Einleitung
Bis heute gibt es in der Hanseforschung keinen Konsens über die Definition des Phänomens "Deutsche Hanse". Der französische Historiker Philippe Dollinger (1904–1999) beispielsweise beschreibt sie als ein "unorganisches Gebilde mit einer fast nicht greifbaren Struktur", die überdies Schwächen aufweise.1 In der älteren Fachliteratur wird sie oft als eine mächtige Städtegemeinschaft gesehen; andere Autoren begreifen sie als Handelsgesellschaft oder auch nur als Zweckgemeinschaft. Die im Vergleich zu den großen süddeutschen Handelshäusern fehlende hierarchische Struktur der Hanse führte dazu, dass vom "innovatorischen Rückstand" der Hanse gesprochen wurde.2 Diese Auffassung stieß auf heftigen Widerspruch, besaß jedoch vor dem Hintergrund der damals vorherrschenden wirtschaftshistorischen und wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsmeinung, die bürokratisch-hierarchische Organisationsformen als moderne und zukunftsweisende Unternehmensmodelle auffasste, durchaus ihre Berechtigung. In der deutschen wirtschaftshistorischen und sozialwissenschaftlichen Forschung wurde in den letzten Jahrzehnten ein grundlegender Paradigmenwechsel vom strukturgeschichtlichen zum akteurszentrierten Ansatz vollzogen. Dieser Wechsel verspricht nicht nur eine Antwort auf die Frage zu geben, was die Hanse eigentlich war, sondern auch ein weites, bisher wenig beachtetes Forschungsfeld zu eröffnen. Umfangreiche prosopographische Vorarbeiten in den 1990er Jahren haben dazu das Vordringen der Netzwerktheorie in die Hanseforschung ermöglicht.3
Der Netzwerkbegriff in der Hanseforschung
Für die Frage nach der Struktur der Hanse ist zum einen das in den Wirtschaftswissenschaften verbreitete Konzept des Netzwerks als Organisationstyp von Bedeutung, zum anderen der in den Sozialwissenschaften verwandte Netzwerkbegriff als ein komplexes Geflecht von sozialen Beziehungen.4 Aus der Perspektive des wirtschaftswissenschaftlichen Konzepts sind Netzwerke häufig eigenständige Organisationstypen, die zwischen Hierarchie und Markt angesiedelt sind. Kritiker dieses neoinstitutionalistischen Ansatzes begreifen Netzwerke dagegen als eine Mischform zwischen Markt und Hierarchie.5 Gegenüber hierarchisch strukturierten Unternehmensformen kennzeichnet das Netzwerk eine horizontale, kaum formalisierte und sich stetig wandelnde Struktur. Sie kann sich um einen oder mehrere Kerne (hubs) oder Knotenpunkte entwickeln, sei es im Sinne eines Ego-Netzwerkes oder eines heterarchischen Netzes. Bei Ersterem steht der Akteur im Zentrum der Analyse, Letzteres gleicht einem neuronalen Netz mit mehreren Knoten variierender Dichte. Im Gegensatz zum Markt werden die Beziehungen zwischen den Akteuren nicht ausschließlich über Wettbewerb und Preis bzw. Angebot und Nachfrage reguliert, sondern ein Geflecht von sozialen Faktoren wie Verpflichtung, Vertrauen, Gemeinsamkeiten oder Abhängigkeiten bestimmt die gegenseitigen Transaktionen mit.6 Der Zusammenhalt des Netzwerkes wird dabei weniger durch formale Regeln und Verträge als durch eine gemeinsame Kultur und gemeinsame Ziele hergestellt. Die Netzwerktheorie ist zwar ein akteursorientiertes Modell, doch gilt ihr Hauptinteresse der Art und Struktur der bisher von der Forschung vernachlässigten Verbindungen zwischen den Akteuren. Der besondere Vorteil des Netzwerkkonzepts gegenüber der Fokussierung auf Hierarchien oder Märkte beruht auf dem Umstand, dass Dynamiken sowie interaktive Komponenten besser erfasst werden können.7
Das gegenwärtige Interesse gilt insbesondere dem Handelsnetzwerk der Hanse und seinen Wirtschaftsakteuren, während die traditionell stärker betrachtete Hanse in ihrer politischen Funktion als mächtiger Städtebund weitgehend aus dem Fokus gerückt ist. Die Beschäftigung mit der Struktur und Ausdehnung der hansischen Handelsorganisation sowie den Wirtschaftsaktivitäten ihrer Kaufleute greift einen vernachlässigten Aspekt auf, jedoch führt die Neuorientierung auch zu neuen Problemen, die sowohl das Verhältnis von Wirtschaftsorganisation und Städtebund als auch den Aufstieg und den Niedergang der Hanse betreffen.
Die Anfänge der Hanse
Nach Dollinger vollzog sich die Geschichte der Hanse zwischen zwei eindeutig bestimmbaren Zeitpunkten: der Gründung Lübecks im Jahre 1158/1159 auf der einen Seite und dem letzten Hansetag 1669 auf der anderen Seite.8 Diese Vorstellung von Lübeck als Anfang und "Schüssel zur Hanseatisierung des Ostseeraums" ist inzwischen hinterfragt worden.9 Es gibt kein formelles Gründungsdatum der Hanse. Ihre Anfänge reichen weiter zurück als zur Gründung Lübecks, die wiederum das Resultat vorausgehender Expansionsbestrebungen aus dem Hinterland war. Das Entstehen der Hanse ist vielmehr als Ergebnis eines Verflechtungsprozesses von zuvor unabhängigen Handelsströmen zu verstehen.
