Das Ereignis
Am 1. November 1755, einem Sonntag und dem kirchlichen Fest Allerheiligen, erschütterte gegen 9.30 Uhr lokaler Zeit ein Erdbeben die portugiesische Hauptstadt Lissabon, damals Europas viertgrößte Stadt.1 Das Epizentrum (Bruch im Erduntergrund) lag ca. 200 Kilometer entfernt vor der Küste im Meer. Nach einem ersten Beben folgten im Minutenabstand zwei weitere, woraufhin sich eine große Flutwelle (Tsunami) erhob, die mit Macht in die Mündung des Flusses Tejo gepresst wurde und Teile der Innenstadt überschwemmte. Binnen einer Viertelstunde stürzten tausende von Gebäuden, Kirchen, Klöster, Paläste sowie Wohnhäuser ein. Durch Kerzen und Herdfeuer entzündete Feuersbrünste verwüsteten die Stadt, eine Staubwolke verdunkelte die Sonne. Das Erdbeben forderte viele Todesopfer, deren Zahl auf 20.000 bis 60.000 geschätzt wurde.
Mit den Mitteln seismologischer Forschung sowie anhand von Computersimulationen, hat man versucht, das Beben später zu rekonstruieren.2 Seine Stärke wurde auf 8.5–9 auf der Richter-Skala eingestuft. Dieser Wert kann nachträglich jedoch nicht genau verifiziert werden, da die Richter-Skala erst 1935 als Messinstrument für Erdbeben eingeführt wurde. Die Erderschütterungen und ihre Folgen blieben 1755 ohnehin nicht auf Lissabon beschränkt, sondern wurden auch in vielen anderen Teilen Europas und selbst Nordafrikas sowie Südamerikas registriert. Für die ihnen zugrundeliegenden tektonischen Verwerfungen gibt es mehrere geowissenschaftliche Hypothesen und Modelle, über die angesichts der lückenhaften überlieferten Beobachtungen nur schwer zu entscheiden ist. Allerdings lassen sich Rückschlüsse aus dem Verlauf der Tsunamiwelle ziehen, für den gesicherte Berichte von verschiedenen Orten vorliegen.
Das Bekanntwerden des Ereignisses
Wer in Lissabon bei dem Erdbeben nicht ums Leben kam, wurde Augenzeuge des verheerenden Ereignisses und seiner Folgen vor Ort. Menschen außerhalb der Stadt waren auf Informanten angewiesen, die ihre Eindrücke auf direktem Wege durch mündliche oder schriftliche Mitteilungen oder auf indirektem Wege durch Bekanntmachungen mithilfe formeller Mittel der Kommunikation mitteilten. Fünf Tage nach dem Unglück brachte die Gazeta de Lisboa, die seinerzeit einzige in Portugal erscheinende (Wochen-)Zeitung, eine erste Nachricht über das Vorgefallene.3 Offenbar hatten der Herausgeber und die Druckerei das Erdbeben schadlos überstanden:
Der erste Tag dieses Monats wird durch alle Jahrhunderte erinnert werden wegen der Erdbeben und Feuer, die einen großen Teil dieser Stadt zerstört haben; Glücklicherweise sind die Kassen des königlichen Schatzamts als auch vieler Privatleute aus den Ruinen gerettet worden.4
Schon in dieser ersten Meldung wurden die Nachwirkungen des Ereignisses vorausgesehen. Nähere Umstände waren zunächst aber nicht zu erfahren, weder über den Ablauf des Geschehens, über die Zahl der Todesopfer oder Verletzten noch über etwaige Rettungsaktionen oder die Lage der Überlebenden. Auch eine Woche danach, in der nächsten Ausgabe der Zeitung, erfuhr man wenig mehr. In der Presse des Landes herrschte "almost total silence".5 Zu erklären ist dies damit, dass die Gazeta de Lisboa (gegründet 1715) unter der Kontrolle der amtlichen Zensur stand und durch den König privilegiert war. Wie es damals unter solchen Umständen auch in anderen Ländern üblich war, veröffentlichte die Zeitung vorzugsweise Nachrichten aus anderen Ländern (vor allem Europas), während die Vorgänge im Inneren weitgehend ausgeblendet blieben. Deshalb berichtete die Gazeta de Lisboa auch in den folgenden Wochen mehr über die Konsequenzen des Erdbebens in Spanien oder anderen kleineren portugiesischen Orten. Insgesamt blieb die Berichterstattung aber recht bescheiden.
Spanien war wegen seiner räumlichen Nähe auch das Land, wohin die Nachrichten über das Erdbeben von Lissabon zuerst gelangten. Binnen einer Woche gingen entsprechende Briefe in Madrid ein, wurden dort bekannt und alsbald als "Relaciones" gedruckt.6 Von dort aus wurden die Neuigkeiten weiter verbreitet.
