Die europäischen Revolutionen der Jahre 1830/1831
In den Jahren 1830 und 1831 wurden etliche europäische Staaten durch revolutionäre Proteste erschüttert, die ähnlich wie die Revolutionen der Jahre 1848/1849 trotz unterschiedlicher Ausgangslagen und Ergebnisse miteinander in Verbindung standen und auch von den Zeitgenossen aufeinander bezogen wurden.1 Innerhalb weniger Monate brachen Unruhen und Aufstände in Frankreich, Belgien, dem Deutschen Bund, Polen und den italienischen Staaten aus, die vielerorts Regierungsumbildungen nach sich zogen und im Fall Belgiens sogar zur Gründung eines neuen Staates führten. Ein großer Teil des Kontinents befand sich in Bewegung und stellte damit jene Neuordnung der Staatenwelt in Frage, die 15 Jahre zuvor auf dem Wiener Kongress von den europäischen Mächten ausgehandelt worden war. Noch bis zur Mitte des Jahrzehnts sollten die Folgen dieser revolutionären Erschütterungen zu spüren sein.
Ihren Ausgang nahmen die Proteste in Paris,2 wo König Karl X. (1757–1836) aus dem Haus der restituierten Bourbonen am 25. Juli 1830 in mehreren Ordonnanzen die in der 1814 oktroyierten Verfassung festgeschriebenen Freiheitsrechte erheblich einschränkte: Die Pressefreiheit wurde beschnitten, die erst im Juni 1830 gewählte Deputiertenkammer aufgelöst und das Wahlrecht beschränkt. Schnell weitete sich der Widerstand gegen diese Maßnahmen auf immer größere Kreise der Pariser Bevölkerung aus, und es gelang ihr während der sogenannten Trois Glorieuses vom 27. bis 29. Juli, in Straßenkämpfen die Kontrolle über die Stadt zu gewinnen. Anklänge an die Revolution von 1789 blieben dabei nicht aus: Der Louvre wurde gestürmt, die Trikolore gehisst, und unter Führung des Veteranen Marie Joseph Marquis de Lafayette (1757–1834) formierte sich eine neue Nationalgarde. Karl X. musste daraufhin die Bildung einer liberalen Übergangsregierung akzeptieren, die den aus einer Nebenlinie des Hauses Bourbon stammenden Louis-Philippe (1773–1850), Herzog von Orléans, zum Generalstatthalter erklärte. Obwohl Karl X. am 2. August 1830 zugunsten seines Enkels Heinrich (1820–1883) abdankte, entschieden die beiden französischen Kammern bereits am 8. August, Louis-Philippe die Krone anzutragen. Er wurde am 15. August 1830 zum König der Franzosen erhoben.
Während sich die neue Regierung in Paris um die Beruhigung der innen- und außenpolitischen Lage bemühte, griff die Revolutionswelle am 25. August 1830 auf Brüssel über.3 Die Unzufriedenheit mit der Herrschaft der Oranier, die Belgien gemeinsam mit den nördlichen Niederlanden in einem seit 1815 bestehenden Vereinigten Königreich regierten, mündete in einen Kampf um staatliche Autonomie. Es gelang den Aufständischen, Brüssel gegen niederländische Truppen zu verteidigen, so dass sie am 26. September 1830 eine provisorische Regierung bilden konnten, welche am 4. Oktober die belgische Unabhängigkeit erklärte. Nachdem die europäischen Großmächte den neuen Staat im Januar 1831 de facto anerkannt hatten, wurde am 7. Februar 1831 eine belgische Verfassung in Kraft gesetzt, und am 4. Juni 1831 wurde Leopold von Sachsen-Coburg und Gotha (1790–1865) zum König der Belgier gekrönt.
Unterdessen hatte die Revolutionswelle im September 1830 auch die Staaten des Deutschen Bundes erreicht.4 Zu revolutionären Situationen kam es in Braunschweig, Kurhessen und Sachsen, doch auch in anderen deutschen Staaten war die Lage gespannt. Gespeist wurde die durchaus heterogene deutsche Aufstandsbewegung durch eine Mischung aus Sozialprotest, verfassungs- und zollpolitischen Forderungen.
