Lesen Sie auch den Beitrag "Arbiters and Arbitration in Europe since the Beginning of Modern Times" in der EHNE.
Einleitung
Am Beginn seiner ausführlichen Kritik an der Pariser Friedenskonferenz im Anschluss an den Ersten Weltkrieg stellte John Maynard Keynes (1883 1946)[] im Jahre 1920 fest: "Europa ist eine Einheit in sich. Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich und Holland, Rußland, Rumänien und Polen leben miteinander; ihr Aufbau und ihre Kultur sind wesentlich eins". Die europäischen Staaten werden zusammen blühen oder zusammen fallen,1 so die Kernaussage von Keynes Ausführungen. Missbrauchten die Sieger des "Europäischen Bürgerkriegs" ihre Position, um die Besiegten – hier in erster Linie Deutschland und das einstige Österreich-Ungarn – zu zerstören, würden die seismischen Wellen dieses Bebens letztlich auf sie selbst zurückschlagen. Keynes Analyse impliziert das Konfliktpotential zwischen Nationalinteressen und den verschiedenen möglichen Ebenen und Arten von internationaler Interaktion und Kooperation, ein europäisches Spannungsfeld mit langer Geschichte, das natürlich zu der Zeit, als Keynes seine Gedanken zu Papier brachte, von besonderer Brisanz war.
Im Jahr 1920 blickte Europa auf eine lange Historie an internationalen Abkommen, die allesamt zum Ziel hatten, weitere große Kriege zu verhindern, die Bildung neuer Staaten verbindlich festzuschreiben, Revolutionen und soziale Turbulenzen einzudämmen sowie internationale Märkte zu schaffen und zu regulieren. Durch diese internationalen Vereinbarungen sahen sich die europäischen Staaten in vielen Fällen gezwungen, ihre latenten Rivalitäten zu beenden oder zumindest in Schranken zu halten, und doch vermochten die kooperativen Anstrengungen das gelegentliche Aufflackern internationaler Konflikte nicht zu verhindern – nicht zuletzt natürlich, weil Verträge und Bündnisse immer wieder dazu missbraucht wurden, anstelle einer übergeordneten europäischen Ordnung die Interessen einzelner Staaten durchzusetzen. Wie sehr die Europäer angesichts dieser Spannungen in Unruhe gerieten, hing vom Wesen der jeweils herrschenden internationalen Ordnung ab.
Formen der internationalen Ordnung
Politikwissenschaftler unterscheiden mindestens drei verschiedene Typen von internationaler Ordnung: die "anarchische", die "hegemoniale" und die "konstitutionelle" – Begriffe, die hier in einem streng neutralen Sinne zu lesen sind. Keines dieser Systeme hat je in Reinform existiert, vielmehr hat die Verteilung und Ausübung von Macht im europäischen Staatengefüge stets Merkmale aller drei Typen zusammenkommen lassen – mit unterschiedlichen Gewichtungen zu verschiedenen Zeitpunkten.2 Eine "anarchische" oder "Selbsthilfe"-Ordnung3 ist eng verknüpft mit der Idee eines Machtgleichgewichts – ein überaus nebulöser Begriff, der eine ganze Palette an Deutungen zulässt.4 Hier soll darunter die Theorie verstanden werden, dass eine Gruppe von Staaten, die die Freiheit genießen, ihre ureigenen Interessen zu verfolgen, irgendwann einen Punkt erreicht, an dem Gleichgewicht herrscht: eine Verteilung von Macht, bei der kein Einzelstaat und keine Staatengruppe in der Lage ist, die anderen zu dominieren. Das "hegemoniale" System ordnet sich um eine internationale Hierarchie, in der ein tonangebender Staat andere Staaten beschützt und in gewissem Maße lenkt. In manchen internationalen Ordnungen genießen diese "Sekundärstaaten" dessen ungeachtet weiterhin ihre eigene Souveränität, in seiner extremsten Ausprägung aber wird das "hegemoniale" System zum Reich, in dem der dominierende Staat die anderen Akteure in einem solchen Maße unterwirft und beherrscht, dass diese ihre Souveränität einbüßen.5 Eine "konstitutionelle" Ordnung sucht gesetzliche Normen zu etablieren, zu institutionalisieren und für alle Parteien bindend zu machen, um ein stabiles internationales System zu schaffen, in dem Gewalt unter den einzelnen Akteuren geringgehalten oder ganz und gar verhindert wird. Eine "konstitutionelle" Ordnung erlegt der Handlungsfreiheit der Staaten, die sich ihr verschreiben, institutionelle und legale Beschränkungen auf.6
Im Auf und Ab der internationalen Beziehungen in Europa zwischen 1450 und 1950 lassen sich die Grundzüge aller drei Modelle ausmachen, wobei keines davon je voll zum Zuge kam. Die ausgesprochenen Ziele und die nichtausgesprochenen Absichten hinter den Winkelzügen der Diplomatie, den Allianzen und Verträgen, werden vom jeweils herrschenden System und dessen Regeln geprägt – mit welcher Haltung dies geschieht, hat jedoch Einfluss darauf, ob solche internationalen Vereinbarungen innerhalb des etablierten Systems funktionieren oder ob es Versuche geben wird, sie zu verändern. Im modernen Europa bestand die entscheidende Herausforderung für Politiker und Gelehrte im Streben nach dauerhaftem Frieden und stabiler Sicherheit, einem Streben, das im Verlauf von fünf Jahrhunderten unter dem Einfluss sich verändernder Umstände natürlich auch die Rolle und den Zweck von Allianzen und Verträgen verändern musste. Von maßgeblicher Bedeutung für dieses Unterfangen war die Idee eines Völkerrechts und die Frage, in welchem Umfang internationale Vereinbarungen sich diesem Recht unterzuordnen haben und bis zu welchem Grad sie geeignet sind, dieses zu kodifizieren und zu institutionalisieren. Mit anderen Worten: Die Geschichte der Allianzen und Verträge von 1450 bis 1950 stellt einen mühsamen und holperigen Weg von einer "anarchischen" hin zu einer stärker "konstitutionellen" Ordnung mit einem gelegentlich nicht gerade kleinen Schuss Hegemonialdenken dar. Die Grundbausteine der europäischen Ordnung waren immer souveräne Staaten, aber übergreifende soziale und politische Entwicklungen haben im Laufe dieser fünf Jahrhunderte dazu beigetragen, die Erwartungen an die Staaten, die innerhalb des internationalen Systems agieren, tiefgreifend zu verändern.