Die Informationen wurden sowohl auf dem Seeweg als auch auf dem Landweg befördert. Mit Schiffen gelangten sie von Lissabon nach England, durch die reitenden Boten von Madrid nach West- und Nordeuropa oder nach Barcelona, von wo aus sie über das Mittelmeer nach Oberitalien weiter transportiert wurden. Drei Wochen nach dem Erdbeben traf die erste Meldung in Paris ein, wo sie in der Gazette am 22. November 1755 gedruckt wurde.7 Gleichzeitig erreichte die Nachricht auch England, hier war sie am selben Tag in den Whitehall Evening News zu lesen.8 Eine weitere Woche verging, bis man auch im nord- und ostdeutschen Raum davon erfuhr: Am 2. Dezember 1755 standen die ersten Meldungen im Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten (HUC) und in den Berlinischen Nachrichten von Staats- und Gelehrten Sachen (BN). Es handelte sich um Nachrichten aus Madrid; Mitteilungen aus Lissabon selbst ließen noch auf sich warten.
Als die Nachrichten von dem Erdbeben in Lissabon im mehrwöchigen Abstand eintrafen, bewahrheiteten sich allerdings Ahnungen, für die es schon vorher deutliche Anzeichen gegeben hatte. Denn die seismischen Folgen waren, auch durch die späteren Nachbeben, noch vielerorts mehrmals spürbar gewesen, nicht nur an vielen Plätzen Europas sondern auch bis nach Nordafrika und jenseits des Atlantiks. Zuerst wurden eigenartige Bewegungen des Meeres und in Quellen bemerkt, im Erdreich waren es die Ausläufer der Erdstöße. Die Leser des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten hatten dergleichen zuerst am 8. November aus Glückstadt erfahren.9 Ob die eingetretene Begebenheit durch eine Erderschütterung bedingt sei, so der Berichterstatter, sei noch ungewiss. Was hier noch offen blieb, sollte in den folgenden Wochen jedoch zur Gewissheit werden.
Nicht nur in deutschen Zeitungen, sondern auch in anderen Blättern Europas wurde über Erdbewegungen berichtet. Die Gazette de Cologne meldete am 7. November 1755 eine Erschütterung aus Hamburg, die Gazette d'Utrecht eine solche aus Den Haag, weitere aus anderen Orten folgten.10 Auch wenn zumeist nur geringe oder keine Schäden entstanden, hatten die Ereignisse doch Ängste und Befürchtungen ausgelöst. In dieser Atmosphäre der Verunsicherung erreichte die Menschen schließlich die Nachricht, was in Lissabon tatsächlich vorgefallen war. Dass die Berichterstattung gewissermaßen gegenläufig zur Chronologie und zur Kausalität des Ereignisses verlief, hatte mit der großen Entfernung zu tun, die zwischen den Publikationsorten der Zeitungen und der Hauptstadt Portugals lag. Die räumliche Distanz hatte zur Folge, dass Wochen vergingen, bis Nachrichten von dort eingingen. So erfuhr man von den aufgetretenen Erderschütterungen und ihren Folgeerscheinungen in den näher gelegenen Orten eher als vom Geschehen im weiter entlegenen Zentrum des Bebens selbst. Die Mitteilung von den Ereignissen aus Lissabon traf die Leser der Zeitungen folglich nicht völlig unvorbereitet.
Soweit Überbringer der Berichte erwähnt werden, handelte es sich zum einen um Diplomaten und Gesandte, zum anderen um Vertreter von Handelshäusern, Negocianten genannt. Seitdem Portugal im 15. Jahrhundert zu einer großen Seefahrer- und Handelsnation aufgestiegen war, bestanden enge wirtschaftliche Beziehungen nach deutschland, Frankreich, England und den Niederlanden. Das schlug sich auch in den Berichten aus Lissabon nieder. Sie informierten ihre Kontore zuhause über die eingetretenen Schäden und lösten damit geradezu Kursstürze an den Börsen aus.
Der Umfang der Berichterstattung
Nach den ersten Meldungen über das Erdbeben in Lissabon in den Zeitungen blieb das Thema über Wochen, ja sogar Monate hinweg ein anhaltender Gegenstand der Berichterstattung. Deshalb kann man von einem "Medienereignis" sprechen, dem große Aufmerksamkeit zuteil wurde. Das gilt insbesondere für die deutschen Zeitungen, gab es doch im 18. Jahrhundert nirgendwo so viele davon wie im Deutschen Reich. Mustergültig war der bereits erwähnte Hamburgische unparheyische Correspondent.11 Bis Ende Januar 1756 enthielt jede Ausgabe dieser Zeitung eine Meldung zum Erdbeben in Lissabon. Ähnlich verhielt es sich mit den Berlinischen Nachrichten von Staats- und Gelehrten Sachen. Weil nur für diese Zeitungen der Umfang der Berichterstattung quantitativ ermittelt worden ist, soll dies hier dokumentiert werden. Ausgewiesen werden die Anzahl der Zeilen, und zwar getrennt für Berichte über das Erdbeben in Lissabon selbst (bzw. damit zusammenhängende Aktionen) und für Berichte über anderswo aufgetretene Erderschütterungen.
Berichte über Erdbeben von Lissabon |
Berichte über Erdbeben an anderen Orten |
Summe |
||||||
HuC |
BN |
HuC |
BN |
HuC |
BN |
|||
November |
1755 |
- |
- |
80 |
86 |
80 |
86 |
|
Dezember |
1755 |
1502 |
626 |
367 |
300 |
1869 |
929 |
|
Januar |
1756 |
276 |
601 |
288 |
518 |
564 |
1119 |
|
Februar |
1756 |
80 |
209 |
226 |
158 |
306 |
367 |
|
März |
1756 |
123 |
158 |
55 |
173 |
178 |
331 |
|
Summe |
1981 |
1594 |
1016 |
1325 |
2993 |
2819 |
Tabelle 1: Umfang der Erdbeben-Berichterstattung im Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten (HuC) und in den Berlinischen Nachrichten von Staats- und Gelehrten Sachen (BN) 1755/1756 (in Zeilen). Quelle: Wilke, Erbeben 2008, S. 81.
