Profil einer politischen Migration
Age of Emigrations und siècle des exilés
Das Exil von ca. 150.000 Franzosen infolge der Französischen Revolution von 1789 stellt die erste politische Emigrationsbewegung mit einer europäischen, wenn nicht sogar globalen Dimension dar. Französische Revolutionsemigranten verließen ihr Heimatland, weil sie die politische Entwicklung in Frankreich ablehnten bzw. in Reaktion auf den zunehmenden politischen Exklusionsdruck. Sie verteilten sich über praktisch alle europäischen Staaten von Schweden bis Sizilien und von Portugal bis Russland. Hinzu kamen die jungen Vereinigten Staaten sowie die französischen, britischen und spanischen Kolonialgebiete. Vereinzelt stießen französische Emigranten auch bis China und Indien vor.1
Diese Migration unterscheidet sich aufgrund ihres politischen Charakters und ihrer räumlichen Verteilung von zwei vorangegangenen Migrationen ähnlicher Größe: der Auswanderung der französischen Hugenotten nach dem Widerruf des Edikts von Nantes 1685 bzw. der schottischen und irischen Jakobiten im Gefolge der Glorious Revolution von 1688/1689.2 War bei den protestantischen Hugenotten die Konfession der entscheidende Auslöser für ihre Emigration, folgten die katholischen Jakobiten bereits stärker politischen Beweggründen, die gleichwohl entlang der konfessionellen Grenzen verliefen. Entsprechend erschlossen sich diese beiden Gruppen zwar einen europäischen und in Teilen atlantischen Exilraum, jedoch lediglich in seinem protestantischen bzw. katholischen Teil. Ein weiterer Unterschied betrifft die zeitliche Dimension: Während sich die Hugenotten relativ schnell und dauerhaft in ihre Aufnahmegesellschaft integrierten, richteten die Jakobiten ihre politischen Aktivitäten bis Mitte des 18. Jahrhunderts stärker auf eine Rückkehr aus. Doch schlugen ihre Initiativen über mehrere Generationen hinweg fehl, auch weil sie an die Restauration der gestürzten Stuart-Dynastie gekoppelt waren. Den französischen Revolutionsemigranten dagegen gelang in der übergroßen Mehrheit die Rückkehr, und dies keineswegs erst zusammen mit der 1792 gestürzten bourbonischen Herrscherfamilie 1814, sondern für die meisten von ihnen bereits seit Ende der 1790er Jahre. Die Rückkehr nach Frankreich stellte für die Revolutionsemigranten ein dauerhaftes Ziel dar, das sich in einem zunächst frankozentrischen Verständnis des Exils als France du dehors oder France extérieure manifestierte.3
In der innerfranzösischen Perspektive wirkte die Revolutionsemigration als Auftakt und Modell für ein ganzes siècle des exilés.4 Als Folge der valse des régimes zwischen dem Ersten Kaiserreich 1804 und der Dritten Republik 1870/1871 machte fortan eine erhebliche Anzahl politisch aktiver Franzosen die Erfahrung des Exils. Im gesamten politischen Spektrum, von Legitimisten bis zu Anarchisten, repräsentierten diese Emigrantengruppen die politischen, kulturellen und sozialen Veränderungsprozesse in all ihren Ambivalenzen. Die Revolutionsemigranten bildeten als les émigrés bereits sprachlich deren klaren Referenzpunkt.5
Dennoch ist die Besonderheit der französischen Revolutionsemigration in ihrer europäischen wie französischen Dimension nicht zu überschätzen. Denn Exilfranzosen waren zwischen 1789 und 1814 keineswegs die einzigen politischen Emigranten in Europa. In ihren Reihen finden sich Jakobitenfamilien, die – einst britische Revolutionsemigranten der 1690er Jahre – nun in dritter oder vierter Generation als naturalisierte Franzosen erneut ins Exil gingen. An ihren Aufenthaltsorten in protestantischen Territorien trafen die Revolutionsemigranten auf die lokalen Hugenottenkolonien, in Großbritannien und im British Empire zudem auf amerikanische Loyalisten, die sich im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg nicht auf Seiten der Rebellen geschlagen hatten. In den habsburgischen Gebieten überlagerte sich die französische Emigration mit Exilanten aus ebenfalls von der Revolution betroffenen Teilen der Monarchie wie Vorderösterreich und den Südlichen Niederlanden, so dass es bis zum späten 19. Jahrhundert kontinuierlich zu Exilströmungen kam.6 Einen Sonderfall bildete das Osmanische Reich. Hier war etwa in Konstantinopel Emigration möglich, ohne den Aufenthaltsort zu verlassen. Revolutionsgegner unter den französischen Händlern oder Diplomaten versicherten sich der Protektion einer ausländischen Gesandtschaft und lebten dann als Emigranten weiter neben ihren republikanisch gesinnten Landsleuten, ohne dass die politische Zugehörigkeit von Paris aus immer klar unterscheidbar gewesen wäre.7
