Einleitung
Botanische Gärten – ähnlich wie andere Räume1 des Erkenntnisgewinns auch, etwa das Labor – tragen als "Hilfsmittel"2 nicht nur dazu bei, botanisches Wissen zu erzeugen, sondern sie konstituieren überhaupt erst die Botanik.3 In der Frühen Neuzeit entstanden die ersten Gärten an europäischen Universitäten; in der Zeit zwischen 1543 und 1545 in Pisa und Padua, gefolgt von Bologna, Florenz und Rom (1563), Leiden (1587) etc.4 Neben der universitären Anbindung botanischer Gärten, die bis heute vorherrscht, fungierten aber auch andere Einrichtungen als deren Träger. So etablierte 1673 die "Society of Apothecaries" in London den "Chelsea Physic Garden", der Austauschbeziehungen zu anderen botanischen Gärten unterhielt und sich infolge dessen verpflichtete, regelmäßig neue Herbarbelege an die wichtigste englische Forschungseinrichtung, die "Royal Society", zu liefern.5 Auch Akademien richteten Gärten ein, wie beispielsweise die 1711 von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) initiierte "Königliche Sozietät der Wissenschaften" in Berlin, die 1718 den einstigen Mustergarten des Preußischen Königs überantwortet bekommen hatte.6 Im 18. Jahrhundert führten das ökonomische Interesse an exotischen Pflanzen und der Wettbewerb der europäischen Mächte untereinander zu Expeditionen und zur Gründung repräsentativer botanischer Gärten innerhalb großer Schlossanlagen an Höfen in Paris, London, Wien7 und Hannover. Im selben Jahrhundert galten der botanische Garten von Leiden in den Niederlanden und der Pariser "Jardin de Plantes" zunächst noch als die an Exoten reichhaltigsten Sammlungen lebender Pflanzen, wurden aber zunächst von Wien (in den 1780er Jahren), dann schließlich von Kew Gardens bei London übertroffen. Im 19. Jahrhundert entdeckte das Bildungsbürgertum diesen Wissensraum zur Unterhaltung und ästhetischen Erbauung für sich und organisierte im Rahmen von Gartenbaugesellschaften und lokalen Museumsvereinen eigene botanische Gärten. Noch heute werden Gärten von Kommunen betrieben, wie etwa in Augsburg oder Linz. Mit der Nationalisierung der Wissenschaft wurden auch botanische Gärten – oft gemeinsam mit Naturkundemuseen – als nationalstaatliche Institutionen begründet. In den Vereinigten Staaten plante der erste Präsident George Washington (1732–1799) den "United States Botanic Garden" nahe dem House of Congress als unverzichtbaren Bestandteil der neuen Hauptstadt. 1820 verwirklichte das "Columbian Institute for the Promotion of Arts and Sciences" diesen Garten.8 Bis heute werden infolge staatlicher Initiativen weltweit neue botanische Gärten angelegt; so hat etwa China nach 1956 seither mit mehr als 100 Gärten nachgezogen, außerdem entstand 1931 in Palästina (Jerusalem) ein Garten sowie in Oman im Jahr 1989.9
Gleich welcher Trägerschaft, ist der botanische Garten ein Kind Europas. Infolge des europäischen Kolonialismus und auch als dessen Instrument entstanden bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Übersee erste Gärten (wie etwa 1787 in Kalkutta). Im britischen Empire bildete Kew Gardens seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine wesentliche Anlaufstelle für die kolonialen Gärten in West- und Ostindien. Bis heute dient er als Modell und ist wohl der bedeutendste wissenschaftlich geleitete Garten der Welt.10
Als Wissensraum verstanden vereint der botanische Garten dichotome Wissenskategorien, wie etwa praktisches und theoretisches, implizites (tacit knowledge) und explizites, abstraktes und konkretes (reales), lokales und globales, zweifelhaftes und gesichertes, vermitteltes und geheimes, herrschaftliches und alltägliches Wissen.11 Es ist nahezu banal zu betonen, dass etwa praktisches, gärtnerisches bzw. implizites Wissen (Handarbeit) die Voraussetzung für die Pflege jedes Gartens darstellt. So ist die Existenz des botanischen Gartens dauerhaft von der gärtnerischen Arbeit abhängig. Würde diese ausbleiben, hätte das fatale Konsequenzen für den Pflanzenbestand. Werden jedoch Pflanzen aus fremden klimatischen Zonen kultiviert, muss praktisches Wissen darüber erst über Versuche erworben werden. Durch den Bau von Gewächshäusern, die zur Akklimatisierung notwendig waren, zunächst oft Warm- und Kalthäuser genannt, entstand im 19. Jahrhundert eine eigene Architektur. Repräsentative Prachtbauten in Eisen und Glas, wie die neuen Bahnhöfe oder der "Crystal Palace" des Botanikers und Architekten Joseph Paxton (ca. 1803–1865) in London (1851) brachten ein neues technisches Design für Kuppelgewächshäuser, Pflanzenrotunden, Grün- oder Palmhäuser hervor.