Eine der für die internationalen Beziehungen in Europa entscheidenden Entwicklungen war die allmähliche Entstehung zentralisierter dynastischer Staaten um die Mitte des 15. Jahrhunderts, die es Fürsten erlaubten, die Kontrolle über ihre Völker und deren Ressourcen auszubauen. Im Verlauf der folgenden dreihundert Jahre wurde diese politische Entwicklung obendrein von einem tiefgreifenden kulturellen Wandel begleitet. Innerhalb der Eliten gepflegte Werte wie persönliche Ehre und Ritterlichkeit wurden durch das Erstarken nationaler Identitäten, aufkeimenden Patriotismus und die "Verstaatlichung von Ehre" verdrängt. Diese Entwicklung veränderte die Vorstellungen davon, was im Rahmen internationaler Beziehungen und insbesondere in Kriegszeiten als akzeptables Verhalten gelten konnte und was nicht. Ritterlichkeit als individueller Verhaltenskodex ließ sich nicht eins zu eins auf die modernen Vorstellungen von einem internationalen Recht übertragen, das die Beziehungen zwischen Staaten regeln sollte. Der Umgang mit Besiegten wurde im Mittelalter nicht durch einen übergreifenden Kodex internationaler Gesetzgebung bestimmt, sondern vielmehr durch Traditionen und die jeweils herrschende Vorstellung von angemessenem Verhalten in Kriegszeiten.7 Außerdem besagte die Ideenlehre der Kreuzzüge, dass ganze Völker von der allgemein anerkannten Gemeinschaft ausgenommen waren und folglich nicht durch die ritterlichen Grundsätze des Wappenrechts geschützt wurden.8
Innerhalb des christlichen Europa erfuhren diese Entwicklungen zusätzliche Impulse durch den katholisch-protestantischen Konfessionskonflikt, der einige der bis dahin vorhandenen Schranken in Bezug auf das Austragen bewaffneter Konflikte fallen ließ. Religiöse Lagerbildung war für die Europäer, die sich bereits seit langem mit zwei unüberbrückbaren Spaltungen – der Aufteilung in römisch-katholisch und orthodox innerhalb des Christentums einerseits und der zwischen Christentum und Islam andererseits – herumschlugen, keine neue Erfahrung. Dessen ungeachtet beschleunigte das Aufbrechen der römisch-katholischen Universalkirche, das letztlich in der Säkularisierung der politischen Landschaft endete, einen Prozess, der Europa aus einer rein christlichen Wertegemeinschaft in ein internationales System aus vielen konkurrierenden Teilen verwandelte.9 Die Friedensverträge von Utrecht von 1713 waren die letzten, in denen die europäischen Staaten kollektiv als Res Publica Christiana10 bezeichnet wurden, auch wenn im Aachener Frieden von 1748 schon noch von einem "christlichen, universellen und dauerhaften Frieden ... und einer aufrechten und beständigen Freundschaft" die Rede sein sollte.11 Das System aus miteinander konkurrierenden souveränen Staaten, das hier im Entstehen begriffen war, erschien vor allem deshalb so erbarmungslos, weil staatliche Rivalität von ideologischen Differenzen – religiösen und später nationalen – überlagert waren. Die Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhunderts – der Abbau von Privilegien, der Ausbau des Staates, die Herausbildung von Zivilgesellschaften, die Emanzipation des Bauernstands und das zunehmende Selbstbewusstsein des Bürgertums, Europas fortgesetztes Expandieren in Übersee und die Herausbildung nationalen Selbstverständnisses – trugen nicht eben dazu bei, derlei Rivalitäten zu verringern. Zusätzlich verstärkt wurden diese durch die wirtschaftlichen und sozialen Probleme von Bevölkerungswachstum und Industrialisierung sowie die ideologischen und politischen Angriffe auf die alte Sozialordnung, die sich in totalitären – linken wie rechten – Ideologien Bahn brachen und den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts den Boden bereiteten.
Durch alles Auf und Ab der internationalen Politik aber haben die Europäer stets versucht, ihrer zerstörerischen, oftmals mörderischen Rivalitäten Herr zu werden oder diese gar zu überwinden, indem sie Versuche unternahmen, individuellen Konflikten mit normativen Mitteln beizukommen. Im Zentrum solcher Bestrebungen standen die Bereinigung von Konfliktursachen, die Zügelung der zwischenstaatlicher Rivalität innewohnenden Gewaltbereitschaft und die Regulierung des Verhaltens der Kombattanten in Kriegszeiten. Es galt, das reibungslose Funktionieren wirtschaftlicher und sozialer Beziehungen einvernehmlich zu garantieren und Einzelpersonen und Gruppen im transnationalen Kontext zu schützen. Die entsprechenden Vereinbarungen unterschieden sich darin, ob und inwieweit sie die "anarchische" internationale Ordnung, in der die Vertragsparteien operierten, wiederspiegelten oder gar festigten, oder ob sie mit der Vergangenheit zu brechen und das System mitsamt des darin enthaltenen Beziehungsgeflechts zu erneuern suchten.
