Antike und ihre Aneignung – Ein Problemaufriss
"Quid est enim aliud omnis historia, quam Romana laus?"1 Als Francesco Petrarca (1304–1374) diese Frage aufwarf, brachte er die Stimmung des frühen italienischen Humanismus zum Ausdruck. Die Wiederentdeckung der Antike und die Abkehr von den "tenebrae" (der "Dunkelheit") des "medium tempus" ("Mittelalter") wurde zum Programm der Renaissance2 und steht am Beginn der Epoche, die seit der endgültigen Dreiteilung der Geschichte durch Christoph Cellarius (1638–1707) in seiner Historia Universalis als Neuzeit bezeichnet wird.3 Überspitzt könnte man formulieren: Die Neuzeit definierte sich über die Antike, und ohne einen Bezug auf das Modell Antike gäbe es keine Neuzeit.
Doch was heißt "Modell Antike"? Wie können die Rezeptions- und Transferprozesse, die dem Begriff zugrunde liegen, angemessen beschrieben werden?4 Beschreibungsmöglichkeiten liefern die Ansätze der Rezeptionsästhetik. Das Ziel dieser vor allem literaturwissenschaftlichen Perspektive ist es, vom Werk weg auf den Leser und Rezipienten zu fokussieren und dessen Wahrnehmung und Aneignung von Kunstwerken in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken.5 In durchaus ähnlicher Weise fragt auch die neuere Kulturtransferforschung nicht mehr primär nach den Kulturemen einer Ausgangskultur, sondern sie geht davon aus, dass Übernahmen aus Aneignungsbedürfnissen resultieren und diese die Form der Anverwandlung bestimmen.6
Antike, so kann man analog formulieren, wird in unterschiedlichen Situationen in einem reziproken und dynamischen Sinne angeeignet. Sie fungiert jedoch als Modell, als Konstrukt von Vergangenheit, und unter Bezugnahme auf gegenwärtige Realität. Dennoch ist den jeweiligen Akteuren die Konstruktivität der Übernahme nicht immer bewusst. Vielmehr wirkt die Modellbildung zurück, sie schafft vergangene Wirklichkeit neu und modifiziert somit Wissensbestände. Wir sprechen daher von einer "Aneignung" und "Verargumentierung", die die in Text, Bild und materieller Hinterlassenschaft höchstens fragmentarisch verfügbare Antike den jeweiligen Argumentationsbedürfnissen anpasst, so dass "hybride" Formen entstehen.7 Die "Situationen", in denen Antike mit jeweils neuer Bedeutung aufgeladen wird, bezeichnen wir daher als "Aneignungssituationen", so dass die "Momente der Konstituierung" und das "Neben- und Gegeneinander verschiedener, gleichzeitig abrufbarer Verwendungen" in den Blickpunkt rücken.8 Aneignung wird also eingebettet in ihre spezifischen Kontexte; modellhaft ist sie, weil sie in der politischen Debatte normative und vorbildhafte Funktionen erfüllt.
Freilich geschieht die Aneignung eines Modells nicht allein durch direkten Rückbezug auf Antike, sondern ist stets mitgeprägt von früheren Aneignungsvorgängen. Vorangegangene Interpretationen von Antike liegen als Traditionskerne zwischen der jeweiligen Gegenwart und der Antike, prägen somit Lesarten vor und verhindern, ohne dass die Rezipienten dies immer erkennen, einen direkten Zugriff auf die antiken Texte. Diese Traditionskerne werden in zeitgenössischen Vorstellungen von Antike verargumentiert und bilden gleichsam Folien, die die Antike für die jeweilige Gegenwart lesbar und interpretierbar machen. Dabei werden an die antiken Traditionskerne "Layer" angefügt, die nicht nur durch die jeweiligen gegenwärtigen Diskurse, sondern auch durch soziale und politische Spezifika sowie durch die Eigentümlichkeiten des jeweiligen Genres definiert werden, in dem sie auftauchen.9
Antike, so muss wohl festgehalten werden, ist ebenso wie die Vergangenheit an sich prinzipiell unverfügbar. Sie kann nur durch zahlreiche Schichten der Rezeption und Aneignung hindurch verstanden und erneut angeeignet werden. Als Modell wird sie also stets neu mit Inhalt gefüllt und stellt immer neue Repräsentationen antiker Tatsachen dar, die gleichwohl in Form kultureller Codes die gesamte Frühe Neuzeit hindurch und bis weit in die Neueste Geschichte hinein paradigmatische Bedeutung besaßen – trotz der im späten 17. Jahrhundert teils erbittert geführten Querelle des Anciens et des Modernes.10 Generell war Rom als Referenzpunkt insbesondere in der politischen Geschichte präsenter als Griechenland, obwohl der Philhellenismus eine äußerst wirkmächtige geistesgeschichtliche und politisch wirksame Bewegung darstellte.11
Das Modell Antike und die Reichsidee seit dem Mittelalter
Von besonderer Bedeutung war die Antike (und hier insbesondere Rom) zweifellos, wenn es um den universalen Anspruch von Herrschaft ging. Für die Reichsidee war die Vorstellung von tragender Bedeutung, dass im römisch-deutschen Kaisertum das römische Kaiserreich fortlebte. Rom war mithin sowohl für die weltliche als auch für die geistliche Universalmacht ein Referenzrahmen, der letztlich von 800 bis 1806 unter vielfältigen zeitbedingten Anpassungen Bestand haben sollte. Eine wesentliche Rolle spielte dabei auch die eschatologische Funktion Roms, galt Rom doch als die letzte der vier Weltmonarchien vor dem Anbruch des Jüngsten Gerichts.12 Aufgrund der Anknüpfung an die römischen Imperatoren in Mittelalter und Neuzeit13 werden die Herrscher Roms im Deutschen als Kaiser bezeichnet, was eine eigentlich nicht treffende Etikettierung ist.14
Ab der Mitte des 12. Jahrhunderts trat hierzu die Idee einer translatio imperii, also einer "Übertragung des Reichs" auf die Franken,15 und die Bezeichnung Sacrum Imperium Romanum ("Heiliges Römisches Reich") blieb bis zum Ende des Alten Reiches von Bedeutung, sicherte doch die behauptete Kontinuität der Kaiser von der Antike bis in die Neuzeit dem Alten Reich die vornehmste Stellung in Europa.16 Zur Herleitung politischer oder rechtlicher Positionen diente indes die Bezeichnung "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation" nicht mehr,17 vielmehr wurde durch sie die untrennbare Zusammengehörigkeit von Römischem Reich und deutscher Nation zum Ausdruck gebracht.18