Ausgangspunkt war das dicht besiedelte und weiterentwickelte Westfalen mit Soest, das sich schon vor der Jahrtausendwende zu einem überregional bedeutenden Warenumschlagplatz für Salz, Metallwaren aus dem östlichen Sauerland sowie Silber aus dem Harz entwickelt hatte. Kaufleute aus der Region zog es seit dem Ende des 11. Jahrhunderts vermehrt an die Nord- und Ostseeküste, um der wachsenden Nachfrage der bis zum Ende des 13. Jahrhunderts stark ansteigenden Bevölkerung in den Städten nachzukommen. Sie tauschten Nahrungsmittel wie Heringe und Getreide sowie gewerbliche Produkte wie Holz, Flachs, Teer oder Wachs gegen Salz, das an der Küste für die Konservierung von Fischen benötigt wurde.10 Seit dem späten 11. Jahrhundert entwickelte sich ein lebhafter Ost-West-Handelsverkehr zwischen dem russischen Nowgorod und Westfalen. Dieser verlief zunächst über Schleswig, das auch Handelsverbindungen nach England unterhielt, als zentralem Warenumschlagplatz.11 In der Folgezeit veranlassten jedoch die geographisch günstigere Lage Lübecks an einer Landenge zwischen Nord- und Ostsee, die mit einem vergleichsweise kurzen Überlandtransport zu überwinden war, sowie die Übernahme des verhältnismäßig freien Soester Stadtrechts, das dadurch auch Eingang in viele andere Städte im hansischen Raum fand, westfälische Kaufleute, den Handelsplatz Schleswig zugunsten Lübecks aufzugeben, zumal sich dadurch ihr Reiseweg deutlich verkürzte.12
Die Anfänge der Hanse können jedoch keineswegs allein mit dem zwischen Westfalen und der Ostsee entstandenen Handelsnetz erklärt werden. Eine gleichermaßen bedeutsame Handelsroute entwickelte sich von Köln ausgehend nach England und Dänemark. Bereits 1157 wurden die Kölner in London mit den ersten Handelsprivilegien ausgestattet. Die ersten lübischen Händler kamen hingegen erst zu Beginn des 13. Jahrhunderts nach England. Sie knüpften zunächst Handelskontakte zu King's Lynn, Hull, Yarmouth und Boston, der Handelsverkehr mit London wurde erst später aufgenommen. Hier trafen sie auf die Kölner Konkurrenten. Nach Auseinandersetzungen zwischen beiden Parteien kam es durch die Vermittlung Dortmunder Kaufleute zu einer Versöhnung, die im Jahr 1281 in der Gründung eines gemeinsamen Londoner Handelskontors mündete.13
Mit dem Aufstieg der Hansestadt an der Trave vollzog sich die Verflechtung des kölnischen und des westfälischen Handelsnetzes. Die Einrichtung Lübecks als Knotenpunkt führte schon bald zu einer starken Expansion nach Norden und Osten bis nach Russland. Dem Frieden von 1161 zwischen Gotländern und Deutschen, der durch die Vermittlung Heinrichs des Löwen (1129–1195) zustande kam, folgte die Gründung der Gotländischen Genossenschaft. Dadurch wurde das gotländische Visby zu einem wichtigen Umschlagplatz für Waren aus Skandinavien und den östlichen Ländern.14 Da dieser Genossenschaft neben lübischen auch westfälische und sächsische Kaufleute angehörten, wird deren Gründung als eigentliche Geburtsstunde der Hanse betrachtet.15
Ausdehnung des hansischen Handelsnetzwerkes
Östliches Europa
Bereits vor der Gründung Lübecks hatten Kaufleute aus Westfalen und anderen Regionen Handelsbeziehungen zu Russland unterhalten, doch verlief deren Expansion zunächst noch im Schatten und unter dem Schutz der Skandinavier, die von dem aufblühenden Markt- und Handelsort Nowgorod angezogen worden waren. Hier bewohnten die deutschen Kaufleute zunächst den von den Gotländern gegründeten St. Olavshof. Erst nachdem ihre Zahl deutlich angestiegen war, eröffneten sie zwischen 1205 und 1207 ein eigenes Hansekontor, den St. Peterhof, den der russische Fürst Konstantin Wsewolodowitsch (1185–1218) mit Privilegien ausstattete. Durch militärische Eroberung, Christianisierung und Kolonisation, die durch Lübeck geplant und vorbereitet worden waren, entstanden im Lauf des 13. Jahrhunderts weitere Handelsstützpunkte entlang der südlichen Ostsee. Die Städte Rostock, Wismar, Stralsund und Greifswald wurden gegründet sowie im Jahr 1201, vom gotländischen Visby ausgehend, Riga.
Nördliches Europa
Nachdem der schwedische König Knut I. (1167–1196) und Heinrich der Löwe 1173 einen Vertrag über die Errichtung von Handelsbeziehungen zwischen Lübeck und Schweden geschlossen hatten, setzte eine starke deutsche Einwanderung nach Südschweden ein. An der Gründung Stockholms um 1251 scheinen deutsche Kaufleute und Handwerker bereits einen erheblichen Anteil gehabt zu haben. Trotz ihres Einflusses auf die schwedische Wirtschaft kam es jedoch nicht zur Bildung einer privilegierten Handelsniederlassung. Im Jahr 1251 zwang der schwedische Adlige Birger Jarl (1200–1266) die deutschen Einwanderer, sich den Gesetzen seines Landes unterzuordnen, und machte sie zu schwedischen Untertanen.16
In Bergen erhielten die deutschen Hansekaufleute zunächst ebenfalls keine Sonderrechte, vielmehr besaßen die "Wintersitzer", also diejenigen ausländischen Kaufleute, die auch den Winter in der norwegischen Stadt verbrachten, die gleichen Rechte und Pflichten wie die Einheimischen. Lediglich die ausschließlich während der Sommersaison in Bergen weilenden Kaufleute waren von gewissen Abgaben und Pflichten befreit. Erst 1294 stattete sie der norwegische König Erik II. (1268–1299) mit bedeutenden Privilegien aus.17 Die Gründung eines Handelskontors in Bergen erfolgte dann fast 100 Jahre nach der ersten Ansiedlung deutscher Kaufleute. Das genaue Entstehungsdatum ist unbekannt, der erste Nachweis datiert aus dem Jahr 1365. Vermutlich war das Bergener Kontor jedoch bereits einige Jahre früher entstanden.18
Westliches Europa
Erst im 13. Jahrhundert expandierten die Hansekaufleute auch nach Flandern. Hier trafen sie auf eine völlig andere Situation als im Ostseeraum. Als sie sich in Brügge niederließen und dort 1252 und 1253 die ersten Privilegien erhielten, war Brügge als führender Warenumschlagplatz für Wolle und Tuche der "Weltmarkt des Westens". Kaufleute von der iberischen Halbinsel sowie aus dem Mittelmeerraum brachten ihre Waren nach Brügge. Wein und Salz wurden aus Frankreich eingeführt, Gewürze aus den südlichen Ländern.19 Italienische Kaufleute machten Brügge überdies zu einem wichtigen Zentrum für Geld- und Kreditgeschäfte; die ersten Ansätze eines modernen Bankwesens fanden sich hier schon im 14. Jahrhundert.20 Für die Hansekaufleute war die Stadt von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Sie kauften hier insbesondere das preiswerte französische und portugiesische Meersalz, für das im Ostseeraum ein hoher Bedarf bestand. In Brügge mussten die deutschen Kaufleute allerdings von Anfang an mit anderen Nationen konkurrieren, die dort Konsulate unterhielten und ähnlich wie das Hansekontor über eine eigene Rechtsprechung verfügten. Konflikte über die Missachtung der Hanseprivilegien entstanden häufig und veranlassten die Hansen mehrmals zur Verlegung des Brügger Kontors, z.B. im Jahr 1280 aus Protest gegen die Privilegien, die Graf Guido I. von Flandern (1226/1227–1305) anderen Ausländern eingeräumt hatte, nach Aardenburg.21
Mit der Einrichtung der Kontore in Nowgorod, Bergen, London und Brügge sowie der Etablierung der Stadt Lübeck als Oberhaupt der Hanse kam der Expansionsprozess zum Abschluss. Obwohl Lübeck eine gewisse Führungsrolle innehatte, sollte die Hanse nicht als sternförmiges Netzwerk mit Lübeck im Zentrum betrachtet werden. Vielmehr stellte die Deutsche Hanse mit ihren Handelskontoren und ihren kleineren Niederlassungen ein heterarisches Netzwerk bzw. ein "vernetztes Netzwerk" mit Knoten unterschiedlicher Dichte dar, um die herum sich wiederum verschiedene lokale und regionale Handelsnetze unterschiedlicher Reichweite gruppierten. Die Lage der Auslandskontore markierte keine geographischen Handelsgrenzen, sondern zeigte vielmehr die äußeren geographischen Punkte des maritimen Handels an, von denen aus Verbindungen zu den regionalen Produzenten und Händlern bestanden: in Bergen beispielsweise zu den Stockfischproduzenten im Norden Norwegens oder in England zu den Wolllieferanten der nordöstlichen und südöstlichen Grafschaften. Brügge war das Zentrum eines Handelsnetzes, dessen Verbindungen über die Salzgewinnungszentren Frankreichs und Portugals bis zum Mittelmeer reichten.