Verträge und Allianzen in einer "anarchischen" Ordnung
Besonders aufschlussreich in diesem Zusammenhang sind allgemeine Friedensabkommen, die die gesamteuropäische Ordnung zu gestalten versuchen. Zu diesen gehören der Westfälische Friede von 1648, die Vereinbarungen aus dem Wiener Kongress im Jahre 1815 und der Pariser Friedenskonferenz von 1919 sowie die Friedensvereinbarungen von 1945. All diese Abkommen betonen das Souveränitätsprinzip, das von 1648 vielleicht aber deutlicher als alle anderen. Auch wenn hier die Zusicherung staatlicher Souveränität in gewissem Maße als Reaktion auf die bestehenden religiösen Konflikte jener Zeit zu sehen ist, namentlich als Versuch, solche Fragen der nationalen Gerichtsbarkeit zu überantworten, gilt das "Westfälische System" – das auf einem anarchischen System unabhängig agierender Staaten fußt – bis heute als Fundament aller internationalen Beziehungen.12 Teil all dieser Vereinbarungen waren gewisse territoriale Neuordnungen, mit denen neuen Machtverhältnissen Rechnung getragen, beziehungsweise der Expansion bestimmter Staaten entgegengewirkt werden sollte. Ersteres war eines der Hauptziele im Jahr 1815 als Russland über Kongresspolen herrschte, und auch 1919–1920 als der Zerfall der Reiche Zentral- und Osteuropas durch die Anerkennung der Nachfolgerstaaten praktisch festgeschrieben wurde. Letzteres stand – ebenfalls 1815 – hinter der Schaffung des Königreichs der Vereinigten Niederlande und der Machtausdehnung Preußens und Österreichs in Italien, durch die Nord- und Mitteleuropa vor einem potentiellen Wiederaufleben der französischen Militärmacht geschützt werden sollte. Es war übrigens auch eines der Ziele der deutschen Teilung im Jahre 1945. Nun mögen Friedensverträge wie diese, die jeder für sich einem europäischen Blutbad ein Ende setzten, gewisse Veränderungen am internationalen System vornehmen oder es auch ganz und gar umgestalten, aber ob und wie ein Vertragssystem funktioniert, wird von den Haltungen, Vorstellungen und Standpunkten der politische Akteure bestimmt, die daran beteiligt sind. Es ist keine Frage, dass jede internationale Ordnung überleben und Frieden und Sicherheit aufrechterhalten kann, wenn ihre einzelnen Akteure Zurückhaltung üben und die Bereitschaft zeigen, an ihr mitzuwirken,13 doch oft hält dieser Zustand nicht allzu lange, dann beispielsweise, wenn Staatenlenker oder die öffentliche Meinung in einem besiegten Staat sich durch ein Friedensabkommen benachteiligt oder gekränkt fühlen und so zu "revisionistischen" Mächten werden, die eine erneute Überprüfung und Abänderung (Revision) der Vertragsbedingungen anstreben. Das traf auf Frankreich nach 1815 ebenso zu wie auf Deutschland nach dem Versailler Vertrag von 1919 und Ungarn nach dem Vertrag von Trianon im Jahre 1920. Damit nicht genug kann kein allgemeiner Friedensvertrag vorwegnehmen, erst recht nicht kontrollieren, wohin sich die politischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten sowohl innerhalb der Vertragsparteien als auch global entwickeln werden, so dass sich schlussendlich sogar Staaten, die eine bestimmte internationale Ordnung einmal angenommen hatten, am Ende gegen diese stellen können. Es gibt zum Beispiel die Auffassung, dass 1815 nationalistische Strömungen und Ideen in Europa weder so tiefverwurzelt noch so verbreitet waren wie einst gedacht14 und erst später Fuß gefasst haben. Das 1815 in Wien etablierte internationale System wurde jedenfalls im Verlauf der folgenden sechzig Jahre ausgehöhlt durch das Aufkeimen nationalistischer Bewegungen und die Anforderungen und Errungenschaften nationaler Annäherung einerseits und durch ein durch das wirtschaftliche Wachstum bedingtes Streben nach mehr sozialer Gerechtigkeit andererseits, das nicht selten revolutionäre Tendenzen zeigte.
Unter derlei im Fluss befindlichen Umständen hängt die Lebensdauer jedes Vertragssystems in hohem Maße von der Bereitschaft der einzelnen Staaten ab, angesichts neuer Herausforderungen flexibel zu reagieren und strategische Zurückhaltung zu üben, wenn sie es mit neuen Umständen und Gelegenheiten zu tun bekommen. Die meisten Staaten waren an irgendeinem Zeitpunkt ihrer Vergangenheit versucht, Gewalt einzusetzen oder anzudrohen, um ihre Position innerhalb des internationalen Systems zu verbessern. In anderen Fällen aber wurde auch hierzu auf internationale Abkommen gesetzt um Frieden und Sicherheit innerhalb des Vertragssystems zu erhalten. Die Friedenskongresse von Cambrai (1724–1725) und Soissons (1728) waren dem Versuch gewidmet, gewisse Probleme zu lösen, die sich aus dem Frieden von Utrecht 1713 ergeben hatten. Bei den nach dem Wiener Kongress 1815 von den Großmächten anberaumten Treffen wurden aufgetretene Probleme von allgemeinen Interesse diskutiert und gelöst, mit der Berliner Konferenz von 1884–1885 (Kongokonferenz) sollten die europäischen Kolonialrivalitäten in Afrika unter Kontrolle gebracht werden, die Verträge von Locarno aus dem Jahr 1925 hatten zum Ziel, die internationalen Grenzen innerhalb Westeuropas festzuschreiben und so den Spannungen entgegenzuwirken, die einige der restriktiveren Klauseln des Versailler Vertrags in Deutschland hatten aufkommen lassen. Doch in manchen Fällen beließen es Vereinbarungen nicht lediglich bei Anpassungen des bestehenden Vertragssystems, sondern krempelten dieses um und beschädigten es. Das Münchner Abkommen von 1938 – so sehr es von manchen erleichterten Westeuropäern als neue Friedenschance[] begrüßt wurde – bedeutete das Ende eines auf der Pariser Friedenskonferenz anerkannten souveränen Staates und nährte so möglicherweise auch nationalsozialistisches Expansionsbegehren. Damit nicht genug bildete es einen der Sporen, die die Sowjetunion 1939 zu einer Übereinkunft mit Deutschland trieben, mit der das Schicksal anderer souveräner Staaten – Polen, Estland, Lettland und Litauen – besiegelt wurde.
