Einführung
Ausgehend von der Kritik der Kirchenväter an spätantiken Schauspielen kann das allgemeine Verhältnis der Kirche zum Theater bis zum Ausgang des Mittelalters als ambivalent bezeichnet werden.1 Von besonderer Relevanz erwies sich die Schrift De spectaculis, in der Tertullian (ca. 150–ca. 230) aus christlicher Perspektive fundamentale Kritik am römischen Spielewesen im Allgemeinen äußerte. Aus seiner Sicht waren die Spielstätten von Gladiatorenkämpfen, Wagenrennen bis hin zum Amphitheater, in welchem die klassischen Komödien aufgeführt wurden, Orte, an denen Dämonen wirkmächtig seien und die Christen deshalb meiden sollten.2 Diese Ansicht wurde in der Folge von anderen christlichen Autoren geteilt und weiter verbreitet (Minucius Felix (2./3. Jh.), Lactantius (250–317), Novatian (gest. ca. 260) u.a.).3 Auch Augustinus (354–430) empfahl den Christen das bewusste Fernbleiben von allem Theaterspiel, da es aufgrund seiner Nähe zu Eitelkeit und Vergänglichkeit der Welt den Menschen von jeder ernsthaften Suche nach seinem persönlichen Heil ablenke.4 Dennoch entwickelte sich insbesondere im Laufe des 12. Jahrhunderts innerhalb der Kirche eine umfangreiche Theaterpraxis, etwa in Form der Oster-, Passions-, Weihnachts- und Mysterienspiele, die im Laufe des Mittelalters – so zum Beispiel die Fastnachtsspiele des Hans Sachs (1494–1576) – vermehrt von städtischen Laien getragen wurden und damit dem Bestreben der Bürger nach kultureller und religiöser Autonomie Ausdruck gaben.5
Jesuitentheater als Frucht des humanistisch orientierten Umfeldes
Im Kontext des Humanismus wurde unter Rückgriff auf die Dramen von Terenz (ca. 195–159 v.Chr.), Plautus (254–184 v.Chr.) und Seneca (4 v.Chr.–65 n.Chr.) eine eigene Dramentheorie entwickelt, die nicht nur die innere Gesetzlichkeit des Dramas neu ordnete (Argumentum, Prolog, Akte, Szenen, Epilog), sondern auch die Bühnenform mit einschloss, die Einbindung von Musik ermöglichte und gedruckte Programme mit Erläuterungen vorsah.6 An den klassischen Komödienschreibern schätzte man vor allem ihren zierlichen lateinischen Stil und ihre moralische Wirkung, die so ganz dem Sinn der humanistischen Vorstellungen entsprach. Conrad Celtis (1459–1508), Martin Luther (1483–1546) und Philipp Melanchthon (1497–1560) waren maßgeblich daran beteiligt, dass sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts das Schultheater in humanistischer Tradition an den Gymnasien etablierte und sich seine ethisch-didaktischen Ziele vermehrt mit konfessionellen Aspekten mischten. Vor diesem Hintergrund wurde auch von der jungen Gesellschaft Jesu das Theaterspiel als ethisch-didaktisches Medium in der Schule und im Kontext der konfessionellen Auseinandersetzungen als Mittel der Repräsentation, Erbauung und Katechese aufgenommen.