Wissenschaftliche Bedeutung aus räumlicher und praxeologischer Perspektive
Naturräumlich voneinander getrennte Pflanzen werden im botanischen Garten an einem Ort zusammengebracht. Er ist buchstäblich "die Welt im Kleinen". Durch die Überschau bzw. Verdichtung wird der Vergleich im Nebeneinander erst möglich. So begründete die Medizinische Fakultät der Universität Freiburg (Methodus docendi medicinam in Facultate medica Universitatis Friburgensis Brisgoiorum) im Jahre 1671 die Notwendigkeit des Gartens in diesem Sinne:
… da es jedoch sehr schwierig ist, alle Arten von an verschiedenen Orten wachsenden Kräutern und Pflanzen zu finden, war einst der Medizinischen Fakultät ein Garten zugeordnet, um dort das anzupflanzen, was für diesen Zweck notwendig ist….12
Dieser Vorteil des Nebeneinanders von Pflanzen liegt in der Möglichkeit, direkte Vergleiche anstellen zu können. Der Bestimmung der Arten geht aber ein kultureller Wandel voraus, der die Wahrnehmung der Natur betrifft. Denn das traditionelle Konzept der Signaturenlehre, die davon ausging, dass im Inneren verborgene Merkmale äußerlich sichtbare Wirkungen nach sich ziehen, wurde ungebräuchlich. Wie kam es zu diesem Wandel, den man als zentral für die Etablierung der Botanik ansehen muss?
Als Hortus medicus bezeichnet, dienten die ersten botanischen Gärten dazu, Heilpflanzen zu präsentieren, so die bekannte Erklärung ihrer Ursprünge.13 In den Gärten wurde die für die Humanisten charakteristische schriftliche Wissenskultur jedoch in eine visuelle Form der Wissensvermittlung umgewandelt. Und diese war an die räumliche Dimension gebunden, denn gleichzeitig mit dem botanischen Garten waren auch andere Orte des Wissens, wie etwa Wunderkammern, Bibliotheken, anatomische Theater und Laboratorien, entstanden. In diesen Räumen konnte man ebenfalls Objekte als Träger von Wissen sehen. So wurde etwa der Begriff Theatrum als Bezeichnung für Bücher geläufig; er trug den Verweis auf das Sichtbare in sich und verwies dadurch auf die Aneignung von Wissen durch das Schauen. Diese Form des Wissenserwerbs war in eine gesellschaftlich-höfische Kultur eingebettet und konnte sich nicht zuletzt deshalb auch etablieren.14
Im 16. Jahrhundert gewannen diese Wissensräume vor allem im Zuge des Buchdrucks an Bedeutung. Wissen, im Raum verortet, wurde beständig.15 Die in der Antike bereits etablierte Mnemonik gewann deshalb im 16. Jahrhundert eine neue Vitalität. Das Gedächtnis als wichtigstes Wissenselement war der Rhetorik zufolge im Topologischen verschlüsselt.16 Der Drang, durch das Sammeln Wissen zu erlangen, drückte sich in neuen Wissensräumen aus. In Buchform und in den Bibliotheken konnten Gedächtnisinhalte "bewahrt" werden. Das "Theater des Gedächtnisses" projizierte das nach außen, was einst dem Inneren zugeschrieben war, sich aber durch die neue räumliche Praxis der Aneignung von Dingen veränderte. Wissenschaftliche Erkenntnisse und kulturelle Sinngebungen wirkten auf den Raum ein. Erst mit der Konzentration auf die äußeren Merkmale der Pflanzen konnte sich die Botanik als beschreibende Wissenschaft verstehen. Die neuen Wissensräume erlaubten den Eliten das in den Klöstern monopolisierte Heilwissen auch als Teil der höfischen Kultur zu integrieren. Somit ist es kein Zufall, dass wir den Klostergarten als Vorform des botanischen Gartens nennen können.
