Grenzraum, Durchgangsraum, Lebensraum
Die Alpen seien die höchsten Berge in Italien, Frankreich und Deutschland, hielt Johann Heinrich Zedler (1706–1751) in seinem Universal-Lexikon von 1732 fest:
Sie sind gleichsam eine von der Natur angelegte Mauer, welche Jtalien von Franckreich und Deutschland scheiden. Sie erstrecken sich sehr weit, indem sie von dem Ligustischen Meer an über Nizza, die Provence, Dauphine, Savoyen, Walliser-Land, Schweitz, Graubündten, Tyrol, Trient, Brixen, Saltzburg, Kärnthen, Crain, ein Theil von Meyland und dem Venetianischen Gebiethe; ja sie scheinen gar bis in Servien zu gehen...
Ähnlich hatten schon die italienischen Humanisten – unter ihnen Francesco Petrarca (1304–1374) im 14. Jahrhundert – die Alpen wahrgenommen, nämlich als Barriere oder Mauer, die Italien vor dem Norden schütze. Später bemerkte Martin Luther (1483–1546) wiederum, dass der Gebirgswall Germanien von Italien scheide. Und diese trennende Funktion der europäischen Alpen blieb bis zur Aufklärung eine wichtige Vorstellung, die auch zwei Jahrzehnte nach Zedler noch von Denis Diderot (1713–1784) in der Encyclopédie hervorgehoben wurde.1
Im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert betonten Wissenschaftler und Politiker vermehrt die Rolle der Alpen als Durchgangsraum. Man bezeichnete das Bergland jetzt als "Brücke der Kultur zwischen dem Mittelmeer und Nordeuropa", indem man die Mauer- und Grenzfunktion relativierte. "Es ist nicht das geringste Paradox der Alpen", hieß es etwa in einer transporthistorischen Untersuchung, "dass diese kolossale Gebirgskette nie eine unüberwindbare Barriere bildete, sondern viel eher ein Bindeglied zwischen Osten und Westen, Süden und Norden, eine Kontaktzone, ein Knotenpunkt der Ökonomien, Ideen und Formen." Hintergrund dieser neuen Sicht waren vor allem die Erschließung des Gebirges mit modernen Verkehrsmitteln und die enorme Zunahme des Transitverkehrs gegenüber der Frühen Neuzeit.2
Der Regionalismus der Nachkriegszeit artikulierte schließlich eine dritte Vorstellung: die Alpen als Lebensraum für die ansässige Bevölkerung. So hielten die Teilnehmer eines Kongresses zur "Zukunft der Alpen" 1974 fest, dass man die Alpen als "europäisches Erbe" und als "natürliche, geschichtliche, kulturelle und soziale Einheit von lebenswichtiger Bedeutung" bezeichnen müsse, da die großen Strömungen der Zivilisation durch sie getrennt, umgeformt und verbunden worden seien:
Aber trotz der manchmal schwierigen Beziehungen und Verbindungen zwischen den Völkern und den politischen Systemen hat sich eine eigenständige Alpenkultur herausgebildet, und obgleich die Alpen nie eine politische Einheit gekannt haben, lassen Lebensweise und Tätigkeiten ihrer Bevölkerungen Eigenschaften von auffallender Ähnlichkeit erkennen.3
Wie auch immer diese Kultur und diese Lebensweise tatsächlich beschaffen waren – fest steht, dass der Alpenraum über eine stetig ansteigende Einwohnerzahl verfügte. Wenn man das Gebiet der Alpenkonvention von 1991 zugrunde legt, bestand die Bevölkerung um 1500 aus etwa 3,1 Millionen Menschen und dürfte bis um 1900 auf 8,5 Millionen angewachsen sein; um das Jahr 2000 lebten in den Alpen dann schon 13,9 Millionen Menschen.4 Während die drei genannten Funktionszuweisungen an den Alpenraum vor ihrem jeweiligen historischen Hintergrund verstanden werden müssen, kennzeichnen sie zugleich verschiedene Perspektiven und Blickwinkel: Von außen erscheinen die Alpen eher als trennender oder verbindender Naturraum, von innen eher als Kultur- und Lebensraum.