Weiterhin begegneten Exilfranzosen den Emigranten früherer Revolutionen, wie z.B. in Genf (1768/1782/1792/1794), sowie Flüchtlingen aus Gebieten, die im Zusammenhang mit den Entwicklungen in Frankreich zum Schauplatz eigener Revolutionen wurden. Neben den italienischen Staaten und der schweizerischen Eidgenossenschaft geschah dies in besonders dramatischer Weise in der französischen Kolonie Saint-Domingue, von wo Zehntausende von Siedlern und Plantagenbesitzern in die Nachbarkolonien, aufs amerikanische Festland oder nach Europa flohen.8 In der Gesamtschau führte eine solche Akkumulation von Emigrationen Ende des 18. Jahrhunderts in Europa und im atlantischen Raum zur Entstehung einer multinationalen politischen Diaspora von Revolutionsflüchtlingen, die mehrere Hunderttausend Personen umfasste.9
Eine zusätzliche Dimension gewann diese Exilgemeinschaft, als infolge der Revolutionskriege "revolutionierte" Gebiete von den Koalitionsmächten zurückerobert bzw. besetzt wurden und nun, wie aus Polen und Neapel, Revolutionsanhänger vor den Revolutionsgegnern flohen.10 Folglich trafen sich Emigranten gleicher Herkunft an unterschiedlichen Orten wieder und lebten an ihren Aufenthaltsorten häufig in Gesellschaft anderer Exilantengruppen. Diese Verflechtungen begannen die Einzelzusammenhänge der jeweiligen Revolutionen und der durch sie ausgelösten Emigrationen aufzulösen. Aus den Emigrantengemeinschaften entwickelte sich ein transnationaler Raum politischen Exils. Im gemeinsamen Selbstverständnis als Emigranten relativierten sich die politischen Beweggründe einzelner Gruppen, wie der aus Genf nach London emigrierte Charles Saladin-Egerton (1757‒1814) umriss:
Qu'un Polonais réfugié à Paris, un loyaliste Américain à Londres, ou un émigré Français royaliste à Pétersbourg ne puissent consentir à regarder comme légaux les gouvernemens qui, par la force seule des armes, par l'ascendant progressif d'une faction faible, ou par le vœu de la majeure partie de leurs compatriotes, ont succédé à ceux sous lesquels ils avoient vécu, cela se conçoit ; c'est l'effet d'un sentiment plus ou moins aveugle, mais souvent honorable.11
Aus dieser Perspektive wurden die französischen Revolutionsemigranten an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert zum personellen Kern eines Age of Emigrations im breiteren Kontext des Age of Revolutions an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert.12 In ihrer europäischen Dimension werfen sie ein neues Licht auf die Frage nach der Ausstrahlung der Französischen Revolution, und zwar gerade nicht über das traditionelle Interpretationsmodell des "Revolutionsexports", sondern gespiegelt im europäischen Exil der Emigranten.13
Periodisierung und Zusammensetzung
Die Zusammensetzung der französischen Emigranten ist schwieriger zu bestimmen als ihre Verteilung. Grund dafür ist ihre uneinheitliche Erfassung sowohl auf französischer Seite als auch in den Aufnahmeländern. Während der ersten Revolutionsjahre war die Emigration in Frankreich noch kein Gegenstand der Gesetzgebung, vielmehr verankerte die Verfassung von 1791 ausdrücklich ein Recht auf Freizügigkeit. Erst im Zuge der zunehmenden militärischen Aktivitäten der Brüder Ludwigs XVI. (1754‒1793) in Koblenz wurden die ersten Gesetze erlassen, die Emigranten mit Besitzverlust bedrohten, sollten sie nicht zurückkehren.14
Mit Kriegsausbruch und dem Sturz der Monarchie 1792 wurden diese Regelungen drastisch verschärft: Nach der Emigration wurde der gesamte Besitz in Frankreich konfisziert und das zu Nationalgütern erklärte Grundeigentum weiterverkauft. Auf dem Höhepunkt der jakobinischen Terreur wurden die Emigranten zivilrechtlich für tot erklärt; auf ihre Rückkehr aus der immerwährenden Verbannung stand die Todesstrafe. Diese galt auch, wenn Emigranten den Revolutionstruppen außerhalb Frankreichs in die Hände fallen sollten. Neben der Aufnahmepolitik in den jeweiligen Exilterritorien erklärt somit auch der Kriegsverlauf der 1790er Jahre die hohe Mobilität der Emigranten innerhalb Europas.
Zur Durchsetzung der Gesetzesmaßnahmen wurden die Emigranten, beginnend in den Heimatgemeinden über die neu eingerichteten Departements bis zu den Pariser Zentralbehörden, in Listen erfasst. Diese erwiesen sich jedoch alles andere als zuverlässig: Erfassungslücken und fehlerhafte Namensschreibweisen oder Dubletten erschwerten die Quantifizierung der Emigration. Auch die Unterlagen der 1825 eingesetzten Entschädigungskommission waren nur beschränkt aussagekräftig, da sie nur Emigranten mit Grundbesitz erfassten.15
Bereits in den 1950er Jahren hat Donald Greer auf dieser Basis eine soziale und regionale Klassifizierung der Emigranten versucht.16 Bis heute bleibt eine computergestützte Neuauswertung der französischen Listen17 sowie ein Abgleich mit erhaltenen Aufnahmeregistern in den jeweiligen Exilterritorien ein Desiderat. Greers Statistik bildet darum, ihren Unzulänglichkeiten zum Trotz, weiterhin die Grundlage für demografische Aussagen zur französischen Emigration, die dem zeitgenössischen Topos der französischen Emigration als royalistischer Adelsmigration entschieden widersprechen. Von den ca. 150.000 Emigranten entstammten lediglich 17 Prozent dem Adel, 25 Prozent dem Klerus; die Mehrheit entfiel auf Angehörige des Dritten Standes.
