Östliche Orthodoxien: Die Verbreitung des Sobornost'-Konzeptes in den orthodoxen Kirchen

von by Jennifer Wasmuth Original aufOriginal in Deutsch, angezeigt aufdisplayed in Deutsch
PublishedErschienen: 2012-04-16
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    Das zuerst im 19. Jahrhundert begegnende Sobornost'-Konzept hat in den breit geführten kirchlichen Reformdiskussionen in der russischen wie auch in anderen orthodoxen Kirchen eine bedeutende Rolle gespielt. Im 20. Jahrhundert gewann es seine hauptsächliche Relevanz in den Bemühungen um eine Neubegründung der Lehre von der Kirche, es avancierte zum Schlüsselbegriff orthodoxer Ekklesiologie. Das Konzept schloss von Anfang an anthropologische wie sozialtheoretische Aspekte mit ein, die in die theologische wie philosophische Reflexion Eingang fanden. Das Grundanliegen der mit dem Begriff "sobornost'" verbundenen Konzepte war dabei, die Perspektiven von "Individuum" und "Gemeinschaft" zu verbinden, zumeist mit dem Anliegen verknüpft, diese Verbindung als besonderes Merkmal religiös-kultureller, nationaler (russischer, rumänischer, serbischer etc.) oder auch übernationaler ("slawischer") Identität zu profilieren.

    InhaltsverzeichnisTable of Contents

    Einleitung

    Die Anfänge des Sobornost'-Konzeptes liegen im 19. Jahrhundert. Es wurde von Vertretern der "slawophilen" Richtung1 innerhalb der Philosophie entwickelt, gelangte von dort aus in die russische Akademie-Theologie, um an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch einmal verstärkte Bedeutung in den innerorthodoxen Auseinandersetzungen um kirchliche Reformen zu gewinnen. Ihren Höhe- und zugleich auch Endpunkt sollten diese Auseinandersetzungen im Landeskonzil von 1917 finden (vgl. Abschnitt 2.3).

    Eine Weiterentwicklung des Sobornost'-Konzeptes erfolgte dann in den theologischen Arbeiten russischer Emigranten in , und (vgl. Abschnitt 3). Auf verschiedenem Wege gelangte das Sobornost'-Konzept schließlich auch in andere orthodoxe Kirchen und spielte hier, ähnlich wie in der russischen Kirche, in der Diskussion um die kirchliche Neuordnung eine wichtige Rolle (vgl. Abschnitt 4).

    Die hauptsächliche Relevanz des Sobornost'-Konzeptes lag in einer Neubegründung der Lehre von der Kirche. Im 19./20. Jahrhundert avancierte es zum Schlüsselbegriff orthodoxer Ekklesiologie. Allerdings schloss das Konzept von Anfang an auch anthropologische, erkenntnis- und sozialtheoretische Aspekte mit ein, die nicht nur in die philosophische – unter anderem auch sozialistische – Theoriebildung,2 sondern auch in die theologische Reflexion Eingang fanden.

    Das Grundanliegen der mit dem Begriff sobornost' verbundenen Konzepte war, die Perspektiven von "Individuum" und "Gemeinschaft" zu verbinden, womit zumeist auch die Intention verknüpft war, diese Verbindung als besonderes Merkmal religiös-kultureller, nationaler (russischer, rumänischer, serbischer etc.) oder auch übernationaler ("slawischer") Identität zu profilieren.

    Das Sobornost'-Konzept im Kontext der russischen Orthodoxie

    Herkunft und Bedeutung des Begriffes

    Der Begriff sobornost' ist eine Abstraktbildung zu dem Adjektiv sobornaja. Seine spezifische theologische Bedeutung gewann das Wort sobornaja dadurch, dass es im zentralen orthodoxen Glaubensbekenntnis, dem sogenannten "Nicaeno-Constantinopolitanum", neben den Attributen Einheit, Heiligkeit und Apostolizität zur Kennzeichnung der Kirche dient.3 Anfang des 13. Jahrhunderts ist es zunächst in einigen redigierten Handschriften an Stelle der Wörter kafolikaja bzw. kafolikijskaja getreten, der slawisierten Form des griechischen Wortes katholikós,4 um seit dem 14./15. Jahrhundert durchgängig verwendet zu werden.5 Der griechische Begriff stammt nicht aus dem Neuen Testament; zum ersten Mal wird er bei Ignatius von Antiochien (um 110/115) auf die Kirche bezogen. In dessen Brief an die Gemeinde in Smyrna es heißt: "Wo der Bischof erscheint, da soll auch die Gemeinde sein, wie da, wo Christus Jesus sich befindet, auch die allgemeine [katholikè] Kirche ist."6

    Das Adjektiv sobornaja geht auf die Wurzel brat' zurück, das in der Verbindung mit dem Präfix "so-" (sobrat') "sammeln, versammeln" bedeutet.7 Auch im weiteren Wortfeld von sobornaja zeigt sich dieser Bedeutungsaspekt. So meint das Substantiv sobor zunächst die Versammlung von Geistlichen im Sinne von Synode oder auch Konzil, letzteres insbesondere in Verbindung mit Adjektiven wie cerkovnyj (kirchlich), svjatejšij (hochheilig) oder auch vselenskij (ökumenisch). Sodann bezeichnet sobor aber auch die Hauptkirche in einer Stadt, weil hier sämtliche Geistliche zur Liturgie versammelt sind.8 Sbornik bedeutet entsprechend eine Sammlung von Erbauungsschriften der Kirchenväter. Wenn schließlich das Sakrament der Krankensalbung im Russischen mit soborovanie bezeichnet wird, dann steht auch hier der Aspekt des Versammelns im Hintergrund. Denn für die Spendung der Krankensalbung sind der liturgischen Ordnung nach sieben Priester vorgesehen.