Aufgrund seiner unterschiedlichen Erscheinungsformen kann der Begriff "Jesuitentheater" nicht als einheitlicher Gattungs- oder Stilbegriff aufgefasst werden.7 Er beschreibt im Wesentlichen ein im Zeitraum zwischen 1555 und 1773 (Aufhebung des Ordens) aus ignatianischer Spiritualität und dem Humanistendrama seiner Zeit herausgewachsenes Medium jesuitischer Schuldidaktik und "multimedialer" Katechesemethode. Durch die strikte Verwendung des Lateinischen als Theatersprache und der weit gespannten geographischen Ausbreitung des Ordens und seiner Kollegien entstand bis zur Aufhebung des Ordens 1773 ein internationales Netzwerk, in welchem Stücke und Stoffe über Länder- und Sprachgrenzen hinweg ausgetauscht wurden. Schätzungen gehen von mehr als 100.000 verschiedenen Theaterstücken aus, die im Laufe von etwas mehr als 200 Jahren auf jesuitischen Bühnen aufgeführt werden konnten.8
Ignatianische Spiritualität als Grundlage des Jesuitentheaters
Das Jesuitentheater zeichnet sich dadurch aus, dass ihm als spirituelles Fundament die Geistlichen Übungen des Ordensgründers Ignatius von Loyola (1491–1556)[] dienten.9 Das Kompositionsprinzip und die innere Dramaturgie der Inszenierungen basierten auf der sehr "sinnenfreudigen" Methode der ignatianischen Exerzitien. Schauspieler und Betrachter der Theaterstücke wurden durch dieselben zur Nachahmung angeleitet und motiviert und somit zu einer regelrechten Meditation des aufgeführten Stoffes hingeführt.10 Schauen, Betrachten sowie die Förderung der Imaginationskraft sind grundlegende Prinzipien der Geistlichen Übungen, in denen es heißt: "Die erste Hinführung ist: Zusammenstellung, indem man den Raum sieht (composición viendo el lugar). Hier ist zu bemerken: Bei der 'sichtbaren' Betrachtung (contemplación) oder Besinnung (meditación), etwa wenn man Christus, unseren Herrn betrachtet, der sichtbar ist, wird die Zusammenstellung darin bestehen, mit der Sicht der Vorstellungskraft (imaginación) den körperlichen Raum zu sehen, wo sich die Sache befindet, die ich betrachten will ..." (Exerzitienbuch 47).11 Mittels der eigenen Vorstellungskraft versetzt sich der Betrachtende an den Schauplatz des jeweiligen Betrachtungsstoffes, um im folgenden Schritt zu " ... schauen, beachten und betrachten, was sie [die Personen des biblischen Betrachtungsstoffes] sagen. Und, indem ich mich auf mich selbst zurückbesinne, irgendeinen Nutzen ziehen." (EB 115).12 Schließlich soll er sodann " ... schauen und erwägen, was sie [die Personen des biblischen Betrachtungsstoffes] tun ... Danach, indem ich mich auf mich zurückbesinne, irgendeinen geistlichen Nutzen ziehen." (EB 116).13 Dieses ganzheitliche Meditieren, das in sehr optimistischer und leibfreundlicher Weise Sinnes- und Geisteserkenntnis in eins zusammenfasst und förmlich als "Schau-Spiel" versteht und umsetzt,14 bildete eine Voraussetzung dafür, dass innerhalb des Jesuitenordens eine große Offenheit für religiös motiviertes Theater bestand. Die Exerzitien selbst sind als ein Prozess, als ein "Drama" zu verstehen, das den Übenden sich einfühlen lässt in das "Drama" von Tod und Auferstehung Jesu Christi.15
Jesuitentheater als Mittel der Didaktik
"Der Weg des Ordens zum Theater geht über die Schule."16 Ergab sich bereits aus der grundlegenden Spiritualität des Ordens eine große Affinität zum "Schau-Spiel", so fand sich insbesondere in seiner Betätigung in der Erziehungsarbeit ein konkreter Ort zur Umsetzung und Anwendung seines theatralischen Potentials in Gestalt des Schultheaters. Auch wenn die junge Gesellschaft Jesu selbst ursprünglich im akademischen Umfeld der Pariser Universität gewachsen war, zählte zu Beginn die Errichtung von Schulen nicht zu ihren eigentlichen Zielsetzungen.17 Ordensinterne Diskussionen und politische Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse des Ordensumfeldes führten im Laufe der 1540er Jahre dazu, dass sich die Jesuiteninternate nun auch auswärtigen Schülern öffneten.18 Bis zum Tode seines Gründers Ignatius von Loyola im Jahr 1556 hatte der Orden, verteilt über ganz Europa, bereits 40 Jesuitenschulen eröffnet; bei der Aufhebung des Ordens 1773 bestand ein jesuitisches Schulnetzwerk, das 845 Institutionen in Europa, Amerika, Asien und Afrika umfasste.19 Die Jesuiten griffen in ihrer Didaktik die etablierten Methoden des Unterrichts ihrer Zeit auf: Hierzu gehörten eben auch Dialog, Schuldrama, Mysterien- und Volksschauspiel.20 In der 1599 eingeführten Schulordnung, der ratio studiorum, wurde das Schultheater schließlich fest im jesuitischen Lehrplan verankert, auch wenn hier zugleich hinsichtlich der Aufführungspraxis gewisse Einschränkungen vorgesehen waren wie z.B. der Verzicht auf weibliche Rollen, Musik und Tanz sowie volkssprachige Texte.21
Die Aufführungen in den Jesuitenkollegien fanden zumeist am Ende des Schuljahres statt, oft auch anlässlich kirchlicher oder weltlicher Feste, zur Einweihung von Gotteshäusern, zu Geburtstagen oder Besuchen von Landesfürsten und Ähnlichem mehr.22 Das Theaterspiel bildete im Rahmen der jesuitischen Pädagogik den Ort, an dem die rhetorische Schulung, die Fähigkeit zum öffentlichen Auftreten und zur argumentierenden Rede eingeübt und der jeweilige Lernfortschritt spielerisch umgesetzt und zur Anwendung gebracht werden konnten.23 Das Jesuitentheater war also insofern ein "feierlich inszenierter Lateinunterricht".24 Zugleich besaßen die festlichen und im großen Rahmen stattfindenden Inszenierungen eine nachdrückliche Außenwirkung, die für die Reputation der jeweiligen Niederlassung wie den Orden insgesamt von großer Bedeutung waren.
Die Stücke selbst wurden anfangs zumeist von den Professoren der obersten Klassen entworfen, anschließend durch den jeweiligen Kollegsrektor geprüft, dann einstudiert und aufgeführt.25 Als Stoffe dienten zunächst insbesondere Moralitäten in der mittelalterlichen Tradition sowie klassische Komödienstoffe aus der Feder von Plautus und Terenz, die zum Repertoire des humanistischen Schultheaters insgesamt gehörten.26 Als Sprache wurde das Lateinische gewählt, doch sollten durch starke optische Komponenten im Bühnenbild und volkssprachige Stück- und Aktprologe zumindest die Grundlinien des Stückes auch einem breiteren Publikum vermittelt werden.27 Auch die zusätzliche Herausgabe von Periochen, kleinen "Programmheftchen", die Aufbau und Inhalt des Stückes in kurzen volkssprachigen Texten und ein Verzeichnis der beteiligten Akteure enthielten, diente diesem Zweck.28
Die ersten Jesuitendramatiker wie Jakobus Pontanus (1542–1626) und Jakobus Gretser (1562–1625) etablierten die klassischen Stoffe des Humanistendramas in abgewandelter Form auch auf den Jesuitenbühnen und ergänzten das Themenspektrum um biblische Stoffe.29 Im Kontext der konfessionellen Auseinandersetzungen wurde auf protestantischer wie katholischer Seite im Laufe des 17. Jahrhunderts das "heroische Sterben" zur Bezeugung der eigenen Glaubenswahrheit zum bestimmenden Gestaltungsprinzip der Märtyrerdramen.30 In diesen Stücken, die häufig den Begriff triumphus im Titel führten, findet sich weniger ein aggressiv-polemischer Ton gegen Vertreter anderer Konfessionen als vielmehr ein "Wir sind wir" auf Lateinisch,31 eine selbstbewusste Darstellung der spirituellen und historisch belegten Wurzeln des eigenen Bekenntnisses zwecks Ausbildung einer stark emotional begründeten Identität.32