Dem Sichtbarkeitspostulat entsprach es, einzelne Pflanzen zu bestimmen und zu vergleichen.17 Infolge der europäischen Expansion und getrieben von Neugier sowie der Sehnsucht nach Exoten wurde nun der Transfer von unbekannten Pflanzen in die Gärten zum gemeinsamen Betätigungsfeld der Botaniker. Um die während einer Herbation, Exkursion, Reise oder Expedition zeitlich und räumlich verstreuten Erfahrungen zu bewahren, wurden neben dem Transfer von Lebendpflanzen, Samen und getrockneten Belegen auch Abbildungen und Beschreibungen angefertigt.18 Bruno Latour (* 1947) nannte sie immutable mobiles,19 denn alle Belegformen konnten weiter bearbeitet werden. Abbildungen, Beschreibungen und die Herbartechnik20 waren bereits im 16. Jahrhundert vorhanden, wurden aber im 18. Jahrhundert professional erzeugt, vor allem indem die Beschreibungstechnik durch Carl von Linné (1707–1778) standardisiert wurde.21 Der Ort, an dem Repräsentationen und Pflanzen aufeinandertrafen und gebündelt wurden, war der botanische Garten.
Eine neue institutionell bedingte Kontinuität verlieh dem botanischen Garten Bedeutung. Privat geführte Gärten, die es ebenfalls gab, hatten den Nachteil, dass sie meist an die Lebenszeit einer Person gebunden waren. Um als botanischer Garten zu gelten, mussten einige qualitative Kriterien erfüllt sein, wie die Existenz einer Bibliothek, einer Sammlung von getrockneten Pflanzen (Herbarium) sowie die akribische Erfassung der angebauten Pflanzen und Samen.22 In allen Gärten wird gejätet und geerntet, im botanischen Garten werden jedoch darüber hinaus alle kultivierten Pflanzen verwaltet und in Listen registriert. Diese Verzeichnisse23 waren einerseits ein Mittel, um den Garten zu kontrollieren und viele Pflanzen zu bewirtschaften, andererseits dienten sie dem kommunikativen Austausch mit anderen Gärten, wodurch der Bestand erweitert werden konnte. Um hier eine Größenordnung anzugeben: In Breslau wurden Mitte des 19. Jahrhunderts jährlich 6.000 bis 8.000 Samenproben und 500 bis 600 Stück Lebendpflanzen verschickt, der Garten erhielt dafür 2.000 bis 3.000 Samenproben und 200 bis 300 für ihn neue Pflanzenarten.24 Diese Samendokumentation findet sich auch heute noch in vielen Bibliotheksbeständen der Gärten; sie sind Beleg dafür, mit welchen Gärten sich der Standort in Austausch befand oder mit welchen dieser noch besteht. Durch diese Beziehungen wurde jeder botanischer Garten zu einem Knotenpunkt seines europäischen Netzwerks.
