Aufklärung im jüdischen Stil
Im 18. Jahrhundert erfuhr die traditionelle jüdische Gesellschaft eine Zersplitterung, deren Hauptsymptom der Verfall der rabbinischen Autorität war und die in eine kulturelle Krise mündete. Der Versuch, auf diese Kulturkrise eine Antwort zu geben, führte zur Herausbildung konkurrierender Bewegungen – Haskalah, Chassidismus, Traditionalismus der Anhänger des Rabbi Elia ben Salomo (1720–1797), des Gaon von Wilna (die Mitnaggedim oder "Gegner" [des Chassidismus] genannt wurden) –, deren Zusammenspiel als Hauptphänomen der jüdischen Moderne zu betrachten ist.
Die Haskalah – wörtlich "Erziehung" (dem Wortstamm nach auf das hebräische "s-k-l", also "mit Verstand handeln", bezogen) – stellt eine Zäsur innerhalb der jüdischen Geschichte dar, die weit über ihren geistigen Geburtsort Preußen hinaus wirkte und in einer zweiten, vielfältigeren Etappe die osteuropäischen Gebiete erreichte. Fungierte der Berliner Philosoph Moses Mendelssohn (1729–1786)[], der den Pentateuch, die fünf Bücher Mose, in die deutsche Sprache übersetzte, als Vorreiter, so fing der mit den neuen Ideen einhergehende europäische Prozess der Emanzipation in rechtlicher Hinsicht in Frankreich an: Am 27. September 1791 bekamen die Juden von der Assemblée constituante das volle Bürgerrecht zugesprochen.
Zwar existierten die die aschkenasische Welt vereinenden traditionellen Lebensarten und -gewohnheiten weiter, die den Raum strukturierten und der vergehenden Zeit einen einzigartigen Rhythmus verliehen,1 sodass für einen Teil der jüdischen Bevölkerung soziales und religiöses Leben eng verbunden blieben. Ein anderer Teil aber bekämpfte Religion und Tradition und warb für eine neue Definition der jüdischen Gesellschaft.
Die Haskalah bewirkte, dass die Moderne von der jüdischen Minderheit als regelrechte Herausforderung empfunden wurde. Viele brennende Fragen stellten sich: Aufrechterhaltung oder Verlust der traditionellen Lebensweise, Entscheidung für oder gegen "Emanzipation" und "Assimilation" (führt nicht Ersteres notwendigerweise zu Letzterem?) sowie die Frage nach der Anpassung der Religion und der religiösen Praxis an die gesellschaftliche Modernisierung. Die jüdische Gemeinschaft musste sich für eine Integrationsform entscheiden.
Da die jüdische Bevölkerung in Frankreich oder Deutschland eine kleine, in Zentral- und Osteuropa dagegen zahlenmäßig eine recht starke Minderheit bildete, nahm die Haskalah zwangsläufig verschiedene Formen an. Die Bewegung kannte verschiedene Etappen, in denen die ursprüngliche Lehre und ihre Praxis nuanciert, angepasst und revidiert wurden.
Überall war jedoch das Ziel der Haskalah, die Juden aus dem religiösen Ghetto herauszuführen, die jüdische Welt in die nichtjüdische Welt zu integrieren und die jüdische Absonderung zugunsten nichtjüdischer Bestrebungen, Sitten und Kenntnisse aufzugeben. Eine solche Integration setzte die Modernisierung und das Ende der jahrhundertealten Verschmelzung von sozialen und religiösen Komponenten voraus.
Die Haskalah strebte ein doppeltes Ziel an: die Aufklärung der Juden als Menschen und der Juden als Juden. Die jüdischen Aufklärer propagierten ein neues Verhalten der Welt und den Anderen gegenüber, das darin bestand, nunmehr den Akzent auf die soziale Wirklichkeit und die Verbesserung des jüdischen Schicksals im Exil zu legen. Die bürgerliche Zurücksetzung der jüdischen Minderheit musste aufgehoben werden. Wichtig war, dabei die konkrete Situation zu berücksichtigen und zur Aufwertung des sozialen Lebens der Juden beizutragen, um aus ihnen gleichwertige und gleichberechtigte Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft zu machen und zugleich das Judentum auf die Welt hin zu öffnen. So zielte der zweite Teil des Programms auf ein neues, zeitgemäßes theologisch-religiöses Selbstverständnis. Die von den Maskilim, den Befürwortern der Haskalah, geübte Kritik betraf einzelne spezifische Aspekte der religiösen Tradition, insbesondere die Sitten und Rituale, die die Eingliederung der Juden in die Gesellschaft verhinderten. Der Ursprung der Spannungen zwischen dem orthodoxen Lager und dem Lager der "aufgeklärten Juden" lag also in der Reflexion über den Stellenwert und die Rolle der Religion in der modernen jüdischen Gesellschaft.
Der durch die Haskalah in Gang gesetzte Wandlungsprozess ist auch in einem größeren Zusammenhang zu sehen, da er mit den allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen der Industrialisierung und Urbanisierung sowie der Verbürgerlichung einherging. Mit der Auflösung der traditionellen Strukturen jüdischer Gemeinschaften und der daraus resultierenden Fragmentierung oder gar Individualisierung entstanden neue Formen jüdischen Lebens. Die Säkularisierung gehört zu den am leichtesten erkennbaren Folgen. Die Säkularisierung und Akkulturation betrafen alle Bereiche des jüdischen Lebens: Die Beerdigung2 und die Beschneidung3 wurden reformiert, und selbst die Entwicklung der Synagogenarchitektur spiegelte den Wandel wider, indem die Synagoge – zuvor nicht nur Bethaus, sondern auch Lehrhaus und profanes Zentrum des Gemeindelebens – zum sakralen Gotteshaus wurde.4
In Deutschland, wo die Mendelssohn'sche Bewegung die Voraussetzungen für den nachfolgenden Emanzipationsprozess schuf, waren die ersten Maskilim gewissermaßen auch die letzten, weil die Haskalah in Westeuropa generell zur Entstehung assimilierter "Bürger mosaischen Glaubens" führte, während sie in Osteuropa zur Basis für die Entstehung eigenartiger Bewegungen wurde. Nicht alle Tendenzen hatten nämlich die bürgerliche Assimilation zur Folge: Das Bemühen, die jüdische Eigenart zu bewahren – das Streben nach nationaler Dissimilation –, gehörte zum Spektrum der Folgen dieses Wandels. Es kam im Zuge dieser Entwicklung überall zur Herausbildung von europäisch-jüdischen Teilkulturen (nach Sorkins Begriff "subculture").5 Die Haskalah führte durch Filiation oder Reaktion zur Entstehung einer beträchtlichen Zahl an Strömungen, mit denen sich das Judentum seit mehr als einem Jahrhundert auseinandersetzt.6
Die Berliner Haskalah
Die Haskalah mit Moses Mendelssohn als Wortführer wird oft ins Zentrum des Wandels gesetzt, der das Judentum in Deutschland spätestens ab der Mitte des 18. Jahrhunderts erfasste. Wie gezeigt wurde, war das gesamte 18. Jahrhundert durch einen progressiven Akkulturationsprozess gekennzeichnet, auch wenn der Traditionalismus das Referenzmodell blieb.7 Dieser Wandel hätte höchstwahrscheinlich auch ohne Mendelssohn stattgefunden, der lange Zeit – unangemessen – als dessen alleiniger Begründer galt.
