines Krieges mit China von den gleichen "ungleichen Verträgen" eingeschränkt, wie sie auch die kaiserliche Regierung in Peking fesselten. Bis 1899 aber hatte Japan die Aufhebung der Verträge mit den europäischen Imperialmächten ausgehandelt und gewann somit im Jahr 1912 seine uneingeschränkte Souveränität zurück.18
Es war die Friedensvereinbarung von 1895, die dem Entstehen des Begriffs "gelbe Gefahr" den entscheidenden Anstoß gab. Obwohl die Briten schon im Oktober 1894 eine diplomatische Intervention vorgeschlagen hatten, wurden die anderen westlichen Mächte erst aktiv, nachdem die Friedensverhandlungen in der südjapanischen Stadt Shimonoseki bereits angelaufen waren. Letztere befürchteten, dass Japan nicht nur Taiwan, sondern auch die Liadong-Halbinsel an der Südspitze der Mandschurei erwerben wolle, wobei sie gerade die Aufgabe der Liadong-Halbinsel als eine Bedrohung für die Stabilität in Ostasien ansahen. Aus diesem Grunde inszenierte Russland eine gemeinsame diplomatische Intervention der europäischen Mächte, die Japan zwang, seine Forderungen bezüglich Liaodong zurückzuziehen. Deutschland und Frankreich beteiligten sich an dieser Initiative, Großbritannien jedoch hielt sich fern.19
In Europa entwickelte sich der Diskurs um die "gelbe Gefahr" vor dem Hintergrund einer vermeintlichen Bedrohung des Status quo durch Japan. Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) spielte in diesen Debatten eine zentrale Rolle – nicht so sehr, weil er den übertriebenen Anspruch für sich erhob, den Ausdruck geprägt zu haben,20 sondern vielmehr, weil er das allegorische Bild Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter entwarf. In einem Brief an den Zaren Nikolaus II. im September 1895 erklärte er, es zeige "die europäischen Mächte, jede durch ihren Genius vertreten, zusammengerufen durch den vom Himmel gesandten Erzengel Michael, wie sie sich im Widerstände gegen das Eingreifen des Buddhismus, des Heidentums und der Barbarei zur Verteidigung des Kreuzes vereinigen."21 Das Bild wurde von Wilhelm II. skizziert und dann von Hermann Knackfuß (1848–1915), seinem ehemaligen Mallehrer, ausgeführt. Wie Philipp Gassert (*1965) dargelegt hat, instrumentalisierte der Kaiser die Idee einer "gelben Gefahr" als Teil eines diplomatisches Ablenkungsmanöver, um den russischen Blick von der Ostgrenze des Deutschen Reiches auf Ostasien umzulenken.22 Das Eingreifen von Wilhelm II. hatte aber viel weitreichendere Folgen. Obwohl Satirezeitschriften, die dem Kaiser und seiner Poltik kritisch gegenüberstanden, das Bild und die es begleitende Rhetorik unverzüglich aufgriffen,23 entwickelten sie sich zu dauerhaften Symbolen der "gelben Gefahr". Mit Beginn des Boxerkriegs von 1900/1901 dienten Bild und Rhetorik in den anschließenden Debatten für unterschiedliche Gruppen als Bezugspunkte.
