Einleitung
Die wechselseitige Beeinflussung von Rechtsnormen über Staatsgrenzen und – vor allem – über Sprachgrenzen hinweg ist ein Charakteristikum der europäischen Rechtsgeschichte. Römisches Recht und seine im Mittelalter zum Gemeinen Recht fortentwickelte Gestaltung beeinflusste die Rechte in vielen Teilen Europas insbesondere im Zuge der sogenannten Rezeption des Römischen Rechts im 16. Jahrhundert.1 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts nahmen sich die Gesetzgeber zahlreicher Staaten vor allem das französische Zivilgesetzbuch von 1804 (Code civil ) zum Vorbild; europäische Verfassungen beeinflussten sich oft gegenseitig. Transfers fanden vor dem Hintergrund ähnlicher Rechtsgewohnheiten und Rechtswissenschaft in nahezu allen Teilen der Rechtsordnungen statt, aber auch politische und kulturelle Strömungen sowie rechtstechnische Notwendigkeiten spielten eine Rolle. Dieselben Faktoren beeinflussten den Transfer europäischer Rechtsnormen über Europa hinaus. Diese Transfer-Entwicklungen zeichnen sich vor allem im Bereich des Zivilrechts und des Verfassungsrechts deutlich ab.
Transfer aus staatlich-politischen Gründen
Die Gründung außereuropäischer Kolonien durch europäische Staaten führte zu einem Export europäischen Rechts aus staatlich-politischen Gründen. Auf diese Weise dehnte sich das angelsächsische Common Law auf die späteren USA und andere Kolonien des Empires aus (neben Kanada wurde das Common Law auch in den australischen Provinzen und, in unterschiedlicher Intensität, in Indien eingeführt) und erweiterte sich so zum Anglo-amerikanischen Rechtskreis.2 Im südlichen Afrika verband sich das Common Law der von England eroberten holländischen Kapkolonie mit dem römisch-holländischen Recht der Burenrepubliken zu einem Mischsystem.3 Ähnlich verlief die Rechtsvermischung in den ehemals französischen Kolonien Québec (Kanada) und Louisiana (USA).4 Jedoch blieb in Québec das Zivilrecht kodifiziert, während in den US-Bundesstaaten im Gebiet des ehemals französischen Louisiana das Common Law Wurzeln schlug. Südafrika wehrte durch eigenständige Fortbildung des römisch-holländischen Rechts einen zu starken Einfluss des Common Law ab, was im 19. Jahrhundert in Anlehnung an die deutsche Rechtswissenschaft zu einer Übernahme von kontinentaleuropäischen Methoden wie Systematisierung und Begrifflichkeit führte.
Französisches Recht, besonders der Code civil, breitete sich gleichfalls durch staatliche Expansion aus, zum einen in Europa in den französischen Satellitenstaaten, die unter Kaiser Napoleon I. (1769–1821) [] gegründet wurden, zum anderen durch die Errichtung überseeischer Kolonien. Zu diesen gehörten die bereits erwähnten französischen Kolonien in Nordamerika sowie große Gebiete in Nord- und Westafrika, in denen französischer Recht länger wirksam blieb. Ebenso erfolgte ein Transfer spanischen und portugiesischen Rechts in die spanischen bzw. portugiesischen Kolonien, vor allem nach Lateinamerika und in die spanischen Philippinen.5 Über Europa hinaus dehnte sich ferner das kanonische Recht der katholischen Kirche aus, vor allem dort, wo die Kirche durch die staatliche Expansion gefördert wurde, wie etwa in Lateinamerika.6
Im Gegensatz zum Common Law, in dem das Richterrecht vorherrscht, verbreitete sich mit dem romanischen Recht der Gedanke der staatlichen Gesetzgebung und der Pflege des Rechts durch die Rechtswissenschaft. Staatliche Gesetzgebung und universitäre Rechtswissenschaft bestimmen daher in diesem Rechtskreis die Rechtskultur. Zu Europa gehört auch Lateinamerika, lautet dementsprechend ein programmatischer Aufsatztitel.7
Der Transfer der kontinentaleuropäischen Rechtssysteme förderte auch die Idee, größere Rechtsgebiete durch Kodifikationen zu systematisieren, und damit die Idee des Verfassungsstaates, das heißt die grundlegende Regelung der Staatsgewalt in einer Verfassungsurkunde. Allerdings waren es im Bereich des Common Law gerade die neu entstandenen USA, welche diesen Gedanken gleichfalls, und zwar selbständig, entwickelt hatten, was dazu führte, dass schon in den Jahren 1778 und 1787 US-Verfassungen erlassen wurden. Nach ihrer Loslösung von Spanien bzw. Portugal gaben sich auch die neuen lateinamerikanischen Staaten sogleich Verfassungen, wie etwa Brasilien 1824.