Auch wenn die Rom-Idee damit immer weiter verblasste, blieb sie doch unverzichtbarer Bestandteil herrschaftlicher Selbstdarstellung, wie sich etwa an der Grabinschrift Maximilians I. (1459–1519) auf dem Kenotaph in der Hofkirche in Innsbruck ablesen lässt. Seine dort verwendete Titulatur bildet einen direkten Bezug auf die Herrscher des alten Rom: IMPERATORI CAES(ARI) MAXIMILIANO PIO FOELICI | AUG(USTO) PRINCIPI.19 Selbiges gilt auch noch im 18. Jahrhundert, etwa für die Selbstdarstellung Josephs II. (1741–1790) und Maria Theresias (1717–1780), wie das Beispiel der Triumphpforte in Innsbruck eindrücklich zeigt. Der römische Bautypus des Triumphbogens wurde seinem eigentlichen militärischen Kontext entnommen und 1765 anlässlich der Hochzeit Erzherzog Leopolds (später Kaiser Leopold II., 1747–1792) mit der spanischen Prinzessin Maria Ludovica (1745–1792) erbaut. Die Inschriften von Leopolds Bruder, dem späteren Joseph II., und seiner Mutter Maria Theresia an der Triumphpforte stellen wiederum eine bewusste Anknüpfung an römische Kaisertitulaturen dar: IMP(ERATOR) CAES(AR) | IOSEPHUS II | AUGUSTUS bzw. M(ARIA) THERESIA | AUGUSTA. Obgleich die politische Bedeutung eher gering war, war die Rom-Idee für die Selbstdarstellung und für den eindringlich behaupteten Vorrang des Kaisers des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation weiterhin von besonderer Wichtigkeit, wurde dabei freilich an die Bedürfnisse der Zeit angepasst.
Auch die Könige Frankreichs verzichteten nicht darauf, Bezüge zur römischen Kaiserwürde herzustellen, insbesondere wenn es darum ging, Ansprüche auf die Kaiserkrone zu untermauern. Ein "neues Rom" sollte unter Franz I. (1494–1547) in Frankreich entstehen, was beispielsweise durch zahlreiche architektonische und dekorative Antikenzitate in der Grande Galerie von Schloss Fontainebleau zum Ausdruck kommt.20 Unter Heinrich IV. (1553–1610) und Ludwig XIV. (1638–1715) erreichten solche imperialen Gesten, die sich gezielt des Modells Antike bedienten, erneute Höhepunkte.21
In England wiederum spielte seit dem Beginn der Regierung Karls II. (1630–1685) im Jahre 1660 die Idee eines Augustan Age eine wichtige Rolle. Das Verständnis dieses neuen Augusteischen Zeitalters war zweifellos vielfältig, doch neben der imperialen Größe, die insbesondere im 18. Jahrhundert an Bedeutung gewann, war der Glaube, einen seit der Regierungszeit von Kaiser Augustus (63 v. Chr.–14) nicht mehr erreichten Höhepunkt von Zivilisation und Kultur erreicht zu haben, ein wichtiger Aspekt.22 Imperialer Gestus und Übernahme einer antiken Terminologie wurden auch im Zarenreich des 18. Jahrhunderts üblich, etwa mit der Annahme des Imperatorentitels durch Zar Peter I. (1672–1725).23
Der humanistische Gegenentwurf zur Reichsidee in Italien
Der Humanismus brachte einen dezidiert anti-imperialen Reflex in das Modell Antike ein, und mit einer gewissen Folgerichtigkeit beschäftigten sich die Humanisten vorzugsweise mit der römischen Republik und entwickelten ein großes Interesse an der römischen Historiographie. Aus der Beschäftigung mit der römischen Geschichte heraus wurde die Vorstellung entwickelt, Rom sei die perfekteste Kultur gewesen, die jemals existiert habe, und ihre Langlebigkeit sei vor allem auf die außerordentliche Tugendhaftigkeit ihrer großen Männer gegründet gewesen.24 Dieses Modell sollte – gerade mit Blick auf den frühneuzeitlichen Republikanismus – eine extreme Beharrungskraft aufweisen.
Grundlegende republikanische Perspektiven auf die Antike, die zur entscheidenden Folie für spätere Verargumentierungen werden sollten, wurden insbesondere im Florenz der Renaissance entwickelt. Hier wie überall in Italien waren die schriftlichen und materiellen Überreste der Antike als unmittelbares Erbe präsent, und hier entwickelte sich die erste Blüte des Humanismus – stimuliert auch durch die Einwanderung gelehrter griechischer Flüchtlinge nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen.25 Insbesondere vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen mit Mailand im 14. und 15. Jahrhundert suchte die Florentiner Bürgerschaft, wie etwa die Schriften Leonardo Brunis (1369–1444) belegen, ihre Anciennität und ihre Unabhängigkeit mittels ihrer etruskischen und römischen Vergangenheit zu legitimieren.26
Der "Bürgerhumanismus", der sich in Florenz im Zuge der Auseinandersetzungen – wenn auch zweifellos auf der Basis mittelalterlich-genossenschaftlicher Wurzeln – entwickelte, orientierte sich am Modell der römischen Republik.27 Wie ihre Vorgänger nutzten auch Francesco Guicciardini (1483–1540) und Niccolò Machiavelli (1469–1527)[] das römische Vorbild als Folie zur Beschreibung ihrer vom französisch-habsburgischen Ringen um Italien und vom Machtkampf zwischen Signoria und dem Hause Medici geprägten krisenhaften Gegenwart des 16. Jahrhunderts.28 Insbesondere für Machiavelli stellte das republikanische Rom – ganz im Sinne der von Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) geprägten Vorstellung Historia magistra vitae ("Geschichte ist die Lehrmeisterin des Lebens") – eine Referenzgröße zur Gewinnung praktischer politischer Handlungsmaximen dar. Es war somit ein Vorbild, dem es nachzueifern galt, um die Krise des Florentinischen Staatswesens zu überwinden.29 Machiavellis Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio ("Abhandlungen über die ersten zehn Bücher des Titus Livius") sind daher weit mehr als nur ein Livius-Kommentar, sondern überdies eine Analyse der römischen Republik mit dem Ziel der Nachahmung.30
Sparta und das republikanische Rom erscheinen bei Machiavelli vor allem als Beispiele einer gelungenen Mischverfassung im Sinne des erst von Leonardo Bruni wiederentdeckten griechischen Geschichtsschreibers Polybios (200–120 v. Chr.). Die Stabilität beider Staatswesen beruhte demnach auf der klugen Kombination der Verfassungsformen Monarchie, Aristokratie und Demokratie, die zugleich Repräsentationen unterschiedlicher sozialer Schichten beinhalteten,31 sowie auf einem überlegenen Heerwesen.32 Machiavelli bediente sich also einer spezifischen, griechischen Interpretation des Aufstiegs Roms, die im zweiten vorchristlichen Jahrhundert entstanden war, um die griechische Unterlegenheit zu erklären, und die bereits in der Antike selbst vielfältige Rezeptions- und Aneignungsprozesse durchlaufen hatte.33