Im Osten Europas erschütterte am 29. November 1830 ein von polnischen Offizieren ausgeführtes Attentat auf den russischen Gouverneur das Königreich Polen.5 Ähnlich wie in Belgien bestand auch im sogenannten Kongresspolen Unzufriedenheit mit der 1815 gefundenen Lösung: Der russische Zar regierte als Träger der polnischen Königskrone das Land in Personalunion und entsandte lediglich einen Statthalter nach Warschau. Dieses Amt übte der Bruder der Zaren Alexander I. (1777–1825) und Nikolaus I. (1796–1855), Großfürst Konstantin (1779–1831), aus. Obwohl der gegen ihn gerichtete Anschlag fehlschlug, floh Konstantin bald darauf aus Warschau. In der Folgezeit radikalisierte sich die Aufstandsbewegung und setzte im Januar 1831 Zar Nikolaus als Träger der polnischen Krone ab. Der darauf folgende Krieg zwischen russischen und polnischen Truppen zog sich bis in den Frühherbst 1831 hin und endete in einer vollständigen Niederlage der Polen.
Jenseits der Alpen kam es Anfang Februar 1831 in den norditalienischen Herzogtümern Parma und Modena sowie im Kirchenstaat zu Aufständen.6 Provisorische Regierungen wurden am 5. Februar im päpstlichen Bologna, am 9. Februar in Modena und am 15. Februar in Parma gebildet. Doch schon im März 1831 fand die Bewegung durch den Einmarsch österreichischer Truppen ein Ende.
Bereits im Herbst 1830 hatten sich auch in zahlreichen Kantonen der Schweiz die Forderungen nach liberalen Verfassungen und politischer Partizipation verschärft.7 Auf der iberischen Halbinsel, insbesondere in Andalusien, war die Lage ebenfalls gespannt, wenngleich dort kleinere Aufstände niedergeschlagen wurden.8 Unruhig war es zudem in Großbritannien, wo sich agrarischer und frühindustrieller Sozialprotest mit politischen Partizipationsforderungen verband.9
Revolution und europäischer Nachrichtentransfer
Die Ordonnanzen des französischen Königs Karl X. hatten unter anderem auf die Einschränkung der 1814 zugesicherten Pressefreiheit gezielt. Die liberalen Pariser Blätter, darunter Le National, Le Temps und Le Globe, erschienen daher am 27. Juli 1830 ohne Druckgenehmigung, woraufhin sie von der Obrigkeit beschlagnahmt wurden. Insofern hatte die liberale Presse der französischen Hauptstadt von Beginn an ein vitales Interesse daran, den Protest gegen die königliche Verfassungsverletzung auf eine breite Basis zu stellen. Einflussreiche Publizisten wie der Chefredakteur des National, Adolphe Thiers (1797–1877), gehörten deshalb zu den Trägern der Revolution und standen nach den Trois Glorieuses für politische Ämter zur Verfügung. Mithin bestand von vorneherein eine enge Verbindung zwischen Revolution und Medien, die für die alsbald einsetzende europaweite Berichterstattung über die Pariser Geschehnisse beste Voraussetzungen schuf.
Ihren Widerhall fanden die Nachrichten aus Frankreich in einem europäischen Kommunikationsraum, in dem ein sich immer weiter ausdifferenzierendes Pressewesen die professionelle Nachrichtenübermittlung übernommen hatte und neben die private und obrigkeitliche Korrespondenz getreten war. Allerdings waren um 1830 die zahlreichen Stafettenreiter, die sowohl von den Regierungen als auch von den großen Handels- und Bankhäusern beauftragt wurden, noch schneller als der reguläre Briefversand und Zeitungsvertrieb der Posten. Die Verkürzung der Reisezeiten durch Chausseebau, Dampfschifffahrt und die ersten Eisenbahnen beschleunigten die Kommunikation; auch auf Telegraphenlinien konnte bereits zurückgegriffen werden.