Herbarbelege, Abbildungen und Beschreibungen zirkulierten von Botaniker zu Botaniker, von einem botanischen Garten zum anderen, während die Peripherie diese unentwegt mit noch unbekanntem Material an Pflanzen und bezüglich der Artenvielfalt bereicherten. Um nochmals auf Bruno Latours Konzept zurückzukommen: Die transferierten Samen bzw. lebenden Exemplare blieben in den Gärten – im Unterschied zu den Beschreibungen oder Abbildungen – keine immutable mobiles, keine unveränderten Größen. Die lebende Pflanze im Garten hatte einen erheblichen Nachteil gegenüber den Repräsentationsformen, was ihre eindeutige Bestimmung betraf, denn je nach Jahreszeit und lokalen Bedingungen der Kultivierung änderte sie ihr Aussehen. Durch diese veränderlichen Zustände wurde jedoch der Bestand an Varietäten erweitert, was die Diskussion über die Art immens belebte. Während lange die Artbestimmung und Taxonomie als Legitimation für die Gärten diente, faszinierten die Botaniker ab dem 19. Jahrhundert die Fragen nach der Ursache für die Hybridisierung und für die Veränderung unter unterschiedlichen klimatischen Bedingungen. Der Garten war zur Versuchsanstalt geworden, in dem nicht mehr die aus der Wildnis stammende Pflanze, sondern deren Veränderungen unter wechselnden Lebensumständen beobachtet werden konnte.
Ökonomie und Herrschaft: Imperiale und globale Wissensräume
Die Botanik war stets mit wirtschaftlichen und herrschaftlichen Aspekten verbunden, wiewohl diese von den Botanikern und der älteren Historiographie kaum thematisiert wurden. Bereits die ersten Gärten im 16. Jahrhundert waren darauf ausgerichtet, sich nicht auf Medizinalpflanzen für die auszubildenden Mediziner zu konzentrieren, sondern den Pflanzenbestand nach territorialen Bezügen zu erweitern. So profitierte etwa der botanische Garten in Padua – der als der Universität Padua zugehörig Venedig unterstand – von den Handelsverbindungen der Republik, die bis ins östliche Mittelmeer reichten. Pflanzen aus Ägypten und dem Schwarzmeerbereich (dem osmanischen Raum) kamen bereits im ersten Jahrhundert seines Bestehens in den Paduaer Garten.25 In Leiden, der wohl bedeutendsten kolonialen botanischen Anlage des 17. Jahrhunderts, ging die Erweiterung des Pflanzenbestandes einher mit der Aktivität der Handelskompanien in Übersee.26 Ab dem 16. Jahrhundert etablierte sich im Laufe einiger Jahrzehnte ein Arbeitsprofil des Botanikers, das bald auf den gesamten globalen Raum ausgerichtet war. Reisen, Sammeln und Botanisieren in Übersee waren spätestens seit Carl von Linné nicht mehr nur nebensächliche Aktivitäten von Reisenden, die sich der Mission, dem Handel oder der Diplomatie widmeten, sondern kristallisierten sich als eigenständige Tätigkeitsfelder heraus. Gleichzeitig waren die an Expeditionen beteiligten Botaniker und die Gärten Teil neuer globaler Interessen, die auf die ökonomische Verteilung von Bioressourcen abzielten: Tropische Nutzpflanzen wie der Gewürznelkenbaum (Syzygium aromaticum (L.), Merill et L. M. Perry) oder der Muskatnussbaum (Myristica fragrans Houtt.) sind gut geeignet, die Geschichte des Nutzpflanzentransfers und die diesbezügliche Rolle der botanischen Gärten als Transferinstanzen zu verdeutlichen. Bis 1770 wuchsen nämlich beide Gewürzpflanzen ausschließlich auf den Molukken. Das von den Niederländern streng gehütete Monopol wurde durch den französischen Transfer über die Isle de France ("Garten Pamplemousses", heute "Sir Seewoosagur Ramgoolanin Botanical Garden auf Mauritius") nach Westindien (den Französischen Antillen) durchbrochen.27 Den Briten gelang es dann im Jahre 1802, einige tausend Muskatpflanzen auf den Molukken zu erwerben und sie auf die Insel Penang in den neu errichteten botanischen Garten St. George zu versetzen. Von dort wurden sie erst Jahrzehnte später auf die überseeischen englischen Besitzungen gebracht. Als Präsident der "Royal Society" verwandelte Joseph Banks (1743–1820), ein Mitreisender der ersten Cookschen Expedition, den botanischen Garten Kew bei London zu einem Zentrum des ökonomisch bedeutenden Transfers von Pflanzen.28 Am Ende des 19. Jahrhunderts existierten bereits 102 koloniale Gärten des britischen Empire (diese machten 38 Prozent aller Gärten weltweit aus),29 die auch auf den Anbau von Pflanzen in den kolonialen Gebieten einwirkten. Der Direktor des "Royal Botanic Garden" in Peradeniya (1821) in Ceylon (Sri Lanka) ließ die heruntergekommenen Kaffeeplantagen mit Pflanzen bestücken, die mehr Erträge versprachen. Zwischen 1873 und 1876 wurde die unvorstellbare Zahl von mehr als drei Millionen Setzlingen von Cinchonia pubescens (Chinarinde) an lokale Pflanzer geliefert und damit massiv in das Öko- und Wirtschaftssystem der Insel eingegriffen.