Dieses vermeintlich klare Bild bedarf jedoch einer differenzierten Betrachtung und sollte nicht in die Falle der apologetischen Gegenargumentation einer Emigration von primär nichtprivilegierten Bevölkerungsschichten geraten. Einerseits folgten zahlreiche Angehörige des Dritten Standes als Dienstpersonal ihren Herrschaften ins Exil, das in den Aufnahmeterritorien häufig gar nicht oder nur summarisch erfasst wurde. Hinzu kamen insbesondere Kunsthandwerker, Köche und Musiker, die in den aufgelösten Adelshaushalten in Frankreich beschäftigungslos geworden waren und ebenfalls ihren Lebensunterhalt durch Emigration abzusichern versuchten. Andererseits lässt sich insbesondere der mit knapp 20 Prozent erhebliche Anteil von Bauern mit kurzzeitigen Migrationen über die französische Grenze erklären, wie etwa 1793 im Elsass durch den wechselhaften Verlauf der Revolutionskriege. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass die Emigration in zahlreichen frankreichferneren Aufnahmeterritorien deutlich sozial exklusiver war, als die Gesamtzahlen vermuten lassen. Insgesamt gilt, dass die Emigrationsrate in den kontinentalen und maritimen Grenzregionen Frankreichs deutlich höher lag als im Landesinneren.18 In Bezug auf die Gesamtbevölkerung von gut 25 Millionen umfasste die Emigration also ca. 0.6 Prozent. Betrachtet man jedoch die ersten beiden Stände separat, so emigrierte geschätzt immerhin rund ein Zehntel des Adels und sogar ein Viertel des Klerus. Mithin stellte die Emigration für die politischen und sozialen Eliten des Ancien Régime ein signifikantes und relevantes Phänomen dar.19
Hinsichtlich der Periodisierung hat die Forschung immer wieder den Zusammenhang zwischen Emigrationsdatum und dem politischen Profil der Emigranten betont. Als erste Emigranten verließen kurz nach dem Sturm auf die Bastille Charles X. Comte d'Artois (1757‒1836), jüngster Bruder des Königs, und sein engeres Umfeld Frankreich, zunächst mit der Vorstellung einer nur kurzen Abwesenheit und in der Hoffnung auf eine rasche Eindämmung der Revolution. Ihm folgten in den kommenden Monaten zahlreiche von der Aufhebung der Feudalrechte betroffene Adelsfamilien, im Zuge der Armeereformen dann auch royalistische Offiziere. Die Zivilkonstitution des Klerus, die von allen Geistlichen einen Eid auf die Verfassung verlangte, war der Hauptauslöser für die Emigration sowohl von hohen als auch niederen Klerikern.20 Als wesentliche Zäsur wurde immer wieder das Jahr 1792 genannt: Der Kriegsausbruch und vor allem der Sturz der Monarchie erweiterten das politische Spektrum der adligen Royalisten und Kleriker insbesondere um konstitutionelle Monarchisten, die vor allem aus humanitären Gründen und nicht aus bewusster Ablehnung der Revolution geflohen seien.21
Dieses dichotome Emigrationsbild geht im Kern auf Anne Louise Germaine de Staël-Holstein (1766–1817)[] zurück, die damit in der Restaurationszeit nicht zuletzt ihre eigene Emigration 1792 politisch rechtfertigte.22 Wenngleich diese Periodisierung im Grundsatz zutreffend ist und die meisten Emigranten erst während der Republik ins Exil gegangen sind,23 bedarf sie doch erheblicher Nuancierung. Beispielsweise finden sich unter den Emigranten der frühen Phase 1789/1790 bereits konstitutionelle Monarchisten, darunter Angehörige der monarchiens, die sich im Herbst 1789 in der Nationalversammlung nicht mit einem Verfassungsmodell durchsetzen konnten, das für Frankreich die Einführung eines Zweikammersystems vorsah. Dagegen emigrierte Ludwig XVIII., der Comte de Provence (1755‒1824), der andere Bruder des Königs, im Juni 1791 – verglichen mit zahlreichen Angehörigen des Hochadels – vergleichsweise spät, als ihm, im Gegensatz zu Ludwig XVI., die parallel unternommene Flucht aus Paris gelang.
In ihrer politischen Struktur lässt sich die Emigration in drei große Akteursgruppen einteilen, die sich weniger als klare politische Strömungen voneinander abgrenzen lassen, sondern sich vor allem in ihrem Selbstverständnis voneinander unterschieden. Charakteristisch für diese Gruppen ist, dass sie im Grunde alle Anhänger der Monarchie waren. Da waren zunächst die royalistes als Vertreter der ancienne constitution, dem positiven Gegenbild zur revolutionären Figur des Ancien Régime.24 Darunter ließen sich sowohl die absolute als auch die vorabsolute Monarchie mit stärkeren adligen Beteiligungsrechten subsumieren. Von ihnen grenzten sich die bereits genannten anglophilen monarchiens ab, die wiederum mit den Anhängern der Verfassung von 1791, den sogenannten constitutionnels, um das Profil einer zukünftigen konstitutionellen Monarchie in Frankreich konkurrierten.25 Voraussetzung für die politischen Projekte aller drei Gruppen war jedoch nach dem Sturz Ludwigs XVI. die Restauration der Monarchie. Den politischen Orientierungspunkt der Emigration bildeten daher seine Brüder, insbesondere der Comte der Provence, der sich nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. 1793 zum Regenten für den minderjährigen Ludwig XVII. (1785‒1795) proklamierte und nach dessen Tod in der Pariser Haft 1795 als Ludwig XVIII. im Verständnis seiner Anhänger den französischen Thron bestieg.26 Mochten diese Entscheidungen aus Sicht der France du dedans27 anachronistisch und fiktiv anmuten und konnte Ludwig XVIII. seine Anerkennung auch bei den europäischen Großmächten lange Zeit nicht durchsetzen, so blieb im Selbstverständnis der France du dehors Frankreich mindestens bis zum Staatsstreich Napoleon Bonapartes (1769‒1821)[] 1799 ein Königreich mit einem abwesenden Monarchen.