Die bedeutenden englischen und französischen Tageszeitungen wie etwa die Times oder der Moniteur wurden um 1830 in ganz Europa gelesen, nachdem sie bereits im 18. Jahrhundert in weite Teile des Kontinents vertrieben worden waren. In geringerem Maß verfügte auch das einflussreichste deutschsprachige Tagesblatt, die 1798 begründete Allgemeine Zeitung des Tübinger Verlegers Johann Friedrich Cotta (1764–1832), über einen europäischen Leserkreis. Die Verbreitung dieser Blätter wurde begünstigt durch eine Reihe technischer Neuerungen, die seit der Jahrhundertwende das Druckverfahren der großen Tageszeitungen vereinfacht und beschleunigt und damit immer höhere Auflagenzahlen ermöglicht hatten. Wegweisend waren insbesondere die von Louis-Nicolas Robert (1761–1828) im Jahr 1798 erfundene Papiermaschine und die von Friedrich Koenig (1774–1833) und Andreas Bauer (1783–1860) 1811 entwickelte Schnellpresse. Nachdem es den Urhebern dieser Innovationen gelungen war, mit Hilfe englischen Kapitals und Know-how aus ihren Erfindungen ein Geschäft zu machen, gelangten Papiermaschine und die nun auch schon mit Dampf betriebene Schnellpresse wieder auf den Kontinent, wo sie sich in den 1820er Jahren durchsetzten.10 Zusätzlich bemühten sich die Verleger, die redaktionellen Abläufe effizienter zu gestalten. Die einflussreichen Blätter leisteten sich neben hauptberuflichen Redakteuren ein dichtes Netz von Mitarbeitern und Korrespondenten, die regelmäßig Meldungen und Berichte einsandten.11
Dies zusammengenommen ermöglichte es, dass die Kunde von den Ordonnanzen Karls X. und wenig später die Meldungen über die Pariser Revolution Europa innerhalb kurzer Zeit durchquerten. Kein geringeres Medienecho fanden in den Folgemonaten die Aufstände in Belgien und Polen. Die außergewöhnliche Intensität und Geschwindigkeit der Nachrichtenübermittlung fiel bereits den Zeitgenossen auf. So kommentierten die Allgemeinen Politischen Annalen des liberalen Politikers Karl von Rotteck (1775–1840) einige Wochen nach den Trois Glorieuses: "Die Nachricht von diesen Ereignissen durchlief Europa mit reißender Schnelligkeit."12 Zugleich thematisierte das Blatt die Einschränkungen, denen in vielen Staaten die Presse unterworfen war. Doch selbst die obrigkeitliche Zensur habe den europäischen Nachrichtentransfer nicht verhindern können, zumal die Pariser Meldungen gewissermaßen für sich selbst gesprochen hätten: "Auch die Tagblätter unter Fessel und Verschneidung sprachen freier und klüger, indem sie das Geschehene und Gesprochene nacherzählten."13
Nach London brachten Stafetten des Bankhauses Rothschild die ersten Nachrichten über die Pariser Geschehnisse.14 Schon seit dem 28. Juli 1830 berichtete die Times über die Situation jenseits des Ärmelkanals,15 am 3. August brachte sie einen ausführlichen, aus französischen Blättern kompilierten Artikel16 und würdigte in einem zugehörigen Kommentar das Vergehen der Revolutionäre.17
In der Cottaschen Allgemeinen Zeitung war erstmals am 1. August in einem Schreiben aus Paris vom 26. Juli über die Ordonnanzen zu lesen.18 Die gleiche Ausgabe brachte in einer außerordentlichen Beilage zudem eine Übersetzung der Ordonnanzen.19 Am 3. August zitierte die Allgemeine Zeitung aus Handelsstafetten, die von Gefechten und der Versammlung der Nationalgarde unter Führung Lafayettes berichteten,20 am 4. August war erstmals von der provisorischen Regierung zu lesen sowie von der "in Paris ausgebrochenen Revolution"21. Umfassend informiert wurden die Leser der Allgemeinen Zeitung aber erst am 6. August 1830, nachdem die Redaktion "endlich Pariser Briefe und liberale Zeitungen"22 erhalten hatte.