Bei Machiavelli wie auch bei zahlreichen weiteren Autoren im Italien seiner Zeit konnten Rom und Sparta somit als Modelle einer Ordnung dienen, die sowohl als zu verwirklichendes Ideal als auch als historische Wirklichkeit wahrgenommen wurde und Stabilität nach innen wie auch Expansion und Herrschaft nach außen verkörperte.34 Insbesondere die Discorsi Machiavellis boten in der Folgezeit eine Folie für republikanische Lesarten von Titus Livius (59–17 n. Chr.) oder Polybios und ermöglichten auch nördlich der Alpen Konstruktionen des Modells Antike, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden.35
Reformation, Konfessionskriege und die Suche nach staatlicher Ordnung
Akut wurden auf Antike bezogene und zumindest potentiell gegen die herrschenden Monarchen gerichtete Argumentationsstrategien, als in der Folge der Reformation konfessionelle Brüche zwischen Herrschaft und Teilen der Untertanen entstanden. Sowohl die calvinistischen Monarchomachen ("Königsbekämpfer") in Frankreich als auch der niederländische Aufstand brachten zahlreiche Schriften zum Widerstandsrecht hervor und entwickelten eine Freiheitssymbolik, die beträchtlichen Einfluss auch auf die folgenden Jahrhunderte hatte. So gestanden etwa Johannes Calvin (1509–1564) und Philipp Melanchthon (1497–1560) nur bestimmten, mit den spartanischen Ephoren, den attischen Demarchen und den römischen Volkstribunen verglichenen Amtsträgern ein aktives Widerstandsrecht zu.36 Das nach der Bartholomäusnacht in Basel publizierte Traktat Vindiciae contra tyrannos (1579) hingegen lobte im Extremfall auch einen privaten Tyrannenmörder, wenn er wie Marcus Iunius Brutus (85–42 v. Chr.), Marcus Porcius Cato (95–46 v. Chr.) oder Cicero die Freiheit verteidigte.37 Die Diskussion um das Widerstandsrecht wurde daher eng mit diesen Figuren verknüpft, und schon das Pseudonym des bis heute ungeklärten Autors der Vindiciae,38 Stephanus Iunius Brutus, verweist auf das Vorbild der römischen Republik.39
Insbesondere der jüngere Brutus und die Ermordung von Gaius Iulius Caesar (100–44 v. Chr.) wurden auch andernorts zu Sinnbildern und Modellen für Widerstand und Freiheit, so etwa auf einer Münze des Lorenzino de' Medici (1514–1548), dessen Ermordung Alessandro de' Medicis (1510–1537) in Imitation der bekannten Brutus-Münze als Tyrannenmord dargestellt wurde.40 Auch im Reich konnte der Kampf der Stände gegen Karl V. (1500–1558) um die "Teutsche Libertät" mithilfe solcher Legitimationsmuster geführt werden. So zeigt die von Frankreich aus ins Reich distribuierte Flugschrift Sendschrifften der Königlichen Maiestat zu Franckreich
ebenfalls die Dolche des Tyrannenmörders und den Pileus, die Mütze der römischen Freigelassenen, mit der Bildunterschrift "Libertas".41 In unmissverständlicher Deutlichkeit wird hier der legitime Widerstand des Reichsverbands gegen eine befürchtete habsburgische Tyrannei in einen Argumentationszusammenhang mit der Verteidigung der römischen Republik durch die Ermordung Caesars gerückt.
Der Humanismus, aber auch das konfessionelle Ringen beförderte zudem erheblich die Entstehung nationaler Identitäten. In den seit 1568 um ihre Unabhängigkeit von Spanien kämpfenden Niederlanden spielten Vorstellungen von den antiken Batavern eine erhebliche Rolle für die nationale Identitätsfindung, so wie der Germanenbezug nach der Entdeckung der Germania des Cornelius Tacitus (ca. 55–120) in der Abtei Hersfeld um 1450 für die deutschen Humanisten zum Bezugspunkt nationaler Identität werden konnte.42
Auf der anderen Seite bedienten sich auch die Monarchien antiker Bezüge. Schon seit dem Mittelalter verweist der Begriff "Monarchie" auf die Staatsformenlehre von Aristoteles (384–322 v. Chr.).43 Das Konzept bezog sich noch bis ins 17. Jahrhundert immer auch auf die römische Weltmonarchie und hatte somit einen universalistischen Zug.44 Obwohl also Rom gewissermaßen das Modell der Monarchie schlechthin war, rückten jedoch manche von einem solchen universalen, auf das eschatologisch verstandene römische Kaisertum bezogenen Monarchiebegriff ab. Für Jean Bodin (1529–1596) etwa war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation noch nicht einmal eine Monarchie, sondern ein aristokratisches Gebilde.45 In enger Anlehnung an die aristotelische Theorie blieb die Monarchie an die Herrschaft eines einzelnen gebunden, doch neben der Legitimierung aus der antiken Staatsformenlehre war vor allem die biblisch-patriarchalische Begründung von zentraler Bedeutung. So wichtig auch die von Cicero und anderen antiken Autoren übernommene Bezeichnung des Herrschers als "pater patriae" ("Vater des Vaterlandes") war, sie war doch stark aufgeladen mit Vorstellungen vom Landesherrn als Hausvater und Ideen einer kosmischen Ordnung, an deren Spitze Gott ebenfalls als Alleinherrscher stand.46
Überdies versuchten alle europäischen Dynastien, sich über Bezüge zur antiken Mythologie und Geschichte zu legitimieren. Dazu gehörten auch die Versuche unterschiedlicher Herrscherhäuser, ihre eigene Herkunft aus der Antike herzuleiten. Neben einer direkten Abstammung von Noah oder trojanischen Vorfahren wurde in der dynastienahen Historiographie des Hauses Habsburg auch eine Herkunft aus dem römischen Geschlecht der Julier ins Feld geführt.47 Obwohl Antike hier eher dem Nachweis von Alter und Vorrang und der Produktion von Dignität diente, scheint sie zugleich ein normativer Bezugsrahmen herrschaftlicher Selbstdarstellung und Inszenierung gewesen zu sein. Auf die Triumphpforte von Innsbruck wurde bereits hingewiesen, zahlreiche weitere Beispiele ließen sich finden. So ähnelt die von François Blondel (1618–1686) 1672 zu Ehren Ludwigs XIV. von Frankreich fertiggestellte Porte Saint-Denis dem Titus-Bogen und zeigt den Sonnenkönig in ihren Reliefs in römischer Feldherrenrüstung.