Nicht zu übersehen ist in diesem Zusammenhang das von italienischen Juden (z.B. aus Livorno) und Amsterdamer Sephardim besonders erfolgreich etablierte, auf Integration und profanem Wissen fußende Modell. Anzuführen wären auch jene Juden aus Bordeaux oder Hamburg, die aktiv und auf anerkannte Art und Weise an den örtlichen Belangen teilhatten, oder diejenigen, die in Freimaurerlogen aufgenommen wurden. Diese Juden, etwa die an den Höfen im deutschsprachigen Raum verkehrenden Financiers, Hoflieferanten und Münzhersteller, die ihr Leben sozusagen in die eigene Hand nahmen,8 gehörten zu einer "halbneutralen Gesellschaft",9 und zwar zu der religions- und ständeneutral neu entstehenden Gesellschaftsschicht von Gebildeten, aus der bald die Befürworter der Haskalah hervorgehen sollten.
Von besonderer Wichtigkeit sind die sozialen Bedingungen, die der Entwicklung der Haskalah-Ideen den Boden bereiteten. Diese Faktoren sind für diese Epoche so kennzeichnend, dass das Verlassen des Ghettos als eine historische Zwangsläufigkeit erscheint.10 In der Epoche des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) veränderte sich nämlich die soziale Struktur der jüdischen Gemeinschaft: Einige wenige für Friedrich den Großen (1712–1786) arbeitende "neue Männer" (Daniel Itzig (1723–1799), Veitel Heine Ephraim (1703–1775), Moses Isaac-Fliess (1708–1776)) kamen zu Wohlstand; sie erreichten allmählich den Status von Parnassim (Gemeindevorsteher) und setzten sich nach und nach in den jüdischen karitativen Einrichtungen durch. Ihre Lebensart näherte sich immer mehr derjenigen der Berliner nichtjüdischen Elite an – ihr "westliches" Aussehen, der allmähliche Verzicht auf Jiddisch zugunsten des Deutschen, die Wahl einer moderneren Erziehung für ihre Kinder waren offensichtliche Beweise dafür.11
Im Jahre 1749 schuf Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) in seinem Lustspiel Die Juden das Modell der aufgeklärten Juden, wobei er sich bewusst war, dass dieses Modell im wirklichen Leben noch nicht existierte. Manche Gebildeten wie Christian Konrad Wilhelm von Dohm (1751–1820)[] argumentierten, dass die Juden, wenn man sie nur gerecht behandelte, für den Staat nützliche Bürger werden könnten (Über die bürgerliche Verbesserung der Juden [1781/1783]).12 Ihre oft angeprangerte moralische Korruption müsse als Folge eben nicht der jüdischen Religion, sondern der von ihnen erduldeten Unterdrückung betrachtet werden.13 Das einerseits auf frühliberalen Wirtschaftstheorien und andererseits auf den humanistischen Idealen der Aufklärung fußende Werk Dohms bezweckte die "nutzbringende" Eingliederung der Juden in das Wirtschaftsleben des Staates durch die Aufhebung der Ausnahmegesetze, denen die Juden bis dahin in allen christlichen Ländern unterworfen waren.
Im habsburgischen Reich – dort war die größte Konzentration von traditionellen Juden anzutreffen – versuchte der im Sinne der Aufklärung regierende Joseph II. (1741–1790), aus den Juden "nützliche Bürger des Landes" zu machen und sie in die Gesellschaft zu integrieren, was in den unter ihm verabschiedeten Gesetzen (insbesondere dem Toleranzpatent von 1782) deutlich wird. Zugleich stellten die Wiener Gesetze aber die jüdische Gemeindeautonomie infrage. Auf die Zeit der Reformen unter Joseph II. folgte eine Periode der Reaktion unter Franz II. (1768–1835). Neue Gesetze zielten nun auf die Germanisierung der Juden, um sie – da die deutsche Sprache und Kultur ein verbindendes Element im multikulturellen Reich darstellte – als Germanisierer gegenüber den lokalen Nationalismen einsetzen zu können. Das Schulsystem wurde so zur zentralen Herausforderung im Rahmen der jüdischen Politik der Habsburger Kaiser.
Das Programm der Mendelssohn'schen Kreise
Moses Mendelssohn nahm eine führende Position in der konzeptionellen Ausformulierung der Aufklärung ein. Schon zu Lebzeiten wurde er als "jüdischer Philosoph" bezeichnet. Falsch wäre es aber, ihn als Philosophen des Judentums zu qualifizieren, da er sich nur gelegentlich tatsächlich philosophisch zum Judentum äußerte: 1770 während der Lavater-Affäre und ihrer Folgen,14 in seiner Vorrede zu der Schrift Rettung der Juden (Vindiciae Judaeorum, London 1656) des Amsterdamer Rabbiners Manasseh ben Israel (1604–1657), in seinem Werk Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783), im Zwist mit dem Göttinger Orientalisten und protestantischen Theologen Johann David Michaelis (1717–1791) und im Gespräch mit dem Kritiker der Aufklärung, dem sogenannten "Magus des Nordens" Johann Georg Hamann (1730–1788). Diese Entwürfe zum Judentum sind jedoch eher als für Christen konzipierte Darlegungen zu lesen.15 Mendelssohn war zugleich ein Vorbild für jene, die die Integrierung bejahten, und ein abschreckendes Beispiel für jene, die es trotz aller objektiven historischen Zwangsläufigkeit ablehnten, ihre Absonderung aufzugeben.
Zu den Mendelssohn'schen Prioritäten gehörte der Kampf gegen den "Jargon", die jiddische Sprache, in der er eine Mischung aus grobem und verdorbenem Deutsch und hebräischen Wörtern sah und die er als Kennzeichen und Instrument des Obskurantismus anprangerte. Die Sprachenfrage wurde übrigens im Zuge der Mendelssohn'schen Kritik auch von anderen Autoren behandelt, z.B. in den veröffentlichten und aufgeführten Lustspielen Reb Henoch oder: Woß tut me damit (1797)16 von Isaak Euchel (1756–1804) und Leichtsinn und Froemmelei (1796) von Aaron Halle-Wolffsohn (1754–1835), die die Sitten und Sprache der auf dem Land lebenden Juden parodierten und lächerlich machten.