Die Kenntnis der Arten wurde mithilfe von Herbarien und lebendigen Exemplaren in den Gärten bewahrt und verwaltet. Aber die Gärten waren mehr als nur räumliche "Evidenzzentren", sie fungierten als Umschlagplätze, quasi als "Verschub-Bahnhöfe" für Samen im weltweiten Nutzpflanzentransfer. So galten sie als botanische Kalkulationszentren des Imperialismus. Und in Kew diente – wie wir seit Brockways Studie30 wissen – botanisches Fachwissen dazu, Profit und Macht zu erzielen und damit ein industriell-ökonomisches Weltsystem des Empire zu stützen. So gelang es beispielsweise durch die Aktivitäten Kew Gardens' die Teepflanze erfolgreich von China über Kew nach Darjeeling zu transferieren. Nach Londoner Vorbild wurde auch der Berliner Botanische Garten zu Dahlem als Knotenpunkt im Netz der deutschen Schutzgebiete etabliert. Seit etwa 1890 bestückte die dort eingerichtete "Botanische Zentralstelle für die Kolonien" ihre Tochtereinrichtungen in Amani (Ostafrika), Viktoria (Kamerun), die Versuchsgärten in Misahöhe und Sokodé (Togo) und in Simpsonhafen (Neuguinea) mit Pflanzen und mit in Berlin geschultem Personal. Alle Transporte von Pflanzen in und aus den deutschen Kolonien wurden vom Berliner Garten aus kontrolliert, er fungierte als Bindeglied zwischen Wissenschaft und kolonialwirtschaftlichen Interessen.
Lange waren die Transfers gezielt auf unbekannte Pflanzen ausgerichtet gewesen. Im 21. Jahrhundert sind dagegen verstärkt jene Einwanderer (Neophyten) von Interesse, die unbemerkt infolge der Globalisierung auftreten und sich gegenüber den Floren als dominant oder sogar als invasiv erweisen. Ebenso wird dem Garten in letzter Zeit immer mehr die Rolle einer Arche Noah zugewiesen, die nicht nur den Pflanzenschutz selbst umsetzt und vorführt, sondern die Entwicklung gefährdeter Arten verfolgt und zugleich durch unterschiedliche mediale Präsenz in der Öffentlichkeit für die Akzeptanz neuer Schutzmaßnahmen sorgt.
