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Einführung
Man darf mit Fug und Recht behaupten, dass es im 19. Jahrhundert kaum ein bedeutenderes politisches und soziales Phänomen als den Nationalismus gab. Bis in die Gegenwart debattieren Historiker über die Anfänge (gewissermaßen über ein "Geburtsdatum") des Nationalismus,1 doch sind sich fast alle darüber einig, dass die Ausbreitung nationalistischen Gedankengutes die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts erheblich beeinflusst hat. Nationalismus entstand dabei nicht nur in Europa, sondern auch in anderen Weltregionen.
Allerdings gelang es nicht allen nationalistischen Bewegungen, ihre eigenen unabhängigen, souveränen Nationalstaaten zu gründen. Gelegentlich fanden sich "Nationen" in multi-ethnischen, multi-religiösen (und mit der rapiden Ausbreitung nationalistischen Gedankengutes im 19. Jahrhundert zunehmend auch multi-nationalen) Imperien "eingesperrt". Diese waren nicht willens, nationale Minderheiten ihre eigenen Staaten errichten zu lassen (prominente Beispiele sind Österreich-Ungarn oder das Osmanische Reich). Vielen dieser Nationalitäten, wie z.B. den Tschechen und den Polen, gelang es erst nach 1918, einen Nationalstaat zu gründen. In anderen Fällen entstanden zwar Nationalstaaten, die jedoch in den Augen radikaler Nationalisten "verstümmelt" waren, da nicht alle Angehörigen der Nation innerhalb ihrer Grenzen lebten. Diese radikal-nationalistischen Bewegungen wurden zur Brutstätte der späteren Pan-Bewegungen.
Es mangelt nicht an Literatur, die sich mit einzelnen Pan-Bewegungen auseinandersetzt. Demgegenüber ist die Anzahl der Publikationen, die versuchen, eine theoretische und methodologische Grundlage für die Behandlung des Phänomens "Pan-Bewegungen" zu finden, recht klein. Es scheint einen einfachen Grund für diesen augenscheinlichen Mangel an wissenschaftlicher Aufmerksamkeit zu geben: Einer der wenigen Versuche, eine generelle Beschreibung von Pan-Ideologien zu geben, resultierte lediglich in der folgenden vagen Definition: Pan-Bewegungen sind politisch-kulturelle Bewegungen, die sich zum Ziel gesetzt haben, das Zusammengehörigkeitsgefühl einzelner Völker zu betonen und zu steigern. Diese Völker "gehören zusammen" aufgrund gleicher oder ähnlicher Sprache, kultureller Verwandtschaft, geteilter historischer Traditionen und/oder geographischer Nähe. Sie wollen als eine große, geeinte Nation Teil der Weltgemeinschaft der Nationen sein.2
Diese Definition hat ihre Schwächen. Zunächst gibt es Pan-Bewegungen – wie zum Beispiel den Pan-Islamismus –, die nicht primär auf Nationalismus basieren, sondern auf religiös bedingter Solidarität und Kooperation der Gläubigen. Zweitens unterscheiden sich europäische Pan-Ideologien, wie der Pan-Slawismus oder der Pan-Germanismus, und außereuropäische Pan-Bewegungen sehr voneinander. Letztere enthalten ein anti-koloniales und anti-imperialistisches Moment, das in europäischen Pan-Bewegungen nicht so prominent vertreten ist. Darum ist es wichtig, bei einer Diskussion der Pan-Bewegungen Eurozentrismus zu vermeiden.
Die Geschichte der Pan-Ideologien
Vor dem späten 19. Jahrhundert spielten die "modernen" Pan-Ideologien noch keine bedeutende Rolle, doch ähnlich inklusive Bewegungen und Ideologien sind wesentlich älter. Die ersten Anzeichen pan-slawischen Gedankenguts finden sich in den Schriften des Kroaten Juraj Križanić (1618–1683) im 17. Jahrhundert. Noch frühere Pan-Bewegungen oder vielleicht eher Pan-Ideen, die auf gemeinsamer Sprache und Kultur beruhten (z.B. der Pan-Lusitanismus oder der Pan-Hispanismus), waren eine Folge der seit dem 16. Jahrhundert entstehenden europäKolonialimperien. Von allen Pan-Bewegungen waren – und sind – diese wohl die am wenigsten aggressiven und problematischen. Ähnliche Beispiele umfassen "La Francophonie" (die auf einem Zusammengehörigkeitsgefühl all derer basiert, deren Muttersprache Französisch ist) oder die "Anglosphere" (die das Gleiche für alle Muttersprachler des Englischen postuliert). Die Ausbreitung des ethnischen Nationalismus im 19. Jahrhundert förderte auch die Entwicklung der Pan-Ideologien. Da viele Völker in Europa zum damaligen Zeitpunkt noch in Vielvölkerimperien lebten, gab es viele Anhänger von ethnischen Nationalismen, die frustriert darüber waren, dass sich stets Angehörige der Nation fanden, die unter "fremder" Herrschaft lebten. Dieser Umstand war bei Nationen, die keinen eigenen Nationalstaat besaßen, besonders virulent (wie z.B. im Fall der Deutschen bis 1871).
Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich die Pan-Ideologien in zwei Richtungen. Wie im Weiteren diskutiert werden wird, nahmen die meisten einen antimodernistischen, aggressiv nationalistischen und illiberalen Charakter an (wie z.B. der Pan-Slawismus, der Pan-Germanismus etc.). Andere tendierten, zunächst erst sehr verhalten, zu einer anti-kolonialen Haltung und könnten so als Vorläufer anti-kolonialer Nationalismen angesehen werden, wie z.B. der Pan-Islamismus. In letzterem Fall lässt sich argumentieren, dass das Aufkommen populärer Nationalismen, insbesondere nach dem Ende kolonialer Herrschaft, den Einfluss dieser Pan-Ideologien beendete.