Generell spielen antike Entlehnungen gerade im Hinblick auf die heroisch-militärischen Aspekte von Herrscherbildern eine beträchtliche Rolle. Insbesondere im Barock wurden Reiterstandbilder und bildhafte Darstellungen von Herrschern in römischer Rüstung allgemein üblich. Beispielhaft sei hier auf Andreas Schlüters (ca. 1660–1714) Denkmal des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620–1688) oder Peter Scheemakers' (1691–1781) vergoldete Reiterstatue Wilhelms III. von England (1650–1702) hingewiesen. In diesen Zusammenhang gehören auch die Gleichsetzungen frühneuzeitlicher Herrscher mit den großen Feldherren und Herrschern der Antike, ganz besonders Alexander dem Großen (356–323 v. Chr.) und Caesar.48 Hinzu kamen Übernahmen aus der antiken Mythologie. Herkules und Mars waren häufige Musterbilder, die in Text und Bild auf die Herrschertugenden der Tapferkeit und Stärke verwiesen.49 Bei Ludwig XIV. von Frankreich kam noch Apoll hinzu, der in der Inszenierung des "Sonnenkönigs" eine zentrale Rolle spielte.50 Im Falle weiblicher Herrschaft konnten andere Bezüge hinzutreten, wie etwa der Rekurs auf die heilsbringende Astraea bei Elisabeth I. von England (1533–1603) zeigt.51
Festzustellen ist, dass die antiken Herrscher-, Heroen- und Götterfiguren zu Idealtypen gerannen, die ganz bestimmte Eigenschaften und Tugenden bezeichnen und bisweilen programmatischen Charakter haben konnten. Es liegt auf der Hand, dass ihre inhaltliche Ausfüllung nur noch wenig mit der Breite der historischen Überlieferung zu tun hatte, dass aber gerade darin ihre Wirksamkeit als Modell begründet lag. Es handelte sich um Schablonen, mit deren Hilfe Herrscherbilder für eine politisch interessierte Öffentlichkeit vorgeprägt werden konnten.
Der wesentlich von Justus Lipsius (1547–1606) geprägte späthumanistische Neostoizismus knüpfte ebenfalls direkt an antike Vorbilder an, namentlich die römische, von Lucius Annaeus Seneca (4 v. Chr.–65) und Marc Aurel (121–180) vertretene, ursprünglich griechische Stoa. Zusammen mit der verstärkten Tacitus-Rezeption, die auch im Lichte der nach den konfessionellen Unruhen wieder erstarkenden Staaten zu sehen ist,52 bot der Neostoizismus frühneuzeitlichen Herrschern neue Modelle der "Sozialdisziplinierung" und Herrschertugend und konnte im aufstrebenden Brandenburg-Preußen gar zu einer Art Leitideologie aufsteigen.53 Betont wurden in der Forschung auch die Verbindungen zur "Oranischen Heeresreform", die sich selbst wiederum als Weiterführung antiker militärstrategischer Modelle verstand.54
Revolution und Opposition in England
In England wurden im Zuge des Bürgerkriegs ab 1642 auch republikanische Theorien ausformuliert, die sich insbesondere in den 1650er Jahren, während des Commonwealth, explizit antiker Modelle bedienten. Hier bot die Mischverfassungstheorie Anknüpfungspunkte, die eine insbesondere durch Machiavelli vermittelte Aneignung antiker Modelle begünstigte. Das Zusammenwirken der Krone und der in beiden Häusern des Parlaments versammelten Stände war von Juristen wie John Fortescue (ca. 1394–1476) noch ganz im Sinne des Common Law als "dominium politicum et regale" ("konstitutive Monarchie") dargestellt worden,55 wurde jedoch im Kontext des sich zum Bürgerkrieg zuspitzenden Konflikts als eine an Polybios angelehnte Mischverfassung beschrieben.56 In einer spezifischen Aneignungssituation, in der beide Konfliktparteien noch um Ausgleich bemüht waren und sich zugleich als Hüter der Verfassung empfehlen wollten, griffen sie auf ein Modell zurück, das geeignet schien, Akzeptanz zu finden und die Frage nach der Souveränität in einem Kompromiss aufzulösen.57
Mit der Hinrichtung Karls I. (1600–1649) am 30. Januar 1649 und der kurz darauf erfolgten Abschaffung der Monarchie verschob sich die Argumentation der Republikaner noch deutlicher zum Modell Antike. Insbesondere James Harrington (1611–1677) hob 1656 die "ancient prudence", die politische Weisheit der Antike, positiv von der späteren Zeit ab. Die Grundlagen antiker Verfassungen lagen für Harrington vor allem in der klugen Mischung der Staatsformen und dem daraus resultierenden System der checks and balances. Gemäß seinem polybianischen Vorbild sah Harrington – neben dem biblischen Israel und der Republik Venedig – vor allem in Rom und Sparta die nachahmenswerten Modelle einer Republik.58 Zugleich konnte im Zuge dieser am Modell Antike orientierten Umdeutung der englischen Verfassung auch das alte System der Grafschafts-Milizen – erneut in Anlehnung an Machiavellis Deutungen von Sparta und Rom – als tugendfördernde Einheit von Bürger und Soldat neu bewertet werden. Diese Umdeutung sollte schließlich auch in Nordamerika wirkmächtig werden.59