Die Manifestation theoretischer Konzepte in der Gartenanlage
In der Anlage eines botanischen Gartens wird die Theorie von der Ordnung des Pflanzenreichs nicht nur erzeugt, sondern auch gezeigt. In den Gärten wird Natur entsprechend in unterschiedlicher Form gestalterisch aufbereitet, wobei die Inszenierung der systematischen Vorstellung von Pflanzen folgt. In den frühen Gärten ist die Kreisform überliefert, in die ein Rechteck und weitere Rechtecke eingeschrieben waren. Diese Form korrespondierte mit der Elementenlehre,31 die ein komplexes System darstellte, in dem der Makrokosmos auf den Mikrokosmos verwies. Die Kombination von Kreis und Rechteck, wie sie in Padua realisiert worden war,32 hatte eine symbolische wie wissenskonstitutive Bedeutung: Der Kreis verwies nach Platon auf die Vollkommenheit des Kosmos. Gleichzeitig war die Formgebung auch in der Architekturtheorie und der praktischen Proportionslehre verankert, die geometrisch-mathematischen Relationen folgte und für Harmonie stand. Die Vierheit deutete auf den Kosmos, der im Gegensatz zum Chaos als geordnet vorgestellt wurde. Im botanischen Garten bewährten sich die einfachen geometrischen Formen (entweder Rechtecke oder Vierecke) noch bis ins 18. Jahrhundert.33
Die Pflanzen wurden zunächst nach ihrer medizinischen Wirksamkeit oder sogar alphabetisch aufbereitet. Herman Boerhaave (1668–1738) war der erste Gartendirektor, der die kultivierten Arten im Leidener Garten nach ihrer Familienzugehörigkeit in Reihen, also in einem Bezug zu einem Pflanzensystem, eingesetzt hatte.34 Für das 18. Jahrhundert war es Linnés System, das sich gegenüber konkurrierenden Klassifikationen durchsetzte und die Gestaltung des botanischen Gartens bestimmte. Geometrisch kohärent wurden in der Gartenanlage Reihen angeordnet. Die geleiteten Wahrnehmungen im Garten waren auf ein starres Klassifikationssystem bezogen, in dem jede Pflanze – im Buch wie in der Gartenrealität – eindeutig ihren Platz zugewiesen bekam. Diese Eindeutigkeit entsprach der Vorstellung einer unveränderlichen Natur (Konstanz der Arten), die sich erst im 19. Jahrhundert wandelte, als das Wissen über die Arten zunahm.35
Die Reihen im Garten oder die Buchansichten suggerierten eine Übersicht, ähnlich wie Apodemiken (Anleitungen zum Reisen) den Blick von oben propagierten, von den Stadttürmen auf die Topographie der Stadtanlage oder von den Gipfeln der Berge, die ab Ende des 18. Jahrhunderts von Naturforschern "erobert" wurden.36 Durch diese Kulturtechnik wurde ein detailliertes Register erzeugt, eine Liste von Aufzählbarem, von Fragmenten und von Pflanzen in Reihen. Eine Synthese wurde dagegen erst möglich, als man die Pflanzen tatsächlichen geographisch-ökologischen Einheiten und damit einem Kollektiv, einer Pflanzengesellschaft, zuordnete. Besonders Alexander von Humboldt (1769–1859), um den wichtigsten Vertreter der Pflanzengeographie zu nennen, propagierte dieses Konzept, das im 19. Jahrhundert in der Gestaltung des Englischen Gartens in München erstmals ästhetisch aufgegriffen wurde. Geometrische Formen wurden durch Kurvenlinien ersetzt und man verwandelte, wie in Jena und Berlin,37 die bis dahin schematisch in rechteckige Flächen aufgeteilten Gärten in landschaftsparkähnliche Areale. Im Zuge der Industrialisierung und der Verdichtung der Metropolen wurden diese Gärten zu den grünen Lungen im städtischen Raum.