Die Struktur der hansischen Handelsnetzwerke
Angesichts der geographischen Reichweite ihrer Handelsbeziehungen stellt sich die Frage, wie es der Hanse gelang, diesen Handelsraum sowohl zusammenzuhalten als auch zu dominieren. Ein Faktor war die innere Verdichtung des Handelsnetzes durch die Schaffung kleinerer Handelsstützpunkte: Entlang der Ostsee gründete sie neue Städte; im Westen wurden Kontore in bereits existierenden Städten wie Amsterdam oder Dordrecht eingerichtet und kleinere Niederlassungen in französischen und portugiesischen Orten wie Nantes, La Rochelle oder Setúbal etabliert.22 Im Inland schlossen sich zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert immer mehr Städte, deren Handelsverbindungen teilweise bis nach Venedig reichten, dem Handelsnetz der Hanse an.23
Mit der Verdichtung des Warenverkehrs im Hanseraum ging die Spezialisierung der hanseatischen Kaufleute einher. Sie konzentrierten sich zunehmend auf bestimmte Warensorten oder Regionen, sei es auf den Tuch-, Salz- oder Getreidehandel, den England- oder Bergenhandel. Die Kölner Kaufleute etwa handelten vorwiegend mit London und den angrenzenden Zollbezirken Ipswich und Sandwich, die Hamburger Kaufleute dagegen fast nur mit Yarmouth, während preußische Händler King's Lynn und Hull und die lübischen Kaufleute Boston bevorzugten. Darüber hinaus handelte jede Gruppe mit bestimmten, für sie charakteristischen Waren: die Lübecker Bergenfahrer vorwiegend mit Fisch und Tran, die Kölner Englandfahrer vor allem mit Stahl, Rüstungen, Barchentstoffen und Kölner Garn.24
Die Zunahme und Ausweitung der Handelsbeziehungen zog eine Reorganisation der Geschäftstätigkeit nach sich. War der Kaufmann im 11. und 12. Jahrhundert primär ein Wanderhändler gewesen, der mit seinen Waren herumreiste und diese selbst verkaufte, so blieb er jetzt meistens in seinem Kontor (scrivekamere) und führte seine Geschäfte von dort aus. Diese Entwicklung zur Sesshaftigkeit setzte im 13. Jahrhundert ein. Den eigentlichen Transport der Waren übernahm ein Kaufgeselle oder Schiffskapitän, der am Bestimmungsort die Waren an einen Vertreter bzw. Faktor zum Verkauf übergab. Der Kaufmann widmete sich in seinem Kontor vor allem der Korrespondenz, oft unterstützt von Gesellen und Lehrlingen.25 Trotz dieser Entwicklung blieb die Handelsreise auch für den sesshaft gewordenen Fernhandelskaufmann wichtig. Noch im 17. und 18. Jahrhundert befanden sich Kaufleute den Großteil ihres Lebens auf Reisen, zum einen um sich selbst über lokale Marktbedingungen zu informieren, zum anderen, um sich der Vertrauenswürdigkeit ferner Geschäftspartner persönlich zu versichern und neue Kontakte zu knüpfen.
Über die Jahrhunderte hinweg entstanden fünf verschiedene Unternehmensformen:
- Die "Widerlegung" (wedderlegginge) war ein konkretes Handelsunternehmen, bei dem der "Kapitalgeber" und der das Handelsgeschäft aktiv ausführende "Kapitalführer" den Gewinn aus dem Handelsgeschäft teilten.
- Beim "Sendegutgeschäft" (sendeve) bzw. "Kommissionsgeschäft" transportierte ein Kaufmann für einen anderen dessen Gut, wobei die beiden in der Regel bereits in einer Widerlegung miteinander verbunden waren.
- Die "Handelsgesellschaft" bestand aus zwei oder mehr Personen, die Kapitalanteile in die Gesellschaft einbrachten, aber auch selbst am aktiven Handel beteiligt waren. Diese Geschäftsform entstand Anfang des 15. Jahrhunderts.
- Der "Handel auf Gegenseitigkeit" war die bedeutendste Form der Partnerschaft zwischen Hansekaufleuten. Sie bestand darin, dass Kaufleute an verschiedenen Orten jeweils die ihnen zugesandte Handelsware des anderen in eigenem Namen verkauften. Darüber existierten allerdings keine schriftlichen Vereinbarungen, und die Verkäufer waren nicht direkt am Gewinn eines konkreten Handelsgeschäftes beteiligt.26
- Zur Organisation von Fernreisen schlossen sich die Kaufleute zu "Genossenschaften" zusammen, z.B. den Schonen-, Bergen- oder Flandernfahrern.