Auch Allianzen beruhen auf Übereinkommen, die, je nachdem, welchen Zweck sie verfolgen, der Flexibilität eines internationalen Vertragssystems nicht nur förderlich, sondern auch hinderlich sein können. Innerhalb eines "anarchischen" Machtgleichgewichts kann eine Allianz helfen, die Ambitionen eines potentiellen Hegemons oder einer "revisionistischen" Macht in die Schranken zu weisen. Die Quadrupelallianz von 1718 zwischen Frankreich, Großbritannien, Österreich und den Niederlanden suchte den expansionistischen Bestrebungen Spaniens unter Philipp V. (1683–1746) Einhalt zu gebieten, die Quadrupelallianz von 1815 zwischen Großbritannien, Preußen, Österreich und Russland zielte darauf ab, das Wiedererstarken französischer Macht nach dem Zweiten Pariser Frieden zu unterbinden. Die "Kleine Entente" zwischen Jugoslawien, der Tschechoslowakei und Rumänien wurde geschmiedet, um den revisionistischen Tendenzen des durch den Vertrag von Trianon 1920 beschnittenen Ungarn entgegenzuwirken.15 Doch Allianzen können auch aggressive Zwecke verfolgen. Eine Kritik an dem nach 1648 obwaltenden Machtgleichgewicht lautete, dass es nicht allein der wechselseitigen Sicherheit gedient habe sondern auch dazu, den Verbündeten Gelegenheit zu geben, ihre expansionistischen Pläne zu verfolgen. Im 19. Jahrhundert argumentierten Kritiker des "anarchischen" Systems, dass Allianzen lediglich ein zeitweiliger Waffenstillstand seien, eher Instrumente fürstlicher Ambitionen denn stabilisierende Kräfte, und dass in vielen Fällen in böswilliger Weise Geheimhaltung geübt wurde.16 All dem wohnt ein Körnchen Wahrheit inne. Nach 1648 wurden Bündnisse oftmals ausdrücklich auf einen bestimmten Zeitrahmen beschränkt und bestimmten Zielen verschrieben, unter anderem dem, Kompensationen und Reparationen nach einem zu erwartenden Krieg unter den Verbündeten aufzuteilen, oder um die Belastung durch einen Konflikt auf mehrere Schultern zu verteilen, so wurde beispielsweise geregelt, wie viele und welche Arten von Streitkräften die einzelnen Alliierten zu stellen haben. Es stimmt auch, dass anstößige Klauseln manches Mal geheim gehalten oder diskret in Zusatzprotokollen versteckt wurden. Allianzen, die primär aus Gründen europäischer Machtverteilung gerechtfertigt waren, wurden manches Mal mit derselben Begründung wieder aufgelöst: Wenn ein Verbündeter zu mäGroßbritannien zusammentaten.17
Das bisher Gesagte legt die Vermutung nahe, dass das "anarchischen System" wie es im 18. Jahrhundert bestand, immerhin eine gewisse Flexibilität aufwies, zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber schienen Allianzen diese Eigenschaft verloren zu haben. Als sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs die Julikrise von 1914 mit halsbrecherischer Geschwindigkeit zuspitzte, ließen die Verteidigungsbündnisse und -übereinkommen, die Mittelmächte und Entente-Mächte aneinander banden, beiden Allianzen allem Anschein nach wenig bis gar keinen Spielraum, so dass sich hier der Eindruck aufdrängt, als sei das Bündnissystem selbst eine der Ursachen des Konflikts. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass die Regierungen die Entscheidung, einen Krieg zu beginnen, letztlich selbst aktiv gefällt hatten. Um drei Beispiele anzuführen: Deutschland war in keiner Weise vertraglich verpflichtet, Österreich-Ungarn am Beginn der Krise militärisch gegen Serbien beizustehen, sondern nur dazu, "wohlwollende Neutralität" zu wahren. Für die Briten bestand keinerlei Verpflichtung, Frankreich oder Russland beizustehen, sie engagierten sich in dem Konflikt, weil sie zu den Unterzeichnern des (Londoner) Vertrags von 1839 gehörten, der die belgische Neutralität festschrieb. Italien als Teil eines Verteidigungsbündnisses mit Österreich und Deutschland hätte sich mit Fug und Recht aus dem Konflikt heraushalten können, beschloss aber 1915, dass es seinen Interessen entgegenkäme, den Entente-Mächten beizuspringen.
Was Kritikern der diplomatischen Praktiken jener Zeit besonders gefährlich erschien, war die oftmals gepflegte Geheimhaltung im Zusammenhang mit internationalen Vereinbarungen. Das österreichisch-deutsche Bündnis von 1879 (Zweibund) und das französisch-russische Bündnis von 1892 waren zunächst geheim, auch wenn der deutsche Kaiser im Falle des ersten Abkommens darauf bestand, eine Kopie an den Zaren zu senden, um die friedlichen Absichten Deutschlands zu belegen. Zum Nichtangriffspakt zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion aus dem Jahre 1939 gab es ein geheimes Zusatzprotokoll, das die jeweiligen Einflusssphären der beiden Staaten absteckte, und die Demarkationslinie verlief mitten durch Polen.18 Es verwundert wohl kaum, dass diese Art von Geheimdiplomatie auf Kritik stieß. Der erste der im Januar 1918 von dem amerikanischen Präsidenten Thomas Woodrow Wilson (1856–1924)[] in seiner Botschaft an den US-Kongress formulierten Vierzehn Punkte erklärte denn auch folgerichtig, die einzige Basis für internationale Beziehungen seien "Offene Friedensverträge, die offen zustande gekommen sind, und danach sollen keine geheimen internationalen Vereinbarungen irgendwelcher Art mehr getroffen werden, sondern die Diplomatie soll immer offen und vor aller Welt arbeiten."19 Die Satzung des Völkerbunds aus dem Jahr 1919 verschrieb sich dem Ziel, alle internationalen Abkommen offen und transparent zu machen, und erklärte, dass keine internationale Abmachung rechtsverbindlich sei, solange sie nicht beim Sekretariat des Völkerbunds eingetragen und von diesem veröffentlicht worden sei (Artikel 18).20 Diese Klausel findet sich in nahezu gleichem Wortlaut in Artikel 102 der Charta der Vereinten Nationen von 1945 wieder, in dem es heißt: "(1) Alle Verträge und sonstigen internationalen Übereinkünfte, die ein Mitglied der Vereinten Nationen nach dem Inkrafttreten dieser Charta schließt, werden so bald wie möglich beim Sekretariat registriert und von ihm veröffentlicht. (2) Werden solche Verträ21
Hegemoniale Experimente
Die bisher diskutierten Beispiele von Verträgen und Bündnissen basierten sämtlich auf der Grundvorrausetzung, dass die Vertragsparteien souveräne Staaten sind und beim Eingehen solcher Übereinkünfte zwar einen Teil ihrer Handlungsfreiheit aufgeben, dessen ungeachtet aber in der Lage bleiben, ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Die Präambel des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge, das von den Vereinten Nationen 1969 zur Unterzeichnung freigegeben worden war, benennt als einen der Grundsätze beim Abschluss von völkerrechtlichen Verträgen denn auch die "souveräne Gleichheit und Unabhängigkeit aller Staaten". Das aber war in der europäischen Vergangenheit nicht immer so. Immer wieder wurden Bündnisse und Verträge geschlossen, die einen Schritt weg vom "anarchischen" und hin zu einem hegemonialen System darstellten. Solche internationalen Vertragssysteme konnten ganz unterschiedlich aussehen und existierten in verschiedenen Abstufungen. Zu den Bündnissen, in denen das Machtgleichgewicht die Souveränität des sekundären Vertragspartners besonders deutlich zugunsten der Souveränität des Hegemons beschnitt, gehören die Ende der 1790er Jahre zwischen dem postrevolutionären Frankreich und dessen "Tochterrepubliken" geschlossenen. Letztere wurden darin ausnahmslos gezwungen, ihre Armeen aufzustocken, Steuern zu erhöhen, um Frankreich zu dienen, und die eigene Außenpolitik der der Französischen Republik unterzuordnen. Ein Pendant dieser Form von Abkommen findet sich in den Handelskompanien des 17. und 18. Jahrhunderts, europäischen, in erster Linie britischen und französischen Handelsgesellschaften, die Vereinbarungen mit den örtlichen Regierungen trafen, in denen sie als Gegenleistung für die Überlassung von steuern- und handelsgewinnbringenden Territorien militärische Unterstützung, nicht selten sogar die Bereitstellung von eigenen Truppen, zusagten.