In nochmals jüngerer Vergangenheit bildete sich eine neue Art der Pan-Bewegungen, Beispiele dafür wären Pan-Asianismus und Pan-Afrikanismus. Doch im Falle des Pan-Asianismus darf nicht übersehen werden, dass es sich nicht nur um eine den Kolonialmächten feindlich gesonnene Ideologie handelte, sondern auch um ein kaum verschleiertes Instrument zur Förderung japanischer Vorherrschaft in Asien. Ein ähnliches Urteil muss über das von den Nazis propagierte Konzept des "Pan-Europäismus" gefällt werden. Die Idee einer tödlichen Feindschaft zwischen dem "kultivierten/zivilisierten Europa" und dem "barbarischen Asien" war einer der Grundpfeiler nationalsozialistischer Propaganda. Während des Zweiten Weltkrieges, besonders als offensichtlich wurde, dass Nazideutschland in Gefahr war, der Sowjetunion zu unterliegen, wurde dieses Konzept in den "Pan-Europäismus" umgemünzt: Alle Völker Europas sollten sich gemeinsam den "asiatischen Invasoren" entgegenstellen.
Dieser nationalsozialistische Pan-Europäismus sollte kontrastiert werden mit der weitaus ernsthafteren und wohlwollenderen Bewegung, die Graf Richard Coudenhove-Kalergi begründete. Dieser kann mit einigem Recht als einer der ideologischen und ideellen Väter der modernen Europäischen Union bezeichnet werden. Coudenhove-Kalergis Überlegung ähnelte der dem Völkerbund zugrunde liegenden: Die Vereinigung aller Staaten und Bürger Europas (oder, nimmt man den Standpunkt der Begründer des Völkerbundes ein, der gesamten Welt) würde eine Wiederholung der traumatischen Erfahrung des Ersten Weltkrieges unmöglich machen. Obwohl dieser Versuch damals scheiterte, lebt sein Gedankengut doch in Institutionen wie den Vereinten Nationen oder der Europäischen Union fort.
Schließlich verdient noch der Pan-Amerikanismus eine Erwähnung, der seinen Höhepunkt während des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts erlebte. Ursprünglich eine dem Pan-Hispanismus verwandte Idee wandelte er sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem hemisphärischen Konzept. Ultimativ beruhte er mehr auf geographischen als auf kulturellen oder linguistischen Grundlagen. Der Pan-Amerikanismus ist ein besonders gutes Beispiel für die vielen Pan-Ideologien inhärente Dichotomie: Die Vereinigten Staaten sahen ihn als eine wohlwollende Bewegung an, die danach strebte, die westliche Hemisphäre in Freiheit und Demokratie geeint zu sehen. Viele lateinamerikanische Staaten aber hielten ihn für ein Vehikel eines kaum verschleierten US-Imperialismus.3
Pan-Ideologien: Definitionen, Typen und Vergleiche
Pan-Ideologien sind schwierig zu definieren und noch schwieriger miteinander zu vergleichen. Zunächst scheinen sie das menschliche Bestreben zu reflektieren, sich mit anderen menschlichen Wesen zu verbinden. Aristoteles (384–322 v.Chr.) bezeichnete den Menschen als ein zoon politikon, d.h. als ein soziales Wesen, das aus dem Innersten heraus getrieben ist, Gruppen und Allianzen mit anderen Angehörigen der gleichen Art zu bilden. Dies ist somit der Ursprung von Staat, Gesellschaft und, in jüngerer Vergangenheit, Nation.4 Doch gab es auch viele Versuche, Menschen in noch größeren Konstrukten zu vereinen. Die ältesten und wohl noch immer prominentesten dieser Versuche sind die großen Weltreligionen, besonders Christentum und Islam. Beide postulieren die Existenz einer Weltgemeinschaft der Gläubigen, die das "Reich Gottes auf Erden" repräsentiere und alle politischen oder kulturellen Grenzen überschreite. Augustinus (354–430) erklärte, die civitas dei (der Gottesstaat) sei durch die gläubigen Christen repräsentiert, nicht durch einen real existierenden (politischen) Staat.5 Eines der wichtigsten sozio-politischen Konzepte im Islam ist das der umma, der Weltgemeinde der Gläubigen.6 Auch gab es säkulare Versuche, derartige Großgemeinschaften zu etablieren, z.B. durch Gruppen, die durch die Loyalität zu einem Herrscher oder bestimmten Werten geeint waren.
Doch ebenso alt wie der Trieb zur Verbindung mit anderen Menschen ist auch die Tendenz zur Abspaltung, insbesondere zum Formen von Splittergruppen. Trotz ihres universalen Anspruchs erlebten die oben erwähnten Weltreligionen früher oder später Schismen. Auch Imperien brachen in kleinere Staaten auseinander, oftmals bedingt durch das Aufkommen partikularnationalistischer Bewegungen. Dieser Separationsprozess beschleunigte sich während des 19. Jahrhunderts, als nationalistische Tendenzen die Existenz älterer imperialer Ordnungen zu bedrohen begannen (hier mögen Österreich-Ungarn oder das Osmanische Reich als Beispiele dienen). In den überseeischen Kolonialreichen der europäischen Mächte begannen sich zum gleichen Zeitpunkt die Kolonisierten unter den Fahnen des Antikolonialismus und der Beendigung kolonialer Kontrolle zusammenzufinden.
Die Phänomene Nationalismus und Imperialismus müssen bei Diskussionen über Pan-Ideologien immer mitbedacht werden. Pan-Ideologien teilten mit manchen Nationalismen die Tendenz, Identität auf den Geburtsort zu reduzieren. Jedoch lehnten Pan-Ideologen normalerweise den Nationalstaat als entweder zu klein oder zu schwach ab, da Nationalstaaten häufig nur einen Teil der Pan-Gruppe umfassten. In den Augen der Anhänger von Pan-Ideologien musste sich der Nationalstaat darum ausdehnen, um einen inklusiveren Charakter annehmen zu können. Demzufolge haben Pan-Ideologien oft auch imperialistische Diskurse hervorgebracht.