    Die Etymologie und das Wortfeld von sobornaja machen deutlich, dass es eine spezifische Übersetzung von kafolikaja darstellt, die sich mit einem extensiv-quantitativen Verständnis von kafolikaja nicht ohne Weiteres vermitteln lässt. Die Übersetzung des entsprechenden Artikels des Glaubensbekenntnisses mit sobornaja cerkov' wird deshalb zumeist als eine mindestens "unglücklich gewählte, ungenaue Übersetzung" gewertet.9

    Der Begriff sobornost', der außerhalb des slawischen Sprachbereichs noch in der Rumänischen Orthodoxen Kirche (soborniceacǎ Biserica, sobornicitate) begegnet, ist mit entsprechenden Übersetzungsschwierigkeiten behaftet. Es ist deshalb im jeweiligen Kontext zu prüfen, welche Bedeutung ("Gemeinschaft",10 "Katholizität", "Konziliarität", "Synodalität") ihm am ehesten zukommt. Bemerkenswerterweise wird der Begriff auch Autoren zugeschrieben, die ihn wie beispielsweise der bedeutende russische Religionsphilosoph Vladimir S. Solov'ev (1853–1900) gar nicht verwendet haben. Hier ist im Einzelnen zu klären, ob die von diesen Autoren entwickelten Vorstellungen mit dem Sobornost'-Konzept in Verbindung zu bringen sind.

    Ein konzeptioneller Neuansatz: Die theoretische Grundlegung des Sobornost'-Konzeptes bei Aleksej S. Chomjakov

    Als einer der bedeutendsten Vertreter der frühen slawophilen Bewegung entwickelte der Geschichtsphilosoph und Laientheologe Aleksej S. Chomjakov (1804–1860) einen Neuansatz in der orthodoxen Ekklesiologie, der für das Sobornost'-Konzept grundlegend werden sollte. Den Begriff sobornost' verwendete Chomjakov nicht. Es war sein Schüler und Freund Jurij F. Samarin (1819–1876), selbst ein führender Slawophiler, der den Begriff sobornost' in die russische Übersetzung der Schriften Chomjakovs, die zum großen Teil zunächst nur auf Französisch und Deutsch erscheinen konnten, "einschleuste" und damit für die weitere Diskussion prägte.11 Chomjakov hatte allerdings auf die erwähnte slawische Übersetzung sobornaja cerkov' im Glaubensbekenntnis selbst Bezug genommen, um an ihr in Auseinandersetzung mit dem Fürsten Ivan S. Gagarin (1814–1882) sein Kirchenverständnis deutlich zu machen. Gagarin war unter dem Einfluss des "Westlers" Petr J. Čaadaev (1794–1856) zum Katholizismus konvertiert und dem Jesuitenorden beigetreten.12

    Ausgangspunkt der Überlegungen Chomjakovs war der Gedanke, dass die Einheit der Kirche aus der Einheit Gottes folgt, dass sie die "Einheit der göttlichen Gnade ist".13 Erkannt wird die Einheit im Glauben, der gleichermaßen Denken und Fühlen ist. Im Unterschied zu dem in den dogmatischen Lehrbüchern seiner Zeit vorherrschenden extensiv-quantitativen Verständnis von "Katholizität" betonte Chomjakov deshalb, dass die Kirche ihrem Wesen nach "in der Übereinstimmung und Einheit des Geistes und Lebens aller ihrer Glieder auf der ganzen Erde besteht".14

    Das Wirken des Geistes Gottes ins Zentrum stellend, weshalb Chomjakovs Ansatz auch als "pneumatische Ekklesiologie" bezeichnet worden ist, vertiefte er das Verständnis von "Katholizität" und gelangte zu einer Kritik an einem institutionalistisch gefassten Kirchenbegriff. Ausdrücklich stellte er eine Hierarchie in Frage, für die die Spaltung in eine lehrende und hörende Kirche kennzeichnend ist. Für ihn kam demgegenüber die "Fülle der Weisheit sowie die vollkommene Heiligkeit nur der Gesamtheit aller Mitglieder der Kirche" zu.15 Konzilsentscheidungen erlangten für ihn ihre Gültigkeit deshalb auch erst im Zuge der Rezeption durch die Gesamtheit aller Mitglieder: wenn die Beschlüsse

    von dem gesamten kirchlichen Volke als die Stimme der Kirche anerkannt [werden], von dem Volke, in welchem hinsichtlich der Glaubensfragen kein Unterschied zwischen Gelehrten und Ungelehrten, Geistlichen und Laien, Mann und Frau, Herrscher und Untertan, Herren und Sklaven besteht.16

    In einem unverkennbaren Widerspruch zu seinem pneumatologischen Grundansatz bemühte sich Chomjakov sodann zu beweisen, dass die "Orthodoxie" die einzig wahre Kirche Jesu Christi ist, der "Organismus", in dem die Prinzipien der Wahrheit und Liebe verwirklicht sind. In der Orthodoxie sah er deshalb die Freiheit des Einzelnen sowie die Einheit der Gemeinschaft gewahrt – im Unterschied zu den westlichen Konfessionen, in denen die Freiheit (Protestantismus) oder die Einheit (Katholizismus) überbetont würden. Die Fehlentwicklungen der westlichen Konfessionen17 gründeten ihm zufolge in einem beiden Konfessionen gemeinsamen Eingeschlossensein "in die engen Grenzen des Rationalismus"; im Protestantismus habe dies zu einem "spiritualistischen Rationalismus" geführt, der "Liebe zur Wahrheit, ohne die Kraft, in ihr wirkliches Leben eindringen zu können", beim Katholizismus hingegen zu einem "materialistischen Rationalismus", der "Liebe für die äußere Ordnung ohne Achtung für die Wahrheit, welche die innere Ordnung ist".18

    Chomjakovs Verteidigung der Orthodoxie trug kaum dazu bei, die Kontroverse einzudämmen, die nach der Veröffentlichung seiner Schriften in Russland einsetzte. Kritiker warfen ihm vor, den Standpunkt orthodoxer Ekklesiologie gerade verlassen zu haben, indem er erstens die Kirche über das Wirken des Geistes definiert, darüber aber die Kirche in ihrer sichtbaren, institutionellen Gestalt aus dem Blick verloren habe und indem er zweitens die maßgebliche Bedeutung der Hierarchie für die Lehre in der Kirche negiert habe.19 Bemerkt wurde zudem auch schon zu jener Zeit, dass die Motive, aus denen sich Chomjakovs Ansatz speiste, von zeitgenössischen Strömungen in der westlichen Theologie und Philosophie bestimmt waren.20 Die vielfach geäußerte Kritik verhinderte indes nicht, dass Chomakovs Ansatz und damit das Sobornost'-Konzept breit rezipiert wurden, wenn auch im philosophischen21 wie im theologisch-kirchlichen Kontext oft stark modifiziert.