Einen Großteil der europäischen Eliten erreichten die Pariser Nachrichten in den Kommunikationszentren der internationalen Bade- und Kurorte. So hörte der französische Gesandte in Kurhessen, Sabatier de Cabre, während eines Besuchs der Bäder in Wiesbaden von den Pariser Geschehnissen.23 Freiherr vom Stein (1757–1831) erhielt erste Informationen aus Ems,24 dort dürfte auch Heinrich Heines (1797–1856)[] Schwester, Charlotte Embden (1803-1899), zuerst von den Pariser Geschehnissen Kenntnis erhalten haben.25 Heine selbst hielt sich zur Kur auf Helgoland auf, wo er um den 6. August durch die vom Festland herübergeschickten Zeitungen von den Juliereignissen erfuhr. Seine Erinnerungen an diesen Moment verarbeitete Heine in seiner 10 Jahre später veröffentlichten Börne-Denkschrift:26
Eben diese Geschichte las ich im Paul Warnefrid, als das dicke Zeitungspaquet mit den warmen, glühend heißen Neuigkeiten vom festen Lande ankam. Es waren Sonnenstralen, eingewickelt in Druckpapier, und sie entflammten meine Seele, bis zum wildesten Brand. ... Auch die übrigen Badegäste traf der Pariser Sonnenstich, zumal die Berliner ... Sogar die armen Helgolander jubeln vor Freude, obgleich sie die Ereignisse nur instinktmäßig begreifen.27
Ebenso große Begeisterung hatten nach Heines Schilderung die Pariser Geschehnisse im Seebad Cuxhaven unter den dort weilenden Hamburger Kurgästen ausgelöst.28 Den bayerischen König Ludwig I. (1786–1868) schreckten die Meldungen aus Paris am 3. August in Brückenau auf.29 Den preußischen König Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) erreichte die Nachricht im böhmischen Töplitz,30 den russischen Außenminister Graf Karl Robert von Nesselrode (1780–1862) im benachbarten Karlsbad,31 während der österreichische Staatskanzler Fürst Klemens von Metternich (1773–1859) und sein Vertrauter Friedrich von Gentz (1764–1832) auf dem nahegelegenen Sommersitz Metternichs in Königswart von der Julirevolution unterrichtet wurden. Stafetten hatten ihnen bereits am 31. Juli den Moniteur vom 26. Juli überbracht, in dem die Ordonnanzen abgedruckt waren. Weitere, über Frankfurt gelaufene Stafetten trafen am 2. und 3. August ein, und schon am 4. August bestand Gewissheit über den Sieg der Pariser Revolutionäre.32 Die intensive Lektüre der neuesten französischen Journale brachte dem Kreis um Metternich in den Folgetagen weiteren Aufschluss über die Ereignisse.33
Abseits der Badeorte und Hauptstädte dürften viele auf ähnlichem Weg von den Pariser Ereignissen erfahren haben wie der Publizist und Politiker Johann Georg August Wirth (1798–1848) in Bayreuth. Seinen Erinnerungen zufolge hörte er erst vergleichsweise spät, nämlich in den ersten Augusttagen, dank durchgehender Handelsstafetten von den Einschränkungen der Freiheitsrechte durch Karl X.34 Die daraufhin zusammengeströmten Neugierigen konnten aber bald darauf aus den von der Gesellschaft Ressource abonnierten Tageszeitungen entnehmen, dass Karl X. gestürzt worden war. Die deutschen Blätter brachten Auszüge aus den französischen Zeitungen, und es wurde laut vorgelesen, was sich ereignet hatte.35
Nach Hamburg brachten Stafetten des Bankiers Ascan Wilhelm Lutteroth (1783–1867) schon am 1. August 1830 Nachrichten über die Flucht Karls X. und die Pariser Barrikadenkämpfe.36 Im thüringischen Weimar trafen erste Informationen aus Paris am 3. August 1830 ein; zwei Tage später bestand Klarheit über den Sturz des französischen Königs.37 Unter der Wiener Bevölkerung waren die Ereignisse ebenfalls um den 5. August bekannt.38