Obwohl die Kaufleute sich auf bestimmte Handelsregionen konzentrierten, beschränkten sie sich nicht unbedingt auf den bilateralen Handel. Viele der Lübecker Bergenfahrer beispielsweise benutzten die norwegische Stadt als Zwischenstopp für den schwunghaften Handel mit England.27 Bei einigen Großkaufleuten können sogar geographisch sehr ausgedehnte Handelstätigkeiten nachgewiesen werden. So erstreckten sich die Handelsverbindungen des Lübecker Kaufmanns Johann Wittenborg (um 1321–1363) von Flandern, England, Schonen und Livland bis nach Russland. Er handelte vor allem mit flämischen Tuchen, die er in Livland und Russland gegen Pelze und Wachs eintauschte. Diese Waren verkaufte er anschließend in Brügge.28 Der Handel der Brüder Hildebrand (ca. 1370–1426) und Sievert Veckinchusen (ca. 1370–1433) reichte über die Grenzen des hansischen Netzes hinaus bis nach Süddeutschland, Südfrankreich und Venedig.29
"Netzwerke des Vertrauens"
Die räumliche Verdichtung des Handelsnetzes durch die Gründung von Städten und Niederlassungen war eine der Maßnahmen zur Sicherung des Fernhandels. Darüber hinaus gelang es der Deutschen Hanse, eine wettbewerbsfähige Fernhandelsorganisation aufzubauen, innerhalb derer die Kaufleute auf die Ehrlichkeit des fernen Handelspartners vertrauen konnten. Die hansischen Kaufleute entwickelten Strategien, um dieses geographisch weitgespannte Netz an Kontakten über Jahrhunderte hinweg zusammenzuhalten. Vertrauen gilt dabei in der Netzwerktheorie sowie in der Neuen Institutionenökonomie (NIÖK) als eine Schlüsselvariable wirtschaftlichen Handelns. Vertrauen ist eine Funktion, die soziale Komplexität reduziert, indem sie Verhaltenserwartungen generalisiert und so die Voraussetzung für Kooperation schafft.30
Gerade im vorindustriellen Zeitalter, als oft Wochen und Monate vergingen, bevor der Handelspartner Nachrichten über die Ankunft oder den Verkauf seiner Waren erhielt, war ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen Geschäftspartnern notwendig.31 Der engeren und weiteren Familie wurde in diesem Zusammenhang ein besonderer Vertrauensvorsprung eingeräumt, weil diese Beziehungen nicht allein wirtschaftlicher Natur, sondern zusätzlich durch Blutsverwandtschaft und Heirat in ein Netz von moralischen Verpflichtungen eingebunden sind. Die transnationale Handelsorganisation der Hanse entstand durch die Niederlassung von Familienmitgliedern an wichtigen Handelsplätzen. So etablierten sich u.a. Mitglieder der Soester Familienverbände der Tarras und Lensendick in Preußen, Brügge und Antwerpen.32 Die Auffassung, nach der Familienmitglieder als die zuverlässigsten Handelspartner galten, war allerdings nicht unumstritten, denn Neffen, entfernte Verwandte oder Fremde wurden durchaus gegenüber den eigenen Kindern bevorzugt, wenn Erstere sich als geeigneter und vertrauenswürdiger erwiesen. Familienmitglieder waren keineswegs immer zuverlässig, wie das Beispiel der Brüder Hildebrand und Sievert Veckinchusen zeigt: Durch unvorsichtige Spekulationen brachte Hildebrand das Familienunternehmen in Schieflage und landete im Schuldgefängnis.33 Schon im ausgehenden Mittelalter bestand das hansische Handelsgeflecht daher nicht mehr ausschließlich aus Familienmitgliedern. Für den Danziger Kaufmann Johann Pisz (1421–1454) konnten beispielsweise insgesamt 40 Handelspartner nachgewiesen werden,34 zu Beginn des 15. Jahrhunderts für Hildebrand Veckinchusen sogar mehr als 1.100 Personen.35 Entgegen der verbreiteten Meinung, nach der Geschäftskontakte mit Fremden in der Hansezeit keine Rolle spielten,36 soll daher festgehalten werden, dass diese weitreichenden Handelsbeziehungen nicht ausschließlich auf Familienbanden beruhten.
Andere Faktoren, wie Reputation, Verlässlichkeit, Reziprozität sowie die Einbindung in ein wechselseitiges Geflecht von Abhängigkeiten und Verpflichtungen ersetzten Bluts- und Familienbande. Die hansische Ausbildungstradition trug dazu bei, ein Reservoir an verlässlichen Partnern heranzuziehen und gleichzeitig die transnationale Expansion zu fördern. Ein Lehrling verbrachte in der Regel seine Lehrzeit bei einem befreundeten oder verwandten Kaufmann. In den letzten Jahren seiner Lehrzeit oder nach Beendigung seiner Lehre wurde er als Kaufgeselle in die Ferne geschickt, wo er die lokalen Handelsverhältnisse und Eigenarten kennenlernte. Viele Lehrlinge verbrachten beispielsweise ihre letzten Lehrjahre im Londoner Handelskontor.37 Dem Lehr- oder Weiterbildungsaufenthalt in der Fremde folgte der Einstieg als Juniorpartner, bevor sich der Jungkaufmann als Firmeninhaber etablierte. Als Kaufgeselle und Juniorpartner baute der Jungkaufmann seine Reputation auf. Blieb er in der Fremde, so wurde er für die Familie oder den ehemaligen Lehrherrn in der Heimat ein wichtiger Partner, der die lokalen Marktverhältnisse überblickte, rasch und flexibel auf Marktveränderungen reagieren konnte sowie als wichtige Informations- und Kontrollstelle fungierte.
Dieses Leben in der Fremde musste nicht von Dauer sein. Hildebrand Veckinchusen beispielsweise verbrachte einige Jahre in Lübeck, bevor er sich in Brügge niederließ. Während seiner Auslandsaufenthalte knüpfte er nicht nur verlässliche Kontakte, die die Grundlage der Expansion seiner Handelstätigkeit bildeten, sondern er erwarb in dieser Zeit auch Kenntnisse der lokalen Handelsbedingungen. Sein Bruder Sievert lebte fast zehn Jahre in Köln, bevor er sich endgültig in Lübeck niederließ. Durch Mobilität, Heirat und die Übernahme wichtiger politischer Ämter schufen die Brüder ein umfangreiches Netz von ihnen persönlich bekannten Handelspartnern, deren Verlässlichkeit sie einzuschätzen wussten.38
Diese expansive Migrations- und Niederlassungspolitik sowie vertrauensgenerierende Strategien waren entscheidende Faktoren für den nachhaltigen Erfolg der Hanse, doch bedurfte es darüber hinaus der Entwicklung eines Systems von Normen und Regeln, die das weiträumige Vertrauensnetz und Kostenvorteile gegenüber Konkurrenten absicherten, wobei Vertrauen prinzipiell eine strategische Entscheidung war und die stete Kontrolle und Einforderung des Vertrauens durch die Handelspartner beinhaltete.39
Transaktionskosten
In den letzten Jahren ist der Erfolg der Deutschen Hanse verschiedentlich auf die Fähigkeit der Hansekaufleute zurückgeführt worden, ihre Transaktionskosten niedrig zu halten. Unter "Transaktionskosten" werden alle Kosten verstanden, die beim Tausch von Waren entstehen.40 Durch das hansische Netzwerk gelang es den Kaufleuten, die Handelsrisiken zu reduzieren und damit die Transaktionskosten zu senken. Die Gründung der Hanse fiel in eine Zeit, in der sich die auf Verhandeln und Vertrauen basierende europäische Kaufmannskultur erst noch entwickeln musste. Die Fernhändler, die vor dem 10. Jahrhundert noch als Einzelpersonen gehandelt hatten, sahen sich in der Fremde Raubüberfällen, gewalttätigen Übergriffen und Mordanschlägen ausgesetzt. Die Entwicklung von formalen Zusammenschlüssen war eine Antwort auf die entstandenen Unsicherheiten und Gefahren.41 Somit gehörte die Schaffung von Institutionen bzw. einem einheitlichen Regelwerk zur Senkung der Transaktionskosten zu den vielfältigen Aufgaben der hansischen Gemeinschaft.