    Das Sobornost'-Konzept in Russland bis 1917

    Der Ansatz Chomjakovs wurde an den Geistlichen Akademien, die im Unterschied zu den Universitäten in die hauptsächlichen Ausbildungs- und Forschungsstätten der Russischen Orthodoxen Kirche waren, bereits seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts rezipiert und intensiv diskutiert. Trotz strenger Zensurbestimmungen, hatte sich hier eine Forschungskultur etabliert, die kritische Impulse aus der westlichen Theologie wie aus der Religionsphilosophie aufzunehmen bereit war.

    Der orthodoxe Theologe Georges Florovsky (1893–1979), der die "Wege der russischen Theologie" nachgezeichnet hat, nennt gleich eine Reihe von Akademie-Theologen der dem patristischen Erbe in besonderem Maße verpflichteten "historischen Schule", die sich dem Ansatz Chomjakovs geöffnet haben. Dazu gehört Archimandrit Sil'vestr (Malevanskij; 1828–1908), später Bischof und Rektor der Geistlichen Akademie, der offenkundig unter dem Einfluss von Chomjakov den Dogmenbegriff neu zu fassen suchte. Ausgehend von der "dogmatischen Erfahrung der Kirche" (dogmatičeskij opyt Cerkvi), dem "allgemeinen religiösen Bewusstsein der ökumenischen Kirche" (obščee religioznoe soznanie vselenskoj Cerkvi) stellte er heraus, dass Dogmen nicht äußerliche Wahrheiten bleiben dürften, sondern innerlich angeeignet werden müssten: durch "lebendigen Glauben" (živaja vera), durch "'religiöses Gefühl' und Bewusstsein" (religioznoe čuvstvo i sozanie).22 In eine ähnliche Richtung gingen die Überlegungen Aleksandr L. Katanskijs (1836–1919), der lange Jahre an der Geistlichen Akademie von das Fach Dogmatik lehrte.23 Unter seiner Anleitung entstand die Magisterdissertation von Evgenij Petrovič Akvilonov (1861–1911) , eine Abhandlung über die Kirche, in der der Einfluss Chomjakovs deutlich spürbar ist. Akvilonov ging es darum, die in der Katechese gebräuchliche Definition der Kirche als "Gesellschaft von Menschen" (obščestvo čelovekov) durch ein Verständnis von Kirche als "Organismus" (organizm) oder "Leib" (telo) zu ersetzen, der mit Christus als seinem Haupt die Einheit der Kirche finde.24

    Welche Rolle bei den genannten Ansätzen der Begriff sobornost' im Einzelnen gespielt hat, müsste eigens noch erforscht werden.25 Dass er anders als im Sinne der präkonziliaren Auseinandersetzungen (siehe dazu weiter unten) rezipiert worden ist, machen in jedem Fall auch die beiden folgenden Arbeiten deutlich, die von dem an der Universität von Kiev tätigen und hier Apologetik lehrenden Pavel J. Svetlov (1861–1941) sowie dem Akademietheologen Mitrofan D. Muretov (1851–1917) stammen.

    Svetlov hat der "Idee des Reiches Gottes" eine eigene umfangreiche Monographie gewidmet, in der er sich unter anderem intensiv mit Solov'ev befasst hat. Das von Solov'ev entwickelte theokratische Ideal sieht Svetlov dabei in Entsprechung zum Prinzip der sobornost' der Kirche und kann in diesem Sinne positiv daran anknüpfen.26 Der Begriff sobornost' gewinnt für Svetlov damit seine Bedeutung allein im Kontext der Vereinigung der Kirchen, als Leitidee für die Ökumene. Zu der zu seiner Zeit geführten kirchlichen Reformdiskussion stellt er hingegen keine Bezüge her.

    Eine ganz andere Bedeutung gibt demgegenüber Muretov dem Sobornost'-Konzept in einer Abhandlung, die den neuesten Entwicklungen in der protestantischen Exegese gewidmet ist.27 Den von ihm dargestellten und kritisierten Ansätzen setzt Muretov ein eigenes hermeneutisches Leitprinzip, das sobornoe samosoznanie (hier am ehesten zu übersetzen mit: "allumfassendes Selbstbewusstsein"), entgegen. Der Begriff sobornoe samosoznanie oder gleichbedeutend auch der Begriff sobornoe soznanie wird von Muretov dabei eng mit dem Begriff der "Tradition" verknüpft. Das sobornoe soznanie ist, wie Muretov es formuliert, "in der kirchlichen Tradition enthalten und ausgedrückt" ("zaključajuščeesja i vyražajuščeesja v cerkovnom predanii"),28 wie umgekehrt die kirchliche Tradition "Ausdruck des ununterbrochenen, lebendigen und immer wirksamen allumfassenden oder allgemeinen und kollektiven Selbstbewusstseins der Kirche" ist, "die unaufhörlich durch den Heiligen Geist erleuchtet wird und Christus als ihre wirkliche Seele und ihr nicht sichtbares wirkliches Haupt besitzt" ("vyraženie nepreryvnogo, živogo i vsegda dejstvennogo sobornogo ili vseobščego i kollektivnogo samosoznanija cerkvi, neprestanno osenjaemoj Duchom Svjatym i imejuščej Christa svoej dejstvitel'noj dušoj i nevidimoj dejstvennoj glavoj").29

    Neben dem Begriff sobornoe soznanie verwendet Muretov den Begriff sobornaja žizn' (hier am ehesten zu übersetzen mit: "gemeinschaftliches Leben") und bestimmt diesen näher als "die Empfindung der brüderlichen Liebe untereinander, die Gemeinschaft der Gläubigen und die geistliche Einheit in gegenseitiger Erhebung des religiös-sittlichen Gefühls" ("oščuščenie bratskoj ljubvi meždu soboj, obščenie veryjuščich i duchovnoe edinenie vo vzaimnom pod-eme religiozno-nravstvennogo čuvstva").30 Mit dem Begriff sobornaja žizn' grenzt sich Muretov zugleich von der Religiosität des Protestantismus ab, der "Dürre des Kultes" ("suchost' kul'ta") einerseits und der "pedantischen Neigung zum Räsonieren" ("pedantičnoe resonerstvo")31 andererseits. Muretov verwendet schließlich auch den abstrakten Begriff sobornost', allerdings nur in Nebenbemerkungen und ohne ihn eigens zu erläutern.32

    Der Einfluss Chomjakovs wird bei Muretov greifbar, auch wenn Muretov das Sobornost'-Konzept aus dem ekklesiologischen Kontext herausgelöst hat. Dies entspricht der Verwendung in der russischen Bewusstseinsphilosophie der Jahrhundertwende, in der das Konzept eine Ausweitung hin zu Fragen der Anthropologie und Erkenntnistheorie erfahren hat. Sobornoe soznanie meint hier "eine bestimmte Struktur menschlichen Erkennens … die Kategorie für das Erkennen des Transzendenten."33 Dass bei Muretov der Begriff der sobornost' gegenüber dem Begriff sobornoe soznanie in den Hintergrund tritt, wird von daher verständlich, ging es doch auch Muretov um Fragen des Erkennens und Verstehens.

