Schtetl

von by Marie Schumacher-Brunhes Original aufOriginal in Deutsch, angezeigt aufdisplayed in Deutsch
PublishedErschienen: 2015-02-25
    Print Drucken PDF E-mailE-mail XML MetadataXML Metadaten   

    Als Erinnerungsort des osteuropäischen Judentums nach dessen systematischer Vernichtung durch das Nazi-Regime fungierend, existierte das Schtetl Jahrhunderte lang als sozioökonomisches Phänomen und soziokulturelles Konstrukt, aus dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein literarisch-künstlerischer Tatbestand erwachsen konnte. Die Komplexität dieses im multiethnischen Polen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstandenen Begriffs besteht in der Schwierigkeit, zwischen mentaler Wahrnehmung und tatsächlichen Grundlagen zu unterscheiden. Nie waren nämlich diese Städte und Kleinstädte, deren Einwohnerschaft meistens mehrheitlich aus jiddischsprachigen Juden bestand, jüdische Ortschaften: die autonome Selbstverwaltung durch den sog. "kahal" und die Eingliederung in ein dichtes jüdisches Netz, das im Laufe der Zeit bis nach Übersee reichte, waren nicht mit politischer Autonomie zu verwechseln. Immerhin machten die Schtetl-Juden tagtäglich die doppelte Erfahrung von einem Leben in einer im Wesentlichen jüdischen Welt einerseits, und von der relativen Akzeptanz dieses Zustands durch die Umwelt andererseits. So konnten diese von interethnischen Kontakten durchströmten Versorgungsinseln im Kontext ihres progressiven Niedergangs in einem Prozess der Mythologisierung zum Hort des Judentums, der sog. "yidishkeyt" werden.

    InhaltsverzeichnisTable of Contents

    Schtetl

    Der mehrdeutige Begriff Schtetl (jidd. shtetl, Plural shtetlekh) bezieht zum einen historisch völlig nachvollziehbare sozioökonomische Inhalte und zum anderen diffuse kulturelle Bedeutungen ein. Seine Komplexität beruht auf der schwierigen Unterscheidung zwischen dem nicht mehr bestehenden sozioökonomischen Phänomen und dem soziokulturellen Konstrukt, aus dem ein literarisch-künstlerischer Topos hervorging. Dies machte aus dem Schtetl das Sinnbild des ursprünglich Jüdischen. So wurde das Schtetl nach der Vernichtung des Ostjudentums durch das nationalsozialistische Regime zu dessen mystifiziertem Erinnerungsort.

    Ruft heute der Begriff eines spezifischen Raumes der ostjüdischen Gemeinden mitten in einer nicht-jüdischen Umgebung die Konnotation einer Randexistenz hervor, ist bei Historikern nichts umstrittener als eben solch eine vermeintliche Isolation. Im multi-ethnischen , dem Ort ihrer Entstehung, waren die Schtetl keine jüdischen Ortschaften, sondern eben polnische Städte und Kleinstädte, deren Einwohnerschaft zu einem bedeutenden, wenn nicht mehrheitlichen Anteil aus jiddischsprachigen Juden bestand. Diese Definition setzt voraus, dass der Begriff als Ergebnis einer mentalen Wahrnehmung interpretiert wird.

    Das urbane Phänomen

    Das Verbreitungsgebiet der Schtetl umfasst die heutigen Staaten Polen, , , , , , sowie das südliche . Die Gebiete dieser Länder entsprachen bis 1945 einem kulturell aschkenasischen Lebensraum.

    Begriff und Definition des Schtetl in dem hier dargelegten Sinn kamen in Recht und Politik nicht vor. 1875 etablierte der russische Senat die Kategorie mestečko (wörtlich "kleine Stadt") für im Gegensatz zu einfachen Dörfern verwaltete Ortschaften. Rund ein Drittel der Juden wohnten zur Zeit der Volkszählung von 1897 in solchen "kleinen Städten". Interessant ist, dass das Polnische, das viele jiddische Begriffe assimiliert hat, diesen Begriff im Ganzen ignoriert. Der Sejm definierte 1775 allein aus steuerlichen Zwecken miasteczko als eine weniger als 300 Feuerstätten zählende und einen Wochenmarkt ausrichtende Ortschaft.

    Die Juden selbst unterschieden zwischen dorf (jidd.) bzw. yishev (jidd. winzige ländliche Ansiedlung) und shtetl (in der Pluralform shtetlekh, manchmal auch kleynshtetl) und stellten das Diminutiv Schtetl der vollwertigen Stadt (shtot) gegenüber. Damit wurde nicht nur auf die Größe der im ländlichen Raum angesiedelten Ortschaften angespielt, sondern hauptsächlich auf eine bestimmte Lebensweise und auf die entsprechenden sozialen Beziehungen, was der Rückgriff auf die Adjektive kleynshtetldik (synonym für provinziell) und groysshtotish (synonym für kosmopolitisch) verdeutlicht. Ein Schimpfwort hingegen war „yeshuvnik, mit dem die Schtetlbewohner Mühlen- und Schankpächter und dergleichen bezeichneten.
    Ein Schtetl musste groß genug sein, um die wesentlichen jüdischen Institutionen aufzunehmen. Als Parameter für das 18. Jahrhundert wird für ein Schtetl eine Gesamtbevölkerung von 2.000 Menschen angegeben. Später wurden Städte mit bis zu 10.000, gar 20.000 Einwohnern als Schtetl bezeichnet. Maßgeblich war, dass der Anteil der jüdischen Bevölkerung mindestens 40 Prozent betrug.1 Die jüdische Einwohnerschaft (kehile) wurde von einem Rat angesehener Männer geleitet, dem kahalKahal in Warschau 1894 IMG. Dieser, der institutionelle Ausdruck der jüdischen Autonomie, stellte den Rabbiner ein, sorgte für den Betrieb des Ritualbades, erhob die Steuer und vertrat die Gemeinde nach außen. Kennzeichnend war die weitgehende Rechtshoheit, nicht nur in Gerichtsbarkeit, sondern auch in Bereichen wie Kulturwesen und Wohltätigkeit. Ein Schtetl verfügte über mindestens eine Synagoge (shul) mit angeschlossener Lernstube (bes-medresh), ein Ritualbad (mikve), einen Friedhof, eine Elementarreligionsschule (kheder) und weitere Erziehungsanstalten (talmud-toyre)Jüdische Gemeindeeinrichtungen in Chotin 1930 IMG sowie Vereine (khevres), die grundsätzliche religiöse oder gemeinschaftliche Aufgaben übernahmen, darunter die angesehene Begräbnisbruderschaft. Ab dem 18. Jahrhundert vermehrten sich infolge des Aufstiegs des Chassidismus die sog. shtiblekh, Gebetshäuser, in denen sich die Anhänger eines tsaddik (im Judentum ursprünglich der wahrhaft Fromme, dann geistiger Führer, Lehrer und Meister im Chassidismus) versammelten. Mehrere chassidische Dynastien konnten an einem Ort vertreten sein.