Man könnte noch einen Schritt weiter gehen und argumentieren, dass Pan-Ideologien ihre bloße Existenz dem Imperialismus verdanken, insbesondere dem westlichen Imperialismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Damals waren zwei Phänomene zu beobachten: zunächst die Globalisierung, die durch die relativ kleine Anzahl imperialer Mächte, die die Welt unter sich aufteilten, bedingt wurde, und zweitens die intensive Aufmerksamkeit, die die Medien diesem Phänomen zuteilwerden ließen. Es ging nun nicht mehr um den Status eines Landes in einem begrenzten Kontext (exemplifiziert durch die seit dem 16. Jahrhundert existierenden Konflikte der europäischen Mächte um die "Vorherrschaft in Europa"). Stattdessen rivalisierten weltweite Imperien mit anderen weltweiten Imperien. Staatsangehörigkeit oder Loyalität zu einem Herrscher, so wurde nun argumentiert, würde nicht ausreichen, um unter den Völkern eines Imperiums ein ausreichend starkes Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen, das diesem Imperium am Ende des "Endkampfes" der Weltreiche den Sieg bescheren würde. Als Grundlage für die benötigte hohe Integration müsse ein wirksameres Konzept verwendet werden.
Die Anzahl der Pan-Ideologien ist beträchtlich, und selbst ein eher oberflächlicher Blick in ein Lexikon ergibt eine längere Liste. Normalerweise werden sie als religiöse oder nationalistische Ideologien klassifiziert. Ideologien, die auf Territorialität aufbauen, vertreten die Ansicht, dass das Leben in einer bestimmten Region einen prägenden Einfluss auf die Identität der Einwohner ausübt (z.B. Pan-Afrikanismus, Pan-Asianismus, Pan-Amerikanismus, Pan-Europäismus). Andere Ideologien beziehen sich auf ein ethnisch oder kulturell bestimmtes Grundelement, welches sehr häufig auch durch eine Sprache repräsentiert wird (so z.B. Pan-Arabismus, Pan-Türkismus, Pan-Slawismus, Pan-Iranismus). Eine dritte Unterart der Pan-Ideologien ist religiös bestimmt, was zunächst wie eine unnötige Betonung des universalen Anspruchs vieler Religionen erscheint. Doch der Pan-Islamismus, der sich als Bewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildete, unterschied sich erheblich vom "Islam" im engeren Sinne, da Ersterer dazu tendierte, die Fragmentierung des Islam in religiöser Hinsicht zu ignorieren und die Idee einer sozio-politischen Einheit aller Muslime zu vertreten. Wo auch immer sie lebten, ganz gleich, welche Sprache sie verwendeten oder welche Kultur sie besaßen, Muslime sollten sich als Teil einer weltweiten Gemeinschaft der Gläubigen sehen. Diese Solidarität mit dem Schicksal ihrer "Brüder" in anderen Teilen der Welt sollte prägenden Einfluss auf ihre Identität und ihr Verhalten haben.
Hinsichtlich Terminologie und Etymologie sind die Pan-Ideologien westliche Konstrukte. Deutsche mit universalistischen Ansprüchen bezeichneten sich als "Alldeutsche", während z.B. Pan-Asiaten das alte japanische Konzept des "Sangoku" (buchstäblich "die drei Länder", gemeint sind Japan, China und Indien) verwendeten.7 Pan-Türkisten bezeichneten sich selbst als "Türkcüler" (Türkisten).8 Eine kürzlich erschienene Publikation zum Thema des arabischen Nationalismus hinterfragt, warum im arabisch-nationalistischen Schriftgut die buchstäbliche Übersetzung des Pan-Arabismus (Al-'Uruba al-Shamila) nur selten verwendet wird, und bietet auch eine Erklärung an: Arabische Nationalisten seien inhärent Pan-Arabisten, da ihnen die Idee einer in mehrere arabische Nationalstaaten aufgespaltenen arabischen Nation paradox erscheine. Ein "reiner" arabischer Nationalist müsse daher nicht nur für die Unabhängigkeit der arabischen Nation kämpfen, sondern auch für ihre Einheit innerhalb eines einzelnen Staates.9
Pan-Ideologien mögen starke Unterschiede aufweisen und daher schwer miteinander vergleichbar sein, doch existieren durchaus gewisse Aspekte, die ihnen allen gemeinsam sind. Sie stehen Nationalismus, Imperialismus und Irredentismus eher positiv gegenüber, haben jedoch ein eher gespanntes Verhältnis zum Staat, der Moderne und dem Westen. Sie leiten sich aus vergleichbaren Ängsten und Problemen her. Pan-Ideologien sind essentialistisch, da sie ein mythisches Konzept der Pan-Gruppe konstruieren. Dieses soll alle anderen Aspekte der Identität an Bedeutung übertreffen. Sie sind ferner illiberal, da Mitgliedschaft in der Pan-Gruppe keine Frage des persönlichen Willens ist (wie z.B. im "täglichen Plebiszit"10 als Basis des französischen Nationalismus postuliert). Wenn es um die Identifizierung klarer politischer Ziele und Absichten geht, sind Pan-Ideologien notorisch vage: Sie streben nach dem Paradies, sind jedoch nicht in der Lage – oder nicht willens – zu erklären, worin das Paradies bestehen soll. Sie glauben jedoch daran, dass der Pfad ins Paradies für die Pan-Gruppe vom Schicksal vorgezeichnet ist, und sind daher auch deterministisch.