Mit der Expansion Russlands nach Asien – über Sibirien bis an den Stillen Ozean – überschritt europäisches Recht gleichfalls die Grenzen Europas, auch wenn Russland an der kontinentaleuropäischen Rechtsentwicklung nur am Rande teilgenommen hatte.8 Sein Rechtssystem kannte kaum Kodifikationen, besonders fehlte eine solche im Zivilrecht, auch war es nicht zum Verfassungsstaat geworden. Eine Ausstrahlung russischen Rechts über die Grenzen des Zarenreiches hinaus fand daher nicht statt.
Mit dem Entstehen südosteuropäischer Staaten beim territorialen Rückzug des Osmanischen Reiches erlebte das europäische Recht einen weiteren Transfer, zwar nicht über die geografische, aber doch über die kulturelle Grenze Europas hinaus. Nach der Proklamation der Unabhängigkeit Griechenlands im Jahr 1822 entstanden dort 1823/1827 Verfassungen nach französischem Vorbild. Eine Europäisierung des Rechts erfuhr auch das 1905 von Österreich-Ungarn annektierte Bosnien-Herzegowina:9 1910 erhielt es eine Verfassung, die sich, wie es vor allem der Grundrechtskatalog deutlich zeigt, an der Österreichs von 1867 orientierte. Das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB) war, zum Teil allerdings nur subsidiär, schon 1878 eingeführt worden, das Strafgesetz und die Zivilprozessordnung von 1883 folgten österreichischen, das Handelsgesetz von 1883 ungarischen Vorbildern.
Rechtskultureller und rechtspolitischer Transfer
Der zunächst primär staatlich begründete Rechtstransfer wurde dort, wo er von einer breiten Schicht von europäischen Einwanderern getragen wurde, auch nach der Dekolonisation aufrecht erhalten, wie in den USA und in Lateinamerika. Aber auch in manchen ehemaligen Kolonien, in die es nur eine geringe europäische Einwanderung gegeben hatte, wurde am transferierten Recht festgehalten, so zum Beispiel in Indien, in den französischen Teilen Afrikas und in manchen der spanischen Kolonien, wie etwa den Philippinen. Das transferierte Recht blieb weiterhin bestimmend für die Rechtskultur und zwar nicht nur durch den Transfer der Rechtsnormen, sondern in Folge deren Weiterentwicklung. So festigte in der Tradition des französischen Code civil der Code civil du Bas-Canada/Civil Code of Lower Canada von 1866 an die kanadische Provinz Québec als kontinentaleuropäische Rechtsinsel im nordamerikanischen Common-Law-Gebiet. Die Gesetzgebung der aus europäischen Überseekolonien hervorgegangenen Staaten führte die europäische Rechtstradition fort und ergänzte sie durch weitere punktuelle Übernahmen europäischer Vorbilder. So fand 1830 beispielsweise das österreichische Strafgesetz von 1803 Eingang in den brasilianischen codigo criminal do imperio do Brasil10 und schließlich auch in das philippinische Strafgesetzbuch von 1870. Weltweit wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts vor allem die Kodifikationen Napoleons I. für das Zivil- und Zivilprozessrecht, das Straf- und Strafprozessrecht sowie für das Handelsrecht aus den Jahren 1804 bis 1807 rezipiert. Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts übte dann das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) eine große Ausstrahlungskraft aus.11
Der Transfer von Rechtsnormen zog auch den Transfer der mit ihnen verbundenen Rechtswissenschaft nach sich. Allerdings lag die Ausstrahlung der europäischen Rechtswissenschaft auch in ihrem intrinsischen Wert begründet. So hatten schon um 1800 Werke des österreichischen Naturrechtslehrers Karl Anton von Martini (1726–1800) ihren Weg über Spanien in dessen amerikanische Kolonien gefunden.12 Im 19. Jahrhundert verbreiteten sich vor allem die Werke deutscher Zivilrechtslehrer wie Hermann Roesler (1834–1894) wegen ihrer abstrakt-begrifflichen und systematischen Durchdringung des Rechtsstoffes, teilweise sogar in Gebieten des Common Law.13 Sie festigten die kontinentaleuropäische Tradition im Recht Südafrikas und Lateinamerikas. Aus dem gleichem Grund waren die Werke deutscher Staatsrechtslehrer wie Albert Mosse (1846–1925) attraktiv.14
Auf diese Weise war der Boden bereitet für den besonders auffallenden Transfer von europäischen Rechtsnormen in Staaten, die keine europäischen Kolonien gewesen waren. Diese griffen auf europäische Vorbilder zurück, um ihre Staats- und Rechtsordnungen zu modernisieren. Besonders deutlich wird dies im Falle Japans.15 Der bewusst in Gang gesetzte Modernisierungsschub der sogenannten Meiji-Periode knüpfte an zentraleuropäische Rechts- und Verfassungsgestaltungen an, weil diese durch japanische Delegationen nach Europa bereits in Japan bekannt waren. So wurden zum Beispiel Lorenz von Stein (1815–1890) sowie Heinrich Rudolf Hermann Friedrich von Gneist (1816–1895) [] zu Beratern und Mitgestaltern der ersten japanischen Verfassungsurkunde, der Meiji-Verfassung von 1889. Japans Privatrecht war zuerst deutlich von französischen Einfluss geprägt, orientierte sich ab 1898 allerdings stark am deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch, das um 1930 auch zum wichtigen Vorbild für das chinesische Privatrecht wurde.16
Weitere auffällige Rechtstransfers über Europa hinaus erfolgten in die junge türkische Republik unter ihrem Reformer Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938).17 Zwei Kodifikationen, modifizierte Übersetzungen der französischen Version des schweizerischen Zivilgesetzbuchs und Obligationenrechts (Schuldenrechts) von 1912, traten praktisch als "Türkisches Zivilgesetzbuch" und "Türkisches Obligationengesetzbuch" 1926 in Kraft. Allerdings hatte bereits der Vorgängerstaat, das Osmanische Reich, starke Anleihen bei der französischen Gesetzgebung im Handelsrecht, Zivilprozessrecht sowie Straf- und Strafprozessrecht gemacht.