    Entstehungsgeschichte: Das Schtetl als Produkt des Bündnisses zwischen Juden und polnischem Adel

    Bereits im 13. und 14. Jahrhundert wohnten Juden auf dem gesamten Gebiet des polnischen Staates, der ab 1386 in einer Personalunion mit dem stand. In den nächsten Jahrhunderten strömten Juden angesichts zunehmender Verfolgung in nach Polen. Dort wurde diese Zuwanderung auch von Juden aus polnischen Städten, die das Recht De non tolerandis Judaeis erhalten hatten, gerne gesehen, da das dünn besiedelte, rückständige Agrarland weiterentwickelt werden sollte. 1569 hatte nämlich die die polnisch-litauische Adelsrepublik (auch Rzeczpospolita oder Polen-Litauen genannt) begründet, was einerseits eine Ausdehnung nach Osten mit sich brachte und andererseits die szlachta (pol. Kleinadel, auch mittlerer Adel) als politisch, wirtschaftlich und sozial dominierende Schicht endgültig verankerte. Damit einher ging die Gründung von Privatstädten durch den polnischen Adel (zwei Drittel der städtischen Siedlungen in der Union waren Privatstädte): Handelsnetze wurden benötigt, um Produkte wie Getreide, Holz, Honig, Alkohol und weitere landwirtschaftliche Erzeugnisse zu verwerten und verkaufen. Der Kosakenaufstand, in dem im Jahre 1648 200.000 Juden den Chmielnicki-Massakern zum Opfer gefallen sein sollen, und die darauffolgende schwedische Invasion sowie der Moskauer Krieg stürzten das Land ins Chaos. Für den Wiederaufbau, der hauptsächlich auf der Gründung weiterer Privatstädte zur Verstärkung des Handelsnetzes beruhte, wandte sich der Adel erneut an die Juden, die keine politische Konkurrenz darstellten, und instrumentalisierte sie in einer Weise, die bisweilen Züge einer Kolonisierung annahm.2 Zu dieser Zeit wurden den jüdischen Gemeinden zahlreiche Privilegien gewährt, die ihnen die Selbstverwaltung garantierten.

    Mitentscheidend für die Entstehung des urbanen Phänomens Schtetl war die Tatsache, dass Juden beinahe die Hälfte der urbanen Bevölkerung der Rzeczpospolita ausmachten, wobei 70 Prozent der jüdischen Bevölkerung in den östlichen Territorien konzentriert waren, was dort ihren Anteil bisweilen auf weit über 50 Prozent steigen ließ. Dies hing damit zusammen, dass die jüdische Bevölkerung ein hohes demographisches Wachstum erfuhr. Dies war allerdings eher einer niedrigen Sterblichkeit als einer hohen Geburtenrate zu verdanken. Die weiteren ethnischen Gruppen waren überwiegend auf dem Land ansässig: Während Juden im Jahr 1500 noch weniger als 0,5 Prozent der Gesamtbevölkerung, nämlich 30.000 Personen ausmachten, stieg dieser Anteil bis 1672 auf ungefähr 3 Prozent, um bis zum Jahr 1765 5,35 Prozent, also 750.000 Personen, zu erreichen.

    Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert wuchs die Macht der polnischen Magnaten, also der aristokratischen Elite, auf Kosten der Krone und des Klein- bzw. Landadels. Da zwischen 50 und 75 Prozent der polnisch-litauischen Juden jene Städte und Dörfer bewohnten, die den Magnaten gehörten und sich die Interessen beider Gruppen oft überschnitten, entstanden sehr enge Beziehungen zwischen ihnen. Dieses Verhältnis diente dem beiderseitigen Nutzen: Der von den Magnaten gebotene Schutz bürgte für eine gewisse Sicherheit, während Juden im Gegenzug ihre Erfahrungen und Fachkenntnisse in Finanz- und Handelsdingen sowie im handwerklichen Bereich zur Verfügung stellten. Dabei waren sie kaum Konkurrenz ausgesetzt, während sie in den Königsstädten auf das Ressentiment der christlichen Zünfte stießen. In diesem Zusammenhang wurde auch das unter der Bezeichnung arenda bekannte System des Verpachtens von Monopolen (daher der Begriff arendar, das heißt Oberpächter) geschaffen. Verpachtet wurden in erster Linie die Produktion und der Ausschank von alkoholischen Getränken (pol. propinacja), die die szlachta nach 1670 zur Strategie gegen den Preissturz im Getreidehandel machte. Der Höhepunkt wurde hundert Jahre später erreicht, als im Durchschnitt ein Drittel der jüdischen Bevölkerung in diesem Sektor beschäftigt war. Die Juden fanden also ihren Platz zwischen dem Adel und dem Bauernstand und hatten eine Mittlerfunktion zwischen Stadt und Land. Ihre wirtschaftliche Integration war völlig gelungen. Allerdings verwandelte dieser Erfolg die Schtetl nicht in jüdische Städte. Das städtische Leben wurde nämlich weiter vom Gemeinderat geleitet, in dem die Juden, obwohl sie die Stadtsteuer bezahlten, nicht vertreten waren. Auch wenn die Adeligen oder die königliche Verwaltung den kahal oft als parallele Institution behandelten, erreichten die Juden nie eine völlige Autonomie.

    Das Schtetl im 19. Jahrhundert: Fortbestand eines überholten Modells

    Nach dem Untergang der Rzeczpospolita und der darauffolgenden Teilung Polens wurde die polnische jüdische Gemeinschaft – inzwischen die weltweit größte – der jeweiligen Gesetzgebung der Teilungsmächte , und unterstellt. Das 19. Jahrhundert brachte die Aufhebung der Leibeigenschaft und die rechtliche Emanzipation der Juden mit sich, was ihrer privilegierten Beziehung zur szlachta ein Ende setzte. In , das nun unter österreichischer Herrschaft stand, blieb die Besiedlung mehrheitlich ländlich und die wirtschaftliche Lage somit ärmlich, auch wenn die Gleichberechtigung für einige einen sozialen Aufstieg durch Auswanderung nach oder in andere urbane Zentren ermöglichte. Am misslichsten war die Situation jener Juden, die unter die Herrschaft des Zarenreichs gelangt waren. Im Gegensatz zur multiethnischen, polnisch-litauischen Union hatten die russischen Behörden keine operative Politik in Bezug auf die jüdische Minderheit. Juden wurden zwar rechtlich gleichgestellt, durften aber lediglich in dem 1791 von Katharina der Großen (1729‒1796) festgelegten und 1835 durch einen Erlass ihres Nachfolgers Nikolaus I. (1796–1855) bestätigten Ansiedlungsrayon wohnen, der den historisch von ihnen besiedelten Gebieten entsprach. Gleichberechtigung wurde an die Bedingung der Assimilation geknüpft. Die nächste Etappe der zaristischen antijüdischen Politik kam 1882 mit den von Alexander III. (1845–1894) verabschiedeten Maigesetzen vor, die die Bewegungsfreiheit der Juden erneut einschränkten. Sie wurden gezwungen, in die Schtetl zu übersiedeln, wo sie bis zu 80 Prozent der einheimischen Bevölkerung ausmachen konnten. Ein Schtetl konnte bis zu 20.000 Einwohner beherbergen. Solch hohe Konzentrationen von Juden waren in , und Weißrussland üblich. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wohnten 94 Prozent der russischen Juden in einem Rayon.