Emigrantenstatus und Aufnahmepolitik
Die administrative Definition des Emigrantenstatus entstand erst als Folge des Emigrationsprozesses selbst. Als sich beispielsweise im Herbst 1789 Adlige am Genfer See niederließen, sprach der dort lebende britische Historiker Edward Gibbon (1737‒1794) von einer "inundation of strangers";28 der französische Gesandte behalf sich gleichfalls mit einer touristischen Beschreibungskategorie und überschrieb seine Ausländerlisten mit "Français qui passent l'hiver en Suisse".29 Im französischen Sprachgebrauch implizierte zunächst das aktive substantivierte Partizip émigrans ("die Auswandernden") einen reversiblen Prozess. Erst im Mai 1790 traten die Emigranten erstmals als émigrés, als definitiv Ausgewanderte, auf – eine Bezeichnung, die von den Aufnahmeländern rasch übernommen wurde.30
Zunächst wurden die Emigranten weitgehend behördlich geduldet; weitgreifende Aufnahmeregelungen erfolgten meist noch nicht. Einen Sonderfall innerhalb dieser Praxis markiert das Kurfürstentum Trier, wo der Erzbischof Klemens Wenzeslaus (1739‒1812) den Brüdern Ludwigs XVI., seinen Neffen, die Aufstellung einer Emigrantenarmee erlaubte und dazu in Koblenz, wo sich die Emigrantenzahl der Einwohnerzahl näherte, Geld und Räumlichkeiten zur Verfügung stellte und sogar einen Teil der Administration in emigrantische Hände übergab.31
Einen Umbruch erlebte die Aufnahmepraxis 1792: Einerseits hatte die Emigration aus Frankreich nach dem Sturz der Monarchie noch einmal zugenommen, andererseits zerstreute sich nach dem fehlgeschlagenen Herbstfeldzug der Koalitionstruppen die Emigrantenarmee, deren Mitglieder sich nun zunehmend ostwärts über das Heilige Römische Reich verteilten. Eine Reihe deutscher Territorien erließ daraufhin strenge Aufnahme- und Durchreiseregelungen, die jedoch, wie der preußische Fall zeigt, vor allem in den grenznahen Gebieten kaum durchgesetzt werden konnten, sodass sich mit lokalen Unterschieden eine weitgehende Tolerierungspraxis etablierte. Wenngleich der Reichstag keine reichsweiten Regelungen beschloss, orientierte sich Preußen beispielsweise an den Aufnahmeregelungen der Habsburgermonarchie, die die Subsistenzfähigkeit der Emigranten zur Bedingung ihres längerfristigen Aufenthalts machte. Zudem erhofften sich einige Regierungen wie im Fürstbistum Münster, dass die prekäre humanitäre Lage der Emigranten eine revolutionsimmunisierende Wirkung auf die eigene Bevölkerung haben würde.32
In Großbritannien nahm dagegen im Kontext des Kriegseintritts Anfang 1793 die Angst vor jakobinischen Emissären und inneren Unruhen deutlich zu. Die rasch wachsende Londoner Emigrantenkolonie, mit einer fünfstelligen Personenzahl die größte in Europa,33 ließ die innere Sicherheitslage zunehmend unüberschaubar werden, sodass das Parlament 1793 mit dem Aliens Act ein Gesetz verabschiedete, durch das verdächtige Personen ausgewiesen werden konnten – eine Praxis, die unter den Emigranten gerade die constitutionnels betraf und eine Reihe von ihnen die Weiterreise in die USA antreten ließ.34 Das russische Zarenreich entschied über den Aufenthalt per Gesinnungsprüfung und verlangte 1793 einen Treueeid auf Ludwig XVII. und die Religion. Dieser galt auch für bereits länger ansässige Franzosen, so dass gegenüber der französischen Republik fortan alle eidleistenden Franzosen zu Emigranten und damit Republikfeinden wurden.35
Gleichwohl erwiesen sich solche Kontrollbemühungen in ihrer Reichweite als begrenzt. So folgte aus dem diplomatischen Druck, der besonders aus den Friedensschlüssen mit der Republik erwuchs, keineswegs eine dementsprechende Änderung der Duldungspraxis. Wurden in Braunschweig-Wolfenbüttel 1798 Emigranten ausgewiesen, war eine solche Maßnahme im ab 1795 neutralen Preußen schon aufgrund fehlender bürokratischer Strukturen nicht ohne weiteres möglich.36 Eine ähnliche Initiative in Bern, wo 1793 eine eigene Emigrantenkommission eingerichtet worden war, scheiterte daran, dass infolge der französischen Präsenz in Süddeutschland und Italien die Emigranten keine Ausweichmöglichkeiten besaßen und folglich vorerst bleiben konnten.37 Aus deren Sicht bildeten Norddeutschland und Großbritannien nicht zuletzt deshalb beliebte Aufenthaltsgebiete, weil die Aufnahmepraxis großzügig gehandhabt wurde und diese Gebiete vergleichsweise sicher vor französischen Invasionen waren. Zu massiven kriegsbedingten Binnenmigrationen kam es innerhalb der habsburgischen Gebiete, insbesondere aus Vorderösterreich in das Kernland oder weiter bis Russland, auf die die Behörden mit angepassten Aufenthaltsregelungen reagierten.38