In diesem Zusammenhang veröffentlichte Mendelssohn 1780–1782 in Berlin eine in hebräische Buchstaben transkribierte deutsche Übersetzung des Pentateuchs, der er einen im Wesentlichen grammatischen Kommentar, den sogenannten Biur, hinzufügte, in dem er die eigene Übertragung in Beziehung zur exegetischen Tradition setzte und rechtfertigte. Diese von den Traditionalisten zunächst bekämpfte Pentateuchedition war von nicht geringer Bedeutung, da sie eine ganze jüdische Generation zur Beherrschung des Deutschen brachte (innerhalb von 71 Jahren kam es zu über 20 Auflagen, immer in hebräischer Schrift, was auf einen breiten Konsens – freilich nur im deutschsprachigen Raum – hindeutet). Damit trat Mendelssohn für die breitere Öffentlichkeit als Vertreter einer neuen Richtung im Judentum auf: als derjenige, der als Erster die Frage nach der totalen oder partiellen Geltung der Tradition zum Ausdruck brachte.
Einer der wichtigsten Streitpunkte, der die Maskilim beschäftigte, war der Aspekt der Verbindlichkeit der Halacha (der moralischen und religiösen Gebote und Verbote der jüdischen Tradition) für einen aufgeklärten Juden. Nicht selten führte hier der Aufbruch aus der Tradition zu einem Bruch mit der Tradition.17 Diese religiösen Fragen beschäftigten die jüdische Öffentlichkeit bis in die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts. Zentral wurde dabei das Verhältnis von Religion und säkularer Kultur und Wissenschaft. Die Haskalah wies in dieser Hinsicht auf die Philosophie des mittelalterlichen jüdischen Denkers Moses Maimonides (1138–1204) zurück, der sich in seinem Führer der Unschlüssigen (Ende des 12. Jahrhunderts) darum bemüht hatte, das Judentum mit der Vernunft und dem Studium der Naturwissenschaften zu vereinbaren. Die Fähigkeit der Juden, die eigenen Sitten zu verbessern, sollte nachgewiesen, die jüdische Religion – bzw. Kultur – neu interpretiert werden.
In seinem Bemühen, die Lage der Juden zu heben, wirkte Mendelssohn bei der Abfassung der Schrift von Dohms beratend mit und nahm an der daraufhin entstehenden Kontroverse teil. In diesem Zusammenhang veröffentlichte er 1783 sein Werk Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, das im Grunde genommen nicht als Philosophie des Judentums, sondern als politische Abhandlung zu betrachten ist.18 Mit diesem Buch wandte sich Mendelssohn sowohl an Juden als auch an Christen: Ersteren wollte er beweisen, dass die freiwillige Einhaltung der Ritualgebote genüge, um aus ihnen treue Juden zu machen, und dass sich daher kein religiöser Zwang rechtfertigen lasse. Letzteren wollte er darlegen, dass das Judentum keine religiöse Macht kenne und dass Juden daher als gleichwertige und gleichberechtigte Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet werden könnten und sollten.
Das maskilische Programm sah auch die Reform des jüdischen Erziehungswesens vor, das bisher in den Händen von polnischen Talmudisten und Rabbinern gelegen hatte. Die Elite um Mendelssohn,19 die sich wie David Friedländer (1750–1834), Saul Ascher (1767–1822) und Lazarus Bendavid (1762–1832)20 aus dem wohlhabenden und fortschrittlich gesinnten Berliner Milieu rekrutierte, warb entschlossen und effizient für ein neues Schulmodell. 1778 gründete Friedländer mit Unterstützung seines Schwagers Isaac Daniel Itzig (1750–1806) die Berliner Freischule, die erste moderne jüdische Erziehungsanstalt, der säkulare Erziehungsvorstellungen zugrunde lagen. Diese Institution sollte in erster Linie von Kindern aus den unteren sozialen Schichten besucht werden, und zwar kostenfrei, um sie durch den Unterricht in nützlichen Kenntnissen und Fertigkeiten (insbesondere Fremdsprachen und naturwissenschaftlichen Fächern) zu "gesitteten Bürgern und treuen Untertanen des Staates" zu machen. Besonders erwähnenswert ist das Studium der hebräischen Grammatik, das eine Neuerung darstellte und daher bei den Orthodoxen einen Sturm der Entrüstung auslöste.
Mit seinem Erziehungstraktat Divrei shalom ve-emet (Worte des Friedens und der Wahrheit), der im hebräischen Original und in deutscher Übersetzung 1782 erschien, trat Naphtali Herz (Hartwig) Wessely (1725–1805), Mendelssohns Mitarbeiter am Biur, als Wortführer der Haskalah für die Juden des Habsburgerreichs auf, die er dazu ermahnte, sich den Reformen Josephs II. zu fügen. Darüber hinaus war Wessely der bedeutendste hebräische Dichter seiner Generation, der vor allem durch seine Gedichte wirkte. Genannt sei hier sein Versepos Shivhei Tiferet (Lieder des Ruhms, erschienen ab 1782), eine Art jüdisches Gegenstück zu Friedrich Gottlieb Klopstocks (1724–1803) Messias. Schon 1789 erschien eine von Wessely mit Anmerkungen versehene und autorisierte deutsche Übersetzung der ersten vier Gesänge unter dem Titel Die Moseide.
Überhaupt zeigten die Anhänger der Haskalah besonderes Interesse am Studium des biblischen Hebräisch und der neueren hebräischen Literatur und setzten sich für die Einführung von modernen Fächern an Stelle des Talmudstudiums ein. Die Mitglieder der kurz davor unter Mitwirkung Isaak Abraham Euchels ins Leben gerufenen Gesellschaft hebräischer Literaturfreunde gründeten 1783 in Königsberg die Monatsschrift Ha-Me'assef (Der Sammler, 1783–1812; daher der Name Me'assefim für die in dieser Monatsschrift publizierenden Autoren), in der das biblische Hebräisch verherrlicht wurde. Auf eine sich immer schneller in die deutsche Gesellschaft integrierende Leserschaft, die die hebräische Sprache immer weniger beherrschte, wirkte die Radikalisierung des Diskurses in der Sprachenfrage allerdings eher befremdlich.
Der gesellschaftlichen Entwicklung entsprechend, erschien bald die erste deutschsprachige Haskalah-Zeitschrift: Sulamith, eine Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität unter der jüdischen Nation (1806–1848), die von David Fränkel (1779–1865), dem Leiter der jüdischen Schule in Dessau, und dem Lehrer Joseph Wolf (1762–1826) herausgegeben wurde und auf die Vermittlung zwischen Tradition und Assimilation zielte.
Die Generation(en) nach Mendelssohn
In den Jahren nach der Veröffentlichung der Pentateuchübersetzung kam es zu einer Radikalisierung der aufklärerischen Tendenzen, sodass Mendelssohn letztendlich als eher konservative Figur innerhalb der Haskalah erscheint. Dieses Phänomen verschärfte sich weiter nach Mendelssohns Tod; angesichts der zaghaften Emanzipationspolitik der preußischen Regierung (die Gleichberechtigung kam erst mit den napoleonischen Eroberungen: 1808 für Westfalen, 1812 für Preußen) konzentrierten sich die Maskilim auf den innerjüdischen Diskurs.