    Im 19. Jahrhundert begann das traditionelle Modell der Marktstadt zu bröckeln. Nach Aufhebung der Leibeigenschaft begannen die Bauern, sich zu organisieren. Dies geschah hauptsächlich durch die Gründung von Agrarkooperativen, sodass sie das Schtetl und dessen Dienste immer mehr entbehren konnten. Mit der Industrialisierung schlugen manche Schtetl neue wirtschaftliche Wege ein, indem sie Zentren für spezialisierte Manufakturen wurden, wie in Masowien oder in der Nähe der Textilzentren und . Nicht selten führte aber der Mechanisierungsprozess zu Unterbeschäftigung unter den jüdischen Handwerkern. Darüber hinaus ließ die Einführung der Eisenbahn neue nationale und regionale Handelsnetze entstehen, die über das Los eines Schtetls entscheiden konnten (so nahm z.B. die Bedeutung des Schtetls ab). Die zunehmende Mobilität breiterer Bevölkerungsschichten setzte aber auch die im Handels- und Dienstleistungssektor tätigen Juden unter Druck. Dafür wurden Beförderungsdienste immer wichtiger. Jüdische Chauffeure und Fuhrleute (jidd. balegole) gehörten in den meisten Bahnhöfen und Markthallen zum üblichen Bild. Landflucht, die oftmals die erste Etappe einer sich aus verschiedenen Pogromwellen und bitterer Armut ergebenden massiven Auswanderung nach Westen und bildete, war eine Realität, die immerhin durch das Wachstum der jüdischen Bevölkerung ausgeglichen werden konnte. Der Schwerpunkt jüdischen Lebens verlagerte sich also ab 1850 immer stärker in die Großstädte , , , Łódź und Wien, ohne dass jedoch das Schtetl wirklich an Bedeutung verlor. Trotz der Zuspitzung sozialer Widersprüche zwischen Siegern und Verlierern der Modernisierung und trotz zunehmender Säkularisierung blieb das Schtetl bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein extrem stabiles soziales System.

    Typische Merkmale und Charakteristika der Schtetl-Kultur

    Die Privatstädte waren ursprünglich Ausdruck einer entstehenden Symbiose von Adeligen, Juden und Leibeigenen. Auch wenn die Beziehung zu den christlichen Einwohnern angespannt sein konnte, wofür meist die Kirche verantwortlich war,3 blieben Pogrome die Ausnahme. Im Schtetl gab es im Grunde zwischen Christen und Juden zwei Arten des Verhältnisses: das alltägliche Verhältnis, bei dem aus pragmatischen Gründen die allgemeinen Regeln der Korrektheit beachtet wurden, und den Krisenzustand.4

    Immerhin hatte die Dichte des jüdischen Netzes, die durch Privilegien erlangte Selbstverwaltung, der Selbstvertrauen verleihende wirtschaftliche Erfolg und die relative Akzeptanz dieses Zustands durch die Umwelt einen gewaltigen psychologischen Einfluss auf die Entwicklung des osteuropäischen Judentums und dessen Mentalität und Kultur. Die Schtetl-Juden machten täglich die Erfahrung eines Lebens in einer im Wesentlichen jüdischen Welt, die darüber hinaus nur wenig Interesse für andere Kulturen hegte.5 Daraus resultierte ein Gefühl der Isolierung6 und die Wahrnehmung der von ihnen bewohnten Ortschaften als echte jüdische Städte. Aus kultureller Sicht war die Trennung tatsächlich vollkommen.

    Die Bewohner des Schtetls unterschieden sich von ihrer Umgebung nicht nur religiös, sondern auch durch eine eigene Kalenderrechnung, ihre Beschäftigung, Sprache, und eine Kultur, in der Gelehrte beispielsweise hohes Ansehen genossen und jeder (zumindest theoretisch) alphabetisiert war. Die jiddische Sprache und die unabänderlich eintretende Schabbat-Ruhe gelten heute noch als Inbegriff dieser Kultur.

    Im Zentrum des Schtetl befand sich ein (manchmal ungepflasterter) MarktplatzMarktplatz in Rzhyshchiv ca. 1900 IMG, auf dem ein- oder mehrmals wöchentlich Markt abgehalten wurde. Um den Marktplatz herum standen ein- bis zweigeschossige Bauten aus Stein (moyers), die den Reichen (gvirim) gehörten, sowie die Kirche und das Rathaus. Die Synagoge stand in der Regel nicht weit davon entfernt. Die übrigen Häuser und oft auch Kirchen (katholische, unierte evangelische oder orthodoxe) und Synagogen waren aus HolzShtetl Łachwa 1926 IMG. Brände gehörten zum Alltag. Die übliche Konzentration jüdischer Häuser in der Nähe des Marktplatzes ging auf das ausgehende 17. Jahrhundert zurück. Straßen und Wege waren meistens unbefestigt, höchstens mit Holzplanken belegt, sodass sie bei Regen zu Schlammgruben wurden. Generell waren die Lebensbedingungen aus hygienischer Sicht problematisch.7
    Das Schtetl wirkte als Basis für die sogenannten dorfsgeyers, Hausierer, die städtische Handwerkserzeugnisse auf den Dörfern verkauften, sowie für die herablassend behandelten yeshuvnikes, die sonst auf dem Land lebten und das Schtetl zu besonderen Anlässen (jüdische Feste, Familienfeste, administrative Vorgänge) betraten.

    Eine strenge Hierarchie war ein weiteres Kennzeichen des Schtetls. Die sozialen Unterschiede, die zu inneren Spannungen führten, waren überall zu spüren, auf dem Marktplatz wie in der Synagoge. An der Spitze standen die sheyne yidn (ehrenhafte Mitglieder der Gemeinde, die Elite), im Mittelstand die balebatim (sing. balebos, wortwörtlich "Hausbesitzer", also Bürger, wirtschaftlich erfolgreicher und somit angesehener Mann) als Kaufleute, gefolgt von angesehenen Handwerkern. Am unteren Ende standen Kutscher und Wasserträger und ganz unten Außenseiter, Bettler und weitere sogenannte luftmenshen. Dazwischen waren die normalen Handwerker und Kleinhändler angesiedelt. Nicht nur fungierte diese Hierarchisierung als vertikales Sozialsystem, sondern sie war auch als strenge, alle sozialen Schichten durchdringende Geschlechterteilung zu verstehen. Die Frauen, die meistens alphabetisiert waren (zumindest im Jiddischen) und oft für die Familienbuchhaltung und den Handelsschriftverkehr zuständig waren, hatten damit eine Schlüsselrolle im lokalen wirtschaftlichen Leben inne. Die Eroberung des Schtetls durch den Chassidismus änderte wenig an dieser Struktur.8 Die tsaddikim bevorzugten es nämlich, sich eher die bestehende Infrastruktur zu eigen zu machen, statt diese zu untergraben.