Von der Religion zur Sprache
Hinweise auf die Stellung der Alpen in der europäischen Geschichte vermitteln auch religiöse und sprachliche Entwicklungen. Mit der Reformation wurden die Alpen zu einer Grenz- und Konfliktzone zwischen der römischen Kirche in Südeuropa und den evangelischen Territorien im Norden. Im Alpenraum selbst blieben fast alle Gebiete katholisch oder wurden nach einer mehrkonfessionellen Phase rekatholisiert. Nur im Berner Oberland und in der Ostschweiz (Teile von Graubünden, Glarus, St. Gallen und Appenzell) setzte sich die Reformation offiziell durch. Diese religiöse Geographie war das Resultat harter Auseinandersetzungen im konfessionellen Zeitalter des 16. und 17. Jahrhunderts.5
Um der Verbreitung von reformatorischem Gedankengut entgegenzutreten, berief die römische Kurie 1545 ein großes Konzil nach Trient ein. Die Wahl fiel auf die Alpenstadt an der Brennerroute, weil Kaiser Karl V. (1500–1558) die Versammlung innerhalb des Heiligen Römischen Reichs haben wollte und Papst Paul III. (1468–1549) auf einen südlichen Ort drängte. Das Konzil beriet nicht nur über eine eindeutige Abgrenzung vom Protestantismus, sondern auch über mögliche Reformen der katholischen Kirche. Mit der daraus folgenden Klärung und Verhärtung der konfessionellen Positionen begann nun eine lange Reihe von Streitigkeiten. Beispielsweise wüteten in den Westalpen im späten 16. Jahrhundert Kämpfe zwischen den Altgläubigen und den kalvinistischen Hugenotten, die auch später immer wieder aufflammten.
Auch im Veltlin, einem südalpinen Tal, entspann sich im frühen 17. Jahrhundert ein Glaubenskonflikt, über den ganz Europa diskutierte. Das Veltlin war zwar seit 1512 Untertanenland der größtenteils reformierten Bündner, doch kirchlich gehörte es zum Bistum Como, und Rom wollte hier ein "Bollwerk gegen den Irrglauben" errichten. Das habsburgische Mailand wiederum nutzte den Konflikt zwischen den mehrheitlich katholischen Einwohnern und den protestantischen Herrschern, um das strategisch günstig gelegene Tal unter seinen Einfluss zu bringen. 1620 wurde das Veltlin dann von Spanien besetzt, fiel aber schon bald wieder an Habsburg zurück, bis es schließlich dem 1861 gegründeten Königreich Italien zugeschlagen wurde.6 Im Ostalpenraum wiederum, genauer gesagt im Fürsterzbistum Salzburg, fand 1731 die letzte große religiös begründete Vertreibungsaktion Europas statt. Dabei wurden etwa 20.000 insgeheim dem protestantischen Glauben Angehörende von der Regierung des streng katholischen Erzbistums des Landes verwiesen; die meisten von ihnen flohen nach Preußen.7