Unterschiedliche Pan-Ideologien betonen die oben erwähnten Aspekte unterschiedlich stark. Die einzelnen Aspekte müssen daher in größerem Detail diskutiert werden, um einen fruchtbaren Vergleich von Pan-Ideologien zu ermöglichen. Daher werden die folgenden Absätze zunächst das Verhältnis von Pan-Ideologien zu Nationalismus, Imperialismus und Irredentismus untersuchen, sich danach ihrer Beziehung zum Staat, zur Moderne und zum Westen zuwenden, um mit einigen Betrachtungen über Aspekte des Essentialismus, Determinismus und Illiberalität zu schließen.
Nationalismus, Imperium und Irredentismus
Pan-Ideologien sind eng mit den Phänomenen Nationalismus und Imperium verbunden. Es wäre nicht übertrieben zu behaupten, dass in der Mehrheit der Fälle Pan-Ideologien die Lücke zwischen beiden Konzepten überbrücken. Andere Pan-Ideologien sind aus einem kolonialen Kontext heraus entstanden und setzen sich zum Ziel, einen anti-kolonialen Kampf zu rechtfertigen, zu organisieren und zu realisieren. Ein weiterer gemeinsamer Zug ist Irredentismus. Die Anhänger von Pan-Ideologien sind generell unzufrieden mit existierenden politischen Realitäten und versuchen, diese zu verändern. Dies geschieht im Normalfall durch das Schüren von Unzufriedenheit bei Mitgliedern der Pan-Gruppe, die unter "Fremdherrschaft" leben, und äußert sich in dem Anspruch, auch diese Gruppen müssten an das "Mutterland" angeschlossen werden. Dieser irredentistische Zug vieler Pan-Ideologien erklärt auch, weshalb Pan-Bewegungen nur selten Erfolg dabei hatten, offizielle Staatspolitik zu werden. Dies fand eigentlich nur in Zeiten internen Aufruhrs statt, wenn Kriege – die fast unvermeidliche Folge der Adoption einer Pan-Ideologie durch einen Staat – tief greifende Veränderungen in der territorialen Ordnung der Welt möglich erscheinen ließen.
Nationalismus
Hannah Arendt (1906–1975) bezeichnete Pan-Bewegungen als besonders aggressiv auftretende Formen des völkischen Nationalismus; es erscheint verständlich, dass sie als Beispiele dafür den Pan-Germanismus und den Pan-Slawismus zitierte, auf die diese Bezeichnung am ehesten zutrifft.11 Dabei haben Nationalismus und Pan-Bewegungen allerdings häufig ein eher gespanntes Verhältnis zueinander. Viele Pan-Ideologien wären nicht denkbar ohne die Präsenz eines modernen Nationalismus, d.h. eines Nationalismus, der nach der Errichtung eines Nationalstaates strebt, dessen Bevölkerung entweder zur Gänze oder in der großen Mehrheit mit "der Nation" identisch ist. Pan-Bewegungen dieser Art werden sich am nationalen Kampf beteiligen, sehen sich jedoch enttäuscht, sobald ein Staat geschaffen worden ist. Erst dann trennen sich die Wege zwischen Nationalismus und Pan-Bewegungen. Nationalisten mögen beispielsweise mit dem Erreichten zufrieden sein, wie Otto von Bismarcks (1815–1898) Bemerkung, Deutschland sei nach dem Krieg von 1870/1871 gegen Frankreich territorial saturiert, erkennen lässt. Bismarck wünschte offensichtlich die problematischen Konsequenzen zu vermeiden, die sich aus der irredentistischen Propaganda der alldeutschen Bewegung ergeben hätten, insbesondere angesichts des ohnehin schon konfliktgeladenen Verhältnisses zu Österreich-Ungarn und Russland. Demgegenüber erachteten die Alldeutschen die kleindeutsche Lösung (einen deutschen Nationalstaat ohne Einbeziehung Österreichs) als nicht ausreichend und verlangten lauthals die Gründung eines Staates, der alle Territorien, in denen "Deutsche" lebten, umfassen sollte.
Somit überwinden Pan-Ideologien die Grenzen von Nationalstaaten – sowohl auf den Karten als auch im Denken ihrer Anhänger. Der Grund für diese politische Anspruchshaltung ist nicht schwer zu erkennen: Die meisten Pan-Ideologien bilden sich innerhalb von Gruppen, die unter Ängsten leiden, die wiederum auf die Furcht, von einem stärkeren "Anderen" unterworfen oder marginalisiert zu werden, zurückzuführen sind. In manchen Fällen besteht dieses "Andere" in rivalisierenden Mächten, die dem Aufstieg der Pan-Gruppe zur "Weltmacht" im Wege stehen (wie im Falle des Pan-Germanismus). In vielen anderen Fällen präsentierte sich das Problem in Form kolonialer Unterwerfung: Eine Pan-Ideologie bildete sich aus der Erkenntnis heraus, dass die kolonisierten Völker nicht in der Lage sein würden, ihre Unabhängigkeit zu erzwingen, ohne dass Gruppen, die größer als Nationen waren, miteinander kooperierten (Pan-Islamismus, Pan-Türkismus, Pan-Afrikanismus, etc.).
Imperium
Wenn Pan-Bewegungen ein schwieriges Verhältnis zum Nationalismus haben, so könnte dies auch für ihre Einstellung zum Kolonialismus und zu Imperien gesagt werden. Eine gängige Definition von Kolonialismus ist die Dominanz "höher entwickelter" Staaten und Völker über andere, die im Vergleich "weniger entwickelt" sind; "Entwicklung" bezieht sich hier auf materiellen Reichtum, militärische Macht und bessere Organisation.12 Demzufolge ist ein Imperium per definitionem multi-ethnisch und multi-lingual; sein Zusammenhalt kann also nicht auf einer "Grundsubstanz", die aus Sprache, Ethnizität, Kultur oder Religion bestehen mag, aufgebaut werden. Imperien werden entweder durch die Loyalität zu einer "imperialen Ideologie" oder zu einem Herrscher zusammengehalten, und nicht selten wird dieser Zusammenhalt gewaltsam erzwungen. Um ihr Überleben zu sichern, müssen Imperien jedoch oftmals bis zu einem gewissen Grad Toleranz für die unterschiedlichen Sprachen, Kulturen und Ethnizitäten der von ihnen beherrschten Völker aufbringen.