    Diese Enklaven bildenden Ortschafen waren aber keineswegs von der Umgebung abgeschottet, vielmehr fungierten sie als Versorgungsinseln. Auf dem Markt entwickelten sich wirtschaftliche und persönliche Beziehungen, die den Mythos des in sich geschlossenen Kosmos durchaus relativieren. Der Einfluss der nicht-jüdischen Welt ließ sich in sehr konkreten Bereichen wie Küche, Kleidung, Sprichwörtern und Sprache (siehe das Ostjiddische mit seinen zahlreichen regionalen Varianten)9 erkennen. Fast selbstverständlich erscheint das Schtetl als privilegierter Ort für interethnische Kontakte, was neuere Forschungsarbeiten auch zeigen.10 Sogar im religiösen Bereich war die Trennung nicht unbedingt so streng wie oft geschildert: chassidische Zentren konnten sich gleichzeitig als katholische Wallfahrtsorte erweisen und Christen zählten zu den Anhängern berühmter tsaddikim.11

    Darüber hinaus waren die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in ein weit über die Reichweite des Schtetls hinausgehendes Netz integriert, das von der historischen Interaktion von Juden und Bauern sowie Juden und Adeligen über die regionalen Hierarchiestrukturen bis zum Verhältnis zwischen dem Schtetl und dessen Auswanderern nach reichte. Ein Schtetl war also immer Teil eines größeren Systems – ob nun Handelsstraßen, Schienennetz, Industrialisierungsstrukturen oder das Netz der chassidischen Höfe und Wallfahrtsorte.

    Innerhalb dieses normativen Rahmens entwickelte sich eine große innerjüdische Vielfalt, die mit regionalen Unterschieden wie auch standesspezifischen Lebensweisen, religiösen Ausrichtungen und Stadt-Land-Unterschieden zusammenhing. Der Lokalpatriotismus, der sich später in den Landsmannschaften ausdrückte, bestand bereits in . Das Zugehörigkeitsgefühl des Einzelnen bezog sich auf die eigene Gemeinde, das eigene Schtetl, manchmal auf eine Gebetsbruderschaft, die Anhängerschaft eines bestimmten chassidischen Rebben oder konnte sogar auf den heimischen Dialekt des Jiddischen reduziert werden.12

    Die große Wandlung nach dem Ersten Weltkrieg

    Auch wenn zahlreiche jüdische Schriftsteller, Intellektuelle und sogenannte Aktivisten mit dem Niedergang des Schtetl rechneten, änderte sich bis zum Ersten Weltkrieg an dessen inneren Strukturen wenig. Die großen Wandlungen traten erst nach diesem bewaffneten Konflikt ein.13 Die Zahlen sprechen für das Weiterbestehen des urbanen und kulturellen Phänomens Schtetl und dessen Bedeutung: 1939 lebten rund ein Viertel der polnischen Juden in einer der fünf großen Städte der neuen polnischen Republik; dafür machten die Schtetlbewohner immerhin noch zwei Fünftel der jüdischen Bevölkerung aus.14 Neu war vielmehr die im Schtetl herrschende Stimmung. Das Schtetl im Polen der Zwischenkriegszeit erlebte nämlich fern jeglicher Klischees eine einzigartige Blütezeit. Der bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Einzelnen ausgetragene ideologische Wettstreit wurde umso intensiver, je schneller sich die jüdische Gesellschaft säkularisierte. Auch wenn dies in erster Linie die Großstädte betraf, entgingen die Schtetl dieser Tendenz nicht, zumal sie manchmal infolge der Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur zu Vororten dieser Großstädte wurden; allenfalls war dort die sprachliche Assimilierung etwas langsamer, der Synagogenbesuch und die Schabbat-Ruhe wurden öfter gepflegt. Der Prozess der Säkularisierung war zwar unübersehbar, trotzdem kann man kaum von einem Niedergang der traditionellen Kräfte reden. Vielmehr mussten diese nunmehr die öffentliche und private Bühne mit anderen Kräften teilen, zu denen in erster Linie die zahlreichen jüdischen (und manchmal nicht-jüdischen) politischen Parteien zählten: Zionisten aller Richtungen (u.a. sozialistische und religiöse Mizrachi), Diaspora-Nationalisten15 und in geringerem Umfang Bundisten16 strömten auf die inzwischen durch Wahlen demokratisierte Schtetl-Bühne. Die orthodoxen Juden reagierten darauf mit der Gründung 1912 der Aguda (jidd. Agudas Yisroel)Parteitag der Agudas Yisroel in Warschau 1930 IMG, die bald zur stärksten jüdischen Partei im polnischen Parlament wurde.17 Die Außenwelt stieß in immer größerem Umfang vor mit politischen Versammlungen, Konferenzen und Vorträgen am Schabbat-Abend, Schönheitswettbewerben, sportlichen Wettkämpfen und Theaterproben. Im Grunde genommen wurde eine Art jüdische Gegenkultur geschaffen, die einen Generationenkonflikt mit sich brachte und die alten Hierarchien zum Einstürzen brachte. So förderten Arbeiter- und Handwerkervereine die Selbstbehauptung von diesen sonst im Schtetl schon immer verachteten sozialen Gruppen. Die Frauen nahmen immer öfter und intensiver am gemeinschaftlichen Leben teil, was sich auch in der Entstehung von froyen-fareynen widerspiegelte. Vor allem im Schulwesen waren die Veränderungen spürbar, auch weil immer mehr Kinder wenigstens morgens die polnische Schule besuchten. Fast jede politische Bewegung verfügte über ein eigenes Schulsystem, das mit der traditionellen Erziehung wetteiferte, so dass der Modernisierungsprozess auch in die traditionellen Erziehungsmuster Eingang fand. Jugendbewegungen aller Couleur spielten eine bedeutende Rolle: der zionistische Hashomer Hatsair (Heb. der junge Wächter)Der Semel Tnua, Symbol des Hashomer Hatzair IMG, die der Mizrachi zugehörenden Tseirei Misrachi (die jungen Misrachisten), die von der Aguda abhängigen Tseirei Agudas Yisroel., die revisionistisch-zionistischen Betar-Gruppen18 und die bundistische tsukunft bilden nur einige Beispiele.19

    Die Vitalität des Schtetls ließ sich sogar noch in dem düsteren Rahmen der antijüdischen Politik und des antisemitischen Klimas der ausgehenden dreißiger Jahre beobachten. Als jüdische Entität wehrte sich das Schtetl gegen den von der Regierung befürworteten Boykott der jüdischen Geschäfte, indem mit Hilfe des amerikanischen Hilfswerks Joint (American Jewish Joint Distribution Committee) Kreditanstalten (kases) eingeführt wurden. Die Schtetlbewohner konnten auch mit der finanziellen Unterstützung der schon erwähnten Landsmannschaften rechnen. Generell war im Schtetl das antisemitische Klima weniger zu spüren, auch wenn sich das jüdisch-polnische Verhältnis deutlich verschlechtert hatte.