Die Handelskontore und ihre Ordnungen bildeten dabei zentrale Institutionen, die dem Leben der Gemeinschaft nach innen wie nach außen Stabilität und Sicherheit verliehen. Mittels der Institutionalisierung von Verhaltensvorschriften regelten sie das Miteinander, um eine friedliche Verhandlungs- und Tauschkultur, die auf der Ehrbarkeit und Verlässlichkeit der Mitglieder basierte, zu fördern und zu garantieren. Denn Bluts-, oder landsmannschaftliche Bande waren an sich noch keine Garantie für friedfertiges und zuverlässiges Verhalten, zumal mit dem Anwachsen des Fernhandels auch die Zahl der fremden Kooperationspartner stieg, die in das Netzwerk eingebunden werden mussten. In den Hansekontoren wurden hierzu die Normen festgelegt und überwacht.42 Auf diese Weise gewährten sie den Hansekaufleuten Kooperationssicherheit. Nichtkooperatives oder betrügerisches Verhalten bestraften die Kontore, die auch eine eigene Jurisdiktion besaßen, mit Sanktionen wie Ansehensverlust und Ausschluss bis hin zu Geschäftsverlust und strafrechtlichen Maßnahmen. Gegenüber den Mitkonkurrenten verschafften sich die Hansekaufleute durch die Reduzierung von Such-, Mess-, Vereinbarungs- und Durchsetzungskosten, d.h. die Einführung von Qualitäts- und Messstandards, Wareninspektionen, die Erleichterung der Einklagung von Schulden, die Einführung der Individualhaftung etc., einen entscheidenden Vorsprung.43
Neben Verhaltensvorschriften enthielten die Kontorordnungen eine Reihe von Handels- und Seefahrtsregelungen zur Reduzierung des Transportrisikos. So wurde ab der Mitte des 14. Jahrhunderts die Konvoifahrt eingeführt, wenig später auch der Geleitschutz durch Kriegsschiffe auf Fahrten zwischen der Ostsee und den Salzregionen an der französischen und portugiesischen Atlantikküste. Zur Senkung des Havarierisikos wurde die Winterfahrt auf der Ostsee verboten. Dies wirkte sich jedoch auf lange Sicht nachteilig für die Hansekaufleute aus, weil durch den erzwungenen Winteraufenthalt die Kosten in den auswärtigen Häfen stark anstiegen und überdies die Nichthansen im Winter weiter Seehandel trieben.44
Im Zeitalter der Segelschiffe war wegen des hohen Havarie-Risikos und des weit verbreiteten Piratentums die Gefahr hoch, Schiff und Gut auf den langen Fernstrecken zu verlieren. Kaufleute und Reeder erwarben deshalb in zunehmender Zahl anstelle eines eigenen Schiffes nur noch Schiffsanteile.45 Zwischen dem ausgehenden 13. und frühen 14. Jahrhundert stieg die durchschnittliche Zahl der Eigentümer eines Schiffs von zwei auf vier und bis zum 17. Jahrhundert auf 64 Eigentümer bei großen Schiffen. Dafür erwarben vor allem in der späteren Hansezeit Kaufleute und Reeder Anteile an mehreren Schiffen.46 Zur Minimierung des Risikos vertrauten sie ihr Frachtgut auch nicht mehr nur einem Schiff an, sondern verteilten es auf mehrere. So gehörte die Schiffsladung einiger in King's Lynn zwischen 1286 und 1440 registrierter Schiffe nachweislich neun und teilweise sogar mehr Kaufleuten, wobei sich unter den Eigentümern sowohl Mitglieder der Hanse als auch Nichthansen befanden.47
Die Kontore waren nicht allein Regulations-, Kontroll- und Sanktionsinstitutionen, sondern über das formale Regelwerk hinaus zugleich informelle Kommunikations- und Informationsknotenpunkte, an denen Nachrichten über Marktverhältnisse, Schiffshavarien, Kriege usw. zusammenliefen. Hier wurden die Handelsaktivitäten koordiniert und Reputations- und Vertrauensmechanismen generiert. Die Kontore waren nicht die einzigen Informationszentralen. Gasthöfe, Trinkstuben, Gesellschaften besaßen, ähnlich wie die im 17. Jahrhundert entstehenden Kaffeehäuser, nicht allein soziale oder kulturelle Funktionen, sondern waren auch Umschlagplätze für wirtschaftliche Nachrichten.48 Hierdurch verfügten die Hansen über ein vielschichtiges Netzwerk von Überwachungs- und Informationsmechanismen.
Nach außen vertraten die Kontore die Interessen der Mitglieder gegenüber den Landesfürsten und sicherten ihre Privilegien gegenüber Mitkonkurrenten. Sie überwachten die Einhaltung der Zoll- und Abgabefreiheiten, der markttechnischen Vergünstigungen sowie der besitz- und prozessrechtlichen Garantien.49 Zur Durchsetzung ihrer lokalen Handelsinteressen verhängte die Hanse im Konfliktfall Handelsboykotte, durch die sie dem betroffenen Handelsort sowie den jeweiligen Fürsten erheblichen wirtschaftlichen Schaden zufügte. Zu diesem Mittel griff sie verschiedentlich, um ihre Interessen in Brügge bzw. London durchzusetzen.
Die Städtehanse
Soziale und wirtschaftliche Netzwerke sind eingebunden in äußere Rahmenbedingungen und werden durch diese beeinflusst.50 Gegenüber älteren Strukturkonzepten, die den Akteur als passives Objekt von Strukturen betrachten, vermag nach der Netzwerktheorie der Akteur die Rahmenbedingungen durchaus aktiv mitzugestalten. Von diesem Ansatz ausgehend war die Institutionalisierung der Kontore, der Erwerb von Privilegien sowie die Entstehung der Städtehanse Folge und zugleich Ausdruck der Fähigkeit der Kaufleute, die politischen Rahmenbedingungen in ihrem Interesse zu beeinflussen und zu gestalten.