Während die Religion allmählich an identitätsbildender Kraft einbüßte, wurde die Sprache im Zuge der Formierung der Nationalstaaten seit dem 18. Jahrhundert politisch stärker aufgeladen. Der Alpenraum war (und ist) eine linguistische Kontaktzone, in der die drei großen, in Europa dominierenden Sprachgruppen zusammenkommen: die romanische, die germanische und die slawische. Jede Gruppe erlebte ihre groß- und kleinsprachlichen Entwicklungen, was in dieser Kontaktzone zu einer reich gegliederten Sprachgeographie führte. Parallel zu den romantisch-nationalen Bestrebungen vieler Minderheiten begannen Linguisten seit dem späten 19. Jahrhundert im Alpenraum viele Idiome zu unterscheiden, zum Beispiel Provenzalisch und Frankoprovenzalisch in den Westalpen, Italoromanisch in den lombardischen und venezianischen Alpenregionen sowie Rätoromanisch in Teilen Graubündens, in den Dolomiten und im Friaul.8
Der Kampf um die Geltung von Sprachen unterschiedlicher Verbreitung wurde oft mit historischen oder geographischen Argumenten ausgetragen. Im Alpenraum kam es an vielen Orten zu Spannungen, bei denen die Sprache eine Rolle spielte. Ein größeres Ausmaß erreichten sie seit dem späten 19. Jahrhundert mit dem italienischen Irredentismus, der die so genannten "unerlösten" Gebiete in den Alpen für das 1861 geschaffene "Vaterland" beanspruchte. Nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie wurde das Land Tirol 1919 am Brenner geteilt. In Südtirol – zu Italien geschlagen, aber deutschsprachig – entstand damit eine sehr konfliktträchtige Situation. Schwierig wurde die Lage auch in Südkärnten, da die dortige slowenischsprachige Bevölkerung seit 1918 unter der Auseinandersetzung zwischen dem jungen jugoslawischen Königreich und dem Land Kärnten zu leiden hatte.9
Staatsbildung und Regionalismus
Die politische Raumbildung in Europa lässt sich als Konzentrationsprozess beschreiben, in dessen Verlauf immer weniger Staaten mit immer größeren Territorien übrigblieben. Im Alpenraum können wir diese Entwicklung anhand der Lexika nachverfolgen. Zedler etwa zählte 1732 noch mehr als ein Dutzend politische Einheiten in den Alpen auf, von Nizza im Westen bis hin zu Kärnten im Osten. Dabei handelte es sich um eine bunte Palette von Grafschaften, Herzogtümern, Provinzen und Republiken. Gegen 1900 verzeichneten die Lexika dann schon nicht mehr diese kleinen Einheiten, sondern nannten die ihnen übergeordneten Staaten mit Alpenanteil: die österreichische Monarchie, das Königreich Italien, die französische Republik und die schweizerische Eidgenossenschaft. Trotz oder gerade wegen dieser Reduktion war der Alpenraum nun auch im politischen Sinn zu einem Gebiet mit hoher Grenzdichte geworden.10
Grundlegend dafür war die ungleiche Verteilung der größeren Städte und Machtzentren Europas. Seit die Staatenbildung im späteren Mittelalter begonnen hatte, lagen die politischen Schwerpunkte zum großen Teil am Rande oder außerhalb des Alpenraums. Diese Machtferne brachte aber auch ein relativ hohes Maß an regionaler und lokaler Autonomie mit sich. Beispiele dafür finden sich in weiten Teilen des Alpenbogens, vom Westen bis in den Osten, am Südabhang wie auf der Nordseite. Die zunehmende Verflechtung der Staaten untereinander, die intensivere Verwaltung und der aufkommende Nationalismus des 18. und vor allem des 19. Jahrhunderts näherten die Berggebiete zwar den Machtzentren des Umlands politisch wieder an, vergrößerten aber auch ihre Abhängigkeit von ihnen.