Die Haltung von Pan-Bewegungen zum Imperialismus kann zweierlei Gestalt annehmen. Die erste besteht aus uneingeschränkter Befürwortung und Unterstützung imperialer Politik. Jedoch streben derartige Pan-Ideologien meistens nach dem "wahren" Imperium, einem Reich, in dem die Einwohner durch Ethnizität und Kultur miteinander verbunden sind, und in dem nicht zur Pan-Gruppe gehörige Individuen und Gruppen einen niedrigeren Status zu akzeptieren haben. So waren die Pan-Türkisten im späten Osmanischen Reich alles andere als Antiimperialisten. Vielmehr fanden sie sich mit der offensichtlichen Tatsache ab, dass das multi-ethnische Osmanische Reich in einem Zeitalter des Nationalismus wohl zum Untergang verurteilt sei. Die pan-türkistische Lösung des Problems bestand darin, dieses Osmanische Reich durch ein Türkisches oder Turkreich zu ersetzen, das nicht nur die osmanischen Türken, sondern auch die des Kaukasus und Zentralasiens umfassen sollte. Beim Pan-Asianismus verdammten die (hauptsächlich japanischen) Denker, die diese Ideologie entwickelten, die westliche Dominanz über Asien. Gleichzeitig hatten sie jedoch keinerlei Skrupel, japanischen Imperialismus, im Sinne einer "natürlich gegebenen" Herrschaft des "am höchsten entwickelten" asiatischen Volkes über alle anderen, zu unterstützen – ein eigenartiges und seltenes Beispiel für "imperialistischen Antikolonialismus".
Die zweite Haltung zum Imperialismus ist Ablehnung. Wenn man die oben gegebene Definition akzeptiert, ist jedes Imperium unweigerlich repressiv. Imperien stehen dem Bestreben der kolonisierten Völker nach Verwirklichung ihrer politischen Ziele entgegen, sobald diese Völker ein politisches Bewusstsein und den Wunsch nach Unabhängigkeit hervorgebracht haben. Derartige Pan-Ideologien (z.B. Pan-Islamismus oder Pan-Afrikanismus) versuchen, die Kolonisierten in einer gemeinsamen Bewegung zu vereinigen und auf diese Weise – durch die Schaffung großer und potentiell mächtiger Gruppen – Imperialismus effizienter und schlagkräftiger zu bekämpfen, als dies einzelnen Völkern möglich wäre.
Irredentismus
Häufig zeigen Pan-Ideologien irredentistische Züge. In derartigen Fällen ist die jeweilige Pan-Gruppe auf verschiedene Staaten (die sowohl imperialen als auch nationalen Charakter haben können) aufgeteilt, und dieser Zustand wird seitens der Pan-Ideologen als "unnatürlich" angesehen. Demzufolge propagieren sie konkrete Schritte, wie dieses Problem zu lösen sei; in der Mehrheit der Fälle schlagen sie als Lösung die Vereinigung der Pan-Gruppe in einem geeinten Territorium oder Staat vor. Internationales Recht, das diesem Vorgehen im Wege steht, wird im gleichen Atemzug als "ungerecht" bezeichnet.
Wenn Pan-Ideologien große Popularität und die Unterstützung eines mächtigen Staates gewinnen, können sie ein erhebliches Konfliktpotential entwickeln. Ein mächtiger Staat kann sie dazu verwenden, seine imperialen Ambitionen voranzutreiben. Pan-Ideologien zeigen wenig Respekt vor staatlicher Souveränität; vielmehr gibt die bloße Existenz von Mitgliedern der Pan-Gruppe in einem anderen Staat dem "Mutterstaat" der Pan-Gruppe vermeintlich das Recht, sich in die internen Angelegenheiten des anderen Staates einzumischen. Diese Einmischung kann diplomatischen Charakters sein, jedoch auch in ökonomischem Druck oder gar militärischer Aggression bestehen. Jedoch sind die Beziehungen zwischen Staaten und Pan-Ideologien meistens eher von Konflikt als von Kooperation geprägt. Staaten müssen generell anderen Staaten bestimmte Rechte einräumen, wie zum Beispiel Souveränität und Unabhängigkeit. Nur auf diese Weise kann die Existenz und Funktionalität eines "Staatensystems" gewährleistet werden. Der Irredentismus der Pan-Bewegungen gefährdet dieses System, besonders das ihm zugrunde liegende Gleichgewicht. Somit stehen Staaten und Regierungen den Pan-Ideologien meistens ablehnend gegenüber, wenn sie nicht, wie bereits erwähnt, versuchen, diese zu instrumentalisieren, um ihre Popularität zu steigern.
Der Staat, die Moderne und "der Westen"
Wie bereits geschildert haben Pan-Ideologien ein schwieriges Verhältnis zu Staaten und Regierungen. Letztere entscheiden sich oft für eine pragmatischere, realistischere Politik als für die radikale Variante, die Pan-Ideologen empfehlen. Dieses staatlichen Handlungen zugrunde liegende "moderne, rationale" Denken wird von den Pan-Bewegungen abgelehnt, da es vermeintlich dem degenerierenden Wirken der Moderne entspringt. Die Moderne wird darüber hinaus als "westliches" Konzept angeprangert, was wiederum unterstreicht, dass Pan-Ideologien sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert "dem Westen" normalerweise feindlich gesonnen waren.