    Das Los des Schtetls im Herrschaftsbereich muss separat behandelt werden. Da die Bolschewiken dem Schtetl gegenüber negativ eingestellt waren, wurde nach Alternativen gesucht, die so unterschiedlich sein konnten wie die Aussiedlung in die Großstädte, die Gründung von Agrarkolonien oder gar die Gründung eines autonomen jüdischen Gebiets in .20 Die sowjetische Gesetzgebung stand im Widerspruch zur traditionellen Wirtschaft und den vormaligen Hierarchien. Auf einmal verloren die sheyne yidn ihren Status und ihr Ansehen. Mit der Kollektivierung wurde das jahrhundertlange Verhältnis zwischen dem Schtetl und dem umgebenden Land endgültig zerstört. Der Niedergang der sozioökonomischen Strukturen ging einher mit dem allmählichen, aber systematischen Abbau der traditionellen Kultur, ausgenommen die jiddischsprachigen Schulen, die bis in die dreißiger Jahre hinein toleriert wurden. Ferner aber wurden das religiöse Schulwesen unterbunden und Synagogen geschlossen. Diese Maßnahmen nahmen die Gestalt einer regelrechten Kampagne an, wenn sie von der jüdischen Sektion der kommunistischen Partei (Yevsektzia) durchgeführt wurden.21

    Das mythologisierte Schtetl

    Während im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts paradoxerweise historische Schtetl-Beschreibungen fehlen, fällt es leicht, Beschreibungen des mythologisierten Schtetls zu finden.22 So sind die berühmtesten Schtetl keineswegs auf einer Landkarte zu finden:23 weder das fiktionale Kasrilevke,24 dessen ukrainisches Suffix "-evke" für Wirklichkeitsnähe bürgt, noch die universalen Kapstansk (Stadt der Bettler) oder Glupsk (Narrenstadt),25 deren bloße Namen auf die Mängel des jüdischen Lebens deuten und es dabei ermöglichen, dieses Leben vollständig zu rekonstruieren. Vor allem im Werk der Gründerväter der modernen jiddischen Literatur Sholem Yankev Abramovitsh (Pseudonym Mendele Moicher Sforim (1836–1917))[Mendele Moicher Sforim (1836–1917) IMG] und Sholem Rabinovitsh (Pseudonym Sholem Aleykhem (1859–1916)) erreichten die Schtetl-Darstellungen, in denen das Schtetl nicht als bloßer Ort der Handlung, sondern als integraler Bestandteil der Geschichte und Identifikationsort der Figuren fungiert, eine universale Dimension: durch die narrative Darstellung werden Antworten auf die historischen Katastrophen und Überlebensstrategien in einer zerfallenden traditionellen Gesellschaft erfunden. Dadurch wird auch die jüdische Identität neugestaltet, mit dem Ziel, das Dilemma zwischen Traditionsbewusstsein und Aufbruch in die Moderne zu lösen.

    Das literarische Schtetl ist eigentlich ein Produkt des 19. Jahrhunderts und dessen bedeutendster Strömung, der Haskalah. Jüdische Aufklärer (Hebr. maskilim) wie Isaac Meir Dick (1814–1893)Israel Aksenfeld (1787–1866) oder auch Isaac Joel Linetsky (1839–1915) machten das Schtetl einerseits zum symbolischen Ort der prekären Situation des jüdischen Volks und andererseits zum sozialen Labor, in dessen Rahmen es darum ging, die Rückständigkeit des traditionellen Lebens zu denunzieren und Wandlungen zu diagnostizieren. In der Kritik standen das Schtetl-Leben als Inbegriff der Enge und der als fortschrittsfeindliche Sekte dargestellte Chassidismus. Mit Polarisierungseffekten arbeitende Parodie oder Satire26 plädierten für die Notwendigkeit einer als sowieso unausweichlich geschilderten Modernisierung bzw. Assimilierung. Die etwas frühere polnische Aufklärungsliteratur hatte bereits auf das Bild des Schtetls zurückgegriffen, um die Rückständigkeit polnischer Städte anzuprangern, wofür die Juden oft verantwortlich gemacht worden waren. Dieses Motiv durchzieht das ganze 19. Jahrhundert und taucht abermals bei dem progressistischen Autor Stefan Żeromski (1864–1925) im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts auf. Andere Schriftsteller wie Józef Ignacy Kraszewski (1812–1887) vermittelten dagegen etwas positiver akzentuierte Stereotype.27

    Das Schtetl als kulturelles und literarisches Konstrukt, im Dienst gleich welcher Annahmen des jeweiligen Verfassers, fungiert doch stets als Hort des Judentums, der sog. yidishkeyt. Auch wenn dies als unzeitgemäß dargestellt wird, wird es grundsätzlich als rein und unangetastet wahrgenommen.28 Das verklärte Schtetl ist in erster Linie durch die quasi-systematische Abwesenheit der Nicht-Juden gekennzeichnet. Wenn diese auftreten, dann als sehr stereotype Charaktere. Eine Kontinuität lässt sich darüber hinaus beobachten zwischen der Haskalah-Literatur und den später auf Hebräisch oder Jiddisch verfassten Werken.29 Dieses Phänomen wird bei der Darstellung des porets (adliger Besitzer eines Gutes, unter dessen Herrschaft die Juden einer Gemeinde stehen), der Symbol für unmoralische Macht und blinde Unterdrückung ist, besonders deutlich, denn zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Fiktionen hat die historische Figur des polnischen Landadeligen im Zuge der vom Zarenreich unterdrückten polnischen Aufstände von 1831 und 1863 und der Aufhebung der Leibeigenschaft seine eigentliche Macht bereits verloren. Die Beschreibungen von den christlichen Bauern oder nicht-jüdischen Stadteinwohnern bleiben, sofern sie nicht ganz fehlen, eher wirklichkeitsfern oder werden auf Gewaltszenen reduziert.