St. Petersburg erreichte die Nachricht von der Pariser Revolution am 11. August 1830. Obwohl Zar Nikolaus I. der Presse zunächst verbot, über die Geschehnisse zu berichten, verbreiteten sich in den aristokratischen Salons, den Cafés und Universitäten entsprechende Gerüchte. In Umlauf gebracht wurden sie zum einen vom gut informierten Hochadel, zum anderen von den sich in Russland aufhaltenden Ausländern, insbesondere den Franzosen selbst.39 Als die Julirevolution am 19. August durch die staatlich gelenkte Presse dann doch offiziell bekannt gemacht wurde, hatte sich die Kunde von ihr nicht nur in St. Petersburg und Moskau, sondern bis in die Provinzstädte verbreitet.40
In Kiew kam die Nachricht von der Revolution laut dem Bericht eines französischen Veteranen dagegen erst am 20. August an, erregte dort aber erhebliches Aufsehen "surtout dans la classe la plus élevée de la société".41 Wahrscheinlich ebenfalls noch im August erhielten die nach Sibirien verbannten Dekabristen und ihre Familien durch Briefe und Zeitungen Kunde von der Julirevolution, die von ihnen mit großem Jubel aufgenommen wurde. Auch hier war die Revolutionsbegeisterung eher ein Elitenphänomen. Die Wachtposten hingegen hätten der Ausgelassenheit der Dekabristen "verständnislos" zugesehen, denn "sie hatten von Politik keine Ahnung."42
In den Wochen und Monaten nach den Trois Glorieuses wurden die Zeitungsmeldungen von Augenzeugenberichten in monographischer Form ergänzt. Die Pariser Geschehnisse veranlassten zahlreiche Zeitzeugen, ihre Erlebnisse in Selbstzeugnissen wie Tagebüchern, Briefen oder Memoiren festzuhalten, von denen nur ein kleiner Teil in den Druck gelangte.43 Einige Augenzeugenberichte erschienen zunächst auf Französisch und wurden bald darauf in viele europäische Sprachen übersetzt, andere wurden von in Paris lebenden Ausländern in ihrer Muttersprache verfasst. Verlage in Lugano, Glasgow, London, Utrecht, Kopenhagen, Hamburg, Karlsruhe, Stuttgart, Leipzig oder Quedlinburg nahmen die aufsehenerregenden Berichte ins Programm.44 Diese Schriften bildeten den Auftakt für "eine mehrere Jahre anhaltende Konjunktur von Paris-Büchern, Augenzeugenberichten, Skizzen, 'Silhouetten', 'Gemälden', historischen und politischen Analysen"45, die den Mythos der Metropole Paris nährten.
Einige der Berichte verfügten über Abbildungen, die Schlüsselfiguren oder -szenen der Trois Glorieuses zeigten. Die von dem englischen Publizisten und Satiriker William Hone (1780–1842) im September 1830 veröffentlichten Full annals of the revolution in France zeigten beispielsweise die Porträts Louis-Philippes und Lafayettes, das Hissen der roten Fahne an der Porte St. Denis sowie die Stürmung des Hôtel de Ville und des Palais de Justice.46 Ins Bild gesetzt wurden die Pariser Nachrichten zudem von dem zeittypischen Medium des Bilderbogens. Firmen wie das für den europäischen Markt produzierende Verlagshaus Pellerin in Épinal oder die eher auf den deutschsprachigen Raum ausgerichteten Unternehmen Campe in Nürnberg und Kühn in Neuruppin produzierten solche Blätter um 1830 in hohen Auflagen; die jährliche Gesamtproduktion dieser Verlage ging in die Hunderttausende.47 Im Medium des Aktualitätenbogens,48 das gemessen an volkstümlicheren Motiven allerdings nur einen verhältnismäßig kleinen Abnehmerkreis erreichte, wurde die Verflechtung der europäischen Ereignisse besonders eindrücklich dargestellt:49 Ein in Nürnberg vermutlich um die Jahreswende 1830/1831 gedrucktes Blatt stellte "Die denkwürdigsten Tage des Jahres 1830" dar, indem es Szenen aus Paris, Brüssel, Leipzig, Dresden, Braunschweig, Hanau, Antwerpen und Warschau zeigte.