Die Abkehr von geometrischen Anordnungen erforderte allerdings eine räumliche Ausdehnung. So mancher botanische Garten musste vom Zentrum einer Stadt an deren Peripherie verlegt werden, mit großzügigem Flächengewinn. In Berlin, wo die 1810 neu gegründete Universität den von der Akademie verwalteten Garten übernommen hatte, fand die Verlegung von Schöneberg nach Dahlem um die Jahrhundertwende (1897–1910) statt. Der Pflanzengeograph Adolf Engler (1844–1930) konzipierte Gruppierungen, die in ihrer überkontinentalen Spannweite Europa, Asien und Nordamerika thematisierten. In noch nie dagewesener räumlicher Ausdehnung machte der Garten die Pflanzengeographie zur Grundlage des Pflanzenarrangements. Die Idee von Anton Kerner von Marilaun (1831–1898)38 hatte erstmals 1860 im Innsbrucker Garten versucht, die Vegetation der Tiroler Alpen en miniature zu präsentieren. Adolf Engler übertrug diese Idee auf die gemäßigten Zonen der gesamten Nordhalbkugel.39 Das dadurch entstandene Alpinum, heute in vielen Gärten als eigene Gruppe beliebt, führte Anton Kerner im Botanischen Garten Innsbruck ein und verwandelte diesen zu einem Mittelpunkt international angesehener Alpenstudien. Der Schau- und der Experimentierraum fielen nun aber auseinander. Im Innsbrucker Garten wurden die Gebirgszüge Tirols im Steingarten anschaulich und langjährige Versuchsreihen auf verschiedenen Versuchsflächen und unterschiedlichen Höhen eingerichtet, um die Kultur von Alpenpflanzen als Folge umweltbedingter und nicht vererblicher Veränderungen zu dokumentieren. Die umstrittene Hypothese der Vererbung erworbener Eigenschaften stand zur Diskussion.40
Wie Museen präsentierten auch botanische Gärten ihre Objekte außerhalb des jeweiligen Zusammenhangs und setzten sie stattdessen in wissensbezogene Kontexte, die seit dem 19. Jahrhundert neu definiert wurden. Dazu zählten geographische Gruppierungen, Funktionsgruppierungen (Gehölze, Sukkulenten, Wasserpflanzen etc.), nach dem technischen Nutzen und nach lebensräumlichen Zusammenhängen. Mitte des 19. Jahrhunderts zählten die artenreichsten Gärten der Welt (St. Petersburg, Kew in London und Berlin) nicht mehr als 25.000 Pflanzenarten. In dieser Zeit geriet der botanische Garten in eine Krise, und seine Reform wurde diskutiert. Der in Innsbruck und am botanischen Garten in Wien wirkende Anton Kerner plädierte für eine repräsentative Auswahl anstatt einer unsinnigen Artenkumulation.41 Dabei wurde bereits bedacht, dass sich die Pflanzen auch gut zu morphologischen und physiologischen Demonstrationen und Untersuchungen eignen sollten. Nach Kerner hatte der Garten den Herausforderungen neuer botanischer Disziplinen – wie der Physiologie und Morphologie – dezidiert Rechnung zu tragen. Dem klassischen Gartenmodell zufolge konzentrierten sich die meisten botanischen Gärten in Europa noch auf die Taxonomie.42 Gärten sollten jedoch nach Kerner den lebendigen Stoff für physiologische und morphologische Untersuchungen liefern, eine Art von Ressourcenfunktion wahrnehmen. Kerner wollte sie nicht auf die Bereitstellung von Pflanzenmaterial fürs Labor reduziert wissen. Er definierte den Garten selbst als Labor, als Experimentierfeld. Solche Aufgaben hatten einzelne Gärten spätestens seit dem 17. Jahrhundert bereits dann übernommen, wenn Botaniker konkret die Akklimatisierung von Pflanzen als vordringlichen Untersuchungsgegenstand bestimmten. Dieses Unterfangen wurde im 19. Jahrhundert auf Standortfragen der Pflanzen ausgeweitet.