Eine "hegemoniale" Allianz kann aber auch so strukturiert sein, dass sie die Unabhängigkeit und Integrität der beteiligten Staaten bewahrt und garantiert. Die Gründung des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses im Jahr 1949 kann man als Machtausweitung der Vereinigten Staaten betrachten, aber sie schuf auch für alle Mitgliedsstaaten bindende wechselseitige Sicherheitsgarantien, ohne dass diese wie einst die französischen Tochterrepubliken oder die Klientelstaaten der britischen Ostindienkompanie besonderen "hegemonialen" Zwängen ausgesetzt waren. Dennoch veranlasste ein seit dem Ende des Ersten Weltkriegs stetig gewachsenes Bewusstsein dafür, dass Europa mehr und mehr Macht abhandenkam und den Großmächten an dessen Peripherie – den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion – zufloss, europäische Politiker, über spezifisch europäische Lösungen für Sicherheit und Zusammenarbeit nachzudenken. Manche sahen in den Verträgen von Locarno aus dem Jahr 1925 den Anbruch eines neuen Zeitalters des europäischen Zusammenwachsens. Der Druck der Depression und der Aufstieg des Totalitarismus ließ diesen Traum zunächst zerplatzen, aber nach 1945 tauchten die amerikanische Führungsrolle beim Wiederaufbau nach dem Krieg (der Marshall-Plan, um nur einen Aspekt zu nennen) und die neuen Herausforderungen durch den Kalten Krieg den westeuropäischen Spagat zwischen Atlantizismus und europäischem Föderalismus in ein neues Licht. Die Gründung des Europarats durch den Vertrag von London, die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und sogar die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) waren allesamt Versuche, die internationale Zusammenarbeit innerhalb Europas zu fördern, sollten aber auch ein Gegengewicht zur potentiellen Übermacht der Supermächte schaffen.22 Dies und die Gründung zuerst der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und später der Europäischen Union wurden parallel mit dem europäischen Zusammenrücken in der NATO betrieben. Später, als letztere sich nach Ende des Kalten Krieges in den 1990er Jahren gen Osten öffnete, machte sie den Mitgliedstaaten zwar durchaus Auflagen wie demokratische Reformen und die Einführung der Marktwirtschaft, diese Bedingungen aber dienten dem übergeordneten Ziel der NATO bei ihrer Gründung: Entwicklung freundschaftlicher internationaler Beziehungen und Förderung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit basierend auf den Grundsätzen der Demokratie bei gleichzeitig garantierter kollektiver Sicherheit für alle Partner. In Bezug auf ihre Strukturen und Ziele kommt die NATO einer "konstitutionellen" Allianz genau genommen genauso nahe wie einer "hegemonialen", denn ihre Strukturen basieren auf den Grundsätzen "institutioneller Garantien". Mit der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages bekennen sich die Mitgliedsstaaten zu wechselseitigem Beistand im Verteidigungsfall, strategischer Zurückhaltung und mittlerweile auch zu politischen und wirtschaftlichen Reformen, die schwer zurückzunehmen sind. Im Unterschied zu klassischen "Machtgleichgewichtsbündnissen" ist dieses Arrangement als langfristige Sicherheit mit gemeinsamen Verhaltens- und Beziehungsregeln angelegt. Das einzige, was es noch vom Status einer "konstitutionellen" Ordnung unterscheidet, ist der Umstand, dass es von seinen Mitgliedern keine Unterordnung unter eine höhere juristische Instanz verlangt.23
Verträge und Allianzen: Auf dem Weg zu einer konstitutionellen Ordnung?
In puncto internationale Beziehungen haben Elemente einer "konstitutionellen" Ordnung im europäischen Denken und Handeln bereits seit vier Jahrhunderten ihren Platz. Eine der Reaktionen auf den Aufstieg mächtiger souveräner Staaten innerhalb der "anarchischen" internationalen Ordnung war die Entstehung einer frühen Form von modernem Völkerrecht im 16. und 17. Jahrhundert. Die Gelehrten der Renaissance – unter anderem den spanischen Dominikanermönch Francisco de Vitoria (1483–1546) – beschäftigte die Frage, ob sich in Europa je ein dauerhafter Friede würde erreichen lassen, wenn der absoluten Souveränität der Herrscher und ihrer Staaten keine Grenzen gesetzt würden.24 Hugo Grotius (1583–1645)[] wurde mit seinem Werk De Jure Belli ac Pacis (1625) zum führenden Denker in diesem Diskurs. Beide, Vitoria und Grotius, waren sich darin einig, dass die Rechte der Völker (ius gentium) sich grundsätzlich von den Naturgesetzen herleiten und daher auf alle Menschen und alle Staaten Anwendung finden. Beide gingen jedoch einen Schritt weiter und untersuchten die Rechtslage zwischen den einzelnen Völkern (ius inter gentes). Grotius entwarf in seinem Werk eine Zukunft, in der alle Staaten sich einem Völkerrecht unterwerfen sollten, das auf einem Vertrag basiere, der, wenn er schon keinen ewigen Frieden garantieren konnte, so doch zumindest den Beginn eines Krieges und die Kriegsführung regelte. Die Idee eines internationalen Rechts oder eines europäischen – ja, weltumspannenden – von internationalen Institutionen gelenkten Systems wurden in den folgenden zwei Jahrhunderten von Größen wie William Penn (1644–1718), Gottfried Leibniz (1646–1716), John Bellers (1654–1725), Charles Irénée Castel de Saint-Pierre (Abbè de Saint-Pierre) (1658–1743), Gabriel Bonnot de Mably (Abbé de Mably) (1709–1785), Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Emer de Vattel (1714–1767) und Immanuel Kant (1724–1804)[] aufgegriffen, erörtert und weitentwickelt. Das grundsätzliche Problem war und blieb jedoch die Frage, wie ein System des internationalen Rechts aussehen konnte, das die Souveränität der einzelnen Staaten – und ihrer Verbündeten – achtete und ihr dennoch übergeordnet sein würde.