Während Mendelssohn der gesamten biblisch-talmudischen Tradition einschließlich der Zeremonialgesetze Offenbarungscharakter zugeschrieben und sie als für alle Juden verbindlich erklärt hatte, traten seine jüngeren Anhänger nun mit den Mitteln der rationalen oder historischen Kritik an die religiöse Überlieferung heran.
Die zweite Generation der Aufklärer weist die Tendenz zu einem radikaleren Deismus auf. Ein Beispiel dafür ist David Friedländer, der 1786 das Gebetbuch (Siddur) ins Deutsche übersetzte. Er bemühte sich auch um die Reform der Liturgie, indem er alle Lieder und Gebete für eine Rückkehr nach Zion wegfallen ließ. Sein Reformstreben führte ihn 1799 sogar dazu, dem protestantischen Oberkonsistorialrat Wilhelm Abraham Teller (1734–1804) den Vorschlag einer formellen Bekehrung zum Christentum (allerdings unter der Voraussetzung einer Befreiung vom Christus-Glauben) zu machen. Er warb auch für die Einführung des gottesdienstlichen Orgelspiels und der Sabbat-Predigt in deutscher Sprache. Diese Radikalität kostete ihn das Vertrauen der Gemeindevorsteher.
Große intellektuelle Abenteuer, die unleugbar als Erbe der Berliner Haskalah erscheinen, prägten das 19. Jahrhundert. Trotz aller Unterschiede teilen sie gemeinsame Kennzeichen wie die Ablehnung jeder Rückkehr in das Ghetto und das Bemühen, die jüdische Identität neu zu formulieren, was einen Dialog mit der nichtjüdischen Umwelt einbezieht. Die jüngere Generation, geprägt vom Sturm und Drang und im Geist der Romantik aufgewachsen, begann mit der systematischen und kritischen Erforschung des eigenen historisch-kulturellen Erbes. So wurde 1819 auf Initiative von Leopold Zunz (1794–1886) in Berlin der Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden gegründet.21 1854 kam es in Breslau zur Gründung des von Zacharias Frankel (1801–1875) geleiteten jüdisch-theologischen Seminars, einer Ausbildungsstätte des konservativen Judentums.
In der Zeit zwischen Mendelssohns Tod und der Gründung des Deutschen Reiches (1871) entstand die Gemeinschaft der deutschen Juden – in der Periode davor hatte man lediglich von Juden aus Deutschland oder von in Deutschland lebenden Juden reden können. Die Eingliederung der Juden in die deutsche Kultur war ein Prozess, der dem Wunsch eines großen Teils der deutschen jüdischen Gemeinschaft entsprach. Oft werden die berühmten Berliner Salons als Beweis für die Gegenseitigkeit von Respekt und Dankbarkeit zwischen Juden und Christen zitiert. Dauerhafter und tiefer war eigentlich die Integration durch die Bildungsinstitutionen des Gymnasiums oder der Universität, wo die Juden bald überrepräsentiert waren.22
Die von den Juden erfahrene Säkularisierung wurde von einer zunehmenden Urbanisierung begleitet, und man darf die Frage aufwerfen, inwiefern sie nicht von ihr bedingt war. Der Weg "aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft" (Jacob Katz) führte aus den alten Judenvierteln und den Landgemeinden in die großen Städte. Das städtische Leben – vor allem Berlin mit seinen Schulen, der Universität, den Druckereien, Salons und Cafés – war die Bedingung von Aufklärung, Emanzipation und Säkularisierung.23 So entstand eine im Bezug zur eigenen Vergangenheit und zu den Juden in anderen europäischen Ländern als "neu" definierte Identität. Der deutsche Jude erscheint als Archetyp des modernen Juden, des dem Ghetto entkommenen Juden, dessen Leben vom Gemeinschafts- und Solidaritätsprinzip mit dem Gastgeberland bestimmt wird.24
Die Zielsetzungen der Haskalah wurden manchmal überholt: Das Integrationsstreben führte bei einigen Juden zur Preisgabe ihres Judentums und zum Übertritt zum Christentum – Phänomene, die mit der romantischen Mode der Bekehrungen zum Katholizismus in Einklang standen.25 Die sogenannte "Taufepidemie" begann in Wirklichkeit aber erst um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert und betraf etwa ein Zehntel der damaligen preußischen Juden. Ungefähr 20.000 Personen traten im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Christentum über. Für die gebildeten Milieus und die Berliner Elite, die im Zentrum der Salonkultur stand und viele Frauen in ihren Reihen zählte, war diese Versuchung besonders groß.26
Die zweite Haskalah: "Licht gegen Schatten" in Osteuropa
In einer zweiten Welle erreichte die Haskalah Osteuropa. Viele der in den Berliner Kreisen mehr oder weniger gut angesehenen Ostjuden,27 die wie Salomon Maimon (1753–1800), Mendel Lefin Satanover (1749–1826) oder Salomon Dubno (1738–1813) oft (aber nicht unbedingt) zu Mendelssohns Anhängern zählen, verließen die preußische Hauptstadt und kehrten, von einer Art prophetenhafter Begeisterung getrieben, in die Heimat zurück. Der Integrationshunger der deutschen Juden führte dagegen zum Aussterben der Berliner Haskalah, sodass sich das Zentrum maskilischen Schaffens in den Osten (und in geringerem Maße in die italienischen Provinzen des Habsburger Reiches) verlagerte.
In Osteuropa – einschließlich Ungarns28 – sah die Situation ganz anders aus als in Mittel- oder Westeuropa. Der Handlungsrahmen der dortigen Maskilim erschien vergleichsweise ungünstig: Zum einen fehlten die Anregungen seitens der staatlichen Autoritäten oder der nichtjüdischen Intellektuellen, zum anderen bot der sich immer mehr verbreitende Chassidismus bereits seit mehreren Jahrzehnten eine Alternative zur Integration. Diese ungünstige Lage bewirkte aber die Langlebigkeit der Haskalah im Osten, da sie jede schnelle und wirksame Assimilierung verhinderte.
In Osteuropa wurde der Versuch, die Mendelssohn'sche Theorie in den jüdischen Gemeinden in die Praxis umzusetzen, als "deutsch" empfunden, was den Maskilim in den Shtetlekh bis in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinein den Namen "Berliner" oder "Deutsche" einbrachte. Bei den frommen Chassidim wurde der Name Mendelssohns Anathema.29
Die Verbreitung der Haskalah in den Gegenden, in denen die jüdische Bevölkerung eine starke Minderheit bildete, folgte keiner Konstante; zwar zielte das Programm auf das ganze Volk ab, faktisch wandten sich die Maskilim aber nur denjenigen zu, die bereits ein gewisses Interesse für die profane Welt an den Tag legten. Anhaltspunkte dafür finden sich in größeren Städten und Handelszentren wie Tarnopol, Brody, Zamość, Shklov, Lemberg oder Odessa: Die Annahme europäischer Gewohnheiten, die mündliche und schriftliche Beherrschung der westlichen Sprachen war für die dortigen jüdischen Händler eine Überlebensfrage. Die Implantierung von Maskilim-Gruppen erwies sich auf jeden Fall leichter an den Orten, wo die politische Macht schon eine Veränderung der jüdischen Situation vorgesehen hatte.