    Nach der unheilvollen politischen Wende von 1881 im Zarenreich30 tendierten die jüdischen Autoren dazu, die Schtetl-Gesellschaft doch zu rehabilitieren. So stieg sie zur von allen Seiten belagerten Hochburg jüdischer geistiger Werte auf. Diese Tendenz wurde nach den ukrainischen Pogromwellen Anfang des 20. Jahrhunderts und vor den Grausamkeiten des Ersten Weltkriegs und der daran anschließenden Pogrome in der Ukraine noch ausgeprägter. Beispielhaft dafür ist die innere Bekehrung des modernen Klassikers Isaac Leib Peretz (ca. 1852–1915) zu einem Judentum, das er als assimilierter Jude und Befürworter einer kulturellen Autonomie in der Diaspora anlässlich seiner Teilnahme an einer statistischen Expedition in den Schtetln um seine Heimatstadt wiederentdeckt und in seinen chassidischen Geschichten neu gestaltet und stilisiert.31 Parallel zur literarischen Tradition entwickelte sich tatsächlich eine ethnographische Reflexion, die das Schtetl als lebenden Gedächtnisort des jüdischen Volks in den Fokus nahm. Diese Arbeiten gaben sich als Beitrag zum politischen Kampf der nationalen Minderheiten zu verstehen. Zu den wichtigsten Theoretikern einer jüdischen Ethnographie zählt Shlomo Zanvil Rapoport (Pseudonym An-Ski, 1863–1920), der zwischen 1912 und 1914 wichtige ethnographische ExpeditionenAn-Skis ethnographische Expedition 1912 IMG nach und unternahm.32

    Zur Mythologisierung des Schtetls trugen auch deutschsprachige Autoren bei: Zum einen "verwestlichte" Juden wie Karl Emil Franzos (1848–1904)[Karl Emil Franzos (1848–1904) IMG], zum anderen "entfremdete" Juden wie Alfred Döblin (1878–1957), Martin Buber (1878–1965)[Martin Buber (1878–1965) IMG], oder Schtetl-"Eingeborene" wie Joseph Roth (1894–1939), den seine Heimatstadt stets inspirierte.

    Kurz vor ihnen und gleichzeitig dazu bemühte sich eine neue Generation von jiddischen Schriftstellern, das inzwischen normativ gewordene literarische Schtetl-Bild zu überwinden und zu korrigieren: Von Isaac Meir Weissenberg (1881–1938) wurde der Klassenkampf zur Zeit der Revolution von 1905 inszeniert, Scholem Asch (1880–1957)[Scholem Asch (1880–1957), Samuel Niger (1883–1955) und Baruch Charney Vladeck (1886–1938) IMG] machte die nicht-jüdische Realität des Schtetls zum integralen Bestandteil seiner Werke, David Bergelson (1884–1952) fing die innere Welt der Schtetlbewohner und deren Banalität mithilfe modernistischer Erzähltechniken auf (siehe z.B. den Roman Noch alemen), und Oser Warschawski (1898–1944) beschrieb unverblümt den Alltag der jüdischen Schmuggler in seinem Roman Shmuglares.33

    In , etwa bei dem Dichter Izi Charik (1898–1937), sowie im Polen der Zwischenkriegszeit spiegelte das literarische Schaffen die Überzeugung wider, dass die traditionelle Schtetl-Welt endgültig zum Untergang verurteilt war. Die Texte konnten dann wie bei den polnisch-jüdischen Autoren Maurycy Szymel (1903–1942) oder Czesława Rosenblattowa (Pseudonym Czesław Halicz, geb. 1879) von Nostalgie geprägt sein oder dagegen von Wut durchdrungen wie bei Mordechai Gebirtig (1877–1942), dessen visionäres Gedicht Unzer shtetl brent ein letztes Mal das Schtetl als Inbegriff des polnischen Judentums fungieren ließ.

    Nach der Schoah fand die Schtetl-Beschreibung ihren emotionalsten Ausdruck in den über 1.200 Memorbüchern, jidd. yizker-bikherSzlojme Mayer, Der Untergang fun Zloczów, Titelseite, München, 1947 IMG, die zum Gedenken an das vernichtete Ostjudentum zusammengestellt und herausgegeben wurden. Für manche Spezialisten fungieren diese Texte als eigentümliche Fiktionen, in denen die Autoren unbewusst und guten Glaubens Anleihen bei literarischen Quellen machten und Realitäten verwechselten.34 In der Erinnerungs- und Gedenkliteratur und in direkt nach dem Holocaust entstandenen autobiographischen Texten oder Analysen erschien das Schtetl als totalisierende Form, die es ermöglichte, das ostjüdische Leben in seiner Ganzheit nachzuzeichnen. Bestseller Life is With People von Mark Zborowski (ca. 1908–1990) und Elisabeth Herzog (gest. 1970) oder Irving Howes (1920–1993) A Treasury of Yiddish Stories zeigen anschaulich, wie Spaltungen, dynamischen Spannungen, Vielfalt und Abstufungen vertuscht und ausgeglichen wurden, um ein homogenes, ritualisiertes und zeitloses Schtetl-Bild entstehen zu lassen. Abschließend sei der bemerkenswerte Vorgang der "Schtetlisierung" erwähnt, der sowohl bedeutende Städte als auch unbedeutende Dörfer zu "Schtetln" macht und deren Zerstörung betrauert – ein literarisches Mittel, das bereits in der Textproduktion ausgewanderter und in westlichen Großstädten entfremdeter Ostjuden, also weit von jeder Gedenkabsicht, zu beobachten gewesen war.35 Der Rückgriff auf die Schtetl-Metapher in diesen Werken macht das mythologisierte Schtetl fraglos zum "lebenden jüdischen Körper".36

    Marie Schumacher-Brunhes

    Anhang

    Literatur

    Beranek, Franz J.: Das Judentum in Polen, in: Werner Markert u.a. (Hg.): Osteuropa Handbuch: Vol. 2: Polen, Köln u.a. 1959, S. 119–127.

    Bartal, Israel: Non-Jews and Gentile Society in East European Hebrew and Yiddish Literature 1856–1914, in: Polin 4 (1989), S. 53–69.

    Bauer, Yehuda: The Death of the Shtetl, New Haven, CT 2009. URL: https://www.jstor.org/stable/j.ctt5vkzpc [2021-05-31]

    Baumgarten, Jean: La Naissance du hassidisme: Mystique, rituel et société (18e–19e siècle), Paris 2006.

    Boyer, Irène u.a. (Hg.): L’éclat des crépuscules: Oser Warszawski (1898–1944): Un écrivain yiddish entre chien et loup: ʻOzer Ṿarshaṿsḳi : A yidisher shrayber in likhṭ fun bin-hashemoshus̀, Paris 1998.

    Cała, Alina: Wizerunek Żyda w polskiej kulturze ludowej, Warschau 1992.

    Deutsch, Nathaniel: The Jewish Dark Continent: Life and Death in the Russian Pale of Settlement, Harvard 2011.

    Dubnow, Simon: History of the Jews in Russia and Poland: From the Earliest Times Until the Present Day, Philadelphia, PA 1916–1920, vol. 1–3.

    Dynner, Glenn: Men of Silk: The Hasidic Conquest of Polish Jewish Society, Oxford 2008. URL: http://doi.org/10.1093/acprof:oso/9780195175226.001.0001 [2021-05-31]

    Ertel, Rachel: Le Shtetl: La bourgade juive de Pologne de la tradition à la modernité, Paris 1982.