Vor allem der Abbé Mably und der Schweizer Rechtsgelehrte Vattel setzten nicht auf ein echtes "konstitutionelles" System, sondern stellten Überlegungen zur Regulierung der Beziehungen zwischen Staaten an – Mably mit seinem Staatsrecht von Europa (Droit Public de l’Europe, 1746), Vattel mit Droit des Gens (1758). Beide, Grotius und Vattel, entwarfen kein Gesetzessystem, das Konflikte gänzlich beseitigen würde, sondern hofften, dass Staaten sich auf internationale Praktiken und Regeln einigen würden, die die Beziehungen zwischen ihnen ordneten – dies vor allem auch in Zeiten des Krieges. Das droit des gens – das Völkerrecht – bestand aus solchen akzeptierten Gepflogenheiten und Regeln. Vattel betonte, dass alle Staaten unabhängig von ihrer Größe in gleichem Maße souverän sind und das Recht haben, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen, allerdings nur, solange die Freiheit anderer dadurch nicht angetastet wird. Für Vattel gab es drei Arten von Völkerrecht: das, was er als "freiwilliges Recht" bezeichnete, Normen, denen sich alle Nationen aus freien Stücken unterordnen und deren oberstes Gebot die Achtung vor der Freiheit der anderen Nationen ist, des Weiteren das "Gewohnheitsrecht" der Völker – "Gewisse Grundsätze, gewisse durch lange Übung geheiligte Gebräuche, die von den Nationen als ein Recht betrachtet werden" und die sich auf "stillschweigende Zustimmung" gründen – sowie schließlich das "vertragliche Recht" oder "Recht der Verträge". "Da es offensichtlich ist, dass ein Vertrag nur die beteiligten Parteien verpflichtet, ist das vertragliche Völkerrecht kein universelles, sondern ein partikulares Recht. Für diese Materie kann man ... nur die allgemeinen Regeln anführen, die von den Nationen bei ihren Verträgen zu beachten sind." Vattel fasst zusammen: "Diese drei Völkerrechtsarten – freiwilliges Recht, vertragliches Recht und Gewohnheitsrecht – bilden zusammen das positive Völkerrecht. Sie entstehen alle aus dem Willen der Nationen: das freiwillige Recht aus ihrem vermuteten, das vertragliche Recht aus ihrem ausdrücklichen und das Gewohnheitsrecht aus ihrem stillschweigenden Einvernehmen."25
Mably setzte sich vor allem mit dem vertraglichen Recht und dessen allgemeinen Regeln auseinander. Seine Arbeit unterschied sich insofern von der Vattels, als er das internationale Recht zu Papier brachte, wie es sich zu seiner Zeit real darstellte, und nicht, wie es einmal aussehen sollte. Seine Arbeit bestand hauptsächlich im Zusammentragen aller wichtigen politischen Verträge und Handelsverträge seit dem Westfälischen Frieden von 1648 und führte seine Leser zu dem, was er als das Staatsrecht (Droit public) Europas bezeichnete – den gesamten Komplex an internationalen Vereinbarungen, der im vorangegangenen Jahrhundert Gestalt angenommen hatte. Mably ließ diesem Werk ein Jahrzehnt später eine Abhandlung über die Prinzipien folgen, denen die internationale Diplomatie zu folgen habe.26 Der Hauptunterschied zwischen Mablys und Vattels Hauptaugenmerk besteht darin, dass Mablys Staatrecht im Prinzip den gesamten Bestand an völkerrechtlichen Vereinbarungen zusammenfasste und den existierenden gesetzlichen Rahmen für die internationalen Beziehungen seiner Zeit festhielt, wohingegen Vattel sich in seinen Droit des gens eher Gedanken darüber machte, wie solche Beziehungen und insbesondere die Kriegsführung innerhalb eines solchen Rahmens gestaltet werden können oder sollten.
Die Arbeiten dieser beiden Zeitgenossen sind deshalb so bedeutend, weil sie zwei unterschiedliche, aber nicht notwendigerweise gegensätzliche Perspektiven zur Rolle internationaler Beziehungen bei der Begrenzung und Eindämmung von Aggression und des Einsatzes und der Auswirkungen von Gewalt in Kriegszeiten verkörpern. Die Gesamtheit der geltenden Verträge und internationalen Vereinbarungen bildete zu allen Zeiten die Grundlage für das Völkerrecht – Mablys Droit public (Staatsrecht), ein gesetzliches Rahmenwerk zur Gestaltung internationaler Beziehungen –, konnte aber auch dazu herangezogen werden, bestehende Praktiken und Gepflogenheiten in der alltäglichen Gestaltung der Beziehungen innerhalb dieses gesetzlichen Rahmens zu kodifizieren oder zu regulieren – Vattels droit de gens. In beiden Fällen bestand das entscheidende Element solcher Vertragswerke darin, dass sie auf wechselseitigem Einvernehmen aller Vertragsparteien gründeten. Auch die Charta der Vereinten Nationen geht genau wie Vattel und Mably davon aus, dass internationales Recht auf einer bislang nicht näher definierten Kombination bereits existierender Verträge basiert, und verpflichtet zur "Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts". Daneben beruft sie sich auf ein übergreifendes Recht der Verträge, das – so die zuversichtliche Aussage seiner Präambel – durch seine "Kodifizierung und fortschreitende Entwicklung des Vertragsrechts die in der Charta der Vereinten Nationen verkündeten Ziele fördern wird, nämlich die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen und die Verwirklichung der Zusammenarbeit zwischen den Nationen".27
Jedenfalls kamen hier zwei Entwicklungen zusammen, die beide im 19. Jahrhundert Fahrt aufgenommen hatten, und lenkten europäisches Denken hin zu neuen Formen von internationalen Vereinbarungen und Zusammenarbeit, die über das übliche machtpolitische Kalkül von Bündnissen und Verträgen weit hinausgingen. Die erste war die europäische Industrialisierung und das dadurch bedingte Wirtschaftswachstum, die beide den Wettbewerb zwischen Staaten erhöhten und nationale, europäische und globale Märkte in ein Flechtwerk aus wechselseitigen Abhängigkeiten mit neuen, immer schnelleren Kommunikationsformen und wirtschaftlicher Spezialisierung drängten. Außerdem wurde durch die Entwicklung neuer Militärtechnologien das Führen von Kriegen immer mörderischer und zerstörerischer. Diese Entwicklungen brachten Regierungen zu neuen Formen von Vereinbarungen zur internationalen Regulierung und Gesetzgebung. Als zweiter Faktor mischte sich in die praktischen Belange einer industrialisierten und später einer postindustrialisierten Welt das zunehmende Gewicht einer öffentlichen Meinung, die in den sich immer rascher entwickelnden Organen der Zivilgesellschaft ihren Ausdruck fand. Die öffentliche Meinung ist nicht notwendigerweise friedfertig, schon gar nicht pazifistisch. Die europäische Vergangenheit ist gespickt mit Beispielen aggressiver Formen von Nationalismus, die ihren Ursprung an der Basis der Gesellschaft hatten. Dennoch sahen Regierungen zunehmend ein, wie wichtig es ist, Menschen von der Gerechtigkeit ihrer politischen Bestrebungen auf internationaler Ebene – einerlei ob diese aggressiv oder friedfertig waren – zu überzeugen. Mögen auch viele dieser Rechtfertigungen von Nationalismus und nationalen Interessen getragen gewesen sein, so gab es doch genügend Beispiele für Appelle an Zivilisation und Gerechtigkeit. Auftrieb erhielten diese durch die Schrecken zweier Weltkriege und eines Völkermords, der die öffentliche Meinung mit genügend Abscheu erfüllte, um die Politiker des 20. Jahrhunderts nach neuen Formen von internationalen Verträgen und Bündnissen suchen zu lassen.