Wurde die Deutsche Hanse früher vor allem als eine mächtige politische Städtegemeinschaft betrachtet, so wird sie in der jüngsten, durch die Netzwerktheorie inspirierten historischen Forschung primär als eine transnational vernetzte Wirtschaftsgemeinschaft begriffen. Dementsprechend beruhte die Fähigkeit der Hanse, effektiv großräumige Warentransaktionen vorzunehmen, auf einer "den Bedürfnissen des Handelsverkehrs im Hanseraum angepassten Netzwerkorganisation".51 Die politische Privilegierung der Hansekaufleute gilt dagegen als zweitrangig, da die Effektivität der Hanse vor allem auf der Anpassungsfähigkeit der wenig formalisierten Struktur der Organisation beruhe.52 Dennoch erscheint es lohnenswert, das Verhältnis von Wirtschafts- und Städtehanse vom Netzwerkansatz her neu zu beleuchten.
Wie oben bereits bemerkt, bewegen sich Akteure nicht nur in einem, sondern in mehreren Netzwerken von recht unterschiedlicher sozialer, kultureller oder politischer Natur. Die Kaufleute saßen in den politischen bzw. administrativen Gremien der Städte oder Vereine und fungierten so als Brücken (bridges) bzw. Verbindungsglieder zwischen verschiedenen Netzwerken. Diese auf Verflechtung bzw. Überlappung separater oder komplementärer Netze angelegten Brücken werden als small world bezeichnet.53 Kaufleute haben sich zu keiner Zeit nur auf eine einzige, sondern immer auf eine Vielzahl von Institutionen gestützt, um den fundamentalen Problemen des Warenaustausches zu begegnen: "Merchants typically used combinations of institutions to solve one problem, but each of these institutions in turn contributed to solving multiple problems."54 Die sesshaft gewordenen Fernhandelskaufleute nutzten die gewonnene Zeit, um sich auf lokaler politischer Ebene zu engagieren. Es war daher naheliegend, dass sie in ihrem ureigenen wirtschaftlichen Interesse nicht nur auf die städtische Wirtschaftspolitik Einfluss nahmen, sondern ebenso die Städte zur Unterstützung ihrer persönlichen Interessen heranzogen.
Vor dem Hintergrund erstarkender Territorialstaaten und der zunehmenden Schwere der Auseinandersetzungen, die der Wandel von der Handelsblockade zum Wirtschaftskrieg im 14. Jahrhundert mit sich brachte, bedurfte das hansische Wirtschaftsnetz der Unterstützung politischer Machthaber und ebenso der Finanzkraft der Städte, um notfalls mit militärischer Gewalt seine Interessen durchsetzen zu können. Die Entwicklung der Hanse "von einer losen Koalition von Kaufleuten zu einem vergleichsweise straff organisierten Städtebund" war dieser Logik nach eine Folge dieses Wandels.55 Dazu ist allerdings anzumerken, dass die Interessen von Kaufmanns- und Städtehanse nicht zwingend deckungsgleich waren. Der Ursprung der Städtegemeinschaft sollte auch nicht ausschließlich als logische Konsequenz der expandierenden hansischen Wirtschaftsgemeinschaft betrachtet werden. Diese Gemeinschaft entstand schon früher infolge der Schwäche der kaiserlichen Gewalt. Es ist Dollinger zuzustimmen, der die Bünde zu keiner Zeit als spezifisch hansisch betrachtet, da es ihnen primär um die Verteidigung politischer Interessen im Kampf gegen die Übergriffe regionaler geistlicher und weltlicher Fürsten ging. Die ersten regionalen Städtebünde entstanden Mitte des 13. Jahrhunderts im dichtbesiedelten Westfalen. Es folgten bald weitere regionale Bünde niedersächsischer und sächsischer Städte sowie der "Wendischen Städte" um 1280. Der letztgenannte Bund ist für die Geschichte der Hanse von besonderer Bedeutung. Ihm gehörten primär die neugegründeten Städte an der Ostsee (Lübeck, Kiel, Wismar, Rostock und Stralsund) sowie Hamburg und Lüneburg an. Zu den Zielen der Städtebünde gehörte der gegenseitige Beistand im Kriegsfall, die Abwehr von Eingriffen der Landesherren in städtische Freiheiten, die Sicherung des Zugangs zu Märkten und der Schutz vor Piraterie.
Hier ergab sich für beide Netzwerke der Kaufmanns- und der Städtehanse eine gemeinsame Schnittmenge, die im Lauf des 14. Jahrhunderts zu einer weitgehenden Kongruenz beider führte, denn mit der Expansion der Handelsnetze waren die Hansekaufleute zunehmend auf die finanzielle und politische Unterstützung der Städtebünde angewiesen. Durch diese Verschmelzung gewann die Hanse die notwendige Stärke, die ihr im Streit um Privilegien, etwa mit Eduard III. (1312–1377) und Richard II. von England (1367–1400) oder den Grafen von Flandern, die Durchsetzung ihrer Ziele ermöglichte. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht gehörten der Städtehanse etwa 200 Städte an, wobei Lübeck das unbestrittene Oberhaupt war. Konflikte in Brügge veranlassten Lübeck im Jahr 1356, Vertreter der Hansestädte zum ersten gemeinsamen Hansetag einzuberufen, der mit der Unterordnung des Brügger Kontors unter die Städtegemeinschaft endete. Innerhalb von 20 Jahren nach dem ersten Hansetag ordneten sich auch die anderen Auslandskontore der Führung der Städte unter.56
Der Niedergang der Hanse
Innere Faktoren
Vor dem Hintergrund des in die Hanseforschung eingegangenen Netzwerkkonzepts erscheint auch das Ende der hansischen Vormachtstellung in neuem Licht.57 Als Blütezeit der Hanse gilt die unmittelbare Zeit nach der Errichtung der Städtehanse und dem siegreichen Stralsunder Frieden von 1370, der geschlossen wurde, nachdem wendische und niederländische Schiffe Kopenhagen zerstört und Schonen von den Schweden erobert worden war. Aus diesem Zeitraum datiert das Ende der räumlichen Expansion, darauf folgte eine Periode zunehmender Reglementierung und der Abschließung nach außen.58 Betrachtet man Kaufmannshanse und Städtehanse um 1370 als zwei weitgehend kongruente Netzwerke, so ist festzuhalten, dass zu diesem Zeitpunkt die größtmögliche gemeinsame Schnittmenge erreicht worden war. Die erfolgreiche Interessenkongruenz von Städte- und Kaufmannshanse konnte langfristig jedoch nicht aufrechterhalten werden, denn die Zielsetzungen dieser beiden Netzwerke begannen sich, auch bedingt durch äußere Einflüsse, gegen Ende des 14. Jahrhunderts allmählich auseinander zu entwickeln.