Der Begriff "Haskalah" nährte die gleichen Debatten wie im Westen, nur mit verstärkter Gegensätzlichkeit in den Einstellungen. Die Bewegung, die weiter reichlich aus der Philosophie der deutschen Aufklärung schöpfte, setzte sich zum Ziel, die neuen Ideen unter den Juden zu verbreiten und gleichzeitig die Liebe zur eigenen Kultur zu festigen. Zum einen kämpfte sie im Namen der Vernunft und der Brüderlichkeitsideale für die politische Gleichberechtigung, die Verbesserung der Lebensbedingungen der jüdischen Volksmassen und die Entstehung einer neuen Kultur, zum anderen legte sie den Akzent auf die Bibel und die Schönheit und Reinheit der hebräischen Sprache.
In Osteuropa setzten sich die jüdischen Intellektuellen also zum Ziel, die Juden zu befreien, ohne den jüdischen Traditionsgedanken zu verwerfen. Ihre Reflexion über den Platz der Religion in der Gesellschaft und die Neugestaltung der jüdischen Identität führte zwangsläufig zur Kritik am Chassidismus. Für die Anhänger des Fortschritts verkörperten die Chassidim den die Modernisierung des jüdischen Lebens bremsenden Obskurantismus und Fanatismus. In Galizien und im zaristischen Reich entfalteten sich Haskalah und Chassidismus in einer Stimmung von gegenseitigem Hass, in der man einen Beleg für die Rolle der Gewalt in der Entstehung des modernen Judentums finden kann.30
Der Kampf wurde an verschiedenen Fronten geführt. Wie im Westen wurden konkrete Maßnahmen vorgeschlagen, die den Integrationswillen sichtbar machen und Hindernisse des Zugangs zur nichtjüdischen Gesellschaft beseitigen sollten: Die europäische Kleidung sollte übernommen, auf die jiddische Sprache und die jüdischen Vornamen verzichtet, die Halacha weniger streng ausgelegt werden. Der Wille, eine auf Vernunft, Toleranz und Gedankenfreiheit basierende neue Ideologie durchzusetzen, führte bei manchen Maskilim aber zu einer extremen und aggressiven Form der Auseinandersetzung.31 Ihr Engagement nahm im Osten oft Züge eines kulturellen Krieges an, dessen Hauptwaffe die Propagandaliteratur war, die für langlebige Stereotypen sorgte und Denunzierungen und falsche Anschuldigungen bei der regierenden Macht nicht ausschloss.
Im Zuge ihres erbitterten Kampfes ging es den Maskilim darum, die Autorität des Chassidismus zu untergraben und den Rebben ihre Legitimität zu nehmen. Umgekehrt fielen im Laufe des Jahrhunderts einige ihrerseits von den Chassidim als Apikorsim, also Häretiker, beschimpfte Maskilim religiösen Fanatikern zum Opfer: Oft sahen sie ihre Karriere in den Gemeindeinstanzen ruiniert.32 Ähnliche Spannungen kennzeichneten die Beziehungen zwischen Reformjudentum und Orthodoxie, wie aus einem Extremfall abzulesen ist: 1848 wurde der Lemberger Reformrabbiner von einem orthodoxen Fanatiker durch Gift ermordet.
Dieser Kampf entbrannte zu einem Zeitpunkt, als sich die kulturelle Landschaft der jüdischen Gemeinden durch die Entwicklung der Kommunikationsmittel verändert hatte. Tatsächlich wurde in der Polemik zwischen Maskilim und Chassidim auf die wichtigsten modernen Medien zurückgegriffen: Zeitungen, Zeitschriften, Theater und Bücher.
In Alexander Zederbaums (1816–1893)[] Zeitschrift Kol Mevaser (Kündende Stimme, Odessa 1862–1870) wurden einige der berühmtesten antichassidischen Romane veröffentlicht, die von der jungen Generation jüdischer Schriftsteller – u.a. Israel Aksenfeld (1787–1866, Dos Shterntikhl, 1861) oder Isaac Joel Linetsky (1839–1915) (Dos poylishe yingl, 1869) – geschrieben worden waren.
Die Auseinandersetzung zwischen Maskilim und Chassidim als reinen Kulturkampf zwischen "den Alten und den Modernen", zwischen orthodoxen Traditionalisten und mehr oder weniger assimilatorisch gestimmten Modernisten darzustellen, grenzt aber an eine Karikatur.33
In diesem "Kampf zwischen Licht und Schatten", wie die Maskilim selbst die Situation zu bezeichnen pflegten, wird die Komplexität der Verhältnisse zwischen Haskalah und Chassidismus oft verschwiegen. So ergab sich der Antagonismus meist aus den sozio-kulturellen Unterschieden zwischen den Vertretern beider Lager: Während die Maskilim wesentlich aus dem städtischen Milieu stammten, wurden viele Chassidim aus den oft pauperisierten ländlichen Schichten des Judentums rekrutiert. Nicht selten stammten aber die einen wie die anderen auch aus dem gleichen Milieu. Ein Teil der Eliten beider Lager war auf demselben intellektuellen Boden beheimatet. Sie entstammten orthodoxen Familien und waren den Talmudakademien entflohen, um in gleicher Weise Kontinuitäts- und Erneuerungslösungen zu finden – auch der Chassidismus lässt sich als Versuch verstehen, die jüdische Gegenwart neu zu schreiben. Kein Wunder also, wenn die genauere Analyse eine große Zahl an Strömungen und nuancenreichen Diskursen zutage treten lässt. Nicht zu übersehen sind besonders die Spannungen, die innerhalb der maskilischen Kreise herrschten.34
Viele maskilische Quellen zeichnen sich durch Spott und Satire aus, durch die systematische Erniedrigung der Rebben und ihrer Anhänger.35 Diese Art Feindseligkeit findet man z.B. in Abraham Ber Gottlobers (1811–1899) Texten (besonders in seiner Autobiographie), die die Verachtung der Chassidim für die handwerkliche Arbeit und den Handel sowie den Archaismus der Bewegung betonen.36 Als Gegenbeispiel kann immerhin der Philosoph und Kantianer Salomon Maimon zitiert werden, der sich darum bemühte, die Frage aus einer philosophischen Perspektive zu behandeln. Doch auch er prangerte die Übertreibungen der Frömmler an, deren Glauben sich weit von jeder Rationalität entwickelt habe.37 Die Radikalität zahlreicher maskilischer Schriften führte jedoch manche Aktivisten dazu, ihre Einstellung zu nuancieren. Hauptvertreter und Wortführer dieser anderen Sicht innerhalb der Haskalah ist Jacob Samuel Bick (1770–1831), der den Maskilim Überheblichkeit und Elitismus vorwarf und allmählich zum Verteidiger der mystischen Volksbewegung wurde.38
Der interessanteste Aspekt dieser antichassidischen Texte ist das ambivalente, zweideutige Verhältnis, das ihre Autoren dieser "Sekte" gegenüber hatten.39 Einerseits werden alle Züge der chassidischen Doktrin und Lebensweise gebrandmarkt, andererseits bemerkt man eine eigenartige Mischung aus Anziehung und Ekel, wenn nicht regelrechte Faszination. Nicht selten zeigten sich die Maskilim von der Schönheit der chassidischen Geschichten gerührt. In vielen Texten lässt sich eine tiefe Kenntnis der Subtilitäten der chassidischen Meister beobachten, ja die Entlarvung des Chassidismus setzte die Beherrschung der chassidischen Quellen und die Kenntnis der chassidischen Lehren voraus. Joseph Perls (1773–1839)[] Parodien der Legendensammlung über den Gründer des Chassidismus, (Zum Lob des Baal Shem Tov), und der Geschichten des Rabbi Nachman von Bratslav (1772–1810) zeugen beispielhaft davon.