Antike, das wird sowohl bei Harrington als auch bei Marchamont Nedham (1620–1678) deutlich, diente als Orientierungsrahmen in einer politisch präzedenzlosen Situation, zumal sie, und hier ganz besonders Rom, mit der Aura des Erfolgs und der Größe verknüpft war, der es nachzueifern galt. Für Griechenland traf das nur bedingt zu; während Sparta als Modell noch präsent war, galt das vermeintlich unruhige und anarchische Athen den meisten Autoren daher dezidiert nicht als Modell.60 Die durch die Rom-Rezeption evozierten Bilder gingen weit über eine rhetorische Ornamentik hinaus und wurden als in der historischen Wirklichkeit liegende Idealbilder mit einer normativen Leitfunktion versehen. Zugleich wurden die Bilder und Modelle von der Gegenwart her aufgeladen und interpretiert, wobei gerade in der englischen Verargumentierung von Antike Machiavellis Thesen die Linsen bildeten, durch die die Antike gelesen wurde.61 Gleiches gilt auch für die Rekurse auf antike Republiken in der radikalen Whig-Literatur der Restaurations-Ära, etwa im Plato redivivus von Henry Neville (1620–1694) oder dem Essay upon the Constitution of the Roman Government von Walter Moyle (1672–1721).62
Während das Modell Antike für die Legitimation und Begründung der Glorious Revolution von 1688/1689 ganz hinter christliche und teleologische Deutungsmuster zurücktrat,63 wurde es in seiner republikanischen Ausformung beginnend schon mit der Wiederveröffentlichung der Werke Harringtons im Jahre 1700 und verstärkt dann nach 1714 wiederbelebt. Das große Thema der 1720er Jahre war die "corruption" der neuen Geldelite Londons und der herrschenden Whig-Oligarchie um Robert Walpole (1676–1745), der – etwa in John Trenchards (1662–1723) und Thomas Gordons (gest. 1750) mit dem Namen Cato unterzeichneten Artikelserie64 – die "virtue" der Antike entgegengestellt wurde.65 Die römische Republik konnte vor dem befürchteten Verfall englischer Freiheit als warnendes Beispiel dienen, wenn man sich wie Joseph Addisons (1672–1719) Tragödie Cato (1713)66 auf ihr Ende konzentrierte; sie konnte aber auch als Musterbild einer guten Verfassung hingestellt werden, an der England sich orientieren konnte. Henry St. John Viscount Bolingbroke (1678–1751) schlug in seiner Dissertation Upon Parties (1733–1734) vor, die römische Verfassung auf ihre Grundideen zurückzuführen und mit der englischen zu vergleichen, um die Ursachen ihres Aufstiegs und Verfalls zu analysieren und der zeitgenössischen Korruption vorzubeugen.67 Freilich ist Bolingbrokes Darstellung der römischen Verfassung ebenso wie diejenige Harringtons nicht frei von Kritik,68 und das römische Modell kann nicht mehr wie noch zu Zeiten Machiavellis als bedingungsloses Muster für neuzeitliches Handeln angesehen werden.
Die Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts
Auch im Kontext der Amerikanischen Revolution weisen publizierte Äußerungen auf eine eher kritische Rezeption antiker Modelle hin.69 Und dennoch wurde gerade hier, ebenso wie wenig später in Frankreich, die Antike zum alles überragenden Vorbild. Konnte einerseits das britische Mutterland als das dekadente und korrupte Imperium Romanum präsentiert werden (siehe unten), so diente das republikanische Rom andererseits als unerschöpflicher Fundus republikanischer Modelle, Riten und Symbole. Die durch die Folien der englischen und teilweise auch französischen Rezeption gelesenen antiken Autoren Polybius, Livius, Plutarch (45–120) und Cicero prägten das Bild der römischen Republik ebenso wie Charles Rollins (1661–1741) weit verbreitete, zudem eng an Livius angelehnte Histoire Romaine (1738–1748, englisch Roman History, 1739–1750).70 Das Bild der römischen Republik beruhte weitgehend auf den Mustern, die bereits in England etabliert waren, einer Republik mit einer ausbalancierten Mischverfassung und der Fähigkeit zur Expansion, in der durchaus bereits ein imperialer Gedanke angelegt war (siehe unten). Sie konnte aber – und das war entscheidend – von der jungen amerikanischen Republik übertroffen werden.71 Doch selbst in der kritischen Auseinandersetzung mit antiken Verfassungsmodellen zeigt sich der hohe Wert, der antiken Beispielen als Orientierungsrahmen beigemessen wurde.
Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch für das revolutionäre Frankreich machen. Bereits im Aufklärungsdiskurs des 18. Jahrhunderts hatten sich bestimmte Wahrnehmungs- und Rezeptionsmuster herausgebildet, die insbesondere Sparta und Rom als Idealrepubliken erscheinen ließen und die gerade in ihrer Schlichtheit Raum für patriotische Gesinnung und aktive Tugend boten.72 Die Überwindung der Despotie durch die Revolution konnte daher einerseits als Neubeginn, andererseits aber auch als Rückbesinnung auf die idealisierten Werte der antiken Republiken wahrgenommen werden.73 Auch wenn ein direkter Einfluss dessen, was man für antike republikanische Verfassungen hielt, wohl eher gering war, so spielte das Modell Antike in seinen vielfachen Brechungen für die Selbstdeutung der Revolutionäre eine beträchtliche Rolle. Wenn Camille Desmoulins (1760–1794) sich der Negativbeispiele Tiberius (42 v. Chr.–37), Claudius (10 v. Chr.–54), Nero (37–68), Caligula (12–41) oder Domitian (51–96) bediente, um die Errungenschaften der Republik zu betonen,74 oder Gracchus Babeuf (1760–1797) in seinem Manifeste des Plébéiens eine "Vendée plébéienne" forderte und dabei das Vorbild des Auszugs der Plebejer aus Rom beschwor,75 so sind das deutliche Hinweise auf die Modellhaftigkeit insbesondere der römischen Antike.76 Die Benennung von Ämtern in der französischen Republik, etwa die Einführung des Konsulats nach dem 18. Brumaire VIII (9. November 1799),77 deuten ebenfalls auf Rom als Referenzrahmen kollektiver Sinnzuschreibungen hin.