Der Boxeraufstand (1900-1901) und die Gefahr in bzw. von Ostasien
Noch stärker als der Japanisch-Chinesische Krieg war der Boxerkrieg24 ein Medienereignis globalen Ausmaßes. Die Intervention von acht Staaten – Österreich-Ungarn, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, Russland und den Vereinigten Staaten – in China ging auf eine Krisenwahrnehmung zurück; diese spiegelte seit langem bestehende Ängste über Zweck und Zukunft der westlichen Präsenz in Ostasien wider. Die Entstehung der Boxerbewegung in den Jahren 1898–1900 und deren anschließende Unterstützung durch die kaiserliche Regierung der Qing-Dynastie (1644–1911) markierten einen dramatischen Bruch mit dem bestehenden Vertragssystem, in dessen Rahmen China den kommerziellen und finanziellen Interessen Europas unterworfen worden war.25 Da die Europäer die imperialistische Ordnung nicht nur aus wirtschaftlicher Perspektive, sondern als Zivilisierungsmission betrachteten, erschien es ihnen offensichtlich, den Boxerkrieg als einen Konflikt zwischen Zivilisation und Barbarentum zu verstehen.26
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Berichterstattung über den Krieg nicht einfach von der Vorstellung einer "gelben Gefahr" dominiert wurde. Als der Konflikt zwischen China und den europäischen Mächten (wie auch den Vereinigten Staaten und Japan) sich im Frühjahr und Sommer 1900 zuspitzte, berichteten die europäischen Tageszeitungen und Periodika über eine Reihe von Themen: die Bedrohung in China lebender Europäer an Leib und Leben, zunächst durch die Boxer und später auch während der Belagerung der europäischen Viertel in Peking und Tianjin; den Bruch des Völkerrechts, wie er insbesondere durch den Mord an dem deutschen Gesandten Clemens von Ketteler (1853–1900)[]und an dem japanischen Gesandtschaftssekretär Akira Sugiyama zum Ausdruck kam; und der langsame Fortschritt der Rettungsmaßnahmen, die zuletzt in der Befreiung von Tianjin Mitte Juli 1900 und von Peking Mitte August 1900 ihren Höhepunkt fanden.27 Zu einem großen Teil basierte die Berichterstattung auf telegraphisch übermittelten Nachrichten. Nachdem die Kommunikation mit den belagerten europäischen Gemeinschaften in China abgebrochen war, nahmen die Berichterstatter häufig Zuflucht zu Gerüchten und Spekulationen, bis hin zu der Behauptung, alle Europäer in Peking seien niedergemetzelt worden. Es dauerte eine längere Zeit, bis die europäischen Journalisten und ihre Leser merkten, dass sie Falschinformationen erlegen waren.28
Nach der Befreiung Pekings waren mehr Korrespondenten vor Ort und ausführliche Briefe anstelle spärlicher Telegramme machten umfangreichere Informationen verfügbar. Der Fokus der medialen Aufmerksam verlagerte sich daher auf das Verhalten der alliierten Truppen in China. Die Gräueltaten, die sie anrichteten, führten zu kontroversen Debatten über die Verdienste und Mängel der multinationalen Intervention und, allgemeiner, des transnationalen, informellen Imperiums in China.29 Diese Kontroverse wurde schon bald von der europäischen Politik aufgegriffen und führte zumindest in Deutschland, zu einem gewissen Grad auch in Frankreich, zu erbitterten Parlamentsdebatten. Diese politischen Kontroversen beruhten direkt auf der Nachrichtenberichterstattung und indirekt auf den Briefen, die von Soldaten von dem chinesischen Kriegsschauplatz nach Hause geschickt und dort in der Presse abgedruckt wurden. Die deutsche Zeitung Vorwärts, das Sprachrohr der Sozialdemokratischen Partei, trug derartige Briefe systematisch aus der Lokalpresse zusammen; ihr französisches Pendant, L'Aurore, tat das gleiche, wenn auch weniger gründlich.30