    Ertel, Rachel: Le Shtetl: La bourgade juive de Pologne de la tradition à la modernité, 3. Aufl., Paris 2011.

    Estraikh, Gennady u.a. (Hg.): The Shtetl: Image and Reality: Papers of the Second Mendel Friedman International Conference on Yiddish, Oxford 2000. URL: https://doi.org/10.4324/9781351198394 [2021-05-31]

    Galas, Michał: Inter-Religious Contacts in the Shtetl, in: Polin 17 (2004), S. 41–50. URL: https://doi.org/10.2307/j.ctv4cbg9j.9 [2021-05-31]

    Hundert, Gershon David: The Jews in a Polish Private Town, Baltimore u.a. 1992. URL: https://doi.org/10.1353/book.71395 [2021-05-31]

    Hundert, Gershon David: Jews in Poland-Lithuania in the Eighteenth Century: A Genealogy of modernity, Berkeley u.a. 2006. URL: https://www.jstor.org/stable/10.1525/j.ctt1pp549 [2021-05-31]

    Kassow, Samuel D.: Community and Identity in the Interwar Shtetl, in: Yisrael Gutman u.a. (Hg.): The Jews of Poland between Two World Wars, Hanover, NH 1989, S. 198–220.

    Klier, John. D.: What Exactly Was a Shtetl?, in: Gennady Estraikh u.a. (Hg.): The Shtetl: Image and Reality: Papers of the Second Mendel Friedman International Conference on Yiddish, Oxford 2000, S. 23–35. URL: https://doi.org/10.4324/9781351198394 [2021-05-31]

    Kobrin, Rebecca: The Shtetl by the Highway: The East European City in New York's Landsmanshaft Press, 1921–1939, in: Prooftexts 26,1 (2006), S. 107–137. URL: https://doi.org/10.2979/pft.2006.26.1-2.107 [2021-05-31]

    Kuchenbecker, Antje: Zionismus ohne Zion: Birobidzhan: Idee und Geschichte eines jüdischen Staates in Sowjet-Fernost, Berlin 2000.

    Kugelmass, Jack u.a. (Hg.): From a Ruined Garden: The Memorial Books of Polish Jewry, 2. Aufl., Bloomington, IN 1998.

    Miron, Dan: Literary Image of the Shtetl, in: Jewish Social Studies 1,3 (1995), S. 1–43. URL: https://www.jstor.org/stable/4467450 [2021-05-31]

    Mendele Moicher Sforim [Sholem Yankev Abramovitsh]: Fishke der krumer, ohne Ort 1869.

    Mendele Moicher Sforim [Sholem Yankev Abramovitsh]: Dos kleyne mentschele, in: Kol mevaser (1864).

    Morgenstern, Matthias: Von Frankfurt nach Jerusalem: Isaac Breuer und die Geschichte des Austrittsstreits in der deutsch-jüdischen Orthodoxie, Tübingen 1995.

    Murav, Harriet: "Marking Time": A Book-length Study of the Yiddish Author David Bergelson in the Context of Early Twentieth Century Theoretical and Artistic Inquiries about Memory, Time and Consciousness, [im Erscheinen].

    Orla-Bukowska, Annamaria: Shetl Communities: Another Image, in: Polin 8 (1994), S. 89–113.

    Polonsky, Antony (Hg.): Introduction: The Shtetl: Myth and Reality, in: Polin 17 (2004), S. 3–24. URL: https://doi.org/10.2307/j.ctv4cbg9j.7 [2021-05-31]

    Prokopówna, Eugenia: The Image of the Stetl in Polish Literature, in: Antony Polonsky (Hg.): From Shtetl to Socialism, London u.a. 1993 (Polin, Ausgewählte Beiträge von vol. 1–7), S. 318–331.

    Roskies, David G.: The Jewish Search for a Usable Past, Bloomington, IN u.a. 1999 (The Helen and Martin Schwartz Lectures in Jewish Studies).

    Roskies, David G.: The Shtetl as Imagined Community, in: Gennady Estraikh u.a. (Hg.): The Shtetl: Image and Reality: Papers of the Second Mendel Friedman International Conference on Yiddish, Oxford 2000, S. 4–22. URL: https://doi.org/10.4324/9781351198394 [2021-05-31]

    Rüthers, Monica: Ostjüdische Vielfalt in einer multikulturellen Umgebung: Versuch einer Annäherung, in: OWEP 9,3 (2008), S. 163–174. URL: https://www.owep.de/artikel/67-ostjuedische-vielfalt-in-einer-multikulturellen-umgebung [2021-05-31]

    Schumacher-Brunhes, Marie: Entre tradition et modernité: L’oeuvre de Y.L.Peretz [unveröffentlichte Promotionsarbeit], Lille 2005.

    Shneer, David: Yiddish and the Creation of Soviet Jewish Culture: 1918–1930, Cambridge u.a. 2004.

    Slotnick, Susan A.: Oyzer Varshavski’s Shmuglares: A Study in Form and Meaning, in: The Field of Yiddish: Studies in Language, Folklore, and Literature 4 (1980), S. 185–236.

    Sokolova, Alla: The Podolian Shtetl as Architectural Phenomenon, in: Gennady Estraikh u.a. (Hg.): The Shtetl: Image and Reality: Papers of the Second Mendel Friedman International Conference on Yiddish, Oxford 2000, S. 36–80. URL: https://doi.org/10.4324/9781351198394 [2021-05-31]

    Stahl, Nanette (Hg.): Sholem Asch Reconsidered, New Haven, CT 2004.

    Teller, Adam: The Shtetl as an Arena for Polish-Jewish Integration in the Eighteenth Century, in: Polin 17 (2004), S. 25–40. URL: https://doi.org/10.2307/j.ctv4cbg9j.8 [2021-05-31]

    Weinreich, Max: Geshikhte fun der Yidisher shprakh: Bagrifn, Faktn, Metodn, New York, NY 1973, vol. 1–4.

    Zborowski, Mark / Herzog, Elisabeth: Life is with People: The Culture of the Shtetl, New York, NY 1970.