Französische Emigranten als Transferagenten
Um 1800 wurden französische Emigranten aus zahlreichen Gründen zu prominenten Mittlern in europäischen Transferprozessen. Als Exilfranzosen, die eine baldige Rückkehr anstrebten, hatten sie politisch ein Interesse daran, ihre Aufnahmegesellschaften gegen das revolutionäre Frankreich zu mobilisieren, ohne sich jedoch, von einer Minderheit abgesehen, dauerhaft im Exil zu etablieren. Gleichwohl stellte sich nach dem Scheitern von Militäraktionen – wie dem Feldzug von 1792, an dem Emigrantentruppen maßgeblich beteiligt waren, oder der kurzzeitigen britischen Eroberung von Toulon 1793 und der desaströsen Landung von Emigranten auf der bretonischen Halbinsel Quiberon 1795 – in immer stärkeren Maße die Frage nach der Absicherung des Lebensunterhalts.39 Neben den oftmals in prekären Verhältnissen lebenden Geistlichen und materiell wenig bemittelten Angehörigen des Dritten Standes gerieten nun zunehmend auch Adelsfamilien in eine finanzielle Lage, die sie von Unterstützung abhängig machte oder die Aufnahme von professionellen Aktivitäten nach sich zog. Dafür spielte einerseits das traditionelle hohe Prestige der französischen Kultur im Ausland eine Rolle, das bei allen Ressentiments die Emigranten zu attraktiven Anbietern von Kulturgütern in einem weiten Sinne machte. Andererseits definierten emigrantenfreundliche Vertreter der Aufnahmegesellschaften wie Edmund Burke (1729‒1797) das europäische Exil vor einem gemeinsamen Zivilisationshintergrund:
From all those sources arose a system of manners and of education which was nearly similar in all this quarter of the globe; and which softened, blended, and harmonized the colours of the whole. […] From this resemblance in the modes of intercourse, and in the whole form and fashion of life, no citizen of Europe could be altogether an exile in any part of it. There was nothing more than a pleasing variety to recreate and instruct the mind; to enrich the imagination; and to meliorate the heart. When a man travelled or resided for health, pleasure, business or necessity, from his own country, he never felt himself quite abroad.40
Transfer zwischen Migrationen
Zunächst sollen vor dem Hintergrund des eingangs skizzierten weiteren Migrationskontextes um 1800 Transferprozesse innerhalb der breiten Exildiaspora betrachtet werden, die französische Emigranten prägten oder von denen sie profitierten. Nicht in allen Exilländern mussten staatliche Erfassungs- und Unterstützungsstrukturen erst aufgebaut werden wie in Preußen, wo die Emigranten zum Ausgangspunkt einer zunehmenden Unterscheidung von eigenen Untertanen bzw. Staatsbürgern und "Ausländern" wurden.41 In Großbritannien etablierte die Regierung vielmehr ein Unterstützungskomitee nach dem Vorbild der Versorgung der Loyalisten, also eigener Untertanen, im Anschluss an den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, das Hilfsgelder verteilte und eng mit ranghohen Repräsentanten der Emigranten zusammenarbeitete.42 Die koloniale Dimension von Emigration berührte auch die Unterstützung der Exilpflanzer aus Saint-Domingue, die einerseits mit ihrer Unterstellung unter britisches Protektorat und ihrem Einsatz für eine britische Militärexpedition zum Teil erfolgreicher waren als ihre Exilgenossen vom europäischen Festland.43 Andererseits fanden sie nach dem britischen Abzug – wie zuvor die amerikanischen Loyalisten – Zuflucht und Entschädigung in den britischen Kolonialgebieten in Nordamerika und Westindien – und das, obwohl sie teilweise weit weniger monarchisch orientiert waren als die metropolitanen Emigranten. Auch das spanische Kuba und die USA nahmen insgesamt eine fünfstellige Zahl von Kolonialemigranten, zum Teil mit ihren Sklaven, auf.44 In Kuba kam es daraufhin zu einem massiven Aufschwung der Zuckerproduktion. In den USA prägten die Kolonialpflanzer maßgeblich und langfristig die französische Kreolkultur in den Südstaaten, vor allem in Louisiana.