Insoweit der Boxerkrieg ein Medienereignis war, so konzentrierte sich dieses auf die Gefährdung des imperialistischen Systems in China. Diese hatte indes wenig mit den Argumenten zu tun, die man üblicherweise mit dem Diskurs um die "gelbe Gefahr" in Verbindung bringt. In der Tat stand das meiste, was in den Medien berichtet wurde, in keinem Zusammenhang mit wirtschaftlichem Wettbewerb und Arbeitskonkurrenz. Übrig blieb war die politische und militärische Gefahr, wobei die Medien generell die Position vertraten, dass diese Bedrohung sich gegen die europäische Präsenz in China und nicht gegen Europa selbst richtete. Dennoch beschworen einige Publikationen ganz sensationssüchtig eine allgemeine "Erhebung der gelben Welt" herauf.31 Während die Boxer heute lediglich als eine regionale Bewegung im Norden und Nordosten Chinas verstanden werden, so waren sie für zeitgenössische Betrachter für Unruhen auch in anderen Teilen des Imperiums verantwortlich. So berichtetet zum Beispiel die französische Zeitschrift La Dépêche Mitte Juli 1900, dass "der [Boxer-] Aufstand sich über alle Provinzen des [chinesischen] Reiches erstreckt und dass neue Gräueltaten befürchtet werden müssen, insbesondere in Wenzhou, Taizhou, Zhejiang und Tschifu".32
Zwar wurde die Idee eines umfassenden Kriegs gegen Ausländer in China wohl nur vage mit der politisch-militärischen Gefahr gebracht, welche die "gelben Rassen" für Europa darstellten. Dennoch zeigt dieser Zusammenhang, dass der Diskurs um die "gelbe Gefahr" die Berichterstattung über den Boxerkrieg beeinflussen konnte. Zumindest konnte der Boxerkrieg einen Rahmen für das Verständnis der "gelben Gefahr" bieten. In einem Leserbrief an die Londoner Times hieß es folglich, dass "die 'gelbe Gefahr' nicht in der von außen eindringenden Weise über uns hereingebrochen ist, in der sie den Phantasien mancher Leute vor Augen stand, sondern in China selbst."33 Der Aufstand der Boxer, so argumentierte der Absender, setzte nicht nur das Leben aller Ausländer in China aufs Spiel, sondern auch die großen Kapitalinvestitionen, die bereits in dem Land getätigt wurden. Er stellte damit einen indirekten Angriff auf die britische Wirtschaft dar. Viele der in China stationierten Truppen schienen ihre Mission auf gleiche Art und Weise zu verstehen, wie etwa die folgende Beschreibung einer Unterhaltung zwischen französischen Offizieren und dem französischen Kriegsberichterstatter Gaston Donnet (1867–1908) zeigt. Obwohl Donnet selbst der festen Überzeung war, dass die chinesische Gesellschaft und Kultur in jeder Hinsicht vollkommen erstarrt sei, schrieb er:
Und all diese Menschen sind einer Meinung: sie alle erkennen die gelbe Gefahr, sie alle sind davon überzeugt, dass man in zehn Jahren – vielleicht schon eher – noch einmal von vorne anfangen [d.h. in China Krieg führen (T.K.)] muss. Sehen Sie zum Beispiel, so sagen sie mir, die großen Fortschritte, welche die chinesische Armee seit ihrem Kriegszug gegen Japan im Jahr 1895 gemacht hat. Sehen Sie das glänzende Beispiel von Japan selbst. Und was ist Japan, wenn nicht die Verlängerung von China? Wenn die Japaner die modernsten Kanonen haben können, warum sollten die Chinesen sie dann nicht auch haben?34