Rücktransfer?
In den letzten Jahren ist die Forschung auch der Frage nachgegangen, inwieweit die Fortentwicklung transferierter Rechtsnormen auf die Ursprungsländer zurückwirkte. Auch hier erweist sich die Unterscheidung in staatliche und rechtskulturell-rechtspolitische Transfers als hilfreich. Aufgrund der über Europa hinaus reichenden Organisation der römisch-katholischen Kirche gab es Rückwirkungen aus den Entwicklungen im südamerikanischen Raum auf das kanonische Recht.18 Dem Transfer schweizerischen Rechts in die Türkei folgten periodische gemeinsame Kontakte. Die Hispanitá, die Staaten mit spanischsprechender Bevölkerung, pflegt eine gemeinsame Wissenschaftstradition, die Entwicklungen in den einzelnen Ländern werden von den anderen wahrgenommen und rezipiert.19 In allen diesen Fällen fand und findet aber weniger ein Rücktransfer in Gegenrichtung zum ursprünglichen Transfer, als ein Beitrag zur gemeinsamen Rechtskultur statt. Dies trifft besonders auf das Common Law zu, das sich seinem Wesen nach als eine aus seinem gesamten Geltungsgebiet speisende Einheit versteht.
Entwicklungen im Justizrecht
Der ursprüngliche Rechtstransfer und seine andauernde Wirkung sowie die darauf beruhenden eigenständigen Weiterentwicklungen, die ebenfalls mit Transfers verbunden waren, schieden die Welt in zwei große Rechtsgebiete: das der Common-Law-Staaten und das der Civil-Law-Staaten des kontinentaleuropäisch-kodifikatorisch orientierten Rechtskreises.
In vielen Bereichen verschlossen blieb dem Transfer europäischen Rechts und europäischen Rechtsdenkens der islamische Raum.20 Dies trifft besonders auf jene Rechtsbereiche zu, die eine starke Verflechtung mit religiösen Vorschriften aufweisen wie das Ehe- und Erbrecht. Manche islamische Staaten, vor allem solche, die wie Ägypten oder Syrien schon früh europäischem Einfluss ausgesetzt waren, öffneten sich allerdings teilweise dem Transfer französischer Rechtsnormen.
Ergebnisse im Verfassungsrecht
Die Tradition des europäischen Verfassungsstaates verbreitete sich weltweit, zumindest auf formaler Ebene, sowohl in Common-Law- als auch in Civil-Law-Staaten. Staatsgründungen und meist auch der Wechsel von Regierungssystemen erfolgten fast immer durch den Erlass einer Verfassungsurkunde mit Regeln für das Staatsoberhaupt, die Regierung, das Parlament, mit Grundzügen der Gerichts- und Verwaltungsorganisation und meist auch mit einem Grundrechtskatalog. Freilich bestanden nicht nur in der weiteren Ausarbeitung der Verfassungen Unterschiede, wie etwa in Hinblick auf das Wahlrecht, die Organisation der Verwaltung und die Durchsetzung der Grundrechte, sondern vor allem in Bezug auf die Verfassungswirklichkeit. Aber dennoch stellen die ähnlichen Verfassungstexte einen Maßstab für die Beurteilung der politischen Systeme und ihrer Umsetzung dar. Allerdings existieren bis heute durchaus auch innerhalb Europas unterschiedliche Auffassungen über Verfassungsstandards. So zeigte sich bei der Erstellung der Europäischen Grundrechtscharta, wie sehr die Ansichten über Grundrechte divergieren: Während zentraleuropäische Staaten sie als selbstverständlich einklagbare, subjektive öffentliche Rechte ansahen, lehnten andere europäische Staaten diese Definition ab, da sie die Grundrechte nur als Staatszielbestimmungen verstanden.