Eine enge Zusammenarbeit von französischen und Genfer Emigranten erfolgte auf einem ganz anderen Feld, nämlich bei publizistischen Aktivitäten, wenn es darum ging, den expansiven Charakter der Europa republikanisierenden Revolution zu kritisieren und die europäischen Mächte zu einem entschlosseneren Vorgehen gegen die vorrückenden Revolutionstruppen zu bewegen.45 Ambivalenter entwickelten sich dagegen die Beziehungen zu Hugenottenkolonien. In der Erwartung, in ihnen vor allem ökonomische Türöffner zu finden, stellten die Revolutionsemigranten einerseits indirekt die in ihrem Selbstverständnis erfolgreiche Integration ihrer Vorgänger infrage. Andererseits fanden die Emigranten aber in den bereits in dritter oder vierter Generation ansässigen Hugenotten Fürsprecher, die dem konfessionellen Unterschied keine entscheidende Bedeutung beimaßen.46
Die Jakobiten schließlich dienten als historische Positiv- wie Negativreferenz: In dem Maße, wie französische Emigranten aller politischen Lager Parallelen zwischen der Revolution in Frankreich und der englischen Geschichte des 17. Jahrhunderts zwischen Bürgerkrieg, Königsmord, Diktatur, Restauration und erneutem Sturz der Herrscherdynastie zogen, stellten die Jakobiten gegenüber den Aufnahmegesellschaften ein politisches Argument für eine entschlossenere Unterstützung legitimer Monarchieanhänger dar. Innerhalb der Emigration versuchte man durch permanente Standortbestimmungen im englischen Revolutionszyklus Prognosen für die weitere Entwicklung in Frankreich abzuleiten, die jedoch unterschiedlich instrumentalisiert werden konnten. Während die royalistes die englische Restauration von 1660 als Rückkehr zur ancienne constitution interpretierten, legten etwa die monarchiens großen Wert darauf zu betonen, dass dadurch wieder eine konstitutionelle Monarchie hergestellt würde und sich für Frankreich kein Ancien Régime begründen ließe. Denn bezüglich der Jakobiten bot der Blick auf die englische Geschichte für Frankreich immer zwei politische Transferszenarien: das einer geglückten Restauration von 1660 und einer gescheiterten Restauration von 1688/1689.47
Wechselseitige Referenzen und Transferprozesse mit anderen Migrationsphänomenen, so heterogen diese auch ausfielen, verbesserten für französische Emigranten die politischen, humanitären, ökonomischen und kulturellen Unterstützungs- und Integrationsbedingungen in den Exilterritorien. Sie verliehen ihnen zugleich argumentatives Gewicht und eine politische Relevanz, die halfen, in den Exilländern antifranzösischen Ressentiments entgegenzuwirken und militärischen, ideologischen oder publizistischen Aktivitäten zur Bekämpfung der Revolution aufeinander abzustimmen.
Transferprozesse zwischen Emigration und Aufnahmegesellschaften
Französische Emigranten als Transferagenten übernahmen im Exil verschiedene Funktionen, entsprechend ihrer eigenen politischen sowie ökonomischen Interessen und entsprechend der Nachfrage in den Exilterritorien. Für Großbritannien und Österreich lässt sich auf politischer Ebene zeigen, dass Emigranten mit Kriegsausbruch und dem Abzug der Gesandtschaften aus Paris die diplomatischen Strukturen teilweise ersetzten, indem sie die jeweiligen Regierungen berieten und zu beeinflussen suchten, dabei immer auch mit Blick auf die politischen Konkurrenten innerhalb der Emigration. Dass diesen Eingaben ein hoher Informationswert beigemessen wurde, zeigt ihre Überlieferung innerhalb der diplomatischen Korrespondenzen in den Archiven der Außenministerien.48 Dank ihrer Vernetzung untereinander in den verschiedenen Teilen Europas sowie ihrer Verbindungen ins revolutionäre Frankreich über Verwandte, Freunde und Agenten lieferten Emigranten kriegsrelevante Informationen, die anderweitig nur schwer zu bekommen waren.49
Je länger das Exil dauerte, desto drängender stellte sich, wie bereits angedeutet, die Frage des Lebensunterhalts, zuerst für Emigranten des niederen Dritten Standes und des einfachen Klerus, zunehmend aber auch für den gehobenen Dritten Stand und adlige Emigranten. Die Aufnahme von professionellen Tätigkeiten war bei Letzteren insofern bemerkenswert, als sie im französischen Verständnis dafür mit der dérogeance, dem Verlust der Standesprivilegien, bestraft worden wären. Adlige, die teils unter anderem Namen als Schuhmacher arbeiteten, bildeten ebenso wenig eine Seltenheit wie gewerblich tätige Frauen und Kinder.50 In Gegenden, wo staatliches Interesse bestand, kam es zur Gründung von Manufakturen und Fabriken, wie in der Seidenherstellung in Preußen, aber auch zu landwirtschaftlichen Innovationen, wie auf dem Mustergut des Chevalier de Boufflers (1738‒1815).51