Darüber hinaus beriefen sich Politiker in Diskussionen über den Boxerkrieg immer wieder auf die Idee der "gelben Gefahr". Das bekannteste Beispiel hierzu lieferte wiederum der deutsche Kaiser. Die so genannte "Hunnenrede"[], die Wilhelm II. zur Verabschiedung deutscher Truppen nach China hielt, ist fälschlicherweise als eine Wiederholung der Rhetorik um die "gelbe Gefahr" bezeichnet worden. Wenn der Kaiser seine Soldaten auch dazu ermahnte, einen unerbittlichen Rachefeldzug in China zu führen, so reihte sich seine Rede, so übertrieben sie auch gewesen sein mag, in den Diskurs über Zivilisation und Barbarentum ein.35 Wilhelm II. machte aber noch einmal von "seinem" allegorischen Bild Völker Europas Gebrauch und stellte zwischen dem Feldzug in China und der "gelben Gefahr" einen Bezug her, indem er Kopien des Bildes an mehrere Truppentransporter verteilen ließ.36 Wenn die Untertöne dieses eher schwachen Bezugs in erster Linie politischer und militärischer Natur waren, so stellte der französische Abgeordnete Paul Henri d'Estournelles de Constant de Rebecque (1852–1924) einen expliziten Bezug zwischen der militärischen Intervention der Alliierten und der von China ausgehenden wirtschaftlichen Gefahr her, wobei er immer nur unbestimmte Aussagen darüber machte, worin diese Gefahr eigentlich bestehe:
Wenn es mit dieser Kampfhandlung [der Europäer in China] nicht gelingen sollte, die Ordnung wiederherzustellen, dann werden wir unnütz Männer, Geld und Respekt verloren haben; wenn es wiederum gelingen sollte, die Ordnung wiederherzustellen, so hüte man sich, dass das erste Ergebnis nicht der Anstieg unserer Kosten und die Entwertung unserer Produkte ist, weil diese soziale Revolution bedeuten.37
Zuletzt lösten die Nachrichten, die in den Jahren 1900 und 1901 über die Geschehnisse in China nach Europa durchdrangen, eine langfristige Debatte über die "gelbe Gefahr" aus. Als Medienereignis endete der Boxerkrieg – im Gegensatz zur politischen und militärischen Krise – nicht mit der Unterzeichnung des Boxer-Protokolls im September 1901. Als die Berichterstattung in den Tageszeitungen und Zeitschriften allmählich weniger wurde, überfluteten Bücher über den Boxerkrieg den Markt – Bücher, die sich zum Teil in der Begrifflichkeit der "gelben Gefahr" mit der jüngsten Katastrophe auseinandersetzten. Andere Publikationen widmeten sich ganz spezifisch der "gelben Gefahr", wobei ihr Publikationsdatum darauf hinweist, dass sie erst von der Boxerkrise inspiriert wurden.
Ein Beispiel für den ersten Typus ist der Band These from the Land of Sinim, den Sir Robert Hart (1835–1911) zum Teil noch während des Boxerkriegs verfasste und im Jahr darauf, als der Krieg formal sein Ende fand, veröffentlichte. Hart, der als Generalinspektor der Chinesischen Seezollverwaltung lange in Peking gelebt hatte, war selber Teilnehmer bei Belagerung des Gesandtschaftsviertels im Sommer 1900 gewesen. Was seine Einschätzung der Boxer als chinesische Patrioten anging, sah er sie als Beweis dafür, dass "die Zukunft sich mit einer 'gelben Frage' – vielleicht 'gelben Gefahr' – wird befassen müssen", welche er als eine regelrechte Bedrohung für "die Zukunft der Welt" betrachtete.38 Wie viele andere Kommentatoren wies er auch auf die Gefahr hin, die eine Aufrüstung Chinas mit sich bringen könnte: "In Zukunft wird der patriotische Boxer die besten Waffen besitzen, die man mit Geld kaufen kann, und dann wird man die 'gelbe Gefahr' nicht mehr ignorieren können."39 Im Hinblick auf Gegenmaßnahmen unterschied sich Hart jedoch von vielen anderen Kommentatoren. Nach seiner Auffassung war eine taktvollere und gerechtere Behandlung Chinas das beste Mittel, um die gegebenenfalls von diesem Land ausgehende Gefahr abzuwenden.40 Insgesamt aber wurden die europäischen Reaktionen auf die Boxerkrise von denen auf den Russisch-Japanischen Krieg vier Jahre später in den Schatten gestellt, einem Krieg, dessen Verlauf den Europäern noch deutlicher ihre augenscheinliche Schwäche vor Augen führen sollte.