Für den Republikanismus spielte die Tugend des Bürgers eine zentrale Rolle, und zahlreiche antike Autoren wie Livius, Tacitus oder Plutarch boten hierzu Anschauungsmaterial. Schon Machiavelli betonte die Notwendigkeit der Bürgertugend zur Erhaltung oder Wiedergewinnung der Freiheit,78 und auch für andere wie etwa Bolingbroke war es weniger die Verfassung Roms als die Tugend und Freiheitsliebe seiner Bürger, die das republikanische System so lange aufrechterhalten hätten.79 Bemühungen, den Bürger zum vorbildlichen Republikaner zu formen, brachten mit sich, dass einzelne antike Figuren wie Lucius Junius Brutus (ca. 5. Jahrhundert v. Chr.), Cato oder Cincinnatus (ca. 5. Jahrhundert v. Chr.) zu Vorbildern stilisiert wurden. So diente im 18. Jahrhundert insbesondere Brutus als Muster republikanischer Tugend, vor allem im Kontext der Französischen Revolution. Einen kaum zu überschätzenden Einfluss dürfte dabei Voltaires (1694–1778) Tragödie über den älteren Brutus gehabt haben, auch wenn der Erfolg des Stücks, das 1731 in Paris uraufgeführt wurde, tatsächlich bis zur Revolution auf sich warten ließ.80 Brutus, der seine eigenen Söhne für den Erhalt der Republik zu opfern bereit war, wurde gewissermaßen zum Idealbild des republikanischen Bürgers erklärt, so etwa in Jacques-Louis Davids (1748–1825) großformatigem Gemälde Les Licteurs rapportent à Brutus les corps de ses fils (1789).81
Gleiches gilt für die Figur Cato. Sein Freitod in Utica wurde etwa von Addison als Tod für die Freiheit, als unbedingte Hingabe an die Republik gedeutet.82 Cato erlebte in der Folgezeit in England und Nordamerika eine besondere Konjunktur. Cato's Letters von Trenchard und Gordon wurden zu einem Medium der politischen Opposition, und Addisons Cato zum Lieblingsstück George Washingtons (1732–1799), der dieses sogar im Winterlager in Valley Forge vor seinen Truppen aufführen ließ.83 Auch die Geschichte des Cincinnatus, der als Kleinbauer vom Pflug weg in das Amt des Diktators berufen wurde und nach getaner Arbeit zu seinem Pflug zurückkehrte, erlebte in den USA eine enorme Popularität, insbesondere durch die Gleichsetzung mit George Washington, die sich übrigens auch in der Gründung der Society of the Cincinnati und die Namensgebung der Hauptstadt des Bundesstaates Ohio niederschlug.84 Die Betonung von Bürgertugend, Bescheidenheit und Immunität gegen Korruption waren die entscheidenden Merkmale dieser Figuren, deren Rezeptionsgeschichte schon in der Antike selbst vielschichtig war.85
Gerade an Modellen wie Cato und Brutus wird jedoch auch der tugendbezogene und stoische Zug des frühneuzeitlichen Republikanismus deutlich, der ihn klar vom zeitgenössischen Liberalismus abhebt. Römer und Spartaner wurden vor allem als Idealisten gezeichnet, die bereit waren, für die "Freiheit" und ihre "patria" selbst ihre Söhne oder ihr eigenes Leben zu opfern. Freiheit verwirklichte sich in der aktiven Partizipation als zoon politikon, und nicht in der Abwesenheit von Zwängen und der individuellen Handlungsfreiheit.86 Dabei übernahmen frühneuzeitliche Autoren freilich bestimmte Tugenddiskurse der Antike in ihr Bild antiker Realität, die sie wiederum zum Modell des eigenen Strebens nach Tugend machten.87
Der Gebrauch der Toga bei Rednern der Amerikanischen wie auch der Französischen Revolution, die Verwendung antiker Amtsbezeichnungen wie Konsuln, Senatoren etc. oder der nahezu omnipräsente Gebrauch der fasces sowie der phrygischen Mützen
verweist zweifellos auch auf eine Identifikation mit der (insbesondere römischen) Antike, die weit in Habitus und Praxis
hineinreichte, wobei in Architektur, Kunst und materieller Alltagskultur sowohl in Amerika als auch in Europa durchaus auch griechische Formensprachen rezipiert wurden.88 Zu fragen wäre, inwieweit hier stärker bürgerliche Aneignungsbedürfnisse zum Ausdruck kamen. Noch immer, bis in die Französische Republik hinein, ist aber der frühneuzeitliche Reflex erkennbar, das Neue an der Normativität der Antike zu messen und in ihm eine Wiederbelebung des Alten zu erkennen. Gerade in Frankreich war die Idee des Neubeginns mit der Rückkehr zum Modell Antike verbunden, und der Wegfall christlicher Orientierungshorizonte für die Elite der Französischen Revolution verstärkte diese Tendenz noch einmal.89
Neues Rom und neue Imperien?
Rom ist an allen Enden die bewußte oder stillschweigende Voraussetzung unseres Anschauens und Denkens; denn wenn wir jetzt in den wesentlichen geistigen Dingen nicht mehr dem einzelnen Volk und Land, sondern der okzidentalen Kultur angehören, so ist dies die Folge davon, daß einst die Welt römisch, universal war und daß diese antike Gesamtkultur in die unserige übergegangen ist. Daß Orient und Okzident zusammengehören, daß sie eine Menschheit bilden, verdankt die Welt Rom und seinem Imperium.90
Diese Äußerung Jacob Burckhardts (1818–1897) zeigt deutlich die Bedeutung auf, die Rom und seinem Imperium im westlichen Denken zukommen. Dahinter steht die Idee von Rom als universaler, Frieden und Zivilisation bringender Ordnungsmacht. Einerseits veranlasste gerade diese Idee die verschiedenen politischen Entitäten dazu, bewusst auf Rom und sein Imperium zu rekurrieren, um die politischen Ziele und Belange der eigenen Gegenwart historisch zu verargumentieren bzw. die eigene Herrschaft angesichts eines sich durch die jeweilige politische Formation selbst zugeschriebenen zivilisatorischen, ordnungsstiftenden Auftrags positiv im Gefolge des Imperium Romanum nach außen darzustellen bzw. Herrschaft über fremde Völker zu rechtfertigen. Andererseits schuf die Nutzung des Modells Rom bzw. Imperium Romanum auch Erwartungen, die an Staaten bzw. politische Formationen in öffentlichen Diskursen herangetragen wurden und werden. Schließlich stülpt die professionelle bzw. halb-professionelle, in den zeitgenössischen Diskursen verhaftete Historiographie einer historischen Tatsache wie dem Imperium Romanum bewusst oder unbewusst zeitgenössische Modelle über und lässt sie im Umkehrschluss zum positiv oder auch negativ konnotierten Modell für die Gegenwart werden.