    Mit Begriffen wie sobornoe soznanie und sobornaja žizn' zielte Muretov dann aber offenbar auch auf ein hermeneutisches Konzept, das durch Rückbindung an die kirchliche Tradition und das kirchliche Leben eine Einheit gewährleisten sollte, die Muretov in der westlichen protestantischen Exegese bedingt durch Rationalismus und Individualismus verloren gegangen sah. Entsprechend kann er die Vorherrschaft der "individuellen Vernunft des Exegeten" ("ličnyj razum ėkzegeta")34 sowie Martin Luthers (1483–1546) "verbrecherische Missachtung des allumfassenden Selbstbewusstseins der Kirche" ("prestupnoe popranie sobornogo samosoznanija Cerkvi") und dessen Lossagung von der "lebendigen Alleinheit der Kirche" ("živoe vseedinstvo Cerkvi")35 kritisieren. Das sobornoe soznanie verspräche die Spaltung zwischen Vernunft- und Glaubenswahrheiten, theologischer Reflexion und kirchlichem Leben in jener höheren Einheit aufzuheben, die Muretov zufolge in der westlichen (protestantischen) Theologie durch ihren einseitigen Rationalitätsbegriff zerbrochen sei.

    Im Unterschied zu der divergierenden Bezugnahme auf das Sobornost'-Konzept in der Akademie-Theologie gewann das Sobornost'-Konzept im Zuge der präkonziliaren Auseinandersetzungen deutlich an Kontur. Gespeist aus der Unzufriedenheit mit der bestehenden kirchlichen Verfassung und den autokratischen Strukturen der kirchlichen Hierarchie wurde sobornost' zu einem Schlagwort, das der theologischen Legitimierung von im Wesentlichen zwei Forderungen diente: erstens, der stärkeren Beteiligung von Klerus und Laien an der Leitung der Kirche, zweitens, der Einberufung eines Landeskonzils als höchster kirchlicher Instanz zur Durchsetzung der Reformforderungen.

    Umstritten war dabei insbesondere die Frage der Wiedereinführung des Patriarchats. Die Befürworter, die sich davon im Unterschied zu dem von Peter dem Großen (1682–1725) eingerichteten Synodalsystem eine größere staatliche Unabhängigkeit der Kirche versprachen, beriefen sich hier ebenso auf das Konzept der sobornost' wie die Kritiker. In den Reformdiskussionen zeigte sich damit eine dem Konzept inhärente Spannung, die die orthodoxe Theologie der Folgezeit nachhaltig beschäftigen sollte: die Spannung zwischen der Bestimmung der Kirche als Ort der geistgewirkten Einheit aller ihrer Glieder einerseits, aus der bei Chomjakov die Kritik an allen "bloß 'äußerlichen', auf juristischen Konstruktionen beruhenden Machtstrukturen" erwuchs und andererseits der Notwendigkeit "einer auch 'äußerlich', juristisch und organisatorisch festgesetzten neuen Ordnung", vor die sich zumal die kirchliche Reformbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts gestellt sah.36

    Zur konkreten Vorbereitung des Landeskonzils wurde 1906 ein "Vorkonziliarer Ausschuss" eingesetzt. Wenn der Ausschuss auch im selben Jahr wieder aufgelöst wurde, so fällte er doch eine weitreichende Entscheidung, die auch für das erst 1917 – nach dem Sturz des Zaren – einberufene Landeskonzil bindend wurde: dass das Konzil aus Bischöfen, Klerikern und Laien zusammengesetzt sein sollte. Die Entscheidung zielte vor allem wohl darauf, den starken innerkirchlichen Spannungen zu begegnen. Begründet wurde sie mit dem Hinweis auf das Sobornost'-Konzept, das hier wie auch während der Konzilsverhandlungen im Sinne einer stärkeren Beteiligung von Klerus und Laien verstanden wurde.

    Auf dem Konzil selbst wurde eine solche Beteiligung dann tatsächlich in verschiedener Hinsicht realisiert. So stellten die Laien die Mehrheit der 564 Konzilsmitglieder, die (außer den Eparchialbischöfen und Angehörigen des Heiligen Synods) nach demokratischen Regeln gewählt wurden, ohne dass es einer Bestätigung durch den Eparchialbischof bedurft hätte. Auch lag die Entscheidungsgewalt bei der Vollversammlung; die Bischofskonferenz als weiteres Gremium des Landeskonzils besaß zwar ein Vetorecht, konnte damit die Entscheidungsgewalt der Vollversammlung jedoch nicht prinzipiell einschränken.

    Wenn man deshalb festhalten kann, dass das Sobornost'-Konzept für die Konzilsarbeit von grundlegender Bedeutung war, so ergibt sich in Hinblick auf die Konzilsbeschlüsse ein differenzierter Befund: Auf der Ebene der obersten Kirchenleitung setzten sich schließlich die Befürworter der Wiedereinführung des Patriarchats durch. Abgesehen davon, dass die Befürworter selbst darin keinen Widerspruch zum Sobornost'-Konzept sahen, wurde auf dem Konzil zugleich dafür Sorge getragen, dass der Patriarch in konziliare Strukturen eingebunden blieb, indem das Landeskonzil als höchste gesetzgebende, administrative und richterliche Kontrollgewalt festgeschrieben wurde und die Beteiligung von Laien im "Obersten Kirchlichen Rat" als einem der höchsten kirchenleitenden Organe vorgesehen war. Die Beschlüsse in Hinblick auf die oberste Kirchenleitung sind deshalb "insgesamt als ein Kompromiss zwischen den Vertretern des Sobornost'-Prinzips und den Verteidigern einer hierarchisch-klerikalen Kirchenleitung anzusehen".37 Auf der Ebene der Eparchialverwaltung hingegen setzte sich die hierarchisch-klerikale Auffassung durch, während auf der Ebene der Pfarrgemeinden ebenso wie in Hinblick auf Mitgestaltungsmöglichkeiten von Laien im kirchlichen Leben (z.B. durch die Zulassung der Laienpredigt, die Gewährung des aktiven und passiven Wahlrechts für Frauen) hauptsächlich das Sobornost'-Konzept Anwendung fand.38

    Ausformung und Weiterentwicklung des Sobornost'-Konzeptes in der russischen Emigrationstheologie

    Die theologische Arbeit konnte in Russland nach 1917 nur unter erschwerten Bedingungen fortgeführt werden. Es waren deshalb in die Emigration getriebene, namentlich am Institut de Théologie Orthodoxe in Paris und dem Seminar St. Vladimir in New York  wirkende Theologen, von denen die wichtigsten Impulse für die Ausformung und Weiterentwicklung des Sobornost'-Konzeptes ausgingen.