Wenn Elida Maria Szarota (1904–1994) das Jesuitendrama als barocken Vorläufer der modernen Massenmedien bezeichnet,33 so erweist sich dies gerade im Hinblick auf den konfessionell-politischen Hintergrund als interessant. Der zumeist belehrende Charakter der Jesuitendramen und das durch sie stattfindende Propagieren von Themen und Ansichten lenkte den öffentlichen Diskurs und erwies sich vor allem dadurch als stark meinungsbildend, dass es den modern zu nennenden Ansatz, den Menschen als Augenwesen wahrzunehmen, aufgriff.34 Die pädagogische Wirkrichtung der Stücke, von Szarota als manipulativ bezeichnet,35 zielte dabei sowohl in die Richtung der Betrachter als auch auf die Darsteller selbst. Denn die Förderung der produktiven Fähigkeiten der Schüler der Jesuitenkollegien – wie etwa des Sich-Hineinversetzens in andere Personen, geschichtliche und kulturelle Kontexte – konnte durchaus dazu führen, dass den Schauspielenden von mancher Rolle vielleicht "ein kleiner Kern in ihnen zurück [blieb] und wurde ihrem Wesen anverwandelt; denn erst das wäre die echte, die bleibende Ausweitung ihrer Person gewesen".36
Perioden des deutschen Jesuitendramas
Die einschlägige Forschung identifiziert fünf voneinander abgrenzbare Perioden in der Entwicklung des Jesuitendramas im Gebiet der Deutschen Assistenz des Ordens.37 So standen im Zeitraum zwischen 1574 und 1622 die Jesuitenbühne und die auf ihr dargebotenen Stücke vornehmlich im Dienst der Gegenreformation. Die Themen der Stücke und ihre Hauptfiguren folgten einer unmissverständlich katholischen Interpretation und vermittelten somit katholische Lehre im Sinne der Beschlüsse des Trienter Konzils.38 Im Fokus der Jesuitendramen stand vornehmlich das Thema der Glaubensentscheidung. Hier boten sich insbesondere die Märtyrer- und Heiligenstoffe an, in denen Vorbilder für Standhaftigkeit, Glaubenstreue und Todesbereitschaft präsentiert wurden. Hinzu trat der Aspekt der Bekehrung, wie er sich beispielsweise in den Alexius-Dramen von Jakob Keller SJ (1568–1631) sowie im Macarius Romanus und dem Joannes Calybita von Jakob Bidermann SJ (1578–1639) finden lässt. Die Handlung der Stücke ist durch die Charaktere der Personen geprägt, deren Gemütsprobleme und Seelenprozesse transparent gemacht werden sollten.39
Die zweite Periode in der Entwicklungsgeschichte des Jesuitendramas stand unter dem Einfluss der konfessionspolitisch bedingten Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges und ist zwischen 1623 und 1673 zu datieren. Mit dem Mittel der Allegorie versuchten die Stücke, die in dieser Periode auf die Bühne fanden, subtil Auseinandersetzungen aus frühen christlichen Jahrhunderten in Szene und mit den aktuellen politischen Ereignissen in Beziehung zu setzen. Als stilbildend erwies sich der französische Jesuit Nicolas Caussin (1583–1651), der insbesondere die Figuren des westgotischen Königssohns Hermenegild (gest. 585) und des Ostgoten Theoderich (453–526) auf die jesuitische Theaterbühne führte, um analoge Antagonismen zum Katholizismus aus Arianismus und Protestantismus zu bilden. In strenger Schwarzweißzeichnung wurden grundlegende und unversöhnliche konfessionelle Konflikte aufgeführt, aus denen die katholischen Gläubigen stets als charakterlich Überlegene hervorgingen. Auch das Verhältnis von staatlichen und kirchlichen Ansprüchen wurde in diesem Sinne auf den Theaterbühnen behandelt, etwa im Stück Thomas Cantuariensis aus der Feder von Georg Bernhardt SJ (1595–1660), in dem Thomas Beckett (1118–1170) dem katholischen Publikum in seiner Standhaftigkeit und Glaubenstreue als vorbildhafte Figur präsentiert wurde.40 Im Nachklang zu den kriegerischen Ereignissen tauchte nach 1648 eine neue Figur in den Jesuitendramen auf, nämlich die der Büßergestalt. Der Burgunderkönig Sigismund (gest. 524), der Abt Landelinus (ca. 613-686) und Wilhelm von Aquitanien (ca. 754–812) stehen sinnbildhaft für alle, die in Zeiten äußerer Bedrängnis in Schuld verstrickt worden waren und die sich nun auf der Suche nach ehrlicher Läuterung befanden.