Anschaulich lässt sich dieser doppelte Prozess an der Grenzbildung nachvollziehen. Die Nationalisierung der Alpen führte einerseits dazu, dass lokale und regionale Schranken an Bedeutung einbüßten und die kleinen Territorien sich damit weiteren Räumen öffneten. Andererseits wurden die Grenzen zwischen den Nationalstaaten nun erst zu ernstzunehmenden Barrieren, da sie von neuen pathetischen Gemeinschaftsideologien und einer zunehmenden Militarisierung gestützt wurden. Am dramatischsten zeigte sich die internationale Aufrüstung im Ersten Weltkrieg, in dessen Verlauf sich Italien und Österreich-Ungarn einen mörderischen alpinen Stellungskrieg lieferten. Die mehrere hundert Kilometer lange Frontlinie verlief quer durch das Gebirge, zu einem beträchtlichen Teil auf einer Höhe von über 2.000 Metern, so dass schon die Witterung und das gefährliche Gelände für zahlreiche Todesfälle sorgten.11
In dieser Periode kam es auch zu wichtigen Grenzverschiebungen. Das französischsprachige Savoyen-Piemont entwickelte sich seit dem Spätmittelalter zu einem transalpinen Staat mit dem Zentrum Turin. Im 19. Jahrhundert wurde es zum Ausgangspunkt der italienischen Einigungsbewegung, musste aber 1860 den savoyischen Landesteil an Frankreich abtreten. Auch das Land Tirol wurde nach dem Ersten Weltkrieg wie erwähnt am Brenner geteilt, der Süden wurde dem italienischen Königreich zugeschlagen. Damit verliefen die Staatsgrenzen fast überall entlang der Gebirgslinien. Eine Ausnahme machte nur die Schweiz, die mit Südbünden und dem Tessin weiterhin einen transalpinen Charakter behielt. Dies verdankte sich nicht zuletzt dem Lokalismus des Landes, der sich dem Zentralismus der Moderne und den dadurch hervorgerufenen Separationstendenzen widersetzte und sich nicht zuletzt in der bis heute erhaltenen Vielsprachigkeit der Schweiz widerspiegelt.12
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die periphere Lage in den Alpenregionen mehr als zuvor als Problem empfunden: Man sah sich oft als zweitrangiges, von den Zentren vernachlässigtes Gebiet. Erst die europäische Integration eröffnete eine Möglichkeit, die Beziehungen zu diesen Zentren neu auszuhandeln. Der Regionalismus trat im Alpenraum mit seiner hohen Grenzdichte besonders deutlich hervor und äußerte sich von 1972 bis 1982 in der Gründung von drei länderübergreifenden Arbeitsgemeinschaften auf regionalstaatlicher Ebene. 1991 wurde auf staatlicher Ebene das Rahmenabkommen für die "Alpenkonvention" unterzeichnet, in der sich die Staaten zusammen mit der Europäischen Gemeinschaft verpflichteten, im Alpenraum eine besondere Umwelt- und Entwicklungspolitik zu betreiben.13
Schrecklich schöne Alpen
Laßt uns GOTT ein Opfer bringen / Und, Sein Allmacht zu erhöhn, / Auch der Berge Bau besingen, / Die so ungeheuer schön, / Daß sie uns zugleich ergetzen / Und auch in Erstaunen setzen, / Ihre Größ erregt uns Lust / Ihre Gähe schreckt die Brust.
So reimte der Hamburger Schriftsteller Barthold Heinrich Brockes (1680–1747), der kurz nach 1700 auf einer Italienreise auch die Alpen überquert hatte, in seiner neunbändigen Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott. Dieser Text ist nur einer unter vielen, die sich mit den Alpen befassen – mit dem Übergang zur Neuzeit kam bei den europäischen Eliten ein kulturelles und intellektuelles Interesse an den Bergen auf, von dem eine Reihe bekannter Schriften zeugt: Josias Simler (1530–1576), De Alpibus Commentarius (Kommentar über die Alpen, 1574); Marc Lescarbot (ca. 1570–1642), Tableau de la Suisse (1618); Albrecht von Haller (1708–1777), Die Alpen (1732); Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Julie ou la nouvelle Heloïse (Julie oder Die Neue Heloïse, 1761); Friedrich Schiller (1759–1805), Wilhelm Tell (1804).14