Revolution, Erinnerung und politische Öffentlichkeit
Die Bedeutung, die den Geschehnissen überall zugemessen wurde, beruhte wesentlich auf den Krisen-, Umbruchs- und Kriegserfahrungen, welche die Menschen in den vorangegangenen vier Jahrzehnten gemacht hatten. Die Erinnerung an 1789 war überall präsent, so dass angesichts der neuerlichen Pariser Revolution weder die Regierungen noch die politisierte Öffentlichkeit noch die Masse der Bevölkerung gleichgültig bleiben konnten. Vielen erschienen die Trois Glorieuses als Wiederkehr der ersten französischen Revolution. Sie gingen daher davon aus, dass sich die Unruhen im entfernten Paris in der einen oder anderen Weise auf ihren Alltag auswirken würden. Diese Überzeugung verstärkte sich noch, als im August 1830 der belgische Aufstand losbrach, mit dem sich die Revolution von West nach Ost auszubreiten begann. Verbunden damit war eine verbreitete Kriegsfurcht, die ihren Höhepunkt in der ersten Hälfte des Jahres 1831 erreichte und bis zum Jahresende 1832 immer wieder aufflammte.50
Revolutionsgegner wie -befürworter innerhalb und außerhalb Frankreichs begriffen die französische Nation als Impulsgeber Europas, als einen Staat, so Metternich, "dessen Schicksale so tief in das europäische Leben eingreifen".51 "En effet, tout ce qui se fait en France est un événement européen",52 hieß es bereits am 4. August 1830 im liberalen Journal des débats. Im Februar 1831 kommentierte der konservative Courrier de l'Europe: "C'est une destinée de la France de ne pouvoir faire chez elle aucun changement qui n'aille à l'instant même porter des changements semblables au bout du monde."53
Victor Hugo (1802–1885)[] beschwor am 19. August 1830 im Pariser Journal Le Globe die Erinnerung an das revolutionäre und napoleonische Frankreich und bekräftigte die Vorreiterrolle seines Landes. In seinem unter dem Titel A la jeune France veröffentlichten Gedicht, das er den Schülern und Studenten widmete, die in die Kämpfe der Trois Glorieuses verwickelt gewesen waren, hieß es: "L'Angleterre jalouse et la Grèce homérique, / Toute l'Europe admire, et la jeune Amérique / Se lève et bat des mains, du bord des océans."54
Mit der Julirevolution wurde nicht nur die Erinnerung an 1789 und Napoleon wachgerufen, sondern auch das Symbolsystem reaktiviert, das nach der ersten französischen Revolution entwickelt und in ganz Europa bekannt gemacht worden war. Dazu gehörte zuvörderst, dass die Trikolore erneut zum französischen Staatswappen erhoben wurde. Wie schon nach 1789 schmückten sich Revolutionsbefürworter auch jetzt wieder mit blau-weiß-roten Kokarden, so etwa die französischen Handelskuriere, die Anfang August in der Bundesfestung Mainz eintrafen, wo sie diese jedoch auf Geheiß der Obrigkeit sogleich wieder ablegen mussten,55 oder die vornehme Irin, die im September 1830 auf einer Versammlung in Dublin mit entsprechendem Kopfputz erschien.56
Das Ausbringen von Vivat-Rufen auf Lafayette und Napoleon I. (1769–1821), das Singen der Marseillaise und der Parisienne des französischen Dichters Casimir Delavigne (1793–1843)57 oder das Nachspielen revolutionärer Szenen auf der Theaterbühne waren weitere Möglichkeiten, die Verbundenheit mit den französischen Revolutionären zum Ausdruck zu bringen. Verbreitet war auch das Aufpflanzen von Freiheitsbäumen, etwa in Pfalzbayern, wo es allerdings zu durchaus eigensinnigen Bedeutungsaufladungen dieses Symbols kam.58
Heinrich Heine schmückte seine Erinnerung an diese Reaktivierung revolutionärer Symbole während des Sommers 1830 folgendermaßen aus:
Lafayette, die dreyfarbige Fahne, die Marseillaise ... Fort ist meine Sehnsucht nach Ruhe. Ich weiß jetzt wieder was ich will, was ich soll, was ich muß ... In allen Sprachen bringt man den Franzosen ihr wohlverdientes Vivat, .... In Hamburg flattert die Trikolore, überall erklingt dort die Marseillaise, sogar die Damen erscheinen im Theater mit dreyfarbigen Bandschleifen auf der Brust, und sie lächeln mit ihren blauen Augen, rothen Mündlein und weißen Näschen ...59
Ergänzt wurde das revolutionäre Symbolsystem durch Bekundungen internationaler Solidarität in Form von Geldsammlungen, Adressen und Banketten. So gingen schon bald nach den Juliereignissen bei der Municipalité de Paris oder bei der Nationalgarde Geldspenden für die Hinterbliebenen der während der Straßenkämpfe zu Tode Gekommenen bzw. für Verletzte ein. Der Moniteur gab regelmäßig Auskunft über solche "souscriptions", indem er die Spender und die von ihnen bereitgestellte Summe auflistete. Die Subskription beispielsweise, die der Moniteur am 23. August 1830 publizierte,60 hatten unter anderem die Einwohner von acht französischen Städten, darunter Calais und Amiens, unterzeichnet, außerdem die Nationalgarde des Ortes Arcis-sur-Aube, verschiedene französische Privatleute, ein Privatmann aus Genf, mehrere Briten, die in Paris wohnenden Amerikaner sowie der amerikanische Konsul in Lorient. Die größte Summe von 10.000 francs spendeten Lord Thomas Cochrane (1775–1860) und seine Frau, insgesamt kamen über 40.000 francs zusammen.
Aus Großbritannien erreichten die französischen Revolutionäre neben Geldspenden auch mehrere Glückwunschadressen, deren Übersendung auf öffentlichen Versammlungen beschlossen wurde. Solche Versammlungen fanden in England, Schottland und Irland statt, wurden jedoch von jeweils unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen getragen: Englische radical reformers bekundeten ebenso Solidarität mit den französischen Julirevolutionären wie die Angehörigen der irischen Nationalbewegung.61 Angekündigt wurden diese Veranstaltungen in der örtlichen Presse, welche auch ausführlich über deren Verlauf informierte. Auf den Treffen wurden die Pariser Ereignisse rekapituliert und kommentiert, um dann mit der Lage im eigenen Land in Beziehung gesetzt und mit eigenen politischen Forderungen verbunden zu werden. Die beschlossenen Glückwunschadressen wurden der französischen Deputiertenkammer übersandt, worüber wiederum die örtliche Presse berichtete. Auf einer Versammlung in Belfast beispielsweise wurde am 31. August 1830 ein solcher Text, adressiert an "The Honourable the Chamber of Deputies of the French Nation", formuliert und wenig später im Belfast Newsletter veröffentlicht. Einige Wochen später publizierte der Belfast Newsletter dann ein Schreiben Jacques Laffittes (1767–1844), in dem sich dieser bei der Belfaster Bevölkerung bedankte.62
Weitere Spielarten politischer Öffentlichkeit entfalteten sich seit dem Winter 1830/1831 im Zusammenhang mit dem polnischen Aufstand.63 Ähnlich wie schon in der Philhellenenbewegung der 1820er Jahre entstanden in vielen Ländern Europas Vereine, die sich die Unterstützung des polnischen Freiheitskampfes bzw. der polnischen Emigranten in Form von Solidaritätsbekundungen, Spendenaufrufen, Hilfsgütersammlungen und Benefizveranstaltungen zur Aufgabe machten. Insbesondere der auf die Niederschlagung des Aufstandes folgende Zug der polnischen Emigranten nach Westen erregte großes Aufsehen, das seinen Widerhall in der Presse fand und somit auch in jenen Gegenden nachvollziehbar wurde, die abseits der Reiseroute der Polen lagen.