In den untersuchten Monaten, von November 1755 bis Ende März 1756, haben die beiden deutschen Zeitungen sehr umfangreich und insgesamt sogar fast gleich stark über die aufgetretenen Erdbeben berichtet. Knapp 3.000 Zeilen wurden jeweils darauf verwendet. Da die Zeitungen lediglich aus vier (Quart-)Seiten bestanden und darauf ca. 250 Zeilen Platz fanden, war das eine ganze Menge. Kein anderes Ereignis wurde zu dieser Zeit so intensiv thematisiert.
Die Zeitungsleser der Jahreswende 1755/56, die die hier untersuchten Blätter konsumierten, mussten den Eindruck einer sich länger hinziehenden Naturkatastrophe gewinnen. Sie hatte sich keineswegs nur in Portugal abgespielt, sondern trat auch in anderen Ländern auf oder hatte dort zumindest ihre Auswirkungen. Berichtet wurde über diese Vorkommnisse nicht nur in Spanien (Sevilla, Cadiz, Gibraltar), sondern auch in Italien (Lombardei), Irland (Cork), Frankreich (Elsass), der Schweiz, den Niederlanden sowie in Deutschland selbst. Betroffen waren also nicht nur ein fern liegender Teil Europas, sondern auch benachbarte Regionen.
In England wuchs das Interesse der Presse an diesem Ereignis nach den ersten Nachrichten aus Lissabon ebenfalls und blieb bis ins Frühjahr 1756 bestehen. 61 Zeitungsausgaben von fünf Zeitungen enthielten jeweils mehrere Berichte aus der Katastrophenregion.12 Dies war wesentlich mehr als etwa fünf Jahre zuvor über zwei – allerdings nur schwache – Beben im Februar und März 1750 in London selbst berichtet worden war. Was Spanien angeht, so sind allein für Sevilla 68 Nachrichtendrucke über das Erdbeben von Lissabon nachgewiesen, die meisten erschienen noch 1755, einige im Jahr darauf und ein paar auch noch 1757.13 Solche "Nachzügler" kamen übrigens auch in Deutschland heraus, eine "Sammlung authentischer Briefe" im Hannoverischen Magazin noch 1779.14
In Frankreich gab es Mitte des 18. Jahrhunderts praktisch nur einzelne politische Zeitungen, wovon die 1633 gegründete Gazette die wichtigste war. Sie war eng an den Hof gebunden und wurde noch bis Mitte des 18. Jahrhunderts nur einmal in der Woche verlegt. Während die beiden oben genannten deutschen Zeitungen zweimal pro Woche erschienen und regulär vier Seiten umfassten, waren es bei der Gazette allerdings acht. Die zweispaltigen deutschen Zeitungsseiten enthielten jedoch mehr Stoff als die im Blocksatz gedruckte französische Zeitung.
Schon diese Unterschiede, die hinsichtlich der Erscheinungsformen und des Umfangs der Zeitungen bestanden, bedingten, dass die Gazette weniger über das Erdbeben in Lissabon berichtete. Tatsächlich sind in ihr von Ende November 1755 bis Ende März 1756 lediglich 510 Zeilen über das Erdbeben und seine Folgen publiziert worden. Die deutschen Zeitungen veröffentlichten etwa fünf- bis sechsmal soviele Meldungen zu dem Geschehen wie die französische Gazette. Oder anders gewendet: Die Franzosen konnten in ihrer Zeitung wesentlich weniger erfahren als zur gleichen Zeit die Deutschen. Das betraf sowohl die Ereignisse in Lissabon selbst, als auch deren Auswirkungen in anderen Teilen der Welt. Beides kam in der Gazette zwar vor, aber es wurden viel weniger Einzelheiten über die Vorgänge in Lissabon geschildert. Nachrichten über andere Erdbeben wurden nur vereinzelt eingerückt, allerdings z.T. noch aus anderen Ländern. So war in der Gazette beispielsweise viel über die Erderschütterungen in Nordafrika zu lesen. Die Berichterstattung in der Gazette fiel im Ganzen wie im Einzelnen viel kürzer aus. Sie war im Stil heutiger "Kurzmeldungen" gehalten, ohne weitere Hintergründe oder gar Deutungen anzubieten.15 Die Zeitung gab ihren strengen Stil wegen der Umstände des katastrophalen Ereignisses nicht auf. Zudem fehlte es an dem in den deutschen Zeitungen gelegentlich geäußerten Mitgefühl. Von einem "Medienereignis" wie in der deutschen Presse kann für die Gazette folglich nicht die Rede sein.