Wirkliche Prominenz erlangte das Alpenthema in der Literatur mit Rousseaus gerade genanntem Liebesroman Julie ou la nouvelle Heloïse, einem der größten Bestseller des Ancien Régime. Bereits der ursprüngliche Titel Lettres de deux amans, Habitans d'une petite ville au pied des Alpes (Briefe zweier Liebender aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen) weist darauf hin, dass die Alpen im Roman nicht nur als zufällig gewählter Handlungsort, sondern als dramatische Naturkulisse und Echoraum der Gefühle fungieren. Diese schubartige Zunahme der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit hat Zeitgenossen und spätere Wissenschaftler bewogen, die Wahrnehmungsgeschichte der Alpen in zwei qualitativ verschiedene Perioden zu unterteilen. In einer älteren, "düsteren" Phase seien die Berge und besonders die Alpen als furchterregend, abstoßend und hässlich betrachtet worden, in einer zweiten, "glänzenden" Phase dagegen als attraktiver, sublimer, romantischer Ort. Die neuere Forschung hat dieses einfache Schema relativiert, indem sie auf die stattliche Zahl von positiven Darstellungen in der älteren Zeit und das Fortleben von negativen Darstellungen im 19. und 20. Jahrhundert hingewiesen hat. So gesehen bestand der Wandel vor allem im Aufmerksamkeitsgewinn.15
Dabei erlebte die Malerei ähnliche Tendenzen wie die Literatur. Seit dem Übergang zur Neuzeit und besonders seit dem 18. Jahrhundert wurden die Alpen immer wieder von Künstlern gezeichnet und gemalt. Die große Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts befasste sich zum guten Teil mit dem Gebirge, oft in dramatisierter Form und manchmal versehen mit spirituellen Botschaften. Parallel dazu bürgerte sich ein Vokabular ein, das aus dem Grenzbereich ästhetischer und religiöser Erfahrung stammte. Man sprach vom Gefühl des "delightful horror", zentral war der Begriff des "Erhabenen", die Berge wurden zu "Kathedralen der Erde". Allgemein war so eine medialisierte, das heißt literarisierte und visualisierte Landschaft entstanden.16
Diese emphatische Hinwendung zu den Alpen äußerte sich in unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Varianten. Das Interesse der Aufklärung im 18. Jahrhundert konzentrierte sich in hohem Maß auf die Schweiz und die angrenzende Mont-Blanc-Region. Dieser Philhelvetismus war besonders von der politischen Vorstellung motiviert, dass die schweizerischen Bergregionen im Besitz vorbildlicher Freiheitsrechte seien. Die österreichischen Alpen wären von vielen deutschen Städten aus ebenso gut erreichbar gewesen, doch die wirkliche "Entdeckung" des Ostalpenraums erfolgte erst nach 1800 in der Romantik, und internationale Interessen scheinen daran weniger beteiligt gewesen zu sein als im Falle der Schweiz. In Italien wiederum wurde die nationale Einigung in den 1860er Jahren ein wichtiger Moment in der Hinwendung zu den Alpen, die nun eine gemeinsame Grenze und damit ein einigendes Band des Landes bildeten.17
Ein Tummelplatz Europas
Das moderne Interesse an der Bergwelt war Ausdruck eines gewandelten Naturverständnisses und lässt sich mit einer ganzen Reihe von ökonomischen, politischen und kulturellen Faktoren verbinden: Urbanisierung und Agrarintensivierung sowie Verknappung des unbebauten Bodens; Verbesserung von Kommunikation und Transport; nationale Identitätssuche mit naturräumlichen Referenzen; wissenschaftliche und religiöse Entwicklungen; soziale Distinktion durch Stilerneuerung. Besuchten Reisende der Frühen Neuzeit auf einer "Grand Tour" noch vor allem Städte, Höfe und antike Monumente, so wurden nun auch die Alpen und ihre Naturspektakel zu Reisezielen von gesellschaftlicher Bedeutung. Ablesen kann man dies an der Zahl der publizierten Schweizer Reisen, die von 65 in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf 460 in der zweiten Jahrhunderthälfte stieg. In der Zeit vor und nach 1800 tauchten dann im Englischen erstmals die Wörter "tourist" und "tourism" auf. Wenig später gebrauchte man sie schon in verschiedenen Sprachen.18