Wie alles, was die in den USA üblichen gigantischen räumlichen Ausmaße anbelangt, wurden auch die dort angelegten Gärten zu Spitzenreitern. Die 1904 gegründeten "Huntington Botanical Gardens" in San Marino (Los Angeles County) entstanden, indem man einen Park anlegte, der aus 15 verschiedenen Gärten bestand. Darunter befanden sich unter anderem ein Wüstengarten, ein Japanischer Garten und ein Palmengarten.43 Das Konzept der Evolution stellte die Gärten im 20. Jahrhundert vor die Herausforderung, Stufen der pflanzlichen Entwicklung zu gestalten. In Freiburg wurde das System der Blütenpflanzen als Evolution konkret so umgesetzt, dass einzelne Gruppen in Kreisen markiert wurden und Verbindungswege zwischen diesen Einheiten die Entwicklungslinien repräsentierten.44
Vermitteln und Aneignen
Wie sehr der Unterricht an den Universitäten auf Sichtbarkeit rekurrierte, belegt eine universitäre Lehrordnung vom Jahre 1609:
Da außerdem das meiste in der medizinischen Lehre sich nur dann offenbart, wenn es durch Augenschein und Prüfung mit den Augen erkannt wird, versammelt der unterste Professor [Tertiarius] dieses Kollegiums, der bei günstiger Witterung die Schüler aufs freie Feld führt, um die verschiedenen Gattungen der Pflanzen kennenzulernen [….] Wo er ihnen [den Studenten] selbst die Möglichkeit des Betrachtens und Erprobens bietet.45
Schauen zu lernen, sich auf einzelne Merkmale zu konzentrieren, lief daraus hinaus, dass theoretisch-abstraktes Wissen anschaulich erworben wurde, non-verbales Wissen (Form und Wiedererkennung der Pflanze) mit verbalem (Benennung) in Bezug gesetzt werden konnte. Memorieren bildete lange das Hauptelement der pädagogischen Vermittlung. Hier bot der Garten als Raum des strukturierten Wissens in seiner geordneten Ganzheit einen Vorteil gegenüber dem offenen Gelände in seiner verwirrenden Vielfalt, da jede Lerneinheit als Wiederholung und fokussiert ablaufen konnte. Als Gedächtnisauslöser fungierten die meist an den Pflanzen auf Täfelchen angebrachten Nummern, die mit den in den Gartenkatalogen publizierten Namen korrespondierten.46 Bald wurden diese jedoch durch Namensschilder aus Blech oder Holz ersetzt. Bis heute zählen sie zum selbstverständlichen Bestand der botanischen Gärten, verweisen auf Namen und damit auf die eminent wichtige Praxis der Erfassung und des Wiedererkennens von Pflanzen.
Noch im Jahre 1824 gab der Berliner Botaniker Heinrich F. Link (1767–1851) in seinem Methodenkapitel des Werkes Elementa Philosophiae Botanicae47 dem Garten als Lernort gegenüber dem Gelände den Vorzug; Exkursionen für die Studenten lehnte er sogar als nutzlos ab. Im botanischen Garten war es möglich, Kenntnisse über Pflanzennamen, Pflanzenteile und deren systematische Anordnung unter optimalen Bedingungen zu erwerben. Es gebe viele Medien, so Link, an der Spitze der Lernquellen jedoch stehe der botanische Garten, der alle anderen qualitativ überrage, weil er sich im Spektrum dieser vielen in der klassischen Botanik charakteristischen, non-verbalen Medien auszeichne.
Durch die Anordnung der Pflanzen steuert der botanische Garten die Wahrnehmung des Betrachters. Im Zuge des 19. Jahrhunderts, als die Naturwissenschaften zunehmend in der Öffentlichkeit an Deutungsmacht gewannen, fiel dem botanischen Garten immer mehr die Rolle als öffentliche Bildungsinstitution zu, in der das wissenschaftlich gesicherte Wissen auch Laien, vornehmlich dem Bildungsbürgertum, zugänglich gemacht wurde. Der Garten erhielt nun wie alle anderen Vermittlungsorte Schautafeln, auf denen einzelne Pflanzenarten oder Phänomene kompakt dargestellt wurden. Das neue Publikum wollte aber nicht nur belehrt werden, sondern suchte auch Erbauung, Genuss und Unterhaltung, wofür sich der botanische Garten mit seiner Exotik in den neuen Glas- und Tropenhäusern, besonders den großen Palmhäusern, ideal eignete. Zudem diente er ebenso als imperialistischer Vermittlungsort, der die von Europa beherrschte Welt präsentierte.
Der Garten machte es den Besuchern möglich, den Lebenszyklus eines Gewächses, vom Keim bis zur Blüte zu beobachten. Innerhalb dieses Kreislaufes stellte oft eine einmalige Blüte ein besonderes Ereignis dar, das seit dem 19. Jahrhundert von den Gärten zu Events stilisiert wurde. Mit diesen Attraktionen – wie beispielsweise die aus Sumatra stammende Titanwurz, aus blütenbiologischer Sicht die größte Blume der Welt – präsentieren sich Gärten auch heute noch an der Öffentlichkeit.