Die Hanse verstand sich nicht als politische Gemeinschaft, stellte keine staatliche Territorialmacht mit eigenem Heer oder einer Flotte und regulären Einkünften dar. Sie konnte auch nicht als juristische Person handeln. Die Hansetage als einzige gemeinsame Institution fanden nur sehr unregelmä59 Die Hanse begriff sich vielmehr als ein Bündnis von Städten mit "dem Zwecke, dass die Handelsunternehmungen zu Wasser und zu Land den erwünschten und günstigen Erfolg haben und dass ein wirksamer Schutz gegen Seeräuber und Wegelagerer geleistet werde, damit nicht durch deren Nachstellungen die Kaufleute ihrer Güter und ihrer Werte beraubt würden".60 Obwohl die Städtehanse sich als reine Zweckgemeinschaft zur Sicherung und Förderung des Handels sah, überschritt sie die Grenze, die eine Wirtschaftsorganisation von einer Staatsgewalt trennt. Allerdings hat sie diesen letzten Schritt zu einer staatlichen Organisation niemals vollständig vollzogen. Die Stadt Lübeck war somit eine Art "capital without a state".61
Obwohl der Wandel zu einer politischen Einheit nicht vollzogen wurde, ergriff Lübeck Maßnahmen, die nach außen auf Abschließung und nach innen auf Homogenisierung zielten, etwa durch restriktivere Aufnahmebedingungen, nach denen schließlich nur noch in den Hansestädten geborene Kaufleute Mitglieder werden konnten. Eine weitere Einschränkung nahm der hansische Verband um die Wende zum 16. Jahrhundert vor. Angesichts der wachsenden Abhängigkeit kleinerer Hansestädte von ihren Landesherren schloss er deren Kaufleute von Privilegien im Ausland bzw. der Teilnahme an den Hansetagen aus und führte damit gleichsam eine Zweiklassengesellschaft ein.62 Die wachsende Zahl der Vorschriften zur Vereinheitlichung und Sicherung des Handels sowie die Finanzierung von Kriegsschiffen und Kriegen seitens der Städtehanse anstelle einer starken, die Kriegskosten tragenden Territorialmacht erwiesen sich als Bumerang, der die zuvor gesenkten Transaktionskosten wieder in die Höhe trieb.63
Uneinigkeit der Städte untereinander, Widerstand gegen die gemeinsame Ordnung und zunehmende kriegerische Konflikte mit Flamen, Engländern und Russen ließen die Schwächen des Städtebundes deutlich zu Tage treten. In Auseinandersetzungen, etwa im hansisch-englischen Seekrieg, der im Jahr 1469 ausbrach, zeigte sich, dass die Städtehanse der Protektion befreundeter Mächte wie Dänemark und Polen bedurfte. Der Konflikt endete 1472 mit dem Sieg der Hanse über England, der für das Überleben des Städtebundes entscheidend war, obwohl die finanziellen Kosten dieser Auseinandersetzung hoch waren. Doch konnte dieser Sieg die innere Zerrissenheit der politischen Organisation der Hanse, die sich schon lange zuvor angedeutet hatte, nur vorübergehend überdecken.64 Es ist sogar die Meinung vertreten worden, dass der Sieg über die Engländer langfristig eine Modernisierung der Hanse verhindert hätte. Dem widerspricht allerdings, dass nur der Städtebund und nicht das Handelsnetz vom Niedergang betroffen war,65 so erlebte z.B. der Londoner Stalhof zwischen 1468 und 1554 eine Blütezeit.66
Angesichts erheblicher Zerfallserscheinungen wurden auf den Hansetagen im 16. Jahrhundert Reorganisationsanstrengungen unternommen. Sie mündeten im Jahr 1556 in einem Konföderationsvertrag, dem 63 Städte verbindlich zustimmten. Erstmals ernannten die Hansestädte mit dem Syndikus Heinrich Sudermann (1520–1591) einen ständigen Geschäftsführer.67 Auf dem Hansetag von 1554 war bereits eine Neugliederung der Hanse in vier Quartiere mit den Quartierhauptstädten Lübeck, Köln, Braunschweig und Danzig vorgenommen worden. Diese Reformbestrebungen lassen sich als Schritt "in Richtung auf eine städtische Landfriedens- und Rechtskorporation" werten, der jedoch zu spät kam.68
Äußere Faktoren
Den Niedergang der Hanse verursachten innere wie äußere Faktoren. Neben der Abschließung nach außen trugen auch die gesamtwirtschaftlichen Veränderungen in Europa zum Auseinanderdriften der Interessen von Kaufmanns- und Städtehanse bei. Die zunehmenden Verhaltens- und Handelsvorschriften erhöhten nicht allein die Transaktionskosten, sondern waren oft nur schwer gegen die Interessen der einzelnen Kaufleute durchzusetzen.69 In den Niederlanden etwa hatte anfangs gerade die relative Offenheit des hansischen Handelsnetzes entscheidend zur Expansion entlang der Atlantikküste bis nach Portugal und ins Mittelmeer beigetragen.70
In Russland schloss Ivan III. (1450–1505) das Nowgoroder Kontor, nachdem er 1494 die Stadt erobert hatte. Er ließ außerdem die deutschen Kaufleute im Hansekontor verhaften und ihr Eigentum konfiszieren. Im Westen schwächte der Aufstieg der Niederländer und Engländer die Hanse. Auch die Entdeckung der Neuen Welt zog insgesamt eine Verlagerung der großen Seehandelswege und Seehandelszentren nach sich. Lissabon und Cádiz entwickelten sich zu den wichtigen Zentren im Handel mit der Neuen Welt. Brügge dagegen wurde als internationaler Handelsplatz im Westen von Antwerpen und nach 1585 von Amsterdam abgelöst. Ebenso verlor Lübeck durch den Aufschwung der nordwesteuropäischen Wirtschaftszentren an Bedeutung für den gesamteuropäischen Handel. Es sank zu einer regionalen Hafenstadt herab, die sich im Ostseehandel der wachsenden Konkurrenz der Niederländer und später der Engländer ausgesetzt sah. Im Gegensatz zu Hamburg und Bremen gelang es Lübeck nicht, sich in das neue atlantische System zu integrieren.