Wenn man die umfangreiche Berichterstattung über Erdbeben und verwandte Naturerscheinungen zwischen November 1755 und März 1756 betrachtet, so stellt sich die Frage, inwieweit diese Thematisierung objektiv ereignisbedingt war oder inwieweit subjektiv durch die journalistische Nachrichtenauswahl, die solche Ereignisse bevorzugte. Einerseits ist nicht zu bezweifeln, dass Erderschütterungen – von Lissabon einmal abgesehen – auch an anderen Orten Europas auftraten.16 Andererseits lässt sich aber unterstellen, dass das Erdbeben in Lissabon als ein "Schlüsselereignis" in der Berichterstattung fungierte. Darunter versteht man Ereignisse, die die Aufmerksamkeit auf ähnliche Vorkommnisse lenken und dazu führen, dass über solche mehr berichtet wird, als wenn das auslösende Ereignis nicht geschehen wäre. Zahlreiche spätere Berichte vermelden wohl Erderschütterungen oder Wasserbewegungen, ohne dass größere Schäden entstanden wären. Manche erwähnten das letztere sogar ausdrücklich. Man kann annehmen, dass dergleichen nicht zur Nachricht geworden wäre, wäre das Schlüsselereignis nicht vorausgegangen.
Das Lissaboner Ereignis zog folglich eine verstärkte Berichterstattung auch über andere Ereignisse dieser Art nach sich. Zudem scheint für die Berichterstattung manches dazu phantasiert worden zu sein. Dennoch traten zweifelsohne Folgebeben auf, das gilt insbesondere für zwei Beben am 9. und 26. Dezember 1755 sowie eines am 18. Februar 1756, die unabhängig voneinander aus verschiedenen Orten Mitteleuropas gemeldet wurden. Das erste aus dem württembergisch-alemannischen Raum (Stuttgart, Schaffhausen, Basel, Zürich); das zweite aus dem Gebiet zwischen Rhein und Maas (Köln, Brüssel, Lüttich, Aachen, Düsseldorf) und das dritte ebenfalls vom (Nieder-)Rhein (Wesel, Düren, Köln) und aus Mitteldeutschland (Magdeburg). Gelegentlich scheint das Schlüsselereignis dazu beigetragen zu haben, höchst seltsame "Beobachtungen", ja optische Täuschungen, glaubhaft erscheinen zu lassen. Einschlägige Meldungen standen in der überlieferten Tradition kosmologischer Wahrnehmungsformen und Visionen, die sich in den zahllosen Flugblättern und Schriften über Kometen und Himmelserscheinungen niederschlugen. Selbstverständlich wirkte sich die Erdbeben-Berichterstattung auch auf die Primärkommunikation der Menschen aus, wie aus einzelnen Berichten hervorgeht.17
Inhalte der Berichterstattung
Bereits die ersten, am 2. Dezember 1755 im Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten erschienenen Berichte zeichneten ein drastisches Bild von den "fürchterlichen Umständen" des Erdbebens in Lissabon. Die Hälfte der königlichen Residenz, alle Kirchen und der königliche Palast seien eingestürzt. Brände und die riesige Flutwelle des Tejo trugen ebenfalls zur Zerstörung bei. Die Zahl der getöteten Einwohner wurde jetzt schon mit 50.000 angegeben, ein Drittel aller Einwohner der Stadt.
Während man noch auf weitere Einzelheiten wartete, wurden aus anderen Städten Europas schon erste Reaktionen gemeldet. Zum einen vernahm man aus Amsterdam und London etwas von den voraussichtlichen negativen Folgen des Unglücks, eine "Erschütterung des Commercio" für den Handel.18 Zum anderen wurden sehr rasch Hilfsleistungen und Beistand angeboten. Der britische König wollte 50.000 Pfund Sterling bereitstellen, der spanische König elfmal 100.000 Piaster.19 In Hamburg wurde beschlossen, zwei Schiffe mit Hilfsgütern nach Portugal zu entsenden.20
Nach und nach setzten die deutschen Zeitungen ihre Leser eingehender von dem Geschehen in Lissabon (und andernorts) in Kenntnis. Doch erst ab Ende Dezember wurden auch aus Portugal selbst regelmäßig Berichte veröffentlicht. Die Schäden und die Not der Überlebenden standen im Vordergrund, aber auch das Schicksal der Königsfamilie wurde geschildert. Sie hatte überlebt, musste aber ebenfalls Not leiden.21 Die gesellschaftliche Ordnung war erschüttert. Berichtet wurde von Diebstählen und Plündereien. Ertappte Übeltäter wurden sogleich am Galgen aufgehängt. Mit fortschreitender Zeit war in den Berichten aus Lissabon aber auch schon vom beginnenden Wiederaufbau der portugiesischen Hauptstadt die Rede, in dem sich der Marquês de Pombal (1699–1782) als genialer Planer und Organisator hervortat.
Die Zeitungen des 17. und 18. Jahrhunderts wollten ihre Leser sachlich informieren und folgten gleichsam einer journalistischen Objektivitätsnorm. Kommentierung war nicht ihre Absicht, die eigene Meinung sollten sich die Leser selbst bilden können. Insofern trugen die Zeitungen wenig zu dem Katastrophendiskurs und damit zu der historisch-geschichtsphilosophischen Deutung dieses Ereignisses bei. Dennoch finden sich in ihnen mancherlei Indizien. Beispielsweise berichteten die Berlinischen Nachrichten am 21. januar 1756, dass manche in London in dem Erdbeben ein Vorzeichen des von dem Astronomen Edmond Halley (1656–1742) für 1758 angekündigten und dann nach ihm benannten Kometen sahen.