Mit der allmählichen Verarbeitung der Kriegsgräuel öffnete sich die Jesuitenbühne in einer dritten Periode neuen Stoffen: Das "bürgerliche Trauerspiel" aus jesuitischer Sicht kam zur Aufführung.41 Zwischen 1674 und 1698 waren es vor allem Ehefragen und Erziehungsprobleme, die thematisiert wurden. Beispielhaft für Stücke aus dieser Periode sind die Udalricus-Dramen, in denen der Bischof von Augsburg dafür gepriesen wurde, eine zu Unrecht der Untreue verdächtigte Ehefrau verteidigt, rehabilitiert und schließlich wieder mit ihrem Mann zusammengebracht zu haben. Ganz ähnlich auch der Inhalt der Genovefa-, Hirlanda-, und Gundeberga-Dramen.42 Dazu gesellten sich Erziehungsdramen, in denen elterliche Strenge und Gerechtigkeit herausgestellt wurden und insbesondere die Autorität des Vaters betont wurde. Der Belagerung Wiens 1683 war es geschuldet, dass in den achtziger und neunziger Jahren sogenannte "Türkendramen" vermehrt zur Aufführung kamen. Auch in Heiligenstücken wie dem Stanislaus Kostka, der 1679 gegeben wurde, sollte der aktuelle politische Hintergrund aufgearbeitet und der Heilige als Patron und Schutzherr gegen die türkische Bedrohung gezeichnet werden.43
Kennzeichnend für die vierte Periode zwischen 1698 und 1735 ist die Benutzung von Dramen der Weltliteratur als Vorlage für jesuitische Stücke und eine Öffnung im Figurensetting, die es zukünftig erlaubte, auch Nicht-Christen zu einer Heldenfigur aufzubauen, die im Sinne von allmenschlichen und allumfassenden Sittengesetzen handelte.44 So konnten beispielsweise Figuren wie Themistokles (5. Jh. v.Chr.), Publius Cornelius Scipio (236–183 v.Chr.), Odysseus und Penelope oder Romulus und Remus Einzug auf die Jesuitenbühnen halten. Aber auch Themen der modernen Weltgeschichte erweiterten das Repertoire zu Beginn des 18. Jahrhunderts, womit Maria Stuart (1542–1587), Heinrich IV. (1553–1610) und Don Carlos (1545–1568) als Dramenstoff in katholischer Interpretation zur Aufführung gelangten. Hiermit suchten die Jesuitendramatiker Anschluss an eine Entwicklung, die von Andreas Gryphius (1616–1664), Christian Weise (1642–1708) und nicht zuletzt von William Shakespeare (1564–1616) und Pierre Corneille (1606–1684) begonnen worden war.45
Die Öffnung der Jesuitenbühnen für universale Stoffe ging mit einer weniger auf Schwarzweißzeichnung ausgerichteten Dramaturgie der Stücke einher. In der fünften und letzten Periode des klassischen Jesuitentheaters zwischen 1735 und 1773 konnten sich die Jesuitendramatiker fast völlig von ihrer konfessionellen und ethischen Strenge lösen. Der Humanitätsgedanke, patriotische Stoffe und eine prinzipiell aufklärerische Gesinnung bestimmten in dieser Periode den Charakter der Jesuitendramen.46 Die Hauptfiguren der Dramen zeichneten sich vor allem durch Eigenschaften wie Großmut, gütiges Verzeihen und aufopferungsvolle Selbstlosigkeit aus. Mit der verstärkten Zuwendung zu patriotischen Sujets ging eine schrittweise Öffnung zu einer deutschsprachigen Aufführungspraxis einher, was zunächst in Form der Singspiele geschah. Durch die Einbeziehung von Chorgesang, aber auch Tänzen und Balletten näherte sich das Jesuitendrama immer mehr der Oper an.47
In Stoffauswahl und Dramaturgie des Jesuitentheaters spiegeln sich indirekt die sozio-kulturellen und politischen Entwicklungen der Frühen Neuzeit wieder. Zugleich beeinflusste es selbst maßgeblich – zumindest im katholischen Raum – den öffentlichen Diskurs und wirkte hier meinungsbildend. Darüber hinaus beeinflussten Aufführungspraxis und dramaturgische Konzepte der Jesuiten auch das bürgerliche Drama der Zeit; Männer wie Molière (1622–1673), Corneille, Miguel de Cervantes (1547–1616) und Pedro Calderón de la Barca (1600–1681) waren selbst Jesuitenschüler gewesen und damit von frühester Jugend an durch jesuitische Erziehung mit dem Theaterspiel vertraut.48
Jesuitentheater als Transfermedium zwischen Europa und der "Neuen Welt"
Schultheater wurde bereits im 17. Jahrhundert auf den Bühnen der Jesuitenkollegien in ganz Europa, Indien, Portugiesisch- und Spanisch-Amerika aufgeführt. Die globalen Aufgabenfelder des Ordens sorgten aber auch dafür, dass Stoffe aus nichteuropäischen Kulturkreisen auf europäische Bühnen gelangten.49 Die Aufgaben, die "visuelle Medien im Dienst der Gesellschaft Jesu"50 bereits in der Frühen Neuzeit erfüllten, können laut einer Studie von Sibylle Appuhn-Radtke unter drei verschiedenen Aspekten beschrieben werden: So dienten die Künste gleichermaßen als a) Mittel der Unterweisung, b) Meditationsanregung und c) als Medium der Repräsentation.51 Die Verwendung außereuropäischer Stoffe diente in diesem Sinne insbesondere der Repräsentation.