Bekannte Formulierungen wie "Neues Rom", "Zweites Rom", "Drittes Rom" usw. weisen in die Richtung des eben Gesagten. Bezeichnenderweise wurde den USA schon früh der Status eines "Neuen Rom" zugesprochen, aus dem wiederum ein universaler, ordnungsstiftender Anspruch einer künftigen US-amerikanischen Weltherrschaft abgeleitet wurde. Im Jahr 1853 veröffentlichten der in die USA emigrierte Republikaner Theodor Poesche (1826–1899) und der Deutschamerikaner Charles Goepp (1827–1907) eine Schrift mit dem Titel The New Rome: Or The United States of the World, in der sie es als die Bestimmung der USA betrachteten, das Ideal einer Weltrepublik durchzusetzen, und die damaligen Vereinigten Staaten explizit mit dem jungen Rom verglichen, das im Begriff war, seine Flügel zu spreizen.91 Die USA sollten dementsprechend als Neues Rom die Aufgabe des Zusammenschlusses der Menschheit in Angriff nehmen und die überholten Grenzen des Nationalstaats überwinden.92
Eine solche Inanspruchnahme der USA für die Durchsetzung eines universalen Republikanismus mag nicht zuletzt durch die vielfältigen Bezüge zur Antike begründet sein, die in der Revolutions- und der ante bellum-Zeit in Nordamerika hergestellt wurden. Man denke in diesem Kontext nur an römische Namenswahlen wie "Senat" und "Kapitol" bzw. die Bedeutung klassizistischer Architektur, die einen Gipfel im State Capitol in Richmond (Virginia) findet, das die Maison Carrée in Nîmes
, einen römischen Tempel, imitiert.93 Bezeichnend ist auch die frühe Münzprägung der USA, so die Libertas Americana (1776)
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Die neugegründeten USA machten damit Gebrauch von einer romanitas, in deren Tradition sie sich stellten. Rom lieferte ihnen eine Vergangenheit, die man nicht nur verargumentieren konnte, sondern die dem jungen Staat auch eine Legitimation gegenüber den europäischen Staaten lieferte. Dabei fungierte das Imperium Romanum in diesem Kontext eigentlich als ein Anti-Modell, wurden doch Vertreter Großbritanniens als dem Wahn verfallene römische Kaiser dargestellt, während man die britische Herrschaft mit der Tyrannei assoziierte, die man Rom gegenüber seinen Provinzen unterstellte. In inneramerikanischen Diskursen dienten das Imperium Romanum und sein Verfall zunehmend als Folie für Untergangsszenarien, die vor allem einer immer weiter um sich greifenden Missachtung des christlichen Glaubens und einer damit einhergehenden Dekadenz angelastet wurden.95 Umso bemerkenswerter ist die bis heute von außen bzw. in verschiedenen Diskursen immer wieder an die USA herangetragene Rolle eines neuen Rom und damit einhergehend die eines Imperiums. Im offiziellen Amerika wird die Existenz eines amerikanischen Imperiums weiterhin negiert, obwohl inneramerikanische Stimmen ein solches zunehmend positiv bewerten und vermehrt vorschlagen, die USA sollten zu einer liberalen imperialen Herrschaft übergehen, wobei wiederum das Imperium Romanum vor allem als Modell eines drohenden Niedergangs genannt wird.96
Im Ergebnis bleiben die USA damit eine Macht, die sich im inneren politischen Diskurs vom Modell des Imperium Romanum distanziert, der aber ein imperiales Handeln sowohl von Kritikern als auch von Befürwortern mit negativen und positiven Konnotationen attestiert wird. Die positive Konnotation verweist dabei auf den auf das Imperium Romanum rekurrierenden Traditionskern der weltweit ordnungs- und zivilisationsstiftenden Macht vor dem Hintergrund zeitgenössischer Folien. Freilich ist im politischen Diskurs der USA wie auch in ihrer Populärkultur das Modell des Imperium Romanum besonders in einer Hinsicht positiv verargumentiert worden, bildete das Römische Reich doch das Gefäß, in dem sich das Christentum über die Welt der (klassischen) Antike zu verbreiten und über die Imperatoren Roms zu triumphieren vermochte. Amerikanische Christenheit wurde im Zuge dessen mit dem Sieg über römisch-pagane Fremdheit assoziiert, wodurch der Krieg in Europa in den 1940er Jahren eine positive ideologische Aufladung erfuhr.97 Insgesamt wird damit am Beispiel der USA deutlich, dass der Traditionskern oder das Modell Imperium Romanum in deutlich differierende verargumentierende Folien eingebettet wird.
Die zeitgenössische Anwendung des Imperiumsbegriffs auf die USA steht freilich nicht allein da, sondern erfährt eine Weiterung insofern, als auch das zusammenwachsende Europa vor dem Hintergrund des Paradigmas Rom diskutiert wird. Dies ist insofern bemerkenswert, als nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Rom und sein Imperium auch und gerade in der Fachwelt eher negativ beurteilt wurden.98 Gleichwohl lieferte der europäische Einigungsprozess die Folie für eine positive Nutzung des paradigmatischen Imperiums, indem sein Charakter als "Vielvölkerstaat" betont wurde.99 Mit einer gewissen Folgerichtigkeit wird in der Publizistik Rom als ein wohlwollendes Imperium betrachtet, auf dessen Spuren sich ein geeintes Europa als Weltmacht zu bewegen habe.100
Während die USA in der politischen Selbstwahrnehmung seit der Revolution einen anti-imperialen Diskurs pflegen, knüpfte etwa das British Empire an die schon vielfach genannte ordnungs-, zivilisations- und friedensstiftende Konnotation des Imperium Romanum an, um eigene imperiale Ambitionen zu legitimieren. Bezeichnend ist hierzu eine Aussage von Benjamin Disraeli (1804–1881) aus dem Jahr 1859:
"One of the greatest of the Romans, when asked what were his politics, replied, Imperium et libertas. That would not make a bad programme for a British Ministry. It is one from which Her Majesty's advisers do not shrink."