Außerdem kann man den Schriftstellern der Haskalah, die großzügig aus den traditionellen Texten schöpften, keinen regelrechten Bruch mit der Tradition zuschreiben, sondern lediglich eine Subversion des Traditionsgutes. Diese Schriftsteller experimentierten mit dem modernen Schreiben und behandelten die jüdische Vergangenheit kritisch. Aus diesem ambivalenten Spiel entstand eine Diskrepanz zwischen ihrem Diskurs und den Quellen der jüdischen Tradition, die Platz nicht nur für neue Themen, sondern auch für einen neuen Schreibstil und die sich daraus entwickelnde Ästhetik ließ.
Auch die Sprachenfrage zeigt in diesem Sinne gut, wie weit gefächert das Spektrum der Einstellungen war. Entschieden sich die einen für die Mehrheitssprache (Deutsch, Russisch oder Polnisch), verteidigten die anderen die jüdische Besonderheit, indem sie die jüdischen Sprachen – also das Hebräische oder den von Mendelssohn angeprangerten "Jargon" – benutzten.
Je mehr sich die Bewegung von der deutschen Quelle entfernte, desto stärker wurde die Verbundenheit mit der hebräischen Sprache, in der die Maskilim aus Osteuropa die neuen Ideen viel eleganter als in deutscher Sprache auszudrücken vermochten. Auf diese Weise entstand die Eigentümlichkeit der östlichen Haskalah. Das bereicherte und modernisierte biblische Hebräisch wurde so zwar zum Schatz der galizischen und russischen Aufklärer, wurde aber von den jiddischsprachigen ostjüdischen Massen nicht verstanden.
Deshalb stand die systematische Verwendung des Hebräischen der Ambition entgegen, das ganze Volk für die modernen Ideen zu gewinnen. So bedienten sich mit der Zeit immer mehr Maskilim des Jiddischen, um ihr Programm zu verbreiten, was auch eine Modernisierung der Volkssprache voraussetzte. Die Geschichte des großen Klassikers der Haskalah-Literatur, des mehrfach nachgedruckten Briefromans Megale temirin (Enthüller von Geheimnissen, 1819) von Joseph Perl, beleuchtet in dieser Hinsicht gut die Schaffens- und Rezeptionsbedingungen, denen die Schriftsteller der Haskalah unterworfen waren: Das Werk wurde erstmals auf Hebräisch verfasst. Da die Mehrheit der Leser die heilige Sprache jedoch nicht beherrschte, blieb das Buch ohne Erfolg. So beschloss der Autor, es ins Jiddische zu übersetzen. Diese Übersetzung wurde freilich erst nach Perls Tod veröffentlicht.
Das Schicksal von Mendl Lefin Satanovers (1749–1826) Tanakh-Übersetzung ist nicht weniger lehrreich. Dieser Pionier der galizischen Haskalah, der zu den ersten Anhängern Mendelssohns gezählt hatte, unternahm es, die Bibel im Geist der Mendelssohn'schen Pentateuch-Übersetzung ins Jiddische zu übertragen, und zwar in eine geläuterte, von jeder Glosse und jedem traditionsgemäß hinzugefügten Kommentar freie Sprache, die der Heiligen Schrift ihre poetische Kraft zurückgeben sollte. Sein Unternehmen, das keineswegs als Opposition zur hebräischen Sprache zu verstehen ist, sondern lediglich als strategischer Versuch, den sonst unansprechbaren Volksmassen etwas anderes als die immer noch verbreiteten obsoleten jiddischen Tanakh-Versionen aus dem 16. und 17. Jahrhundert darzubieten, rief eine so scharfe Kritik unter seinen Gesinnungsgenossen hervor, dass Mendl Lefin seine Arbeit unterbrach und auf ihre Veröffentlichung verzichtete.40 Gerade in diesem Kulturkampf liegt also die Geburt der modernen hebräischen und jiddischen Literatur.41
Die Situation in Galizien
In zwei Etappen (1772 und 1793) an das Habsburger Reich angeschlossen, bildete Galizien die am wenigsten germanisierte Provinz des Reiches. Die große Mehrheit der galizischen Juden hatte Jiddisch als Muttersprache. Auch wenn die unter Joseph II. eingeleiteten Reformen die Erfüllung der Aufgabe der Maskilim erleichterten, erschien Galizien als Hochburg des Chassidismus und des traditionellen Judentums.
Andererseits kann man bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts von einer gewissen Verankerung der Mendelssohn'schen Bewegung in Galizien reden. Die Bemühungen, die neuen Ideen durch ein modernes Schulwesen oder einen reformierten Gottesdienst zu popularisieren, waren aber von wenig Erfolg gekrönt. Generell wurden die maskilischen Reformen zu den zahlreichen Übeln gezählt, die die aufeinanderfolgenden Teilungen Polensmit sich brachten; besonders, wenn sie den Juden mit dem Eifer eines Herz Homberg (1749–1841) aufoktroyiert wurden, des unbeliebten (wenn nicht verhassten) Superintendenten der deutschsprachigen Schulen in Galizien und Zensurbeauftragten für jüdische Bücher. Als Pionier fungierte Nachman Krochmal (1785–1840), der in Zolkiew schnell einen Kreis Anhänger um sich sammelte – unter ihnen Salomon Judah Rapoport (bekannt unter dem Akronym "Shir", 1790–1867), Joseph Perl, Yehuda Leib Mieses (1798–1831), Samson Bloch (1784–1845), Joshua Heschel Schorr (1818–1895), Tsevi Hirsch Chajes (1805–1855) und Isaac Erter (1792–1851).