Die bewusste Darstellung der globalen Dimensionen einer Ecclesia triumphans, deren Erfolge und Ausbreitung ihr weiteres Attribut als militans bestärkten, betonten ihren dynamischen, die europäischen Grenzen sprengenden Charakter.52 Durch die Darstellung von Märtyrern und Glaubenszeugen in den neuen Missionsgebieten wurde währenddessen auch dem Wort von der Ecclesia afflicta Genüge getan, auf welche Art dann die römisch-katholische Kirche als die einzig wahre in die Tradition der frühen Gemeinden und der verfolgten Märtyrerkirche gestellt werden konnte.53 Das Motiv von der Vermittlung des Lichtes der Wahrheit und Gnade an die Erdteile durch den heiligen Ignatius von Loyola und seinen Orden wurde so zu einem der wichtigsten Bestandteile von Bildprogrammen in der jesuitischen Kunst seit der Mitte des 17. Jahrhunderts.54
Neben dem repräsentativen Aspekt in der Außenwirkung gingen von den außereuropäischen Stoffen auch in ethisch-didaktischer Hinsicht Impulse auf den Ordensnachwuchs aus. Hier lässt sich der Effekt nachweisen, dass das Beispiel der Heldenfiguren aus anderen kulturellen Kontexten zur Nachfolge animierte. Ein Karl Sonnenberg (1614–1668) etwa schilderte seinem Ordensgeneral 1635 in einem Schreiben, dass er in seiner Jugend die Rolle eines japanischen Buben in einem Schulstück übernommen habe, in welchem er einem fernöstlichen Götzenbild ein Ohr habe abschlagen müssen, und dass ihn seitdem die asiatischen Missionen faszinierten.55 Er fühle sich daher zu einem Leben als Überseemissionar berufen. Ein Johannes Codonaeus (1657–1685) erläuterte, dass seine Entscheidung für den Eintritt in die Gesellschaft Jesu gefallen sei, nachdem er den "Thomas Morus" auf der Bühne gespielt habe. Deshalb ziehe es ihn nun nach England:
Noch als Rhetoriker spielte ich nämlich vor zwölf Jahren im Abschlussstück den Thomas Morus, Kanzler Englands. Im gleichen Jahr hatte ich wegen einer gefährlichen Krankheit das Votum geleistet, in die Gesellschaft Jesu einzutreten; acht Jahre nach Ableisten dieses Gelübdes wurde ich sodann aufgenommen, und dies aus dem Grunde, dass ich dereinst sowohl zum eigenen Heil wie der Bekehrung meiner Nächsten in England dienlich sein könne.56
Auch von Friedrich Spee (1591–1635) wissen wir, dass es die Möglichkeit, nach Übersee gehen zu können, war, die ihn gerade in die Gesellschaft Jesu geführt hatte.57 Interessant ist auch das Beispiel des späteren Jesuitendramatikers Franz Lang (1654–1725),58 der in einem Brief an den Ordensgeneral aus dem Jahr 1676 von einem Gespräch mit seinen Eltern berichtete, die ihn fragten, ob er lieber in die Fußstapfen des einen Bruders treten würde, der Augustiner-Chorherr geworden war, oder ob er dem anderen Bruder nachfolgen möchte, der Jesuit sei. Auf die Nachfrage hin, was denn das für welche seien, diese Jesuiten, erzählten ihm die Eltern,
... jene seien dadurch besonders ausgezeichnet, bis nach Indien, ja bis zu den äußersten Gegenden des Erdkreises zu gehen, um andere Menschen zu Gott zu bekehren, wo sie dann unter unermesslicher Mühsal und Gefahr eigenes Leben und eigenes Blut für Christus aufopferten, ja sogar härteste Folterqualen erdulden müssten.59