Pan-Ideologien und der Staat
Es existieren viele Definitionen von "Staat". Ihnen allen scheint das Grundpostulat nach der "Institutionalisierung zentralisierter Herrschaft über ein bestimmtes Territorium" gemeinsam zu sein. Während die Grenzen antiker und frühneuzeitlicher Staaten eher vagen Charakter hatten, verfügen moderne Nationalstaaten in aller Regel über ein klar umgrenztes Gebiet. Auch sind diese Staaten eingebettet in ein Staatensystem. Internationale Beziehungen folgen gewissen Gesetzen und Regeln, die nicht gebrochen werden können, ohne Krieg zu riskieren. Staaten mögen expansionistisch auftreten, haben jedoch normalerweise ein gewisses Interesse an der Bewahrung interner und externer Stabilität. Mit ihren irredentistischen Ansprüchen neigen Pan-Ideologien jedoch dazu, das oftmals mit Mühe errichtete und erhaltene Gleichgewicht zwischen den Staaten zu gefährden. Da Pan-Ideologien gewöhnlich das existierende Staatensystem als "unnatürlich" ablehnen, ist ihre Beziehung zum Staat oft ambivalent. Einerseits verfügt der Staat über Ressourcen, die Pan-Bewegungen sich zu Nutze machen möchten, andererseits prädestiniert die oben diskutierte "konservative" Grundhaltung der meisten Staaten sie zu Gegnern irredentistischer und aggressiver Ideologien. Die einzige Ausnahme stellen Staaten dar, die sich auf einer "Eroberungsmission" befinden. Das geläufigste Beispiel eines derartigen Staates ist Nazi-Deutschland: Nachdem es den größten Teil Europas erobert hatte, begann es, eine Ideologie des "Pan-Europäismus" zu propagieren, um die deutsche Dominanz über Europa zu zementieren und, so hoffte es, revanchistischen Bestrebungen in den besetzten Staaten einen Riegel vorzuschieben. Ein weiteres Beispiel ist die Vision Leo Trotzkys (1879–1940), die (russische) sozialistische Revolution zu exportieren. Dieser Vision zufolge sollte die Sowjetunion die Führung über das internationale Proletariat übernehmen und es bei Revolte und Revolution leiten.13 Die Sowjetunion ist auch beispielhaft für einen Staat, der eine Pan-Ideologie schließlich ablehnte. Sobald Stalin (1879–1953) an die Macht gekommen war, etablierte er das Programm der "Revolution in einem Land". Der sowjetische Diktator war eher daran interessiert, internationale Anerkennung für die Sowjetunion zu erlangen, als die sozialistische Revolution zu exportieren.
Moderne(n)
Der größte Teil der Pan-Ideologien entstand in der Zeit zwischen 1880 und 1945. Einer der Gründe für diese Entstehung war die Evolution und Verbreitung des Konzeptes der "Moderne" – zunächst der westlichen Moderne – über die gesamte Welt. Die Moderne hat viele positive Entwicklungen hervorgebracht, wirkte sich jedoch auch auf viele Gesellschaften problematisch aus. Pan-Ideologen benötigten nicht lange, um die negativen Aspekte der Moderne zu identifizieren, oder genauer, um ihre eigenen Ansätze zur Bekämpfung dieser negativen Aspekte zu entwickeln.
Im Westen stand die Moderne nicht nur für technologischen Fortschritt, sondern auch für das Aufkommen des Individualismus und das Verschwinden älterer, kollektiver Identitäten. Eine wichtige derartige Identität war Religion, die nun zunehmend als Privatangelegenheit betrachtet wurde. Moderne bedeutete auch den Aufstieg des Kapitalismus und die zunehmende Integration aller Völker in ein Weltmarktsystem. Geld, Reichtum und der Zugang zu Ressourcen als Merkmale, die die Position eines Individuums innerhalb dieses Weltmarktsystems bestimmten, begannen einen dominanten Einfluss auf Identitäten auszuüben, während ältere (und in den Augen der Pan-Ideologen "natürlichere") Identitäten zur Bedeutungslosigkeit herabsanken. Der Westen war den Pan-Ideologen jedoch nicht nur wegen dieser besonderen Art der Moderne verhasst; zugleich stand (und steht) er auch für ein Konzept und eine kolonialistische Realität, die sowohl spirituell als auch materiell zu dominieren suchen. Dies alles macht eine Bekämpfung westlichen Einflusses für Anhänger von Pan-Ideologien besonders wichtig.
Der Westen
Als Konzept stellt der Westen ein Kompendium von Werten und Lebensweisen dar. Im 19. Jahrhundert waren die Mächte, die den Westen am ehesten verkörperten, Großbritannien und Frankreich, vielleicht noch die Vereinigten Staaten. Die Kulturen dieser Länder und die Art des in ihnen vorherrschenden Nationalismus erregten den Abscheu der meisten Pan-Ideologen. Mitgliedschaft in diesen Nationen drückte sich durch die Akzeptanz ihrer Werte und Traditionen aus, die jedoch keinesfalls essentialistisch waren. Vielmehr zeigten sich diese Nationen stolz auf ihre Fähigkeit, eine große Bandbreite von Interessen auf der Basis des so genannten "bürgerlichen Nationalismus" zu inkorporieren. Westliche Werte umfassten Individualismus, Freiheit, Demokratie und Pluralismus – die in ihrer Gesamtheit von den Anhängern der Pan-Ideologien abgelehnt wurden. An dieser Stelle erscheint die Verwendung des Begriffes "der zivilisatorische Prozess" gerechtfertigt: Der Westen steht für (britische/französische) "Zivilisation", Pan-Ideologien bestehen jedoch auf der Existenz dessen, was im Deutschen mit "Kultur" bezeichnet wird.14 Laut den Pan-Ideologen ist es diese Kultur, die die Mitglieder der Pan-Gruppe wirklich miteinander verbindet; sie formt ihre "Essenz".
Die tatsächliche Existenz des westlichen Imperialismus zeigt sich in seiner wirtschaftlichen oder politischen Macht, die er nach eigenem Gutdünken ge- (oder besser miss-)braucht. Dabei ist es nicht von großem Belang, ob sich diese Macht als direkte imperiale Kontrolle (wie häufig im 19. und frühen bis mittlerem 20. Jahrhundert) oder indirekt, als ökonomischer oder kultureller Imperialismus manifestiert. Pan-Ideologien, die den Westen bekämpfen, erhoffen sich die Unterstützung supra-nationaler Gruppen, da sie annehmen, dass nur diese "großen Bataillone" in der Lage sein werden, dem imperialistischen Westen Paroli zu bieten.