Der Russisch-Japanische Krieg (1904-1905) und die Angst vor Japan (und demnach auch China)
Als Medienereignis betrachtet, hatte der Russisch-Japanische Krieg von 1904–1905 eine andere Dimension als die internationale Intervention in China vier Jahre zuvor. Wenngleich der letzte Krieg auch schon vom Kampf zwischen modernen, voll ausgerüsteten Armeen geprägt war, so war die Aufmerksamkeit auf die angeblich "primitiven" Boxer fokussiert. Der Russisch-Japanische Krieg hingegen endete mit einem souveränen strategischen Sieg für Japan; es war das erste Mal, dass eine nichteuropäische Macht eine europäische besiegt hatte.41 Über dies war im Gegensatz zum Boxerkrieg die öffentliche Meinung gespalten, da man in vielen europäischen Ländern zu diesem Zeitpunkt nicht gut auf Russland zu sprechen war. Selbst in Frankreich, das offiziell mit dem Zaren und seinem Reich verbündet war, schien die Presse geteilt: Während einige Zeitungen und Zeitschriften in Russland den Beschützer Europas vor der (japanischen) "gelben Gefahr" sahen, beschworen andere die Idee eines "russisch-mongolischen Blocks" herauf, der vermeintlich versuchte, die Welt zu beherschen.42
Im Gegensatz dazu hatte Großbritannien im Jahr 1902 eine Allianz mit Japan geschlossen und stand deshalb wohl Japans Kriegsanstrengungen aufgeschlossener gegenüber. Diese Einschätzung spiegelt sich exemplarisch in dem ausführlichen Bericht Japan's Fight for Freedom von Herbert Wrigley Wilson (1866–1940) wider, der zuerst zwischen April 1904 und Mai 1906 in vierzehntägigen Beiträgen in der Daily Mail veröffentlicht wurde.43 Diese Form der seriellen Veröffentlichung gibt zudem Aufschluss darüber, wie schnell der Medienmarkt mit maßgeschneiderten Formaten auf den Krieg reagierte. Ein ähnliches Werk war die Histoire de la guerre russo-japonaise von Gaston Donnet, die zunächst in wöchentlichen Beiträgen erschien.44 Der Krieg wurde sowohl von Armeeoffizieren als auch Kriegskorrespondenten beobachtet, so dass die nichteuropäische Seite – vielleicht zum ersten Mal – eine umfangreiche und wohlwollende Berichterstattung erhielt. Der Vergleich zwischen Japans offensichtlichem Fortschritt und Russlands angeblich "halb-asiatischer" Rückständigkeit zeugte allerdings von einer großen Selbstzufriedenheit der europäischen Kommentatoren. In der Revue hebdomadaire wurde zum Beispiel ein Kommentar veröffentlicht, der die Auffassung vertrat, dass "Japan mit der Aufgabe seiner 1200 Jahre alten Zivilisation zugunsten der Zivilisation einer anderen Rasse der Welt ein außerordentliches Schauspiel geboten hatte".45 Die Frage aber, inwieweit diese Adaption der europäischen Zivilisation gegen Europa selbst eingesetzt werden könnte, blieb weiter bestehen und rückte schon bald in den Fokus der Debatten.
Wie einige der Kommentare oben erkennen lassen, unterschied sich die Medienberichterstattung über den Russisch-Japanischen Krieg von jener über den Boxerkrieg in einer Reihe von Punkten: Erstens war der Russisch-Japanische Krieg von Anfang an enger mit dem Diskurs um die "gelbe Gefahr" verbunden als der Boxerkrieg. Zweitens hatte der Russisch-Japanische Krieg eine größere Rückwirkung auf Europa, stellte er doch eine direkte Gefahr für die Europäer dar, während der Boxerkrieg Europäer lediglich im Qing-Reich bedroht hatte und Chinas Aufstieg damals bestenfalls schemenhaft am Horizont zu erkennen war. Und drittens scheint es, dass eine viel größere Anzahl von Personen, die bedeutend zum Diskurs um die "gelbe Gefahr" beitrugen, im japanischen Sieg über das Zarenreich das Schlüsselereignis sahen, nicht in der Boxerkrise.