Gegenüber der naturwissenschaftlichen Erklärung dominierte allerdings eine theologisch-metaphysische Auslegung. Das Erdbeben erschien – wie schon zitiert – als eine Gottesstrafe, eine Auffassung, die insbesondere der portugiesische Inquisitor Gabriel Malagrida (1689–1761) verkündete, von dessen Bußpredigten und (An-)Klagen man ebenfalls erfuhr. Biblische Anklänge an die Zerstörung Jerusalems wurden geäußert, endzeitliche Deutungen, das drohende Jüngste Gericht, lagen nahe und wurden wiederholt kolportiert. Auch Sündenböcke wurden für das Erdbeben gesucht und die Verantwortung auf Sie geschoben.22
Der Katastrophendiskurs in Publizistik, Literatur, Theologie und Philosophie
Die Zeitungen hatten sich 1755/1756 weitgehend auf die Ereignisberichterstattung beschränkt, ließen jedoch, wie gezeigt, schon mancherlei Hypothesen über die Ursachen des Geschehens und primär theologische Deutungen einfließen. Seit dem Frühjahr 1756 erschienen zu dem Thema auch ausführlichere Einzelschriften. In Spanien behandelten zahlreiche Traktate die physikalischen, philosophischen und religiösen Aspekte des Erdbebens.23 In England wurden mehrere Dutzend Pamphlete veröffentlicht; der Löwenanteil davon waren Predigten und theologische Abhandlungen.24 In ihnen wurde das Erdbeben als "katholische Katastrophe"25 gedeutet, als Strafe insbesondere für die in Portugal tätige Inquisition. Das relativierte die Bedeutung für die britischen Protestanten, zumal nur wenig Engländer vor Ort umgekommen waren. Das Ereignis wurde aber auch als Warnung für die eigene Bevölkerung verstanden. London könne ähnliches wiederfahren, wenn man dort das sündhafte Leben weiter führe. Nachdem man nach den leichten Londoner Erdbeben 1750 in der englischen Presse noch über naturwissenschaftliche Erklärungen diskutiert und verschiedene Theorien aufgestellt hatte, war davon jetzt so gut wie keine Rede mehr.26
In Frankreich befassten sich neben der Gazette die in größeren Intervallen erscheinenden wissenschaftlichen und literarischen Zeitschriften sowie Almanache mit dem Erdbeben.27 Hier lassen sich ein narrativer und ein reflektierender Diskurs unterscheiden.28 Beispielsweise begründeten die Jansenisten die Katastrophe damit, dass der portugiesische König João III. (1502–1557) die Jesuiten ins Land gelassen hatte.29 Andere argumentierten politisch und sahen in dem Ereignis die unerwartete Chance Portugals, sich von der Abhängigkeit von England zu befreien.
Auf Basis der erhaltenen Informationen entstand ein europaweit ausgreifender Diskurs über die Ursachen und die Deutung der Lissaboner Katastrophe. Die Theologen standen vor dem Problem, zu rechtfertigen, warum der christliche Gott ein derartiges Unheil geschehen ließ und wie dies mit der göttlichen Vorsehung über die Geschichte der Menschheit zu vereinbaren sei.30 Auch Philosophen, Dichter und Literaten fühlten sich zur Auseinandersetzung mit dem Geschehen herausgefordert. Schon ein zeitgenössischer Rezensent konstatierte 1756 "[d]aß die Erdbeben große Landplagen sind, erhellet unter andern aus der großen Menge schlechter Schriften, die sie in allen Gegenden des Erdbodens erzeugen, und über die auch in dem gegenwärtigen Jahre so manche Presse seufzt".31
Zahlreiche, nicht selten ungenannte Dichter, verfassten Oden über das Erdbeben, in denen sie das Vorgefallene besangen. Als Neujahrsgedichte erschienen zum Jahreswechsel 1755/1756 in verschiedenen Presseorganen erste Werke. Sie folgten meist einem recht schematischen Aufbau, der von der Evokation der prachtvollen Stadt vor dem Unglück, über die Schilderung des Bebens in mehreren Phasen bis hin zu einem moralischen Schluss mit einem "memento mori" reichte.32
Der im Genfer Exil lebende Voltaire (1694–1778) nahm die Naturkatastrophe zum Anlass für eine Grundsatzdebatte. In seinem Lehrgedicht "Poème sur le désastre de Lisbonne ou Examen de cet axiome 'Tout es bien'" (1756), von dem noch im gleichen Jahr 20 Ausgaben erschienen,33 legte er in 250 poetischen Versen die optimistischen Thesen der Aufklärung dar.34 Eine solche Weltanschauung hatten zuvor besonders Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) in seinem "Essai de théodicée" (1710) und Alexander Pope (1688–1744) in seinem Essay on Man (1733/1734) vertreten. Voltaire wollte dieses Denken ad absurdum führen. Der gleichen Absicht entsprang sein satirischer Roman Candide ou l'Optimisme (1759), in dem der naive Held zusammen mit seinem Lehrer Doktor Pangloß, beide Anhänger des philosophischen Optimismus, absurde Erfahrungen machen und in den Strudel des Erdbebens von Lissabon geraten. Nichtsdestoweniger sind sie bestrebt, an ihren Ansichten festzuhalten.