Die Aktivitäten wiesen somit ein denkbar breites Spektrum, in Abhängigkeit von den eigenen Qualifikationen und der Nachfrage vor Ort, auf und konnten skurrile Züge annehmen. So bestritt der Journalist Jean Gabriel Peltier (1760‒1825) seine erste Zeit in London damit, dass er vor zahlendem Publikum in Gasthöfen mittels einer Miniatur-Guillotine Gänse und Enten köpfte.52 Offiziere versuchten dagegen nach Auflösung der Emigrantenarmee bei den Koalitionsmächten in Emigrantenregimentern und später in regulären Armeeverbänden, gerade in Österreich, unterzukommen. Die Armée de Condé, Teil der Emigrantenarmee von 1792, verlagerte als geschlossener Verband in ausländischen Diensten im Laufe der 1790er Jahre ihren Standort vom Oberrhein nach Wolhynien, bevor sie sich in Österreich auslöste.53 Beruflich qualifizierte Emigranten wie Architekten, Maler und Kunsthandwerker etablierten sich in ihren bewährten Tätigkeitsbereichen: So ließ sich der Instrumentenbauer Sébastien Érard (1752‒1831) in London sein Harfenmodell patentieren und baute nach seiner Rückkehr nach Frankreich seine Klaviere fortan mit englischer Mechanik.54 Die ungleich berühmtere Élisabeth Vigée-Le Brun (1755‒1842)[] porträtierte im Exil zwischen Neapel und St. Petersburg den europäischen Hochadel.55 Umgekehrt erlernten Emigranten in Weimar die Malerei in der dortigen Zeichenschule und tauschten Techniken und Motive aus.56
Die angestammte Domäne von Geistlichen im Exil wurde die Unterrichtstätigkeit: angefangen von Französischlehraufträgen an Universitäten wie in Oxford, Göttingen oder Jena, über Hauslehrer- und Tutorentätigkeiten bis hin zur Gründung größerer Emigrantenschulen, wie unter der Leitung des Abbé Guy Toussaint Julien Carron (1760‒1821) in London oder des Abbé Dominique Charles Nicolle (1758‒1835) und Frédéric François Xavier de Villers' (1770‒1846) in St. Petersburg, Moskau und Odessa.57 Wie der Fall des Erziehungsinstituts für Ausländer von Jean-Joseph Mounier (1758‒1806) in Weimar zeigt, hatten die Emigranten die europäische Dimension ihres Wirkungsraums im Blick: Im Wissen um die kulturelle Strahlkraft Weimars in der Goethe-Zeit unterrichtete er vor allem britische Adelssöhne nach einem Lehrplan, der explizit die europäischen Auswirkungen der Revolution und die Gestaltung einer postrevolutionären Ordnung zum Inhalt hatte. Durch die Integration sowohl der Lehrer-Emigranten als auch der ausländischen Schüler in die Aufnahmegesellschaft kam es hier zu transferts triangulaires zwischen deutschen, französischen und britischen Kulturmustern.58 Deutet sich dadurch bereits an, dass die Emigranten gezielt frankophile Dispositionen auf einheimischer Seite nutzten, so wird dies noch deutlicher anhand der französischen Restaurants, die der hamburgischen Gastronomie zum Aufschwung verhalfen, oder der emigrantischen Theatertruppen, die sich in Braunschweig und Hamburg erfolgreich etablierten.59
In den städtischen Zentren der Emigration wie in London, Hamburg, Wien oder Philadelphia entwickelten sich eigene Infrastrukturen mit Salons, Schulen, Buchhändlern und Verlagen, die zugleich als zentrale Foren des Austauschs über die Entwicklungen in Frankreich und den Emigranten zu ihrer identitätsstiftenden Selbstvergewisserung dienten.60 Gerade die Emigrantenverlage und -zeitschriften – zum Teil mit älteren Wurzeln – machten die Emigration zu einem europäischen Bestandteil des Kommunikations- bzw. Medienereignisses "Französische Revolution", das der junge François René de Chateaubriand (1768‒1848) folgendermaßen umriss: "L'exil, qui suit les persécutions des hommes, n'est pas si défavorable au génie qu'on pourroit bien le croire: le miel le plus salutaire est celui que l'abeille, chassée de sa ruche, fait quelquefois au désert."61 Zeitschriften wie der Londoner Mercure britannique oder der Hamburger Spectateur du Nord fanden ihr Publikum in der Emigration, in Großbritannien und innerhalb der République des lettres letztlich europaweit.62
Programmatische Emigrationsschriften wie Jacques Mallet du Pans (1749‒1800) Considérations sur la nature de la révolution de France (1793) wurden zum Teil mehrfach in verschiedene Sprachen übersetzt und auch in Frankreich selbst gelesen, so im Falle von Trophime-Gérard de Lally-Tollendals (1751‒1830) Défense des émigrés, die es 1797 in Paris auf eine Auflage von 40.000 Exemplaren brachte.63 Als belletristische Schlüsselwerke der Emigration können Gabriel Sénac de Meilhans (1736‒1803) L'Émigre (1797) und Stéphanie Félicité de Genlis' (1746‒1830) Les petits émigrés (1798) gelten; umgekehrt wurden die Emigranten zu einem beliebten Sujet gerade in der deutsch- und englischsprachigen Erzählliteratur.64 Innerhalb einer europäischen Öffentlichkeit besaß die Emigration, wie auch Rezensionen und Entgegnungsschriften klarstellten, eine hohe Präsenz, die den Lebenswelten in den Aufnahmeländern entsprach: Mit der Frage: "Wer unter den gebildeten Classen kennt nicht Ausgewanderte, für die er sich persönlich interessirt ...?",65 begründete die Allgemeine Literatur-Zeitung, das führende deutsche Rezensionsorgan, die Aufmerksamkeit für Emigrationsschriften. Die Emigranten nutzten ihre publizistische Präsenz auch politisch, um etwa Druck auf die Regierungen oder die Exilmonarchie auszuüben, indem diplomatischer Lobbyismus von publizistischen Kampagnen flankiert wurde.66
Charakteristisch für die Transferprozesse der französischen Emigration war ihre hohe Dynamik und Versatilität. Die Emigranten reagierten flexibel auf unterschiedliche Bedingungen in verschiedenen Exilterritorien oder auf sich verändernde Haltungen am selben Aufenthaltsort. Dabei war auch in den Aufnahmegesellschaften klar, dass die Emigrantenpräsenz zeitlich begrenzt war und die Austauschbeziehungen in der Mehrzahl nicht auf Dauer angelegt waren: "Ce fut cela qui me fit naître une idée bien triste. Dans un an d'ici peut-être, me dis-je, toutes ces personnes seront loin d'ici",67 so die Weimarerin Sophie von Schardt (1755‒1819).