Eine dieser Personen war der deutsche Missionar Martin Maier (1866–1954), der nach seiner eigenen Schilderung auf Fragen antwortete, die ihm nach seiner Rückkehr aus China gestellt worden waren. Maier vermengte Japan und China, vor allem weil er die Idee einer "gelben Gefahr" sowohl auf Rassenunterschiede als auch auf den Hass gegen "westliche" Ausländer in den beiden Ländern zurückführte.46 Er unterschied zwischen einer politischen und militärischen Gefahr, an die er selbst nicht glaubte, und einem ökonomischen Wettstreit zwischen Ostasiaten und Europäern. Bedingt durch seinen Beruf warnte er auch vor der Aushöhlung der ethischen Errungenschaften der Europäer durch den Egoismus und Materialismus der Chinesen und Japaner.47
Im Gegensatz zu Maier verfügte der deutsche Archivar Christian Spielmann (1861–1917) über einen breiteren Erfahrungsschatz. Sein Buch Arier und Mongolen, das erstmalig 1905 erschien und im Jahr 1914 neu aufgelegt wurde, baute auf zwei zuvor verfassten Werken auf, die er gleich nach dem Japanisch-Chinesischen Krieg bzw. am Vorabend des Boxerkrieges geschrieben hatte. Spielmann sprach sich gegen den in der deutschen Öffentlichkeit wahrnehmbaren Enthusiasmus für Japan aus und stellte den Russisch-Japanischen Krieg in den größeren Zusammenhang des ewigen Gegensatzes zwischen "Ariern" und "Mongolen". In diesem Konflikt nahmen jetzt letztere die Vorherrschaft ein, und zwar nicht durch spirituelle, sondern technische Überlegenheit sowie durch die bloße Anzahl von Menschen.48 Wie andere Schriftsteller gleicher Gesinnung beschwor auch Spielmann die Idee einer zukünftigen chinesischen Militärmaschinerie unter japanischem Befehl herauf, eine Konstellation, die eine Neuauflage des mittelalterlichen Mongolensturms zur Folgen haben könne. Freilich argumentierte er auf der Grundlage von tief verankerten kulturellen Ängsten anstatt von nüchterner Analyse.49 Spielmann vertrat zudem die Meinung, dass eine friedliche chinesische Auswanderung eine ebenso große Gefahr bilde: "eine Weltüberschwemmung …, die der weißen Rasse schwere Sorge machen muß".50
Wie Spielmann argumentierte auch der Engländer Bertram Lennox Simpson (1877–1930), der unter dem Pseudonym B. L. Putnam Weale schrieb, als Augenzeuge der Belagerung des europäischen Viertels in Peking im Jahr 1900 wiederholt gegen die im allgemeinen positive Einstellung zu Japan in seinem Land. Im Gegensatz zu seinem kongenialen deutschen Kollegen hatte er seine zuvor japanfreundliche Einstellung revidiert, als er sein monumentales Werk The Coming Struggle in Eastern Asia im Jahr 1908 herausbrachte. Ohne den Begriff "gelbe Gefahr" zu benutzen, polemisierte Simpson gegen die Anglo-Japanische Allianz von 1902, die er als ungeeignet betrachtete, die Interessen Großbritanniens angesichts des wachsenden kommerziellen Wettbewerbs, beispielsweise in China, zu schützen.51