Darüber hinaus gilt die fremdenfeindliche Haltung von Lübeck und Danzig als eine der wesentlichen Ursachen für deren Niedergang. Denn ihren spektakulären wirtschaftlichen Aufstieg verdankten Amsterdam und später London den Religionsflüchtlingen des 16. Jahrhunderts.71 Sepharden und flämische Protestanten, die nach dem Fall Antwerpens im Jahr 1585 nach Amsterdam und London flohen, führten Kapital mit sich und pflegten internationale Handelsverbindungen, die bis in die Neue Welt reichten. Auch die Stadt Hamburg verdankte diesen Flüchtlingen ihren wirtschaftlichen Aufstieg.72
Die jüngere Forschung führt den Niedergang der Hanse auch auf das Fehlen eines Banksystems nach dem Vorbild Antwerpens, Amsterdams und Londons zurück.73 Dies habe die Konkurrenzfähigkeit der Hansekaufleute gegenüber den Atlantikkaufleuten vermindert. Biographische Forschungen zu hansischen Kaufleuten haben jedoch gezeigt, dass sie als Kapitalgeber von Fürsten und Königshäusern durchaus über erhebliche finanzielle Ressourcen verfügten.74 Ebenso ist darauf hinzuweisen, dass sich die finanzstarken oberdeutschen Häuser im späten 16. Jahrhundert gleichfalls im Niedergang befanden, obwohl in Augsburg bereits im Jahr 1556, noch vor Hamburg, die erste Bank auf deutschem Boden gegründet wurde. Die fehlende Einrichtung eines Banksystems erscheint somit als Argument nicht überzeugend. Andere Untersuchungen haben auf den breiten Strom von deutschen Migranten hingewiesen, die sich im "goldenen Zeitalter" der Niederlande zwischen 1585 und 1670 vor allem in Amsterdam niederließen.75 Städte, wie Bremen, Köln und die ländlichen Textilregionen Westfalens, des Bergischen Landes oder des Münsterlandes unterhielten seit dem späten 16. Jahrhundert intensive Handelsbeziehungen zu den Niederlanden, insbesondere zu Amsterdam. Diese basierten im Wesentlichen auf Familiennetzwerken zwischen ortsansässigen und emigrierten Familienmitgliedern, die in Amsterdam oder Rotterdam Handelshäuser gegründet hatten. Es wäre lohnenswert zu prüfen, in welchem Umfang die Kaufleute seit dem 16. Jahrhundert ihren wachsenden Finanzbedarf in den führenden Finanzplätzen Antwerpen und später Amsterdam deckten, so dass für sie keine Notwendigkeit bestand, in den alten Handelszentren der Hanse, die zudem an internationaler Bedeutung verloren hatten, eigene Finanzinstitute aufzubauen. Die Niederlassung an den führenden Handelsplätzen hatte außerdem einen doppelten Vorteil: Neben dem Zugang zum Finanzmarkt eröffnete sie den Handelsfamilien zugleich die neuen transatlantischen Märkte.
Die Geschichte der Städtehanse sollte nicht als kontinuierlicher Niedergangsprozess gedeutet werden. Ähnlich wie die Kaufmannshanse unterlag das Städtenetz im Laufe der Zeit sowohl durch den Einschluss als auch den Ausschluss bzw. den freiwilligen Verzicht einiger Städte auf die Mitgliedschaft erheblichen Veränderungen.76 Divergenzen zwischen den Beschlüssen der Hansetage und den Auslandskontoren sowie den Interessen der einzelnen Kaufleute und der Städte hatten schon seit Langem zu Koordinationsproblemen und Zerreißproben für die hansische Netzwerkorganisation geführt. Letztlich verursachte das Auseinanderklaffen der wechselseitigen Interessen den Niedergang. Der auf Privilegien und Monopolen beruhende Handel hatte sich ebenfalls überlebt. Der Hanse gelang es in ihrer Gesamtheit nicht, sich dem veränderten europäischen Wirtschafts- und Machtgefüge anzupassen. Doch auch die Städtehanse zerfiel nach der Schließung des Stalhofs in London im Jahr 1598 und dem letzten Hansetag im Jahr 1669 nicht endgültig.77
Die individuellen Handelsnetze der hansischen Kaufleute und ihrer Familien reagierten auf diesen Wandel ausgesprochen mobil. Sie verlagerten ihre Handelsbeziehungen nach Westen, zunächst in die Niederlande und seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, mit dem Niedergang des niederländischen Imperiums, zunehmend nach London. Elberfelder sowie Bremer Kaufleute, die im 16. Jahrhundert enge Handelsverbindungen nach Amsterdam unterhielten, schickten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ihre Söhne und Neffen vermehrt nach London, die wiederum von dort aus Handelsbeziehungen in die Neue Welt, nach Russland und Indien aufbauten.78 Hier, wie auch insgesamt gesehen, gründete sich der Erfolg der Hanse zum einen auf die anfangs niedrigen Informations- und Transaktionskosten der wenig formalisierten Organisationsstruktur und zum anderen auf die durch Migration und die Niederlassung von Familienmitgliedern und Verwandten geschaffenen transnationalen Handels- und Vertrauensnetze. Diese informellen Netzwerke der Kaufmannsfamilien überdauerten die Hanse. Letztlich ist der Erfolg der Rothschilds oder der Hamburger Kaufmanns- und Bankiersfamilie Schröder auf diese kaufmännische Familienpolitik zurückzuführen. Diese war weder ein ausschließlich hansisches noch deutsches Phänomen, sondern bei vielen großen europäischen Handels- und Bankiersfamilien zu finden, z.B. den Barclays, den Thorntons oder Neufvilles.
Durch die Definition der Deutschen Hanse als Netzwerk bzw. als Geflecht von Netzwerken erscheint sie nicht mehr als rückständige Organisation, sondern als ein Erfolgsmodell, das über mehr als fünf Jahrhunderte die Geschichte des Ost- und Nordsee-Raums prägte. Ob man sie deshalb als "Organisationsform mit Zukunft", als "model for modern interregional cooperation" für das heutige Europa oder gar als "heimliche Supermacht" betrachten kann, soll dahingestellt bleiben.79 Die Fokussierung der Netzwerkanalyse auf Akteure und deren Beziehungen ermöglicht es aber, die Entstehung und den Zerfall der Hanse sowie das Verhältnis von Wirtschaftshanse und Städtehanse als ein sich in variierenden Teilmengen überlappendes, heterarchisches Netzwerk, das auf lokaler wie transnationaler Ebene vielfach miteinander verflochten war, neu zu definieren. Dieser Zusammenhalt beruhte zwar nur auf schwachen Verbindungen, aber gerade diesen verdankte die Hanse ihre Langlebigkeit,80 bevor sie durch interne Auseinandersetzungen, externe Veränderungen sowie das Erstarken der frühneuzeitlichen Territorialherrscher wieder zerfiel. In Teilbereichen überlebte das wirtschaftliche und politische Netzwerk der Hanse jedoch noch länger, so im Dreibund Hamburg–Bremen–Lübeck,81 in den konsularischen Vertretungen, den transnationalen Familien-Handelsnetzen, dem hansischen Ausbildungssystem und schließlich der hansischen Kaufmannskultur – einer europäischen Handelskultur, die auf Ehrbarkeit, Reputation und Vertrauen basierte und kaufmännisches Verhalten bis in die Neuzeit prägte.