Rückkehr nach Frankreich und Nachwirkungen
Mit dem Ende der Terreur hatte die Emigration ihren Höhepunkt überschritten. Unter dem Direktorium (1795‒1799) kehrten die ersten Emigranten nach ihrer Streichung von der Emigrantenliste oder dank persönlicher Beziehungen wieder zurück. Dabei handelte es sich in erster Linie um constitutionnels, die sich mit dem republikanischen Regime am ehesten arrangieren konnten. Eine erneute Ausweisungswelle nach dem Fructidor-Staatsstreich68 1797, die neben Gegnern des Direktoriums auch Rückkehrer noch einmal traf, demonstrierte jedoch einmal mehr, dass die Annäherungsprozesse nicht linear verliefen. Nach dem Brumaire-Staatsstreich69 1799 ließ Napoleon Bonaparte als Erster Konsul die Emigrantenlisten rasch schließen. Streichungen bedurften aber weiterhin eines offiziellen Verfahrens, das erst 1802 in eine weitreichende Amnestie mündete, die nur ca. 1.000 Emigranten, insbesondere die Exilmonarchie und ihr Umfeld, von der Rückkehr ausnahm.70 Entsprechend kehrte die übergroße Mehrheit unter dem Konsulat nach Frankreich zurück, darunter auch vermeintlich bourbonentreue Gruppen wie die royalistes. Soweit nicht verkauft, erhielten sie ihre konfiszierten Güter zurück. Ehemalige Emigranten fanden in der napoleonischen Administration und Armee rasch Betätigungsfelder. Doch endete die Geschichte der französischen Emigration weder 1802 noch 1814/1815. Zur Frage nach der politischen, mentalen und materiellen Reintegration im französischen Kaiserreich wie auch in der Restaurationszeit, besteht noch erheblicher Forschungsbedarf. Dies gilt nicht minder für die dauerhaft in den Exilterritorien verbliebenen Emigranten, die etwa am Wiener Hof glänzende Karrieren machen konnten.71
Nach der Rückkehr der Bourbonen blieb die Emigration außen- wie innenpolitisch ein kontroverses Thema: Einerseits schien sich während der napoleonischen Cent-Jours72 1815 die Emigrationszeit zu wiederholen, als sich die Königsfamilie mit einigen Tausend Anhängern im flämischen Gent als Emigrantenkolonie mit deutlichen Parallelen zu den 1790er Jahren niederließ.73 Andererseits trugen die revolutionären Eigentumsverschiebungen am Beispiel der Emigrantengüter wesentlich zur politischen Polarisierung der 1820er Jahre bei. 1825 verabschiedeten die beiden Parlamentskammern ein Gesetz, das auf die Restitution der Güter verzichtete, zugleich aber die materiellen Ansprüche der Emigranten in Form einer Entschädigungszahlung anerkannte.74 Dass die damit verbundene Diskussion um das Täter-Opfer-Verhältnis der Revolutionszeit nicht auf Frankreich an sich beschränkt blieb, zeigen die gleichzeitig getroffenen Entschädigungsregelungen für ehemalige Plantagenbesitzer aus dem nun unabhängigen Haiti wie auch für überlebende Schweizergardisten, die einst in französischen Diensten gestanden hatten.75
Nach der Rückkehr begannen die Emigranten ihre Erfahrungen in Memoiren zu verarbeiten, die allerdings deutlich von den politischen Konflikten ihrer Gegenwart geprägt waren und dadurch zu einer Nationalisierung der eigenen Biografien mit starker Betonung ihrer französischen Identität neigten, sodass die Frage nach den Langzeitwirkungen der transnationalen Exilerfahrungen zwischen 1789 und 1814 auch anhand dieser Quellen nur schwer zu beantworten ist.76 Dass diese nicht zu unterschätzen sind, zeigen allein schon die Biografien der letzten regierenden Bourbonen: Karl X. und Louis-Philippe (1773‒1850) gingen zwischen 1789 und 1848 jeweils dreimal ins Exil, wo sie ihre politischen und sozialen Gewohnheiten in beschränktem Rahmen wieder aufnehmen konnten, ohne das Augenmerk von Frankreich abzuwenden. Bereits 1794 hatte der emigrierte Revolutionsgeneral Charles François Dumouriez (1739‒1823) seinen Exilgenossen zu bedenken gegeben:
L'exil, ainsi que toutes les autres positions de la vie humaine, a ses avantages: il nous présente des objets de comparaison, dont nous n'avions jamais eu l'idée ; il nous donne des lumières ; il développe notre énergie par des privations ; il nous rend indulgens et sociables ; il établit entre nous et nos hôtes une expansion de sensibilité et de la bienfaisance. L'homme droit, sage et réfléchi rapporte de ce pèlerinage forcé une somme de vertus mâles et douces, qui le rendent plus propre à servir sa patrie, et le conduisent à une philanthropie universelle, qui diminue les terribles effets de l'égoïsme national.77
Neben der ideengeschichtlichen Auseinandersetzung mit der Revolution und ihrer medialen Verbreitung, neben der weitreichenden politischen Mobilisierung der europäischen Gesellschaften und den Wirkungen der Revolutionskriege gehört die französische Emigrantion zu den prägenden Faktoren europäischer Revolutionserfahrung im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Für die europäischen Gesellschaften wurden die Auswirkungen der Französischen Revolution unmittelbar vor Ort spürbar. Die Emigranten mussten ihr alltägliches Überleben sichern. Sie agierten als Politiker und Diplomaten, als Mittler in kulturellen Transfers. Als Teil größerer Migrationsbewegungen im "Zeitalter der Revolutionen" vernetzten sie sich mit anderen Emigrantengruppen. Sie lassen sich daher nicht, wie in der Wahrnehmung von Revolutionsanhängern und einem Teil der Revolutionshistoriografie, auf eine vermeintliche historische Verliererrolle reduzieren. Vielmehr bot das Exil eine Alternative zur sich radikalisierenden Revolution und stellte eine wechselseitige Herausforderung für die Emigranten und ihre Aufnahmegesellschaften dar.