Zu einem Treffpunkt der europäischen Eliten avancierte zum Beispiel die Rigi, ein voralpiner Berg mit Aussicht auf das Hochgebirge und die Seenlandschaft in der Umgebung von Luzern. Seit 1871 führte eine Zahnradbahn, eine viel bewunderte Pionierleistung der modernen Technik, auf den Gipfel, auf dem bald ein breites Angebot an Unterkünften bereitstand. Das mondäne Hotelleben auf der Rigi mit seiner obligaten Naturbewunderung gab schon früh Anlass zur Ironisierung (so von Mark Twain (1835–1910) in A Tramp Abroad 1880). Ein großes Renommee erwarb sich auch Ischl im Salzkammergut, das seit der Jahrhundertmitte die alpine Sommerresidenz der österreichischen Kaiserfamilie und ihrer Entourage war. Bildeten die Alpen im 18. und frühen 19. Jahrhundert noch mehrheitlich ein Symbol republikanischer Freiheit, so erhielten sie nun auch eine monarchische und nationale Komponente.19
Viel Aufsehen erregte ferner der kühne Ansturm auf die Gipfel des Hochgebirges durch Naturforscher und Bergsteiger aus den europäischen Zentren. Nachdem die Erstbesteigung des Mont Blanc im Jahr 1786 noch einen wissenschaftlichen Hintergrund gehabt hatte, verwandelte sich das Bergsteigen im Laufe des 19. Jahrhunderts in einen Sport, dessen Akteure sich in Abgrenzung von den wachsenden "Touristen"-Scharen als "Alpinisten" zu bezeichnen begannen. Paradigmatisch dafür ist die 1871 unter dem Titel The Playground of Europe (Der Tummelplatz Europas, 1936) erschienene Sammlung von Artikeln über Bergfahrten von Leslie Stephen (1832–1904)[]. Vom kompetitiven, männlichen Bergsteiger-Milieu wurden nur Erstbesteigungen anerkannt, die dokumentiert waren. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zählt man deren 210, in der zweiten Jahrhunderthälfte dann über 1.000. Gefördert wurde dieser Boom durch die Alpenvereine, die sich seit 1857 in allen europäischen Ländern bildeten.20
Etwas später entwickelte dieses begüterte, selbstbewusste Milieu der Bergliebhaber auch Sportarten, die das Eis und den Schnee der Alpen zu Nutze zogen: Eislauf, Curling, Rodeln, Bobsleigh, Skilauf usw. Eine besondere Erfolgsgeschichte sollte der Skilauf erleben, der von den Alpenvereinen und vom Militär gefördert wurde und der oft einen neuen Lebensstil und eine neue Körperkultur symbolisierte. In der Zwischenkriegszeit entstanden in den Bergen dann die für den Skilauf nötigen Aufzugseinrichtungen. Allgemein verschob sich der Alpentourismus mit dem Aufkommen dieser Sportarten tendenziell vom Sommer auf die Wintermonate.21
Transferprozesse – materiell, ideell
Die Tatsache, dass es auf beiden Seiten des Gebirges Städte mit einer langfristig wachsenden Wirtschaft gab, schuf eine Voraussetzung für den transalpinen Handelsverkehr. Schätzungen zum Verkehrsvolumen gehen davon aus, dass der Brenner immer der meist benutzte Pass war. Er konnte schon im 15. Jahrhundert mit Wagen befahren werden, während zum Beispiel der Gotthard-Pass erst 1830 eine Fahrstraße erhielt. Für 1500 wird das jährliche Transportaufkommen am Brenner auf 5.000 Tonnen geschätzt, für 1734 auf 12–14.000 Tonnen und für 1840 auf 100.000 Tonnen. Als 1867 die erste Eisenbahn über den Brenner führte, hätten schon etwa fünfzig Güterwagen ausgereicht, um den gesamten Verkehr von 1500 zu befördern.22 Neben dem alpenquerenden Handel gab es aber auch zahlreiche andere Formen der Mobilität und des Austauschs, die in einem bestimmten Maß zum kulturellen Wandel beitrugen.23 Die besondere Zuwendung, welche die Alpen seit dem 18. Jahrhundert erhielten, ermöglichte neue Formen des Kulturtransfers in beide Richtungen, von denen hier einige Beispiele genannt werden sollen.