    Kennzeichnend für die neuen Ansätze war dabei, dass das Sobornost'-Konzept aus der engen Verknüpfung mit den kirchlichen Reformanstrengungen gelöst und stärker theologisch reflektiert wurde. In den Mittelpunkt rückte der paulinische Leib-Christi-Gedanke, der nicht nur die biblische Grundlage des Sobornost'-Konzeptes verdeutlichen, sondern vor allem auch dazu verhelfen sollte, die sich im Zuge der Reformdiskussionen zeigende Spannung zwischen der wesenhaften Bestimmung der Kirche und ihrer konkreten Gestalt einer Lösung zuzuführen.

    Die bedeutendsten Vertreter dieses Sobornost'-Konzeptes bis Mitte des 20. Jahrhunderts waren der schließlich in lehrende Georges Florovsky sowie der in Paris für Dogmatik zuständige Sergij N. Bulgakov (1871–1944). Florovsky war sehr daran gelegen, ein extensiv-quantitatives Verständnis von Katholizität zu überwinden, das er auch historisch für sekundär hielt. Ursprünglich habe der Begriff eine "Ganzheit" ausdrücken wollen, die in der Beziehung zu Christus begründet ist: "Ort und Hort der Wahrheit und in diesem Sinne katholisch ist die Kirche durch Christi Gegenwart in ihr, nicht aber durch ihre geographische Verbreitung."39 Gerade weil dieser Bedeutungsaspekt in den Hintergrund getreten sei, sei der Begriff der sobornost' eingeführt worden – ein Begriff, den Florovsky selbst dann allerdings nur selten verwendete. Katholizität bedeutete für Florovsky folglich Teilhabe am Leib Christi, die er im Sakrament der Eucharistie realisiert sah.40 Durch dieses Verständnis öffnete Florovsky das Sobornost'-Konzept für eine Deutung als "sakramentale Gemeinschaft, in der die Menschen mit der Fülle Christi und durch die Liebe Christi auch zur Liebesgemeinschaft untereinander verbunden werden",41 eine Deutung, die für die orthodoxe Ekklesiologie der Folgezeit wegweisend werden sollte.

    Das zeigte sich bereits bei Bulgakov, der durch seine Sophiologie einerseits eine Sonderstellung innerhalb der orthodoxen Theologie einnimmt, der andererseits jedoch zu davon weitgehend unberührten ekklesiologischen Aussagen gelangte, ohne die der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschende Ansatz einer "eucharistischen Ekklesiologie" nicht vorstellbar ist.42

    Bulgakov zielte mit seinen ekklesiologischen Reflexionen darauf, das Sobornost'-Konzept mit der hierarchischen Grundstruktur der Orthodoxen Kirche zu versöhnen: um der Freiheit des Glaubens willen sollten die antiinstitutionalistischen Implikationen des Sobornost'-Konzeptes aufgenommen werden, um der Einheit des kirchlichen Lebens willen die Hierarchie als ordnender Faktor zugleich gewahrt bleiben. Die paulinische Metapher vom Leib und seinen Gliedern (1. Korinther 12) diente Bulgakov in diesem Zusammenhang als wichtiger biblischer Beleg dafür, dass auch eine charismatische Gemeinschaft nicht ohne Ordnungsstrukturen auskommen kann. Entscheidend wurde für seinen eigenen Ansatz dann aber, dass er den Sobornost'-Gedanken auf die Hierarchie selbst übertrug, indem er diese nicht mehr von ihrem historischen Ursprung in der "apostolischen Sukzession", sondern von ihrem Dienstcharakter her bestimmte, den er – mit Florovsky – in der Eucharistie als sakramentaler Gemeinschaft zugrunde gelegt sah: Im Vollzug der Eucharistie ist

    – historisch und mystisch – die Grundlage der hierarchischen Gewalt enthalten. Jedoch ist der hierarchischen Gewalt der Sakramentsvollzug nur in der Einheit mit dem Leib der Kirche, entsprechend dem Prinzip der kirchlichen Sobornost', gegeben.43

    Es war von daher die Verknüpfung des Sobornost'-Konzeptes mit der Eucharistie als Zentrum geistlicher Erfahrung, die dem Konzept bei Bulgakov seine spezifische Bedeutung verlieh.44

    Die Bedeutung des Sobornost'-Konzeptes außerhalb der russischen Orthodoxie

    Das Sobornost'-Konzept wurde auch außerhalb der russischen Orthodoxie stark rezipiert. Da Schriften Chomjakovs in Russland zunächst nicht erscheinen konnten, wurden seine Ideen – über die Vermittlung von deutschsprachigen evangelischen und katholischen Gelehrtenkreisen – in anderen orthodoxen Kirchen tatsächlich sogar viel früher als in der Russischen Orthodoxen Kirche zur Kenntnis genommen.