    Anmerkungen

    1. ^ Teller, The Shtetl 2004, S. 40.
    2. ^ Hundert, Jews in Poland-Lithuania 2006, S. 37.
    3. ^ Hundert, Jews in Poland-Lithuania 2006, S. 57–78.
    4. ^ Cała, Wizerunek Żyda 1992, Kap. 2 und Kap. 6.
    5. ^ Hundert, Jews in Poland-Lithuania 2006, S. 50. Die Juden waren von der Überlegenheit ihrer Kultur stark überzeugt. Die polnische Kultur der anderen Städtebewohner, geschweige denn der Bauern, noch die der als unmoralisch betrachteten Adeligen übten keine Anziehungskraft auf sie aus.
    6. ^ Teller, The Shtetl 2004, S. 40.
    7. ^ In der ukrainischer Provinz Winniza ist diese Architektur noch zu beobachten. Siehe die Arbeit von Sokolova, The Podolian Shtetl 2000, S. 36–79.
    8. ^ Dynner, Men of Silk 2008.
    9. ^ Weinreich, Geshikhte 1973, vol. 2, S. 185 und vol. 4, S. 250–252.
    10. ^ Siehe z.B. die zentrale Rolle der Hausangestellten, die Orla-Bukowska, Shetl Communities 1994 am Beispiel des Schtetl Frysztak feststellt, S. 89–113.
    11. ^ Galas, Inter-Religious Contacts 2004, S. 39–50.
    12. ^ Rüthers, Ostjüdische Vielfalt 2008.
    13. ^ Für diese Periode existieren zahlreiche verwertbare Beschreibungen von polnischen Städten und Kleinstädten. Siehe Kassow, Community and Identity 1989.
    14. ^ Beranek, Das Judentum in Polen 1959, S. 120.
    15. ^ Gemeint sind jüdische Bewegungen, die ihre jüdisch-nationalen Ziele nicht in Palästina ("Zion"), sondern in der Diaspora verfolgen.
    16. ^ Mitglieder des sogenannten Bund, und zwar der 1897 gegründeten jüdisch-sozialistischen Partei "Allgemeiner jüdischer Arbeiterbund von Litauen, Polen und Russland".
    17. ^ Siehe dazu Morgenstern, Von Frankfurt nach Jerusalem 1995, S. 72–74.
    18. ^ Hebräische Kurzbezeichnung für "Bund Yosef Trumpeldor". Diese Jugendorganisation wurde 1923 von dem Zionisten Ze’ev Jabotinsky (1880–1940), der mit Joseph Trumpeldor (1880–1920) im Ersten Weltkrieg eine jüdische Einheit der britischen Armee aufgestellt hatte, gegründet. Der Name Betar erinnerte gleichzeitig an den jüdischen Aufstand gegen die Römer 132–135.
    19. ^ Zu all diesen Aspekten siehe die zwei letzten Kapitel in Ertel, Le Shtetl 1982.
    20. ^ Ab 1934 lautete die offizielle Bezeichnung dieses im sowjetischen Fernen Osten liegenden und 1928 der jüdischen Minderheit zuerkannten Territoriums "Jüdische autonome Region". Jiddisch war dort die offizielle Sprache. Die jüdische Ansiedlung erfolgte im Zusammenhang der Bewegung von landwirtschaftlicher Kolonisierung. Siehe z.B. Kuchenbecker, Zionismus ohne Zion 2000.
    21. ^ Siehe z.B. Shneer, Yiddish 2004.
    22. ^ Schon 1819 veröffentlichte Joseph Perl (1773–1839) in Wien seinen Roman Megale temirin, in dem er die archaistische Lebensweise in den galizianischen Schtetln belächelte.
    23. ^ Roskies, The Shtetl 2000, S. 4.
    24. ^ Sholem Rabinovitsh [Sholem Aleykhem] verfasste feuilletonistisch die Chronik der Einwohner von Kasrilevke zwischen 1902 und 1915.
    25. ^ Mendele Moicher Sforim [Abramovitsh], Dos kleyne mentschele 1864 (als Serienroman in der Zeitung Kol mevaser veröffentlicht). Berditschew diente als Prototyp für die fiktive Stadt der Dummen, die als Zielort fungierte für die vor der Armut fliehenden kapstansker Juden. Von vielen weiteren Romanen Mendele Moicher Sforims sei hier lediglich Fishke der krumer (Der lahme Fischke), 1869 genannt.
    26. ^ Die Chassidim fungieren hier als negative Helden. Siehe dazu Baumgarten, La Naissance du hassidisme 2006,S. 176–182.
    27. ^ Prokopówna, The Image of the Stetl 1993, S. 319–331.
    28. ^ Als deutliche Ausnahme soll hier das Werk von Isaac Bashevis Singer (1904–1991) eingeführt werden, im dem das Schtetl als Ort der Ambivalenz und extremer psychischer Spannungen fungiert.
    29. ^ Bartal, Non-Jews 1989.
    30. ^ Gemeint werden hier die sog. Maigesetze, und zwar die 1882 von Alexander III. im Zuge der Ermordung Alexanders II. (1818–1881) und der darauffolgenden Pogrome bestätigte Verordnung "Über das Verfahren zur Umsetzung von Vorschriften für die Juden", in der die Pogrome im Grunde als weiterer Angriff der revolutionären Bewegung auf die öffentliche Ordnung klassifiziert wurden, und die daher vom Historiker Simon Dubnow (1860–1941) als "legislativer Pogrom" bezeichnet wurde. Siehe Dubnow, History of the Jews 1916, vol. 2, S. 309.
    31. ^ Schumacher-Brunhes, Entre tradition et modernité 2005, S. 482–525.
    32. ^ Das Programm der Expedition ist seit kurzem in englischer Übersetzung verfügbar. Siehe Deutsch, The Jewish Dark Continent 2011.
    33. ^ Zu Scholem Asch siehe Stahl, Sholem Asch Reconsidered 2004; zu David Bergelson, außer Chone Shmeruks unveröffentlichter Dissertation in Hebräisch (Jerusalem 1961), siehe Murav, "Marking Time", [im Erscheinen]; zu Oser Warschawski siehe Boyer, Rozier, L’éclat des crépuscules 1998 oder auch Slotnik, Oyzer Varshavski’s Shmuglares 2004.
    34. ^ Roskies, The Jewish Search 1999, S. 64; Siehe auch Kugelmass, From a Ruined Garden 1998.
    35. ^ Siehe dazu Kobrin, The Shtetl by the Highway 2006.
    36. ^ Miron, Literary Image of the Shtetl 1995.

    Creative Commons Lizenzvertrag Creative Commons Lizenzvertrag
    Dieser Text ist lizensiert unter This text is licensed under: CC by-nc-nd 3.0 Deutschland - Namensnennung, Keine kommerzielle Nutzung, Keine Bearbeitung

    Übersetzt von:Translated by:
    Fachherausgeber:Editor: Matthias Morgenstern
    Redaktion:Copy Editor: Joe Kroll

    Eingeordnet unter:Filed under:

    Indices



    ZitierempfehlungCitation

    : Schtetl, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz European History Online (EGO), published by the Leibniz Institute of European History (IEG), Mainz 2015-02-25. URL: http://www.ieg-ego.eu/schumacherbrunhesm-2015-de URN: urn:nbn:de:0159-2015022304 [JJJJ-MM-TT][YYYY-MM-DD].

    Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Beitrages hinter der URL-Angabe in Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein. Beim Zitieren einer bestimmten Passage aus dem Beitrag bitte zusätzlich die Nummer des Textabschnitts angeben, z.B. 2 oder 1-4.

    When quoting this article please add the date of your last retrieval in brackets after the url. When quoting a certain passage from the article please also insert the corresponding number(s), for example 2 or 1-4.