Das 19. und 20. Jahrhundert erlebte daher eine Flut an Vereinbarungen mit dem Ziel, den länderübergreifenden Austausch von Gütern, Menschen und Wissen zu erleichtern und die Folgen eines Krieges auf Kombattanten und Zivilbevölkerung gleichermaßen zu mildern. Für sich genommen waren viele dieser Verträge relativ unspektakulär, aber in ihrer Gesamtheit verkörperten sie einen bedeutenden völkerrechtlichen Fortschritt. Im Jahr 1864 wurde das Rote Kreuz gegründet, zehn Jahre später, 1874, zuerst der Allgemeine Postverein, kurz darauf der Weltpostverein mit Sitz in Bern, der bis heute die internationale Zusammenarbeit der Postbehörden und die Rahmenbedingungen des grenzüberschreitenden Postverkehrs regelt. Seine Mitgliedsstaaten verpflichteten sich, im Falle von Uneinigkeiten ein Schlichtungsverfahren zu akzeptieren. Andere internationale Abkommen – und zwischen 1875 und 1919 gab es davon nicht weniger als 23 – betrafen das Fernmelde- und Transportwesen, das öffentliche Gesundheitswesen, die Aufrüstung und den Einsatz von Sprengstoffen.28 Der Umgang mit der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten, die Behandlung von Kriegsgefangenen[] sowie der Umgang mit kranken und verwundeten Kriegsteilnehmern war Gegenstand der Genfer Konventionen von 1864, 1906, 1929 und 1949. Die Schlussakte der Haager Friedenskonferenz von 1899 enthielt Abkommen zur friedlichen Abwicklung internationaler Streitfälle, über die Gesetze und Gebräuche des Kriegs zu Land und zu Wasser und über die Anwendung der Grundsätze der Genfer Konvention von 1864 auf den Seekrieg.29 Darüber hinaus gab es drei Erklärungen zum Verbot des Abwurfs von Geschossen aus der Luft, des Einsatzes von Giftgas und von Dum-Dum-Geschossen.
Diese Fülle an internationalen Gesetzen brachte Europa näher als je zuvor in die Nähe einer "konstitutionellen" Ordnung, aber noch handelte es sich um eine Gesetzessammlung ohne eine übergreifende und erst recht ohne bindende institutionelle Architektur. Die furchtbaren Erfahrungen der beiden Weltkriege gaben Anlass zu weiteren internationalen Vereinbarungen, die einer "konstitutionellen" Ordnung ein bisschen näherkamen, aber noch immer auf der Souveränität unabhängiger Staaten fußten. Der mit dem Versailler Friedensvertrag 1919 gegründete Völkerbund und die 1945 gegründeten Vereinten Nationen betrachteten souveräne Staaten nach wie vor als unverzichtbare Grundlage einer internationalen Ordnung. In Artikel 2 der Charta der Vereinten Nationen beispielsweise heißt es im 1. Abschnitt: "Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder."30
Dennoch bildeten beide – Völkerbund und Vereinte Nationen – in Kombination mit anderen internationalen Abkommen wie den Vereinbarungen von Bretton Woods aus dem Jahr 1944, die die Grundlage für den Internationalen Währungsfonds und die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (heute Weltbank) legten – den Versuch, die "anarchische" internationale Ordnung zu zähmen. Internationale Verträge und Bündnisse hatten es nicht vermocht, das Blutbad zweier aufeinanderfolgender (und zunehmend gewalttätiger) Weltkriege zu verhindern, der Friedensvertrag von 1919 und die Charta von 1945 sind somit internationale Vereinbarungen, die sich zwar über die souveränen Staaten der Welt stellten, sich aber jeder Einmischung enthielten. Ihr Ziel war die Errichtung einer formalen Sicherheitsarchitektur, die aktiv zu internationalen Vermittlungsbemühungen ermunterte und dem Rückgriff auf Mittel des Krieges entgegenzuwirken suchte. Das Ziel, Staaten von Gewalt abzuhalten und dennoch deren grundsätzliche Unabhängigkeit anzuerkennen, ist ein Balanceakt, der schwierig zu bewerkstelligen war und nach wie vor ist.
Beide, die Völkerrechtssatzung von 1919 und die Charta von 1945, verlangten, dass ihre Mitgliedsstaaten sich in ihren internationalen Beziehungen von bestimmten Leitprinzipien lenken lassen. Die Mitgliedsstaaten des Völkerbunds willigten ein, "bestimmte Verpflichtungen zu übernehmen, nicht zum Kriege zu schreiten; in aller Öffentlichkeit auf Gerechtigkeit und Ehre gegründete internationale Beziehungen zu unterhalten; die Vorschriften des internationalen Rechtes, die fürderhin als Richtschnur für das tatsächliche Verhalten der Regierungen anerkannt sind, genau zu beobachten, die Gerechtigkeit herrschen zu lassen und alle Vertragsverpflichtungen in den gegenseitigen Beziehungen der organisierten Völker peinlich zu achten". Artikel 8 verpflichtete seine Mitgliedsstaaten zu regelmäßigen Gesprächen über die "Herabsetzung der nationalen Rüstungen auf das Mindestmaß", Beschränkungen bei der Herstellung von Munition und Kriegsgerät sowie der Heeresgrößen. In Artikel 12 wird verfügt, dass die Bundesmitglieder potentielle Streitfragen "entweder der Schiedsgerichtsbarkeit oder der Prüfung durch den Rat" (bzw. den internationalen Gerichtshof, dessen Einrichtung in Artikel 14 geregelt ist) zu unterbreiten haben und verlangt, "in keinem Falle vor Ablauf von drei Monaten nach dem Spruch der Schiedsrichter oder dem Berichte des Rates zum Krieg zu schreiten". Außerdem enthielt sich der Völkerbund zwar ausdrücklich aller Intervention in die inneren Angelegenheiten seiner Mitgliedsstaaten, bestand aber auf der Überwachung der Einhaltung des Minderheitenschutzes, wie er im sogenannten "Kleinen Versailler Vertrag", den Polen zusammen mit dem Friedensvertrag unterzeichnet hatte, definiert war, und der, wie Kritiker bemängelten, einen Eingriff in die staatliche Souveränität darstellte.31 Artikel 2 der Charta der Vereinten Nationen verpflichtet ihre Mitglieder, ihre Streitfragen mit friedlichen Mitteln zu lösen, sodass "der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden". Damit nicht genug verlangt sie, dass alle Mitgliedsstaaten darauf verzichten, gewaltsam die Unabhängigkeit oder Integrität anderer Staaten anzugreifen oder Gewalt anzudrohen. In Artikel 55 schließlich verpflichtet sie ihre Mitglieder zur Verbesserung des Lebensstandards und zur Schaffung der Voraussetzungen für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und Aufstieg:
die Lösung internationaler Probleme wirtschaftlicher, sozialer, gesundheitlicher und verwandter Art sowie die internationale Zusammenarbeit auf den Gebieten der Kultur und der Erziehung; und die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion.32
Die Betonung der Menschenrechte in der Charta von 1945 stellt insofern einen Unterschied zur Völkerbundsatzung von 1919 dar, als hier im Unterschied zu den kollektiven Rechten nationaler oder ethnischer Gruppen wie sie im Kleinen Versailler Vertrag betont wurden, individuelle Rechte im Mittelpunkt stehen, was darin begründet liegt, dass sich die Betonung auf kollektiven ethnischen Rechten in der Zwischenkriegszeit als neue Ursache von Konflikten erwiesen hatte und in Mittel- und Osteuropa zur Rechtfertigung irredentistischer Forderungen geworden war.