So oberflächlich die Berichte dieser Autoren auch gewesen sein mögen, gaben sie doch vor, eine genauso nüchterne wie rationale Analyse der wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen Auswirkung des wahrgenommenen Aufstiegs Ostasiens vorzunehmen. Man berief sich aber auch auf die Idee einer "gelben Gefahr", um mit Invasionsängsten zu spielen, wie sie in Europa im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts weit verbreitet waren. Besonders deutlich wird dies in dem Buch L'invasion jaune, das 1909 von dem damals populären französischen Schriftsteller Oberst Emile-Cyprien Driant (1855–1916) unter dem Pseudonym Capitaine Danrit veröffentlicht wurde. Als letzter Band in einer Romanreihe imaginärer Kriege beschreibt L'invasion jaune eine japanisch-chinesische Invasion in Europa, die in der Besetzung der Abgeordnetenkammer in Paris gipfelt – bevor der Einfall zuletzt noch gestoppt werden kann.52
Es ist zu bezweifeln, ob Danrits Horrorfantasien oder selbst die "seriöseren" Analysen die Mehrheit oder auch nur einen beträchtlichen Teil der öffentlichen Meinung widerspiegelten. Zumindest war eine große Zahl an Autoren davon überzeugt, dass es sich bei der "gelben Gefahr" lediglich um "Spekulation" handle.53 Darüber hinaus gelang es den Verfechtern des Diskurses um die "gelbe Gefahr" nicht, die eigentlichen politisch-militärischen Spannungen in Ostasien und Europa zu erfassen. Die Ideologie des Panasianismus, die am Anfang des 20. Jahrhunderts in Japan und zu einem gewissen Grad auch in China Verbreitung fand, propagierte in der Tat eine asiatische Abwehrfront gegen den weißen Imperialismus.54 Obwohl oder gerade weil Japan im Ersten Weltkrieg ein treuer Verbündeter Großbritanniens geblieben war, forderte es nach dem Krieg Zugeständnisse. Tokios fehlgeschlagener Vorstoß bei der Pariser Friedenskonferenz 1919 Rassengleichheit durchzusetzen, zielte nicht darauf ab, ein universelles Prinzip einzuführen, sondern der Diskriminierung Japans ein Ende zu setzen. In diesem Vorstoß spiegelten sich Japans Unsicherheiten als nichtweiße Macht; in einem gewissen Grad war er aber auch eine Reaktion auf die Rhetorik der "gelben Gefahr".55 In den 1930er Jahren und während des Zweiten Weltkrieges beanspruchte Japan zunehmend die Rolle des Befreiers Asiens vom "weißen" Kolonialismus. Indem die auf der "gelben Gefahr" aufbauende Literatur an eurozentrischen Fantasien festhielt, versäumte man es, sich mit den Fragen auseinanderzusetzen, um die es tatsächlich ging.
Nachleben
Schlagworte haben ein langes Leben; sie sterben nicht. Stattdessen eignen sie sich dazu, auf die vielfältigste Art und Weise adaptiert zu werden. Das Schlagwort der "gelben Gefahr" ist hierbei keine Ausnahme: seine Verwendung hat sich verändert, aber es wird bis heute ohne nennenswerte Unterbrechung benutzt.56
Heinz Gollwitzer (1917–1999) hatte wahrscheinlich recht, als er konstatierte, dass der Diskurs um die "gelbe Gefahr" nie wieder so eine Breitenwirkung erreichte wie zwischen den Jahren 1895 und 1907 (und er irrte vermutlich in der Annahme, dass der Diskurs vom Ersten Weltkrieg fast gänzlich überschattet worden sei).57 In diesem Zeitraum war der Diskurs am deutlichsten mit Medienereignissen verbunden. Diese Verbindung ging in der Zwischenkriegszeit verloren, obwohl Chinas antiimperialistische Bewegung der 1920er Jahre sich bestens als ein Anknüpfungspunkt geeignet hätte. Die japanische Expansion in den späten 1930er Jahren löste Reaktionen aus, die jenen auf den Russisch-Japanischen Krieg am nächsten kamen; trotzdem hatte sich der Kontext geändert. Die "gelbe Gefahr" besaß jetzt nicht nur eine Gegenwart, sondern auch eine Vergangenheit. In einem Kommentar zu der Rede, die der japanische Innenminister Admiral Nobumasa Suetsugu (1880–1944) im Januar 1938 gehalten hatte, warnte Le Temps vor dessen "regelrechten Kriegsruf gegen die weißen Völker" und fuhr weiter fort:
Wenn es wirklich derartige Vorstellungen sein sollten, die in bestimmten Regierungskreisen in Tokio vorherrschen, dann sollte man sich über die Entwicklung der japanischen Politik, die vollständig von den aktivsten Kreisen des Militärs und der Marine geleitet wird, keine Illusionen machen. Die gelbe Gefahr, von welcher der ehemalige deutsche Kaiser einst sprach, würde dann zur Realität werden. Und die gesamte weiße Welt hätte dann die Verpflichtung, sich mit dieser Gefahr auseinanderzusetzen – in vollem Bewusstsein der Solidarität zwischen den Völkern, die in die Zivilisation eingebunden sind, welche die heutige menschliche Gesellschaft geschaffen hat.58
Obwohl die antijapanische Stimmung in den Vereinigten Staaten während des Pazifikkrieges aufgeladen war, richtete sie sich nicht gegen die "gelbe Rasse" im Allgemeinen. Dies wäre auch widersinnig gewesen, da die Chinesen zu einem hinreichend wichtigen Verbündeten der USA geworden waren und die Amerikaner Chinas Krieg gegen Japan mit (wenn auch herablassendem) Wohlwollen verfolgten.59
Im Lauf der Zeit erfuhr der Begriff "gelbe Gefahr" eine gewisse Trivialisierung und fand in anderen Bereichen des europäisch-ostasiatischen Wettbewerbs, wie zum Beispiel im Sport, Verwendung.60 Schon in der Zwischenkriegszeit wurden Rennpferde mit dem Namen benannt, mit dem man ehemals eine angeblich totale Gefahr für die europäischen Zivilisation bezeichnet hatte.61 Trotzdem war die Übernahme des Diskurses über die "gelbe Gefahr" in die Populärkultur nicht immer so harmlos. Ein gutes Beispiel bietet die Figur des chinesischen Verbrechergenies Fu Manchu, Held und Schurke einer Romanserie, die zwischen 1912 und den späten 1950er Jahren von dem britischen Autor Arthur Henry Sarsfield Ward (1883–1959) unter dem Pseudonym Sax Rohmer kreiert wurde. Die einzelnen Romane wurden schon bald verfilmt, wobei zwischen 1921 und 1968 nicht weniger als dreizehn Filme in die Kinos kamen.62 In allen Versionen wird Fu als ein übermenschlicher Verbrecher mit überragendem Intellekt und außerordentlichen körperlichen Fähigkeiten dargestellt. Als Anführer der "gelben" Unterwelt trägt er die "asiatische Gefahr" in das Herz der "westlichen" Großstädte, insbesondere Londons.63 Die Fu Manchu-Geschichten können als entpolitisierte, aber dennoch politisch relevante Ableger eines politischen Diskurses verstanden werden.
Die Idee der "gelben Gefahr" behielt aber auch in politischen und wirtschaftlichen Debatten ihre Bedeutung. Nach der kommunistischen Machtergreifung in China im Jahr 1949 wurde sie mit der zur Zeit des aufkommenden Kalten Krieges weit verbreiteten "roten Angst" vermischt.64 In den folgenden Jahrzehnten kennzeichnete sie Befürchtungen über den wirtschaftlichen Aufstieg Japans und – in jüngerer Zeit – Chinas. Dennoch erscheint die Rhetorik um die "gelbe Gefahr" seit der Zwischenkriegszeit eher andauernder Diskurs als im Zusammenhang mit klar definierten Medienereignissen.