Das angebliche Zitat eines der größten Römer ist reine Fiktion,101 zeigt aber, dass das Römische Reich von einer imperialen Macht gleichsam als rechtfertigendes Modell für die eigenen Ambitionen genutzt wurde. War also das British Empire in Nordamerika und dann den USA als ein dem Imperium Romanum ähnliches Empire negativ beurteilt worden, wird aus dem Traditionskern in der britischen Selbstwahrnehmung ein positiv konnotiertes Modell. Nicht zufällig sind das 18., 19. und 20. Jahrhundert die Hochzeit historischer Analysen des Römischen Reichs gewesen. Dabei bildet die Forschung auch die jeweilige Ideologie zeitgenössischer imperialer Mächte ab und liefert diesen damit wiederum aus der Historie geschöpfte Leitbilder für ihr politisches Handeln.102
Diese innigliche Verschränkung zwischen jeweils aktuellem politischem Handeln, der hiervon geprägten historischen Forschung und den aus der Historie geschöpften Exempeln und Argumenten für politisches Handeln ist freilich nicht nur im Falle des British Empire zu beobachten. Sie gilt etwa auch und gerade für das liberale Italien. Obwohl die Rom-Idee im Risorgimento eigentlich durch ihre Universalität diskreditiert war, bildete die römische Geschichte bzw. das aus ihr geschöpfte Argument der romanità den Hebel für die Konstruktion des Nationalbewusstseins in dem seit 1860 werdenden Nationalstaat. Rom wurde damit zum Modell, das dem Nationalstaat des in vielerlei Hinsicht äußerst heterogenen Italien die Folie für eine gemeinsame Vergangenheit liefern konnte.103 Eine solche Konstruktion wurde sowohl von Literaten als auch von professionellen Historikern betrieben104 und lieferte die Basis für eine weitergehende Verargumentierung des Römischen Reiches insbesondere seit 1911. In diesem Jahr beging man nicht nur den 50. Jahrestag der Gründung des italienischen Nationalstaats, sondern das liberale Italien begann auch nach dem Erwerb außeritalienischer Besitzungen zu trachten.105
Die romanità war dabei nicht nur Argument für ein militärisches Eingreifen in Afrika, sondern man leitete aus ihr einen speziellen zivilisatorischen und kulturellen Auftrag Italiens ab, der sich von orientalischer Dekadenz und dem "gotischen" Materialismus (in Gestalt von Protestantismus und Sozialismus / Kommunismus) wohltuend abhob. Mit dieser Geisteshaltung schuf man nicht nur eine weitgehende Akzeptanz für die kolonialen Gelüste des liberalen Italien in Ober- und Mittelschicht, sondern bereitete auch den Weg für den nach "natürlichen" Grenzen Italiens strebenden Irredentismus und letztlich auch die Wiederversöhnung von Staat und Kirche, die freilich erst Benito Mussolini (1883–1945) in Szene setzen sollte.106 Wie sehr Rom und sein Reich ein Modell für die Irredentisten bildete, zeigt die "Besetzung" von Fiume (Rijeka) im September 1919 durch Soldaten unter der Führung Gabriele D'Annunzios (1863–1938). In einer Ansprache an die italienischen, als "legionari" ("Legionäre") betitelten Soldaten in Fiume nahm D'Annunzio explizit Bezug auf Rom: "conviene che ciascuno di voi si pianti su i suoi due calcagni robusti e ripeta a fronte alta la parola romana, la parola dei legionari: 'qui rimarremo ottimamente'."107
Im faschistischen Italien findet sich dann nicht nur der Kult der romanità, sondern aus dieser wurde auch die italianità abgeleitet. Im Zuge dessen wurde Mussolini, der die Wiedererstehung des imperium Romanum proklamierte, mit Augustus gleichgesetzt.108 Auch die Ausgrabungen im Zentrum Roms und an anderen archäologischen Stätten wie etwa Pompeji standen im Dienst der Verargumentierung Roms in einem faschistischen Sinne.109 Noch nach 1945 vermochte die romanità eine gewichtige Rolle zu spielen. Als Nationalhymne der neuen Republik wählte man den aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammenden Canto degli Italiani ("Lied der Italiener") von Goffredo Mameli (1827–1849), in dessen Text Italien sich den Helm von Publius Cornelius Scipio (236–183 v. Chr.) aufsetzt, die Göttin Victoria eine Sklavin Roms ist und die Brüder Italiens sich zu Kohorten formieren, um für Italien den Tod zu erleiden.110 Das Beispiel Italien demonstriert anschaulich, wie das Modell des Imperium Romanum sowohl in einer Republik als auch in einem dem Anspruch nach totalitären Staat auf verschiedenen Ebenen genutzt werden konnte und dazu von der einschlägigen Fachwissenschaft bereitgestellt wurde.
Insgesamt zeigt sich damit das Ausmaß der verschiedenen Verargumentierungsmöglichkeiten eines Modells wie dem des Imperium Romanum, das in der westlichen Welt gewiss das wirkmächtigste ist. Dabei bleiben im kulturellen Gedächtnis letztlich zum einen die zivilisatorische, friedens- und ordnungsstiftende Funktion, zum anderen die Erinnerung an die universale bzw. universalistische, nationale und kulturelle Unterschiede einebnende Staatsform erhalten. Beide Folien waren auf zeitgenössische politische Entitäten je nach politischem Standort anwendbar. Wie die Beispiele der USA und der EU zeigen, ist die Anwendung dieses historischen Modells unbeeindruckt von den dem Imperium Romanum eigenen historischen Realien und Strukturen auch heute noch gegeben. Das Modell Roms und seines Imperiums ist also heute lebendiger denn je.