Voltaire erregte damit in Europa großes Aufsehen und provozierte mehrere Autoren, ihm mit Widerlegungen entgegenzutreten. Jean Jacques Rousseau (1712–1787) machte beispielsweise die städtische Bebauung dafür verantwortlich, dass in Lissabon so viele Einwohner ums Leben gekommen waren. Der Mensch unterliege den objektiven Gesetzen der Natur, von denen er sich nicht unabhängig machen könne.35 Nur ein Fragment blieb der gegen Voltaire gerichtete deutsche "Anti-Candide" von Justus Möser (1720–1794).36 Während Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)[] noch nach Jahrzehnten in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit37 rückblickend die Erschütterung der "Gemütsruhe" bekundete, die er in Frankfurt als Sechsjähriger durch das Erdbeben in Lissabon empfunden hatte, ließen sich andere zeitgenössische deutsche Autoren dadurch nicht von ihrer optimistischen Weltsicht abbringen.38
Auch Immanuel Kant (1724–1804)[] reagierte mit drei Schriften auf das Erdbeben von Lissabon.39 Zwei davon publizierte er in seinem heimatlichen Intelligenzblatt (Anzeigenblatt), den Königsbergischen wöchentlichen Frag- und Anzeigungsnachrichten ("Von den Ursachen der Erderschütterungen bei Gelegenheit des Unglücks, welches die westlichen Länder von Europa gegen das Ende des vorigen Jahres betroffen hat", "Fortgesetzte Betrachtung der seit einiger Zeit wahrgenommenen Erschütterungen"). Eine dritte erschien wegen des größeren Umfangs selbständig ("Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigen Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Teil der Erde erschüttert hat"). Kant, der gerade erst seine Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) vorgelegt hatte, äußerte sich in den Erdbeben-Schriften keineswegs nur als (Natur-)Philosoph, sondern lieferte zunächst eine nüchterne Beschreibung des Erdbebens. Dabei stützte er sich offenbar auf die Presseberichte. Er bedachte und erwog die damals kursierenden wissenschaftlichen Auslegungen und favorisierte selbst eine chemische Erklärung.40 Die metaphysische Spekulation lehnte er ab, aber die Stellung des Menschen gegenüber den Naturgesetzen, die unabhängig von ihm seien, beschäftigte ihn sehr. Damit legte Kant einen Grundstein für die wissenschaftliche Erdbebenforschung, die durch die Ereignisse in Lissabon einen starken Anstoß erhielt.
Die Visualisierung des Erdbebens
Die Auseinandersetzung mit dem Erdbeben von Lissabon beschränkte sich nicht auf die Druckschriften, sondern erstreckte sich auch auf visuelle Darstellungen.41 Im Format der Ereignisgraphik wurden dem Betrachter die spektakulären Vorgänge anschaulich vor Augen geführt. Mitte des 18. Jahrhunderts waren jedoch die illustrierten "Newen Zeytungen" schon weitgehend durch die periodischen Zeitungen verdrängt worden, die ganz ohne Illustrationen auskamen. Obwohl das ältere Medium, das für bildliche Vergegenwärtigung solcher Ereignisse prädestiniert gewesen war, fehlte, wurden zahlreiche Abbildungen des Erdbebens angefertigt. Dabei handelte es sich zumeist um Kupferstiche oder auch Holzschnitte, die entweder vervielfältigt wurden oder größere Druckschriften illustrierten. Heute ist der eindrucksvolle Corpus dieser bildlichen Darstellungen in der von Jan Kozák (1921–1995) angelegten Collection of Historical Earthquakes der University of California Berkeley leicht zugänglich.42
Die Abbildungen lassen sich in drei Hauptgruppen unterteilen, die eine Ikonographie des Ereignisses liefern.43 Eine erste Gruppe umfasst die Abbildungen, die den Augenblick der Zerstörung darstellen, sozusagen Momentaufnahmen, die sich nicht auf Einzelgebäude konzentrieren, "sondern … die Stadt in der Gesamtschau meist vom Wasser aus gesehen dar[stellen]: aufgewühltes Meer im Vordergrund rahmt die sich im Stürzen befindlichen Gebäude des Stadtpanoramas."44 In einer zweiten Gruppe finden sich Darstellungen, "die dieses bewegte und vermittelnde Chaos einer bebenden Stadt wiederzugeben versuch[en] und eine adäquate Umsetzung des prozessualen Noch-Nicht und Nicht-Mehr anstreb[en]."45 Darstellungen von Ruinen bilden die dritte Gruppe. Menschen sind auf diesen Bildern allenfalls als kleine Staffagefiguren im Vordergrund zu sehen, sie haben gewissermaßen die Funktion von Augenzeugen und stehen stellvertretend für den Betrachter außerhalb des Bildes, der sich mit ihnen identifizieren kann. In einer Reihe von Fällen wurde auch das "alte" mit dem zerstörten Lissabon kontrastiert.
Viele Künstler legten bei ihren bildlichen Darstellungen wenig Wert auf künstlerische Qualität, doch ist es vielfach beeindruckend, wie dramatisch sie das Erdbeben visualisierten. Einerseits ging es darum, den Schrecken der Vorgänge einzufangen und starke Emotionen auszulösen, nicht zuletzt mit dem Ziel, diese Abbildungen zu verkaufen. Aufgrund ihres Emotionsgehalts kann man darin Vorläufer heutiger Katastrophenbilder sehen, die darauf zielen, Empathie zu erzeugen und Solidarität mit den gezeigten Opfern hervorzurufen.46 Andererseits waren die visuellen Repräsentationen aber keineswegs authentisch, weil kaum einer der Stecher oder Holzschneider Augenzeuge des Geschehens gewesen war. Sie konnten sich allenfalls auf die vorhandenen verbalen Berichte stützen oder mussten auf andere Weise das Ereignis imaginieren. Ziel war es, die Neugier und Schaulust der Menschen zu stillen, zumal derjenigen, die zum Lesen der Berichte (noch) nicht in der Lage waren.