Überall in Europa zogen die Anhänger der Revolution einen Großteil ihrer Kraft aus der Erinnerung an die Revolution von 1789 und das Empire.64 Viele standen dabei aber vor dem Problem, dass die von ihnen befürworteten universalen Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eng verbunden waren mit einer Verherrlichung der französischen Nation, die sie nicht teilen wollten, da sie ihrem eigenen Nationalstolz zuwiderlief. Insofern trübte es die Freude über die Julirevolution, dass sich mit ihr die französische Vorreiterrolle in Europa abermals zu bestätigen schien.
Dementsprechend warben englische Revolutionsbefürworter im Spätsommer 1830 auf Flugblättern zwar dafür, dem französischen Vorbild zu folgen und gaben in den ländlichen Unruhen Parolen aus wie "The Time is at hand!!! Be ready, be firm and follow France" oder "Liberty and Equality! Remember! those who are not for us are against us. Look at France!" Zugleich fragten sie aber auch: "Must Frenchman always take the lead?"65
Am Beispiel der Trikolore wird deutlich, wie die revolutionären Symbole eine nationale Anverwandlung erfuhren: Zunächst an die Seite, dann aber zunehmend an die Stelle des blau-weiß-roten Banners traten in Belgien die Farben Brabants und im Deutschen Bund die des Lützower Freicorps – schwarz, rot, gold. In Italien war die grün-weiß-rote Trikolore bereits seit den Tagen der Republiken der 1790er Jahre etabliert, während die aufständischen Polen sich an den Farben des königlich-polnischen Wappens orientierten und eine weiß-rote Flagge benutzten.
Unter diesen Bedingungen entstand eine "Internationale der Nationalisten"66, die den gewünschten politischen Wandel durch die Schaffung freiheitlicher Nationalstaaten zu erreichen hoffte und dabei der jeweils eigenen Nation eine Vorreiterrolle zuwies. Die Vertreter dieser Bewegung bedienten sich einer breiten Palette politischer Aktionsformen, die von öffentlichen Aufrufen in der periodischen Presse und in Flugschriften, Vereinsgründungen und Festen bis hin zu Geheimbünden, Attentaten und freischärlerischen Aktivitäten reichte. Die von Johann Georg August Wirth in den Jahren 1831 bis 1832 herausgegebene Deutsche Tribüne67, die damit im Zusammenhang stehende Gründung des Preß- und Vaterlandsvereins in Pfalzbayern68 und das im Mai 1832 ausgerichtete Hambacher Fest gehören ebenso in diesen Kontext wie die von Giuseppe Mazzini (1805–1872) in den Jahren nach der Julirevolution initiierten Geheimbünde, die sich 1834 zur Giovine Europa (Junges Europa) zusammenschlossen.69
1830/1831 als europäisches Medienereignis
In den Geschehnissen der Jahre 1830/1831 waren politischer Protest und Medien aufs engste miteinander verbunden. Der bestehende europäische Kommunikationsraum ermöglichte zunächst einen ebenso schnellen wie intensiven Nachrichten- und Ideentransfer. In einer Vielzahl von Publikationen wurden die Geschehnisse narrativiert, kommentiert und diskutiert. Neben die gedruckten Medien traten dabei verschiedene Spielarten einer politischen Öffentlichkeit, die teils auf bereits erprobte Symbole und Aktionen zurückgriff, teils neue Ausdrucksformen schuf.
Die gesamteuropäische Erinnerung an die Revolution von 1789 führte dazu, dass die Zeitgenossen den Juliereignissen und ihren Folgen eine große Bedeutung zumaßen. Zugleich befähigte diese sie, das Geschehen nicht nur mit Erschütterung oder Überraschung wahrzunehmen, sondern es nach Maßgabe bereits bestehender Wertegefüge zu beurteilen. Europa selbst wurde dabei für Revolutionsgegner wie -befürworter zur "appellativen Instanz"70 und zum politischen Argument.71 Die Revolutionen der Jahre 1830/1831 stellen daher fraglos ein transnationales Medienereignis dar, das dazu beitrug, Europa als einen Kommunikations-, Erinnerungs- und Handlungsraum zu konstituieren.