    Das betraf insbesondere die Orthodoxen in der . Unter ihnen fand Chomjakovs bereits erwähnter Aufsatz Einige Worte eines orthodoxen Christen über die abendländischen Glaubensbekenntnisse besondere Resonanz, da Chomjakov hier selbst auf die Marginalisierung der Orthodoxen in der Habsburger Monarchie zu sprechen kam. Der Aufsatz gehörte "zur Grundlektüre in der österreichischen Orthodoxie".45

    Kennzeichnend für die Orthodoxen in der Habsburger Monarchie war, dass es unter ihnen eine bedeutende Anzahl Intellektueller gab, die an kirchlichen Reformfragen regen Anteil nahmen. Sie machten sich das Sobornost'-Konzept zu eigen, indem sie vor allem dessen kritische Impulse aufnahmen. Im Gegensatz zu dem von weiten Teilen der Hierarchie vertretenen institutionalistischen Kirchenverständnis ging es ihnen darum, synodale Elemente in der Kirchenverfassung zu stärken. Die von Chomjakov eingenommene, nationale Bestimmungen übergreifende Perspektive wurde demgegenüber ausgeblendet: Sowohl die als auch die Orthodoxie haben "sich expressis verbis für eine ethnographische Kirchenverfassung ausgesprochen".46

    Die das national-kulturelle Element betonenden Tendenzen haben schließlich dazu geführt, dass die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bestehende Kirchengemeinschaft zwischen Serben und Rumänen in der Metropolie aufgelöst wurde und 1868/1869 eine eigenständige rumänische Metropolie in entstand. Ihr bedeutender Metropolit Andrei von Şaguna (1809–1873), der bereits als Bischof von Herrmannstadt für die orthodoxen Rumänen in Siebenbürgen und in für eine umfassende Reform des kirchlichen Lebens gesorgt und das Engagement der Laien befördert hatte, argumentierte allerdings nicht auf Grundlage des Sobornost'-Konzeptes.47 Er war offenbar von reformkatholischen Ansätzen wie der " Schule" beeinflusst, die den "Organismus"-Begriff ins Zentrum ekklesiologischer Reflexion gerückt hatten.48

    Positiv wurde hingegen in der serbischen orthodoxen Theologie an das Sobornost'-Konzept angeknüpft. Das zeigte sich namentlich bei dem bis in die Gegenwart hinein einflussreichen Justin Popović (1894–1979), der als erster serbischer orthodoxer Theologe ekklesiologische Fragen systematisch entfaltet hat. Mit dem Sorbonost'-Konzept dürfte Popović bereits während seines Studiums in St. Petersburg 1916 in Berührung gekommen sein. Die Kontakte, die sich wenige Jahre später zur seit 1921 in Sremski Karlovci (Karlowitz) ansässigen Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland um Metropolit Antonij (Chrapovickij; 1863–1936) ergaben, dürften zu einer vertieften Kenntnis beigetragen haben. Chomjakovs Schriften hat Popović in jedem Fall gekannt; den Aufsatz über die "Einheit der Kirche" hat er selbst ins Serbische übertragen.

    Es stellt sich allerdings die Frage, in welchem Maß Popović die Ideen Chomjakovs übernommen hat. Denn es gibt bei ihm zwar Anklänge an Chomjakovs Kirchenbegriff, da auch Popović die Kirche als Ort versteht, an dem Einheit in Freiheit und gegenseitiger Liebe realisiert wird. Auch spielt das Konzept der sabornost eine zentrale Rolle für Popović; für ihn ist es das wichtigste Kennzeichen der Kirche. Trotz der starken Beteiligung von Laien in der Metropolie von Karlovci (mit einer mehrheitlichen Stimmberechtigung im sabor!), die das kirchliche Leben der Orthodoxen in der katholisch dominierten Habsburger Monarchie oft überhaupt erst möglich machten, diente bei Popović das Konzept der sabornost jedoch nicht der Kritik an hierarchischen Strukturen. Die Unterscheidung zwischen einer "lehrenden" und einer "hörenden" Kirche behielt er vielmehr bei. Das Konzept selbst verstand er im Sinne von "Konziliarität": der Autorität der ökumenischen Konzilien, die nicht noch einer Bestätigung durch die Rezeption durch die Gesamtkirche bedürfte. Die ökumenischen Konzilien gewährleisteten die Kontinuität der apostolischen Tradition, weshalb Popović in ihnen "die 'göttliche Sprache' der Sabornost" erkannte.49 Vor allem aber gab Popović dem Sobornost'-Konzept insofern eine neue, über den ekklesiologischen Rahmen hinausgehende Bedeutung, als er sabornost als grundlegendes Prinzip der Trinität bestimmte, als zusammenfassende Beschreibung des innertrinitarischen Lebens. In der Kirche sah er sabornost in analoger Weise durch "Vergöttlichung" des Menschen verwirklicht. Insgesamt wird man deshalb feststellen können, dass Popović den Begriff sabornost "mit einem Inhalt füllt, der sich zwar etymologisch rechtfertigen läßt, der jedoch dem ursprünglichen Anliegen der Sobornost'-Lehre keineswegs mehr entspricht".50

    Schluss und Ausblick

    Der ekklesiologische Neuansatz Chomjakovs, der entgegen dem in der dogmatischen Theologie seiner Zeit vorherrschenden extensiv-quantitativen Verständnis Kirche als ihrem Wesen nach geistgewirkte Gemeinschaft verstand, sollte in Verbindung mit dem durch seinen Schüler Samarin eingeführten Begriff der sobornost' eine erstaunliche, bis in die Gegenwart reichende Wirkungsgeschichte entfalten: In den Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland wie darüber hinaus geführten kirchlichen Reformdebatten wurde sobornost' zu einem zentralen Begriff, der in Anknüpfung an die antihierarchischen Implikationen in Chomjakovs Interpretation der sobornaja cerkov' dazu herangezogen wurde, eine Stärkung des laikalen Elements auf allen kirchlichen Ebenen zu begründen. Aber auch im akademischen Kontext wurde das Konzept rezipiert – in der russischen Theologie und Philosophie des 19. Jahrhunderts bemerkenswerterweise auch losgelöst von ekklesiologischen Fragestellungen, in der russischen Emigrationstheologie (Florovsky; Bulgakov) sowie der serbischen Theologie (Popović) des 20. Jahrhunderts dagegen als Grundlage eigenständiger Entwürfe orthodoxer Ekklesiologie. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lassen sich entsprechend Grundimpulse des Sobornost'-Konzeptes bei bedeutenden Vertretern der "eucharistischen Ekklesiologie" nachweisen, allerdings nicht selten unter Verzicht auf die Verwendung des Terminus sobornost'.51 Seit Anfang der 1990er Jahre findet das Konzept in der russischen Theologie wie auch Philosophie verstärkt Berücksichtigung. Auch programmatische Schriften wie die im Jahre 2000 vom Bischofskonzil der Russischen Orthodoxen Kirche verabschiedeten Grundlagen der Sozialkonzeption (Osnovy social'noj koncepcii) knüpfen daran an, wenn auch mit deutlich anderem Akzent: Hier dient es als fundamentales sozialethisches Prinzip zur Begründung des diakonischen Auftrages der Kirche an der Welt.52 Die bereits in der Rezeptionsgeschichte des 19./20. Jahrhunderts deutlich werdende semantische Offenheit des Sobornost'-Konzeptes zeigt sich damit einmal mehr.