Essentialismus, Determinismus und Illiberalität
So unterschiedlich sie auch sein mögen, teilen Pan-Ideologien dennoch den Aspekt des Essentialismus. Die vermeintliche Existenz dieser "Essenz" im Sinne eines "Kulturkerns" hat zwei praktische Konsequenzen: Zunächst prädestiniert sie die Pan-Gruppe für ein bestimmtes historisches Schicksal (Determinismus), zweitens ergibt sich daraus für alle Angehörigen der Pan-Gruppe die Verpflichtung, ihre historische Mission zu erfüllen (Illiberalität/Anti-Individualismus).
Essentialismus
Pan-Ideologen lehnen die komplizierte Interaktion verschiedener Identitäten, die durch die Mischung unterschiedlicher ethnischer und linguistischer Gruppen, "Rassen", Geschlechter, Religionen und "Kulturen" entsteht, ab. Sie berufen sich vielmehr auf einen dominanten "Kulturkern", der alle Mitglieder der Pan-Gruppe miteinander vereine. Dieses kulturelle Grundelement kann auf unterschiedliche Weise definiert werden: Es mag in "Rasse" (z.B. Pan-Slawismus oder Pan-Germanismus), Ethnizität (z.B. Pan-Türkismus, Pan-Arabismus), Religion (z.B. Pan-Islamismus) oder dem Aufwachsen in einer bestimmten Weltregion (z.B. Pan-Afrikanismus) bestehen.
Determinismus
Pan-Ideologen postulieren eine vorgezeichnete historische Rolle für die Pan-Gruppe. Die Pan-Ideologen streben danach, ihre Pan-Gruppe in die Lage zu versetzen, diese Rolle auch zu spielen, normalerweise durch die Überwindung der Hindernisse, die die Aufteilung der Pan-Gruppe auf mehrere Staaten mit sich bringt. Weitere Hindernisse mögen die subversiven Impulse sein, die sich aus den Auswirkungen des Kapitalismus oder der "Moderne" ergeben: Sie bringen die Pan-Gruppe in Gefahr, ihre historische Mission zu vergessen, da die Pan-Gruppe in Individuen aufgespalten wird, die ihre eigenen Interessen verfolgen, anstatt dem Gemeinwohl der Pan-Gruppe zu dienen.
Illiberalität/Anti-Individualismus
Anhänger von Pan-Ideologien verabscheuen die liberale Idee, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist und, darüber hinaus, das Recht besäße, eine Identität nach seinem Gutdünken anzunehmen. Nichts könnte Pan-Ideologen mehr erzürnen als die Idee der Nation als "tägliches Plebiszit".15 In den Augen von Pan-Ideologen erlaubt dieses Konzept, Identitäten wie Kleider zu wechseln. Sie lehnen die Idee, dass Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe auf dem Willen des Individuums beruhe, ab, und postulieren vielmehr, dass sie auf unveräußerlichen, "natürlichen" Faktoren basiert, die dem Individuum quasi per Geburt vererbt worden sind. Die Entwicklungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts trugen dazu bei, diese vehemente Ablehnung noch zu verstärken. Sprachen wurden erlernt – und vergessen, Kulturen veränderten sich, und der Aufstieg der städtischen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften hatte das Verschwinden älterer Gruppenidentitäten zugunsten eines häufig als räuberisch und menschenfeindlich empfundenen Individualismus zur Folge. Moderne Bildung (die häufig genug von Ausländern vermittelt wurde) eröffnete den Studierenden Karrieren und Chancen, entfremdete sie jedoch auch von ihrer Herkunftsgesellschaft; schließlich schuf sie auch Klassengrenzen innerhalb von vormals vermeintlich "homogenen" Gesellschaften.
Das Ende der Pan-Ideologien
Die meisten Beobachter sind sich heute darin einig, dass Pan-Ideologien keine bedeutende Rolle mehr spielen. Doch was führte zu diesem Verschwinden? Obwohl die Bandbreite möglicher Antworten groß ist, können hier nur einige wenige Ansätze diskutiert werden.
An erster Stelle ist der Zusammenstoß mit und die ultimative Niederlage gegenüber einem westlichen Konzept zu nennen, das sich als bemerkenswert widerstandsfähig erwiesen hat: dem Nationalstaat. Es gibt weltweit keine Region, in der dieses Konzept nicht über ältere, transnationale Identitäten triumphiert hat. Dies soll andererseits nicht bedeuten, dass es sie zerstört hätte; eher haben Ideologien, die auf transnationalen Konzepten basierten, ihre frühere Prominenz eingebüßt. Dies trifft auf die große Mehrheit der Pan-Ideologien zu, sogar auf den Fall der einzigen Pan-Bewegung, die Erfolg gehabt zu haben scheint – die Europäische Union. Obwohl die EU die Verwirklichung zumindest einiger Träume der Pan-Europäer zu sein scheint, müssen sich "Pro-Europäer" zu ihrem Leidwesen damit abfinden, dass die Identifikation der europäischen Völker mit ihren Nationalstaaten die mit "Europa" bei Weitem übersteigt. Außerhalb Europas mussten Pan-Arabisten akzeptieren, dass die einzelnen arabische Staaten – sehr häufig koloniale Konstrukte – die De-Kolonisierung überlebt haben und erhalten bleiben werden. Auch Pan-Türkisten mussten sich schließlich bewusst werden, dass die Kandidaten für eine "Türkische Union" – namentlich die turksprachigen ehemaligen Sowjetrepubliken im Kaukasus und Zentralasien – sich in einem Prozess der Nationsbildung befinden und keinen "Anschluss" an die türkische Republik suchen. Der Pan-Asianismus erscheint angesichts der großen Bandbreite politischer und sozioökonomischer Systeme in Asien als geradezu lächerlich unrealistisches Konzept. Pan-Islamisten wurden und werden mit dem Umstand konfrontiert, dass "der Islam" in eine Vielzahl einzelner Glaubensrichtungen aufgespalten ist und dass die islamische Kultur der Gegenwart bei Weitem nicht mehr die gemeinsame Kultur und Tradition darstellt, die ein Ibn Battuta (1304–1377) im 14. Jahrhundert vorfand. Pan-Germanismus ist als totes Konzept zu bezeichnen: Österreicher und Deutschschweizer würden sich vehement dagegen verwahren, als "Deutsche" klassifiziert zu werden, und hegen keinerlei Wunsch nach einer Inkorporierung in eine neues "Großdeutschland".