Die Charta der Vereinten Nationen spiegelt eine entschlossenere Bereitschaft zur Sicherung des Weltfriedens die staatliche Souveränität hintanzustellen als die Satzung des Völkerbunds. Die Mitgliedsstaaten des Völkerbunds unterwarfen sich in der Theorie der übergeordneten Rechtsprechung eines internationalen Organs – seinem Rat oder seinem Gerichtshof –, in der Praxis aber blieb die Handlungsfreiheit einzelner Staaten durch das Procedere des Völkerbunds grundsätzlich unangetastet. Es oblag den einzelnen Mitgliedern des Bundes, dem Rat Streitfragen oder Bedrohungen des Friedens zur Kenntnis zu bringen (Artikel 11), wohingegen die Charta der Vereinten Nationen nicht nur die einzelnen Mitgliedsstaaten, sondern auch den Sicherheitsrat (Artikel 34) ermächtigt, Situationen, die die internationale Sicherheit oder den Weltfrieden gefährden können, der Generalversammlung zur Kenntnis zu bringen und selbständig zu untersuchen. Wenn der Rat des Völkerbunds (wie es meist der Fall war) zu keinem einstimmigen Urteil kam, überließ es Artikel 15 einzelnen Mitgliedsstaaten, "die Schritte zu tun, die sie zur Wahrung von Recht und Gerechtigkeit für nötig erachten", wohingegen die Charta der Vereinten Nationen den Sicherheitsrat ermächtigt, solches zu tun, wozu in diesem Falle auch der Einsatz von militärischer Gewalt gehört (Artikel 41, 42). Hinzukommt, dass die Entscheidungen des Sicherheitsrates für alle Mitglieder bindend sind (Artikel 25), und während der siebente Grundsatz (in Artikel 2) der Vereinten Nationen erklärt, dass diese im Prinzip keine Befugnis zum Eingreifen in Angelegenheiten haben, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören, so geschieht dies doch unter dem Vorbehalt, dass "die Anwendung von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII ... durch diesen Grundsatz nicht berührt" wird, so der Sicherheitsrat diese beschlossen hat. Nach der Völkerrechtssatzung von 1919 wurden gegen Staaten, die gegen ihre internationale Verpflichtung zum Frieden verstießen, zwar automatisch Wirtschaftssanktionen verhängt (Artikel 16), der Einsatz von militärischer Gewalt durch andere Mitglieder des Völkerbunds zur Durchsetzung der Verpflichtungen aber konnte nur auf (einstimmigen) Vorschlag des Rates erfolgen. Artikel 27 der Charta der Vereinten Nationen sieht inzwischen für die Entscheidungen des Sicherheitsrat nur noch die Zustimmung von neun seiner 15 Mitglieder unter Einschluss der fünf ständigen Mitglieder als hinreichend an. Potentiell im Sicherheitsrat vertretene Streitparteien haben sich der Stimme zu enthalten.33
Durch den Einschluss individueller und/oder kollektiver Rechte, dem Beharren auf dem Selbstbestimmungsrecht aller Völker und ihrer Entschlossenheit, in Fragen von allgemeinem Interesse zu intervenieren,34 schöpften somit sowohl die Satzung des Völkerbunds von 1919 als auch die Charta der Vereinten Nationen von 1945 in vielen Aspekten aus der Fülle an internationalen Vereinbarungen, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschlossen worden waren. Allerdings gingen sie weiter und schufen eine übergeordnete institutionelle Architektur zur Behandlung völkerrechtlicher Fragen. Gegenüber älteren völkerrechtlichen Konzepten bedeutete dies einen wichtigen Schritt voran: die Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit durch die Auseinandersetzung mit den strukturellen Problemen internationaler Beziehungen.35 Völkerbundsatzung und Charta knüpften an dieses Ziel zudem nationenübergreifende Fragen der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zusammenarbeit. Obwohl sie den souveränen Staat grundsätzlich unverändert als fundamental legitimierten Akteur internationaler Beziehungen betrachten, stellten beide doch dezidierte Versuche dar, sich mit den komplexen Interaktionen zwischen den verschiedenen Kräften auseinanderzusetzen, die zu Konflikten führten. Sie basierten auf der Erkenntnis, dass kein modernes System internationaler Beziehungen, kein Frieden von Dauer sein kann, sofern er nicht nur friedliche Beziehungen zwischen Staaten aufrechterhält, sondern auch dem Verlangen der Allgemeinheit nach Gerechtigkeit und Wohlergehen nachkommt.36 In ihrer entschiedenen Anerkennung der grundsätzlichen Souveränität aller Mitgliedsstaaten verzichteten die Satzung des Völkerbunds und die Charta der Vereinten Nationen ausdrücklich darauf, eine echte "konstitutionelle" Ordnung zu schaffen, auch wenn Elemente einer solchen Ordnung in hohem Maße in die Vereinbarungen einflossen. Sie mögen daher nicht den Träumen einer Weltordnung entsprechen wie sie Visionären wie Saint-Pierre, Penn oder Rousseau vorschwebte, aber sie hätten – zumindest dem Vorsatz nach, eine "anarchische" internationale Ordnung mit einem gesetzlichen Gerüst und legalem Procedere zu versehen – Grotius, Vitoria, Vattel und ihresgleichen gefallen.