    Jennifer Wasmuth

    Anhang

    Literatur

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    Anmerkungen

    1. ^ Zur Bedeutung der Wörter "Slawophile" und "Westler" und der mit ihrem Gebrauch verbundenen Problematik vgl. Goerdt, Russische Philosophie 1984, S. 262–271.
    2. ^ Smirnov, Art. "Sobornost'" 2010.
    3. ^ So heißt es im Nicaeno-Constantinopolitanum: "Veruju ... vo edinuju svjatuju sobornuju i apostol'skuju cerkov'" (vgl. Lilienfeld, Die Göttliche Liturgie 2000, S. 124–127, hier übersetzt mit: "Ich glaube ... an eine heilige katholische und apostolische Kirche." – Hervorhebung durch die Verfasserin).
    4. ^ Von der slawisierten Form kafolikaja/kafolikijskaja/kafoličeskaja ist noch einmal das Adjektiv katoličeskaja zu unterscheiden, das zur Bezeichnung der römisch-katholischen Kirche verwendet wird. Kafoličeskaja ist direkt aus dem griechisch-byzantinischen, katoličeskaja hingegen aus dem westlichen Sprachgebrauch übernommen worden.
    5. ^ Vgl. Bernhard Plank, Katholizität und Sobornost' 1960, S. 23–27.
    6. ^ Ignatius, An die Smyrnäer 8,2 (Übersetzung nach Lindemann, Die Apostolischen Väter 1992, S. 231).
    7. ^ Vgl. auch im Altkirchenslawischen s-b'rati, das mit "zusammenlesen, versammeln, einsammeln" übersetzt werden kann.
    8. ^ Als dritte Bedeutung ließe sich hier noch sobor als Bezeichnung für das liturgische Gedächtnisfest einer Vielzahl von Heiligen anführen.
    9. ^ So Bernhard Plank, Katholizität und Sobornost' 1960, S. 28, der in diesem Zusammenhang darauf verweist, dass die Übersetzer selbst um die sprachliche Ungenauigkeit gewusst hätten, da sie den Doppelausdruck kafoličeskaja sobornaja cerkov' benutzt hätten (ebd.). Zizioulas meint demgegenüber, dass sobornaja als möglicherweise sehr treffende Übersetzung im Sinne von concrete gathering together (in der Eucharistie) verstanden werden könnte (vgl. Zizioulas, Being as Communion 1997, S. 143, Anm. 1).
    10. ^ Vgl. dazu Slenczka, Ostkirche und Ökumene 1962, S. 149: "Angemessen erscheint allein eine Ersetzung des Begriffs durch den neutestamentlichen Begriff 'koinonia' (Gemeinschaft – in Christo) bzw. durch den patristischen Begriff der 'sanctorum communio' – 'Gemeinschaft' – 'Versammlung' – 'Gemeinde der Heiligen'."
    11. ^ Vgl. Peter Plank, Paralipomena 1980, S. 5–7.
    12. ^ Vgl. dazu Bernhard Plank, Katholizität und Sobornost' 1960, S. 60–64.
    13. ^ Chomjakov, Die Einheit der Kirche 1925, S. 1.
    14. ^ Chomjakov, Die Einheit der Kirche 1925, S. 4.
    15. ^ Chomjakov, Einige Worte 1923, S. 167, vgl. auch S. 169, wo sich Chomjakov auf eine 1848 veröffentlichte Stellungnahme der vier orientalischen Patriarchen auf ein Rundschreiben von Pius IX. (1792–1878) beruft, wonach "die Unfehlbarkeit einzig und allein in der Gesamtheit der durch gegenseitige Liebe vereinten Kirche beruhe" und "die Unwandelbarkeit des Dogmas sowie die Reinheit des Ritus nicht dem Schutze irgendeiner Hierarchie anvertraut seien, sondern dem Schutze des gesamten kirchlichen Volkes, welches der Leib Christi ist" (Hervorhebung im Original).
    16. ^ Chomjakov, Einige Worte 1923, S. 179 (Hervorhebung im Original).
    17. ^ Als deren historische Ursache begriff Chomjakov einen kontroverstheologischen Topos mit langer Tradition: die Hinzufügung des filioque in das Nicaeno-Constantinopolitanum (vgl. Chomjakov, Einige Worte 1923, S. 156–158).
    18. ^ Chomjakov, Einige Worte 1923, S. 182–184 (Hervorhebungen im Original). Vgl. dazu auch Slenczka, Ostkirche und Ökumene 1962, S. 142, wonach Chomjakov am Protestantismus kritisiere, "die Glaubenswahrheiten logisch-begrifflich zu deduzieren", am Katholizismus die "Verabsolutierung der äußeren kirchlichen Institution und Organisation". Eine echte Begegnung mit dem Göttlichen hingegen sei nur "in der Freiheit von aller begrifflichen Bindung und äußeren Autorität möglich".
    19. ^ Vgl. dazu Bernhard Plank, Katholizität und Sobornost' 1960, S. 100–126; zur kritischen Auseinandersetzung mit Chomjakovs Bezugnahme auf das filioque vgl. auch Solov'ev, Geschichte 1957, S. 375–381.
    20. ^ So weist Solov'ev darauf hin, dass die slawophile Idee von der Kirche "mit viel mehr Vollständigkeit und Klarheit" in der "Symbolik" des katholischen Theologen Johann Adam Möhler (1796–1838) behandelt worden sei (vgl. Solov'ev, Rußland 1954, S. 211f., dazu auch Florovskij, Puti 1937, S. 278–281) und dass Chomjakov die konfessionelle Frage nach der Hegel'schen Trichotomie bearbeite: "der Katholizismus als Thesis – das Moment der verstandesmäßigen Einheit, der Protestantismus als Antithesis – das Moment der negativen Freiheit, die [östliche] Orthodoxie aber als Synthesis – die Einheit in Freiheit und die Freiheit in der Einheit" (Solov'ev, Art. "Hegel-Schule" 1966, S. 104). Dass über den deutschen Idealismus hinaus auch Bezüge zur Romantik bestehen, zeigen beispielsweise die Frage nach der besonderen Bestimmung des russischen Volkes, die Betonung der Einheit von Denken und Fühlen sowie die Definition der Kirche als "Organismus".