- Das "Grand Hotel": In Europa verbreitete sich dieser Bautyp in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zuerst in größeren Städten und bekannten Badeorten und eroberte später auch verschiedene Alpenregionen. Das Grand Hotel orientierte sich an aristokratischen Vorbildern und zeichnete sich durch Betonung der Repräsentation und eine aufwendige Infrastruktur aus. Berühmte Ziele des gehobenen Tourismus wurden das Oberengadin und speziell St. Moritz – 1850 noch ein Ort von 228 Seelen, vor dem Ersten Weltkrieg dann schon mehr als zehn Mal so groß. In der Zwischenzeit waren hier gut dreißig Hotels aus dem Boden geschossen. So wie der großbürgerliche Tourismus wies auch seine Architektur ein internationales Gepräge auf. Das 1896 fertiggestellte Hotel Badrutt's Palace in St. Moritz besaß zum Beispiel Zinnen, Türmchen und Spitzbogen nach dem Muster der englischen Neogotik.24
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Das "Chalet Suisse": War das Grand Hotel in den Alpen ein Importprodukt, so wurde das "Chalet Suisse" im selben Zeitraum zu einem Exportprodukt. Aus verschiedenen Elementen der herkömmlichen Blockbauweise des Berner Oberlandes und der Waadt konstruierten Architekten eine neue traditionalistische Hausform. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand eine regelrechte Chalet-Industrie, die vorgefertigte Bauteile an Abnehmer in ganz Europa verkaufte. Das rasante Wachstum des Ausstellungswesens trug seinen Teil zu dieser Form des Kulturtransfers bei. Auf vielen internationalen Ausstellungen wurden neben den "modernen" Errungenschaften der westlichen Welt auch "traditionelle" und "exotische" Themen präsentiert. Darin zeigte man die Alpen oft in Form des "Village Suisse".25
- Ein Landschaftsmodell: Seit der Aufklärung wurden die Alpen und besonders die Schweiz zu einem ästhetischen Modell, das sich als Standard für die Bewertung von Landschaften etablierte: Wer die Schönheit einer Region unterstreichen wollte, musste sie an der Schweiz messen. Fassbar wird dieser Kulturtransfer an toponymischen Nachbenennungen wie der sächsischen oder der fränkischen "Schweiz". Heute lassen sich weltweit etwa zweihundert Nachbenennungen dokumentieren, die sich auf fast sechzig Länder in allen Kontinenten verteilen, von der "Argentinischen Schweiz" in der Gegend von San Carlos de Bariloche bis zur "Sibirischen Schweiz" im Altaigebirge. Ein Drittel dieser "Schweizen" entfällt aber auf Deutschland und ein weiteres Drittel auf das restliche Europa. Die meisten Übertragungen entstanden zwischen dem späten 18. und dem frühen 20. Jahrhundert; nachher büßte die Bezeichnung ihre namenstiftende Ausstrahlung ein.26
"Alpen" rund um den Erdball
Seit dem Übergang zur Neuzeit wurden die Alpen mit ihrer speziellen Umwelt auch eine wichtige Forschungslandschaft. In vielen Fällen waren es die Naturforscher, die das Interesse an diesem Raum weckten und so den Literaten und Malern vorangingen. Bekannte Alpenexploratoren waren der Zürcher Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) mit seinen Itinera alpina tria (Drei Alpenreisen) von 1708 und der Genfer Horace-Bénédict de Saussure (1740–1799)[], der mit seinen 1779 bis 1796 erschienenen Voyages dans les Alpes (Alpenreisen) Berühmtheit erlangte. Zu seinen Bewunderern zählte auch Alexander von Humboldt (1769–1859), an dessen Werk sich exemplarisch ablesen lässt, wie prominent die Position der Alpen in der Naturforschung war. Bevor Humboldt seine Südamerikareise (1799–1804) unternahm, hielt er sich drei Mal in den Alpen auf. Nach seiner Rückkehr aus der Neuen Welt publizierte er eine Liste von 125 Bergen, deren Höhe vermessen war, was als Markenzeichen der avancierten Forschung galt. Ein Drittel davon stammte aus dem Alpenraum, der territorial gesehen nur einen verschwindend kleinen Anteil der globalen Gebirgsfläche ausmachte.27