1806 wurden die von den ersten Maskilim geöffneten Schulen von der österreichischen Regierung geschlossen. Trotzdem gelang es 1815 Joseph Perl in Tarnopol, die erste von einer Reihe deutschsprachiger Schulen zu gründen. Durch sein Handeln und seinen unermüdlichen Aktivismus wurde auch in Galizien ein reformierter Gottesdienst eingeführt. Die Einrichtung von Schulen sowie Lehrerseminaren bildete einen deutlichen Schwerpunkt des maskilischen Programms. Die finanzielle Unterstützung reicher Bankiers und Fabrikanten und die Entwicklung der politischen Lage ermöglichten die Einrichtung eines regelrechten Netzwerkes säkularisierter Schulen, deren Absolventen sich eine Laufbahn in der kaiserlichen Verwaltung erhofften. War das Erlernen der deutschen Sprache zunächst vorrangig, so stellte das Polnische je nach Region allmählich eine immer größere Konkurrenz dar.
Gilt Galizien als wichtige Etappe in der Entwicklung der Haskalah, liegt das vor allem am Reichtum des hier entwickelten literarischen und publizistischen Schaffens; das wiederum zeigt die Verwurzelung der Haskalah im Osten, während sie im Westen eher eine Übergangsperiode darstellte. Unter dem Einfluss verschiedener zeitgenössischer Denkströmungen (Romantik, Hegelianismus, Rationalismus) entstand eine eigenartige Traditionskritik, die wesentlich von dem Rabbiner Salomon Juda Rapoport und dem Philosophen Nachman Krochmal vertreten wurde und deren Thesen durch Zeitschriften wie Bikkurey Ha-ittim (Erstlingsfrüchte der Zeiten, 1820–1831), Kerem Hemed (Wonnenrebe, 1833–1856) und Isaac Erters He-Haluz (Der Wegbereiter, 1852–1889) verbreitet wurden. Die Synthese des Judentums, die Nachman Krochmal in seinem posthum erschienenen Werk Moreh nevukhei ha-zeman (Lehrer der Verwirrten der Zeit, 1851)42 entwickelte, unterscheidet sich beträchtlich von der Konstruktion der Mendelssohn'schen Kreise. Krochmal, den Zunz als "Galizianer Mendelssohn"43 identifizierte, lehnte jede assimilatorische Perspektive ab und versuchte, die Eigenart und den immerwährenden Charakter der Tradition zu beweisen. Er fungierte als Wegbereiter für kritische Studien zur jüdischen Geschichte und sein Werk begleitete die Studenten der jüdischen Wissenschaften im Laufe des ganzen 19. Jahrhunderts.
Der deutschsprachigen Wissenschaft des Judentums entsprach in Galizien die Hokhmat Israel (Die Weisheit Israels), die den jüdischen Studien eine neue Basis verlieh. Die Verwandtschaft im Bereich der theoretischen Voraussetzungen, der wissenschaftlichen Ziele und der sozialen Auswirkungen der Forschung über die jüdische Vergangenheit lag für die ersten Generationen von Maskilim auf der Hand. Dennoch orientierte sich das Projekt der galizischen bzw. russischen Wissenschaftler in eine völlig andere Richtung – es mündete in eine regelrechte Kritik an der Wissenschaft des Judentums. Während die Wissenschaft das Judentum als "reines Forschungsobjekt" betrachtete, ging deren östliches Pendant von der Voraussetzung aus, dass das jüdische Volk ein lebendes Kollektiv bildet, dessen vergangene, aber auch gegenwärtige Leistungen analysiert werden sollten. Wissenschaftliche Analyse und Verteidigung der jüdischen Minderheit erscheinen im Laufe des 19. Jahrhunderts als immer enger verbunden.44
Die galizische Haskalah kann sich auch des Dichters Meir Letteris (1807–1871) und der Romanschriftsteller und Novellenautoren Joseph Perl und Isaac Erter rühmen. Joseph Perl griff den Chassidismus mit einer fanatischen, oft vereinfachenden Gewalt an, sodass dessen Prinzipien nur noch in entstellter Weise erkennbar waren.45 Er beschrieb die mystische Strömung als eine religiöse Seuche, eine Art mystische Pathologie, die den Grundprinzipien der jüdischen Religion entgegensteht.
Auf die in seinen politischen Arbeiten entwickelten Argumente greift Perl in fiktiven Texten zurück, die zu den unbestreitbaren Erfolgen der Literatur der Haskalah zählen. Sein berühmtestes Werk ist die 1819 in Wien veröffentlichte Erzählung Megale temirin,46 auf die Bohen tsaddik und Parodien von chassidischen Märchen und Geschichten folgten.
Die Situation in Russland
Die russische Etappe vollendete das von Moses Mendelssohn eingeleitete Werk und zeigte dessen Mängel auf. Dabei tauchte ein unüberwindbares Hindernis auf: der Antisemitismus, der das Milieu prägte, in das sich die Juden nach den Vorstellungen der Maskilim integrieren sollten.
Es waren Reisende, Abonnenten der Zeitschrift Ha-Meassef und galizische Emigranten (nach 1820), die das Eindringen der jüdischen Aufklärung in Russland möglich machten. Auf die Zeit der isolierten Fürsprecher der Haskalah und der weit voneinander entfernt liegenden Haskalah-Zentren, die sich mit Unterstützung reicher Geschäftsleute um die ersten Maskilim wie Mendel Lefin Satanover, Salomon Dubno oder Aaron Mordechai Guenzburg (1795–1846) bildeten, folgte für die russische Haskalah eine Periode des Aktivismus, die mehr oder weniger den letzten Jahren der Regentschaft Nikolaus I. (1796–1855) entspricht. Die Herausforderungen waren vor allem wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Natur; sie betrafen weniger die Religion als die Bildung. Das Erlernen von Fremdsprachen galt oft als erste Etappe einer Hinwendung zum aufklärerischen Lebensmodell und half, den Hunger nach profanen Kenntnissen zu stillen. Wortführer der russischen, bzw. wolhynischen (nord-westliche Ukraine) Haskalah war Isaac Bär Levinsohn (1788–1860)[], der in seiner Schrift Te'udah be-Yisrael (Ein Zeugnis in Israel, Wilna, 1828) ein Reformprogramm für das Erziehungswesen und die Gemeindestrukturen definierte.