    21. ^ Vgl. dazu Goerdt, Russische Philosophie 1984, S. 659–664.
    22. ^ Vgl. Florovskij, Puti 1937, S. 380f.
    23. ^ Vgl. Florovskij, Puti 1937, S. 379f.
    24. ^ Vgl. Florovskij, Puti 1937, S. 420f.; Slenczka, Ostkirche und Ökumene 1962, S. 112–118.
    25. ^ Die These von Johannes Oeldemann, dass die genannten Theologen "zwar die gleiche Terminologie wie Chomjakov verwenden, den Begriff 'sobornost' jedoch mehr in Verbindung mit der 'konziliaren Struktur' der Kirche bringen" (Oeldemann, Die Auswirkungen 1992, S. 276), ließ sich nicht verifizieren.
    26. ^ Vgl. Svetlov, Ideja 1904, S. 441, Anm. 2.
    27. ^ Vgl. Wasmuth, Protestantismus 2007, S. 127–145 und 169–173.
    28. ^ Muretov, Protestantskoe Bogoslovie 1894, S. 9 – Hervorhebung im Original.
    29. ^ Muretov, Protestantskoe Bogoslovie 1894, S. 15 (–17), Anm. 1 – Hervorhebung im Original.
    30. ^ Muretov, Protestantskoe Bogoslovie 1894, S. 74.
    31. ^ Muretov, Protestantskoe Bogoslovie 1894, S. 74.
    32. ^ Vgl. Muretov, Protestantskoe Bogoslovie 1894, S. 15, Anm. 1 und S. 81.
    33. ^ Slenczka, Ostkirche und Ökumene 1962, S. 143.
    34. ^ Muretov, Protestantskoe Bogoslovie 1894, S. 13.
    35. ^ Muretov, Protestantskoe Bogoslovie 1894, S. 116.
    36. ^ Ruppert, Prinzip der Sobornost' 1973, S. 25. Die von dem Juristen Rudolf Sohm (1841–1917) aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Geist und Recht kehrt hier in anderem Gewande wieder. Es mag deshalb auch nicht verwundern, dass Sohms Arbeiten schon bald nach ihrem Erscheinen ins Russische übersetzt worden sind, vgl. Felmy, Rudolf Sohm 2003.
    37. ^ Oeldemann, Die Auswirkungen 1992, S. 290f.
    38. ^ Zu wichtigen Quellentexten zum Landeskonzil (in deutscher Übersetzung) vgl. Hauptmann, Die Orthodoxe Kirche 1988, S. 639–657; zur Bedeutung des Sobornost'-Konzeptes für das Landeskonzil insgesamt vgl. Oeldemann, Die Auswirkungen 1992, besonders S. 291–299.
    39. ^ Künkel, Totus Christus 1991, S. 190.
    40. ^ Vgl. Florovskij, Evcharistija 1929; Künkel, Totus Christus 1991, S. 192–201.
    41. ^ Slenczka, Ostkirche und Ökumene 1962, S. 146 (Hervorhebung durch die Verfasserin).
    42. ^ Vgl. Ruppert, Prinzip der Sobornost' 1973, S. 39–46 ; zu bedeutenden Ansätzen vgl. Felmy, Die orthodoxe Theologie 1990, S. 146–168.
    43. ^ Bulgakov, Thesen über die Kirche 1939, S. 131 (These 7).
    44. ^ Dementsprechend sind auch die Eparchien/Episkopien untereinander nach dem Prinzip der sobornost' organisiert, vgl. Ruppert, Prinzip der Sobornost' 1973, S. 38f.: Die Einheit der kirchlichen Institution besteht "in der sakramentalen Verbundenheit der Episkopien vermittels der Bischofsweihen durch den versammelten Episkopat der Nachbar-Episkopien" (Hervorhebung im Original). Dass das Sobornost'-Konzept auch in der Auseinandersetzung zwischen der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland und dem Moskauer Patriarchat eine Rolle spielte, dazu Slenczka, Ostkirche und Ökumene 1962, S. 147f., Anm. 151.
    45. ^ Schneider, Der Hermannstädter Metropolit 2005, S. 185.
    46. ^ Schneider, Der Hermannstädter Metropolit 2005, S. 186.
    47. ^ Vgl. Bremer, Ekklesiale Struktur 1992, S. 34–38; Schneider, Der Hermannstädter Metropolit 2005, S. 200–204.
    48. ^ Schneider, Der Hermannstädter Metropolit 2005, S. 175–181.
    49. ^ Bremer, Ekklesiale Struktur 1992, S. 213.
    50. ^ Bremer, Ekklesiale Struktur 1992, S. 236.
    51. ^ Vgl. Peter Plank, Die Eucharistieversammlung 1980, S. 79–113. Als plausiblen Grund für den Verzicht führt Plank in diesem Zusammenhang u.a. das "Bestreben" an, "die Assoziation slavophilen und kirchenpolitischen Gedankengutes zu vermeiden" (S. 94).
    52. ^ So heißt es in der Sozialkonzeption, dass die Glieder der Kirche berufen seien, an der Mission Christi, an seinem Dienst an der Welt, teilzunehmen, der für die Kirche allein als "gemeinschaftlicher Dienst" (sobornoe služenie) möglich sei, "damit die Welt glaube" (Johannes 17,21) (vgl. Kap. I.2). Ähnlich heißt es in dem 2008 als Ergänzung zu der Sozialkonzeption verabschiedeten Dokument Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte (Osnovy učenija Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi o dostoinstve, svobode i pravach čeloveka), dass die orthodoxe Tradition der sobornost' die Bewahrung der gesellschaftlichen Einheit aufgrund unvergänglicher sittlicher Werte voraussetze. Die Kirche rufe die Menschen dazu auf, ihre egoistischen Interessen um des Gemeinwohles willen zu zügeln (vgl. Kap. IV.7). Beide Dokumente finden sich unter: http://www.mospat.ru/en/documents/ [25.01.2012].

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    : Östliche Orthodoxien: Die Verbreitung des Sobornost'-Konzeptes in den orthodoxen Kirchen, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz European History Online (EGO), published by the Leibniz Institute of European History (IEG), Mainz 2012-04-16. URL: https://www.ieg-ego.eu/wasmuthj-2012-de URN: urn:nbn:de:0159-2012041202 [JJJJ-MM-TT][YYYY-MM-DD].

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