Zweitens scheint es eine Grenze für die Größe einer Gruppe zu geben, zu der Menschen eine sinnvolle Beziehung aufbauen können. Beziehungen innerhalb der Familie, des Clans oder des Stammes (die mehr oder weniger auf persönlichem Kontakt beruhten) mögen durch die Mitgliedschaft in Nationen oder vielmehr Nationalstaaten abgelöst worden sein. Doch es hat sich als äußerst schwierig erwiesen, ein ähnliches Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb größerer Gruppen zu etablieren. Ein Beispiel dafür ist die Europäische Union: Während Gefühle der Sympathie und Solidarität mit Mitgliedern einer bestimmten ethnischen, linguistischen oder religiösen Gruppe, die in anderen Staaten leben, existieren, scheint es unmöglich zu sein, einen tief empfundenen Wunsch nach politischer Einheit zu wecken. Aimé Césaire (1913–2008), einer der Theoretiker des Pan-Afrikanismus, hat dieses Problem klar identifiziert. Schon im Jahre 1956 bezeichnete er Pan-Afrikanismus als illusorisch und sogar schädlich: "Es gibt zwei Arten, auf die man sich verlieren kann. Die eine besteht in exzessiver Aufspaltung ins Spezifische; die andere in der Auflösung im Universalen."16
Drittens haben Pan-Ideologien regelmäßig komplett versagt, wenn es darum ging, praktische politische Ziele zu realisieren. Mit der harschen Wirklichkeit konfrontiert erwiesen sich all ihre vermeintlichen "Über-Gesellschaften", die nationale, ethnische oder religiöse Grenzen überschreiten sollten, als Träumereien. Mit der einzigen Ausnahme des Pan-Europäismus sind die meisten Pan-Ideologien nicht einmal entfernt einer Verwirklichung ihrer Ziele nahegekommen. Der einzige andere Fall, in dem eine Pan-Ideologie zumindest anfangs Erfolg hatte – nämlich der Pan-Arabismus, der 1958 die Vereinigte Arabische Republik (bestehend aus Ägypten, Syrien und einem lose affiliierten Jemen) entstehen ließ –, endete nach etwas mehr als drei Jahren als kompletter Fehlschlag. Die vielen Beispiele in der Praxis gescheiterter Pan-Bewegungen beweisen die Schwäche der Pan-Ideologien auf dem Gebiet der Massenmobilisierung. Pan-Ideologien sind somit Utopien im wahrsten Sinne des Wortes – es ist ihnen nicht gelungen, einen Platz in der Welt zu finden.
Schließlich ist das gegenwärtige Zeitalter von einem "Ende der Utopien" auf politischem Feld bestimmt. Wenn das späte 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts die fruchtbarsten Perioden für Pan-Ideologien und andere Utopien waren (erinnert sei an die "erfolgreichste" aller Utopien, den Kommunismus), so scheint das 21. Jahrhundert – jedenfalls bis jetzt – ein Jahrhundert ohne Utopien zu sein. Sogar die einzige Utopie, die den kalten Krieg überlebte, hat sich als Illusion erwiesen, nämlich die einer friedlichen, prosperierenden Welt liberaler Demokratien. Brachte diese vermeintliche Errungenschaft nach dem Ende des Kalten Krieges noch die enthusiastische Proklamation eines "Endes der Geschichte" hervor, hat sich dies mittlerweile als vorschnelle Voraussage erwiesen.17
Pan-Ideologien – Fußnoten der Geschichte?
Die Versuchung ist groß, Pan-Ideologien als wenig mehr denn eigenartige historische Phänomene anzusehen, die für die Gegenwart keine wirkliche Bedeutung haben. Sie entstanden zu einer bestimmten Zeit in der Geschichte, setzten sich mit den für diese Zeit spezifischen Problemen auseinander, erlitten Niederlagen und Enttäuschungen und verschwanden schlussendlich. Doch sie haben nichtsdestotrotz Spuren hinterlassen, und gelegentlich ist es immer noch möglich, ihre langfristigen Auswirkungen zu beobachten. So war z.B. der Pan-Slawismus einer der Gründe, warum Russland ein so großes Interesse an den Balkankonflikten der neunziger Jahre zeigte, besonders im Hinblick auf die Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien. Der Pan-Islamismus hat Beachtung in westlichen Medien und westlicher Politik gefunden. Trotz der tiefen ideologischen Gräben innerhalb "des Islam" als einer Weltreligion, nehmen radikale Islamisten für sich in Anspruch, im Namen "des Islam" gegen ihren Feind, "den Westen", zu kämpfen. Und schlussendlich wird Pan-Europäismus – im Sinne eines "Europa", das von "Asien" bedroht wird – häufig zitiert, wenn es sich darum handelt, den Ausschluss der Türkei von der Europäischen Union zu rechtfertigen. Die Verfechter dieses Ausschlusses wenden sich nicht gegen einzelne Staaten oder Gesellschaften, sondern erheben die Behauptung, die Türkei "sei grundsätzlich nicht europäisch".