Da die Herstellung der Kupferstiche mehr Zeit benötigte als das Schreiben eines Berichts, entstanden die Abbildungen oftmals erst in den nachfolgenden Jahren. Dabei wandten sich auch ambitionierte Künstler dem Sujet zu. So legte 1757 der französische Kupferstecher Jacques-Philippe Le Bas (1707–1783) eine Graphikfolge aus sechs Blättern zu dem Erdbeben in Lissabon vor, die rasch populär und wiederholt reproduziert wurde ("Recueil des plus belles ruines de Lisbonne causées par le tremblement et par le feu du premier Novembre 1755").
Auch Le Bas war selbst nie in der portugiesischen Hauptstadt gewesen; er nutzte wahrscheinlich Vorarbeiten lokaler Provenienz, nahm sich jedoch seine künstlerische Freiheit.47 Nach Jörg Trempler (geb. 1970) stellt Le Bas' Graphikzyklus "die eigentliche Geburtsstunde der Katastrophenbilder" dar.48 Wie er darlegt, wird der aus der Theatersprache stammende Begriff "Katastrophe" erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts auf Naturerscheinungen bestimmter Art angewandt. So betrachtet bilden die Graphiken keine realen "Katastrophen" ab; vielmehr definieren sie die gezeigten Vorgänge erst als solche und machen sie wahrnehmbar. Demzufolge waren es die Graphiken zum Erdbeben von Lissabon, die die Tradition des Katastrophenbildes in der europäischen Kunstgeschichte begründeten und die in anderen Formaten aufgegriffen wurde, etwa in Gemälden sowie später in der Photographie.
Zu den vielen optischen Erfindungen, mit denen man im 17. und 18. Jahrhundert das Schaubedürfnis der Menschen zu befriedigen suchte und die als Vorläufer der heutigen optischen Massenmedien angesehen werden können, gehörte der Guckkasten. Dieser bestand aus einem Kasten aus Holz, an dessen Vorderseite eine runde Öffnung mit Linse oder ein Glaseinsatz angebracht war.49 In diesen Guckkasten wurden Bilder eingeschoben, die der Betrachter durch die Öffnung erkennen konnte und die einen lebendigen, ja dreidimensional-plastischen Eindruck vermittelten. In Augsburg, einem der Hauptzentren für die Produktion von Guckkastenbildern, fertigte der dort ansässige Kupferstecher Martin Engelbrecht (1684–1756) serienweise Kulissenbilder ("Perspektivtheater").50 Seine Perspektivtheaterserien bestehen aus jeweils sechs bis sieben Kupferstichen, die hintereinander gestaffelt werden und damit besondere Tiefenwirkung erzeugen.
Auch das Erdbeben in Lissabon wurde um 1760 zum Gegenstand des Perspektivtheaters von Engelbrecht. In sieben kolorierten Kupferstichen illustrierte er verschiedene Episoden des Ereignisses, die ein höchst lebendiges, geradezu mitreißendes Bild boten. Einstürzende Säulen und Bauträger rahmen das Bild, die Gebäude, ein Kirchturm und Gewölbe, sind am Zusammenbrechen. Auch einige flüchtende Personen sind zu erkennen, die ekstatische Gesten machen oder einander das Leben zu retten versuchen. Diese imaginierte Version des Erdbebens von Lissabon war – wie bei Guckkästen üblich – für die Präsentation auf Jahrmärkten gedacht. Es handelte sich um ein Medium, das zur Popularisierung diente. Als Vorform des Films bzw. des "Fernsehens" brachte es auch jenen das Ereignis nahe, die nicht lesen konnten oder zusätzlich eine optische Anschauung suchten.
Nachwirkungen des Erdbebens von Lissabon
Das Erdbeben von Lissabon hat nicht nur einen intensiven Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert bewirkt. Es wirkte im kollektiven Gedächtnis Europas bis in die Gegenwart nach. Bei späteren Erdbeben und Naturkatastrophen dienten die Geschehnisse in Lissabon immer wieder als Bezugspunkt. So geschah es beispielsweise 1883 bei der Eruption der Vulkaninsel Krakatau in der Sundastraße zwischen Java und Sumatra.51 Schon am 23. Mai diesen Jahres hatte sich der Vulkanausbruch mit einer Explosion angekündigt. Am 27. August löste die in diesem Teil der Welt besonders gefährliche Plattentektonik dann den Ausbruch selbst und den Untergang der Insel aus. Die entstandene Druckwelle umkreiste den Erdball mehrmals, und vor allem die daraus resultierende Flutwelle hatte tödliche Folgen. 35.000 Menschen kamen dadurch ums Leben.