Litauen beherbergte die zahlenmäßig wichtigste und im Lehrangebot vielfältigste Schule der Maskilim. Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass die dortigen Aufklärer mit einer älteren Tradition rechnen konnten. Sie stand in Einklang mit den modernen Ideen, insbesondere mit dem Prinzip einer rationalen Erforschung des Judentums, dem Lebenswerk des Wilner Gaon (und seiner Nachfolger), der das Studium der hebräischen Grammatik und der für das Verständnis des Talmuds notwendigen profanen Wissenschaften bereits eingeführt hatte und die Übersetzung von wissenschaftlichen Arbeiten ins Hebräische unterstützte. Nennenswert sind Aaron Mordechai Guenzburg, der Übersetzer Kalman Schulmann (1819–1899), die drei prominenten Dichter Abraham Dov Lebensohn ("Adam Ha-Cohen", 1794–1878), dessen Sohn Micah Joseph Lebensohn (bekannt unter dem Akronym "Mikhal", 1828–1852) und Judah Leib Gordon (Akronym: "Yalag", 1830–1892). Das unerreichte Talent Abraham Mapus (1808–1867), des Vaters der modernen hebräischen Romanliteratur, gibt der russischen Haskalah einen unvergleichlichen Glanz.
In diesem Zusammenhang war dennoch das Verhältnis zur jiddischen Sprache ambivalenter denn je: Trotz ihrer Mängel erschien die Volkssprache als immer unverzichtbarer, wollten die Maskilim ein anderes Publikum als ihresgleichen erreichen. So erklärt sich z.B. auch die Laufbahn eines Mendele Moicher Sforim (1836–1917), des Meisters der hebräischen Sprache, der auch auf Jiddisch schrieb, und so zum ersten Klassiker der modernen jiddischen Literatur wurde.
Die jüdische Bevölkerung war in diesen Gebieten so dicht konzentriert, dass der Angriff auf die traditionellen Institutionen und die Gemeindevorsteher mit großer Härte geführt werden musste. Brennpunkt der Auseinandersetzungen war das Schulwesen, obwohl die Ergebnisse im Nachhinein eher karg anmuten. Die Maskilim orientierten sich dabei an den deutschen und galizischen Vorbildern. So wurden nach dem Beispiel von Perls Schule in Tarnopol 1822 eine Schule im ukrainischen Uman und kurz danach (1826) eine weitere in Odessa eröffnet. In diesem Bereich existierten private und vom Staat geleitete Unternehmen nebeneinander. Max Lilienthal (1815–1882)[] und Graf Sergej Uwarow (1786–1855) verkörperten diese Interaktion: Der deutschsprachige Rabbi aus Riga wurde vom Minister für Volksaufklärung (1833–1849) offiziell beauftragt, in den größten jüdischen Gemeinden für ein profanes Schulwesen zu werben. Dieser Auftrag führte zu einer öffentlichen Debatte. 1844 wurde schließlich ein Gesetz verabschiedet, mit dem die staatlichen Schulen für Juden geöffnet wurden. Parallel dazu wurden 1847 in Jitomir und Wilna zwei berühmte Rabbinerseminare gegründet.
Viele Maskilim wurden nun Staatsbeamte. Die Reformen Alexanders II. (1818–1881) festigten ihre Situation, während ihnen ihre Anwesenheit in Schlüsselbereichen soziale Bedeutung verlieh. So wurde der Erfolg der Haskalah sichtbar. Die Thesen der Bewegung wurden in verschiedenen Sprachen von Zeitschriften wie Ha-melits, Ha-tsefirah, Ha-Maggid (Hebräisch), Kol mevaser (Jiddisch), Dien und Voskhod (Russisch), Jutrzenka dann Izraelita (Polnisch) verbreitet und von der 1863 gegründeten Gesellschaft zur Verbreitung für Aufklärung unter den Juden in Russland befördert. Diese Gesellschaft war eine der größten Leistungen der russischen Haskalah, da sie die Entfaltung der neuhebräischen Literatur ermöglichte.
Mit der Zeit waren drei Strömungen zu unterscheiden:47 Ein Teil der Maskilim erklärte sich bereit, die Festungen der Religion und der hebräischen Sprache preiszugeben, und befürwortete die totale Assimilierung, die sie in russischer oder polnischer Sprache verteidigten – dies konnte sich in politischer Hinsicht als zaristische bzw. polnische48 Vaterlandsliebe, aber auch als revolutionärer Aktivismus bzw. Engagement in der Arbeiterbewegung äußern; ein weiterer Teil legte den Akzent auf die Fortsetzung der Annäherungspolitik durch die Erziehung, während die letzte Gruppe – in den jüdischen Sprachen – die jüdische Nationalität in den Vordergrund stellte, um somit die Mängel (wie die Übertreibungen) der Haskalah auszugleichen. Die Grenze zwischen sogenannten Assimilationisten und Integrationisten lässt sich nur schwer ziehen.49
Die Öffnung des russischen Schulwesens für jüdische Kinder ab 1844 zwang die Maskilim, neue Schulen zu gründen, um das Studium des Hebräischen zu retten. Ihr Angebot bestand aus einem reformierten Cheder (einer traditionellen jüdischen Knabenschule) – dem Cheder metukkan, das das zionistische hebräische Schulnetzwerk präfigurierte. Wurde die Notwendigkeit einer profanen Ausbildung inzwischen generell anerkannt, so bemühte sich jedes Lager, das eigene Schulnetzwerk zu festigen, um die eigenen Werte zu schützen.
Die Pogrome, die auf die Ermordung Alexanders II. (1881) folgten, führten zur Entstehung von alternativen Strategien, die durch die Rückwendung zu den jüdischen Werten und die Anfänge eines nationalen Diskurses gekennzeichnet waren. Von hier aus kam es zu der frühzionistischen Hibbat-Zion-(Zionsliebe-)Bewegung, die die Haskalah scharf kritisierte. Perez Ben Mosheh Smolenskin (1842–1885)[], eine der zentralen Figuren der russischen Haskalah, bezichtigte Mendelssohn, die Entnationalisierung des Judentums verursacht oder wenigstens eingeleitet zu haben.50 Smolenskins These, die er in dem wichtigsten hebräischen Medium der späten Haskalah und der beginnenden jüdisch-nationalen Bewegung, seiner Zeitschrift Hashahar (Morgendämmerung, 1868–1884), verbreitete, kam dem Geschichtsbild des Zionismus entgegen, der sich gerne als die Rückkehr zum legitimen Geschichtsverlauf des jüdischen Volkes durch die Überwindung der Assimilation begriff.51
Auch in den von den Russen beherrschten Gebieten kam es zur partiellen oder auch totalen Verwirklichung der maskilischen Vorhaben, Phänomene wie die Russifizierung oder Polonisierung und die übersteigerte Säkularisierung eingeschlossen. Der Vertiefungs- und Reifeprozess, dem die Bewegung das ganze 19. Jahrhundert hindurch unterworfen war, war verantwortlich für die Schärfe, mit der sie dann von außen wie von den eigenen enttäuschten Verfechtern beurteilt wurde: zu assimilatorisch für die Zionisten, zu bürgerlich und unterwürfig für die verschiedenen Arbeiterbewegungen, zu sehr russifiziert für die Befürworter einer jüdischen Autonomie im Exil, zu künstlich für die Liebhaber der hebräischen Sprache.