Diese leitbildähnliche Funktion der Alpen in der westlichen Kultur wird durch weitere Indizien bestätigt. Humboldt und seine Zeitgenossen stellten zum Beispiel häufig Vergleiche mit dem Alpenbogen an, wenn sie in ihren Schriften die Gebirge anderer Kontinente anschaulich beschreiben wollten. Ähnlich wie bei den Schweiz-Bezeichnungen kam es im 18. und 19. Jahrhundert auch zu einem globalen Export des Alpenbegriffs, bis man schließlich von den Japanischen Alpen, den Alpen von Sichuan in China, den Australischen Alpen, den Neuseeländischen Alpen, den Kanadischen Alpen, den Pontischen und Transsylvanischen Alpen usw. sprach. Einige dieser transferierten Bezeichnungen waren kurzlebig, andere sind bis heute gebräuchlich.28
Als man nach dem Ersten Weltkrieg die modernen Olympischen Spiele durch die neuen Wintersportarten ergänzte, trat dasselbe Muster noch im 20. Jahrhundert zu Tage. Offiziell bestanden diese Sportarten aus Disziplinen, die "auf Schnee und Eis" ausgetragen wurden. Doch dies erforderte spezielle natürliche oder technische Voraussetzungen, die in wenigen Gebieten außerhalb der Alpen vorhanden waren. Sie standen den universellen Ambitionen der olympischen Bewegung entgegen und waren mit ein Grund dafür, dass die Winterspiele erst nach den Sommerspielen institutionalisiert wurden. Die erste Winterolympiade fand 1924 in Chamonix am Fuße des Mont Blanc statt, nachher erhielten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch St. Moritz (1928 und 1948) und Garmisch-Partenkirchen (1936) den Zuschlag. Nur ein Mal entschied sich das Komitee für einen Austragungsort außerhalb des europäischen Alpenraums, nämlich für Lake Placid in den USA (1932).29
Schluss
Durch sein akzentuiertes Relief bildete der Alpenraum ein Hindernis für Verkehrsflüsse und Kommunikationsprozesse zwischen Süd- und Nordeuropa. Dies zeigte sich besonders an der ausgeprägten Grenzbildung im religiösen, sprachlichen und politisch-staatlichen Bereich. Seit dem 18. Jahrhundert weckte der Alpenraum aber auch das Interesse der sich ausbreitenden Naturbegeisterung. Dadurch wurden die bereits etablierten Transfervorgänge durch weitere ergänzt und überlagert. Wir haben die Beispiele des architektonischen Austauschs und der Landschaftsästhetik angeführt. Anhand der toponymischen Nachbenennung von "Schweiz" und "Alpen" lässt sich auch dokumentieren, dass dieser Prozess im Zeitalter der kolonial-imperialistischen Globalisierung weit über Europas Grenzen hinaus wirkte, so dass die Alpen als "ein außergewöhnliches Gebirge" (une montagne exceptionelle) bezeichnet worden sind.30 Mit Blick auf die Alpenbevölkerung und das geschilderte Alpeninteresse kann man diesem Urteil sicher beipflichten. Doch der Grund dafür lag nicht nur im landschaftlich spektakulären Berggebiet, sondern auch in dessen außergewöhnlicher Lage inmitten dicht bevölkerter Länder eines Kontinents im Aufbruch.