Die Insel Krakatau war von Europa viel weiter weg als Lissabon und hatte insofern einen geringeren Nachrichtenwert. Die Bedingungen für die Berichterstattung hatten sich jedoch in technischer Hinsicht durch die Telegraphie entscheidend verbessert. Von den am 23. Mai eingetretenen Ereignissen konnten die Leser der Londoner Times schon am Tag darauf eine 15 Worte umfassende Meldung lesen. Auch der definitive Vulkanausbruch drei Monate später wurde rasch bekannt, obwohl die Telegraphenleitungen durch die Eruptionen und die Seebewegungen selbst in Mitleidenschaft gezogen worden waren.
Hatte man in Hamburg 1755 vier Wochen auf die Nachricht vom Erdbeben in Lissabon warten müssen, so erfuhren die Leser des 1883 noch immer existenten Hamburgischen Correspondenten, von der vulkanischen Eruption des Krakatau viel schneller. Ein Telegramm der Nachrichtenagentur Reuters in der Ausgabe der Zeitung vom 29. August diente als Vorbote. Bereits zwei Tage darauf, am 31. August, brachte die Zeitung einen längeren detaillierten Bericht über das Geschehen im Fernen Osten und mit Hintergrundinformationen über eine der größten vulkanischen Regionen der Welt. Außerdem wurde dem Leser mitgeteilt, dass sich die Flutwelle nach einem Erdbeben "sehr häufig…, wie auch bei der historischen Katastrophe von Lissabon im Jahre 1755, als viel verderbenbringender [erweise] als das Erdbeben selbst". Daran lässt sich erkennen, wie stark das Erdbeben von Lissabon beim Ausbruch des Krakatau wieder ins Bewusstsein trat. Seine prägende Kraft als Schlüsselereignis hatte die Jahrhunderte überdauert.
Den jüngsten vergleichbaren Anlass bildete die Tsunami-Welle im Indischen Ozean, die am 26. Dezember 2004 losbrach und zur größten Naturkatastrophe seit Menschengedenken wurde, ohne dass daraus bisher erkennbar ein Diskurs folgte, wie er vor 250 Jahren durch das Erdbeben von Lissabon angestoßen worden war. Als einzigartiges Medienereignis übertraf der Tsunami jedoch alle anderen früheren Fälle der Medialisierung von Naturkatastrophen,52 waren doch inzwischen durch die Photographie und das Fernsehen neue Mittel der medialen Repräsentation hinzugekommen.
Die Tsunami-Flutwelle 2004 hat ebenfalls die Erinnerung an das Erdbeben von Lissabon wachgerufen. Die Wochenzeitung Die Zeit illustrierte ihren ersten Bericht über die Tsunami-Katastrophe am 30. Dezember 2004 mit dem kolorierten Holzschnitt eines Einblattdrucks des Augsburgers Georg Caspar Pflauntz, auf dem Lissabon und das Meer vor der Stadt im Augenblick des Erdbebens gezeigt werden. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel brachte dasselbe Bild53 in seiner Ausgabe vom 3. Januar 2005. Kaum ein anderes Ereignis habe die Zeitgenossen so nachhaltig erschüttert wie dieses: "Im fernen Königsberg kam Immanuel Kant anlässlich des Erdbebens von Lissabon zu dem Schluss, dass der Mensch nicht der Zweck aller Dinge auf Erden sei."54
Die Zeit zeigte außerdem in einem Kasten eine Chronologie früherer Flutwellen, worunter auch das Lissabonner Beben verzeichnet war. Bemerkenswert ist, dass diese journalistische Form des "Gedächtnisses" unmittelbar auf die Berichterstattung 1755 zurückweist. So hatte bereits der Redakteur des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten in der Ausgabe vom 11. Februar 1756 Überlegungen zur Häufigkeit und Erinnerungswürdigkeit solcher Ereignisse angestellt und damit die Funktion des "Schlüsselereignisses" bestätigt:
Es hat, so lange die Welt gestanden, Erdbeben und Erderschütterungen gegeben. Viele Nachrichten sind davon verlohren gegangen, und viele haben uns die alten Schriftsteller aufbehalten. Indes scheinet es doch, als wenn diese Naturbegebenheit in unserm gegenwärtigen Weltalter sich öfterer in Europa äußere, als in den vorigen Zeiten. … Allein sollte man wol glauben, dass wir seit 1750 mehr als 80 Erdbeben in der Gegend von Europa angeben könnten, worunter verschiedene von unglücklichen Folgen gewesen sind, obgleich die meisten nur in einer Erschütterung bestanden, die mehr Schrecken als Unheil angerichtet hat? Die meisten Menschen sind so geartet, dass sie ein entferntes Unglück wenig achten, oder es auch gar bald vergessen, wenn es sie nicht betroffen hat. Nur die Neuigkeit einer Sache reizet auf wenige Augenblicke oder Tage ihre Aufmerksamkeit, und vielleicht ist das fürchterliche Erdbeben von Lissabon eben so bald vergessen, als die große Anzahl der Erdbeben, die wir ihnen nur seit 1750 wieder ins Gedächtniß bringen wollen.
Es folgte eine Liste früherer Erdbeben – wie in der Zeit 250 Jahre später. Journalistische Praktiken sind somit über Jahrhunderte miteinander verbunden. Auch deshalb sollte der Redakteur mit seiner Vermutung, das Erdbeben von Lissabon werde vielleicht "so bald" vergessen sein, nicht Recht behalten.