Dieser abenteuerlich-heroische Ruf der Gesellschaft Jesu wurde insbesondere durch Theateraufführungen mit außereuropäischen Sujets genährt und diente somit indirekt auch der Mitgliederwerbung. Die Tätigkeiten in den außereuropäischen Missionen, das usque ad ultimum terrae, bildeten eines der besonders stark wahrgenommenen Unterscheidungsmerkmale gegenüber anderen Ordensgemeinschaften der Zeit und waren wichtiger Bestandteil des Ordensprofils.60
Durchaus kann man in dieser Art der unbewussten Beeinflussung der Schüler, dem Propagieren von Leitfiguren und Vorbildern einen weiteren Bestandteil der Reform- und Modernisierungsbewegung im Rahmen der katholischen Konfessionalisierung sehen.61 Die Bühnen der Jesuitenkollegien boten eine einmalige Plattform nicht nur zur gezielten Präsentation und "Diskurssteuerung" von Themen und Argumenten in die gesellschaftliche Breite hinein.62 Auch hinsichtlich ihrer pädagogischen Wirkung auf den Einzelnen zielten die Aufführungen nicht allein auf Pflege und Stärkung allgemeiner christlicher Tugenden, sondern beinhalteten als "Kinder ihrer Zeit" sehr oft auch – manchmal versteckte, dann weniger versteckte – gegenreformatorische und repräsentative Elemente im Sinne der Gesellschaft Jesu.63 Die häufige Präsentation von missions- und damit zur damaligen Zeit aktuell zeitgeschichtlichen Themen diente augenscheinlich nicht ausschließlich der Belehrung und Unterhaltung, sondern auch der Demonstration eines vitalen Katholizismus, der weltweit aktiv den Heroismus der Apostelzeit wach hielt und als dessen Vorreiter der Jesuitenorden präsentiert wurde.64
In Niederlandt, Hispania,
in Franckreich, in Italia,
in Indien, Brasilia,
in China, in Japonia,
ia heut biß an das endt der welt
man freudenfest und iubel helt.
So jubilierte die Kölner Katechismusschule S. Columba in einer aus Anlass der ersten Jahrhundertfeier des Ordens 1640 gegebenen Darbietung65 und machte damit deutlich, dass als eines der charakteristischen Merkmale der Gesellschaft Jesu ihre weltüberspannende Tätigkeit empfunden und propagiert wurde.66
Es waren vor allem die japanischen Märtyrer, die schon recht früh ihren Platz auf den europäischen Jesuitenbühnen fanden.67 Als Stoffquelle dienten den Autoren vor allem Nicolas Trigaults (1577–1628) Christianorum apud Japonenses Triumphus von 1623 und P. Cornelis Hazarts (1617–1690) Historia Ecclesiastica Japonensis, welche 1678 in deutscher Sprache erschienen war,68 später dann auch die Historia Societatis Jesu von Joseph Juventius (1643–1719) von 1709. Die Stücke orientierten sich in Aufbau und Handlung zunächst meist am historischen Stoff, entwickelten dann aber im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts ein Eigenleben, welches mehr an konzeptionellen Aspekten und Fragen der Inszenierung interessiert war als an historischer Authentizität.69 Titus von Bungo überragte dabei schon bald alle anderen Stoffe an Beliebtheit, eroberte die Jesuitenbühnen ganz Europas und wurde in Augsburg 1629 zum ersten Mal als Stück gegeben.70 Das Thema bezog sich auf den in den Litterae Annuae von 1614 gegebenen Bericht über die grausame Prüfung und folgende Bewährung des japanischen Edelmannes Titus, der in gewisser Anlehnung an das Abraham-Isaak-Motiv eher seine Kinder opferte als bereit war, seinem Glauben abzuschwören. Zur Aufführung kam es in der Folge 1657 in Eichstätt, 1661 in Hildesheim, 1663 in Brüssel, 1665 in Kortrijk auf Niederländisch, 1672 in Gent und besonders gehäuft in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts, als es zunächst 1731 in Osnabrück wie in München gespielt wurde, 1735 in Sitten, Eichstätt und Luzern, 1738 erneut in Eichstätt und in Ingolstadt.71 In der Regel handelte es sich vor allem um Adlige, Fürsten und Königssöhne, die in diesem und weiteren Stücken über die Christentumsgeschichte Japans auftauchten und ein leuchtendes Beispiel für heroische und standhafte Glaubenstreue gaben.72
Natürlich diente auch die Vita des berühmten jesuitischen Missionars Franz Xaver (1506–1552) als beliebter Theaterstoff. So wurde im Xaveriusmonat 1710 in Eichstätt das Stück Xaverius mundi vanitatis victor aufgeführt,73 weitere Xaver-Dramen sind vom 16. bis ins 18. Jahrhundert hinein nachweisbar für Augsburg, Olmütz, Freiburg im Breisgau, Wien, Straubing, Emmerich, Luzern und Aachen.74 Als 1698 verschiedene Gewänder, mit denen der Leichnam des Heiligen in Indien lange Zeit eingehüllt gewesen war, nach Paderborn gegeben wurden, führten die Rhetoriker des Gymnasiums am Oktavtag des Xaveriusfestes ein Melodram auf, in welchem der neu erworbene Kirchschatz mit dem Vlies des Jason verglichen wurde.75 In Köln gab man 1732 das Stück Wie Xaverius in China stirbt, in Emmerich 1735 Wie Xaverius über den Götzendienst triumphiert.
Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts öffneten sich die Jesuitenbühnen auch langsam für Stoffe aus der Missionsgeschichte anderer Kontinente. So fand etwa Hernán Cortés (1485–1547) zunächst sporadisch in den 70er Jahren des 17. Jahrhunderts und schließlich regelmäßiger von 1732 an als Figur auf die Jesuitenbühnen, wo er als miles apostolus, aber auch als eifriger Marienverehrer auftreten durfte.76 Das Stück Atayualpa, Rex Peruviae, welches 1707 von der Grammatikklasse des Aachener Jesuitengymnasiums gegeben wurde, führte den Betrachter ebenfalls nach Lateinamerika;77 der ebenso in Aachen aufgeführte Razcella von 1726 wiederum erschloss dem Publikum die letztendlich gescheiterten, aber dennoch heroisch darstellbaren Missionsversuche des Ordens in Äthiopien.78
Epilog
Dreizehn Jahre nach der Aufhebung der Gesellschaft Jesu machte Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) auf seiner Reise nach Italien am 3. September 1786 in Regensburg halt und besuchte dort die Theaterbühne des ehemaligen Jesuitenkollegs, die nach wie vor benutzt wurde. In seinem Tagebuch notierte er folgende Sätze, die als Würdigung des Jesuitendramas insgesamt gelten können:
Ich verfügte mich gleich in das Jesuitenkollegium, wo das jährliche Schauspiel durch Schüler gegeben ward, sah das Ende der Oper und den Anfang des Trauerspiels. Sie machten es nicht schlimmer als eine angehende Liebhabertruppe und waren recht schön, fast zu prächtig gekleidet. Auch diese öffentliche Darstellung hat mich von der Klugheit der Jesuiten aufs neue überzeugt. Sie verschmähten nichts, was irgend wirken konnte, und wußten es mit Liebe und Aufmerksamkeit zu behandeln. Hier ist nicht Klugheit, wie man sie sich in Abstracto denkt, es ist eine Freude an der Sache dabei, ein Mit- und Selbstgenuß, wie er aus dem Gebrauche des Lebens entspringt. Wie diese große geistliche Gesellschaft Orgelbauer, Bildschnitzer und Vergulder unter sich hat, so sind gewiß auch einige, die sich des Theaters mit Kenntnis und Neigung annehmen, und wie durch gefälligen Prunk sich ihre Kirchen auszeichnen, so bemächtigen sich die einsichtigen Männer hier der weltlichen Sinnlichkeit durch ein anständiges Theater.79