Lesen Sie auch die Beiträge "The Origins of the “European Social Model” " und "Organizing the International System" in der EHNE.
Definition
Über ein "Modell Europa" im Sinn eines sich ständig verdichtenden Raums und Staatenbundes, dessen Mitglieder ein hohes Maß an gesellschaftlicher Homogenität und Solidarität aufweisen und den Krieg gegeneinander als Konfliktlösungsmöglichkeit ausgeschlossen haben, wird weltweit seit Jahrzehnten – meist mit einem anerkennend-positiven Grundton – diskutiert. Das Modell – und der Begriff legt ja nahe, dass ihm eine Art Vorbildcharakter eignet oder zugesprochen wurde – hat manche Versuche hervorgebracht, anderswo vergleichbar strukturierte Staatenbünde regionalen Zuschnitts aus der Taufe zu heben, etwa die Andengemeinschaft (Comunidad Andina de Naciones, CAN) oder Mercado Común del Sur (Mercosur). Diese Versuche sind allerdings ausnahmslos gescheitert bzw. haben sich nicht über das Ökonomische hinaus weiterentwickelt. Unter "Modell Europa" versteht man eine vor der Folie von Nationalismus, Staatenrivalität und verheerenden Konflikten im 20. Jahrhundert bewusst herbeigeführte Entscheidung, unter dem beherrschenden Label der Friedenspolitik einen Organismus zu schaffen, dem wirtschaftlicher Wohlstand, soziale Gerechtigkeit, eine hohe Wertschätzung der Menschen- und Freiheitsrechte, die parlamentarische Demokratie als verbindliche Staatsform und ein Mindestmaß an gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik eignen. Von daher schloss der Begriff – dessen Genese im Einzelnen noch zu erhellen wäre – in der Zeit der Spaltung Europas nie die Gesamtheit des Kontinents ein, sondern zunächst nur seinen westlichen Teil, in dem die ersten erfolgreichen und nachhaltigen Formierungsversuche unter den genannten Schlagworten stattfanden. Es wäre gleichwohl eine reizvolle Aufgabe, der Frage nachzugehen, ob der Begriff auch schon auf das Europa des Europarats oder der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) von 1976 appliziert worden ist. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird damit aber sicher jenes politische Europa gemeint, das sich nach 1989 auch den Staaten Ostmittel- und Südosteuropas öffnete und heute als Organisation zu einem der wichtigsten global player geworden ist, gleichwohl auch viel Kritik auf sich zieht, die mit Schlagworten wie "Europamüdigkeit", "Eurosklerose" oder "Eurokratie" hier nur angedeutet werden kann.
Die Diskussion über das "Modell Europa"
Im Kern ist über ein solches "Modell Europa" – auch wenn es seinerzeit noch anders benannt wurde – seit Jahrhunderten nachgedacht und diskutiert worden, freilich nicht von breiten Bevölkerungsschichten, sondern von Intellektuellen und Staatsdienern, deren Überlegungen gleichwohl einen bemerkenswerten Widerhall fanden. Die Gründe für diesen zunächst zögerlichen, dann sich aber immer mehr beschleunigenden Diskurs waren – vermeintliche oder tatsächliche – Bedrohungen von außen und im zwischenstaatlichen Bereich, also Gefährdungen der staatlichen Vielfalt und Diversität durch "Supermachtbildungen", denen in der Vormoderne meist der Begriff der "Universalmonarchie" beigelegt wurde. Am Beginn des engeren Europa-Diskurses stand Mitte des 15. Jahrhunderts nicht zufällig das Vorrücken der Osmanen auf das europäische Festland, das mit dem Fall Konstantinopels 1453 seinen symbolischen Ausdruck fand. Dies wurde von dem späteren Papst Pius II. (1405–1464) zu einem Aufruf an die europäischen Mächte genutzt, in dieser Stunde der höchsten Not zusammenzustehen und über den Tag hinausreichende Strukturen zu entwickeln. Auch in der Folgezeit wurde diese einzige reale Bedrohung wenigstens von Teilen Europas durch die Osmanen immer wieder zum Vorwand genommen, um zu europäischen Verbünden dieser oder jener Couleur aufzurufen – und wenn es "Heilige Ligen" waren. In der Publizistik begegnet dieses Motiv noch im 18. Jahrhundert, obwohl die Osmanen damals längst die Durchschlagskraft verloren hatten, um auch nur die Mitte des Kontinents zu bedrohen.
Das zweite Strukturelement, das europäische Föderationspläne, die über fallweise Koalitionen hinausgingen, beförderte, waren die binneneuropäischen Kriege. Ob man an den Dreißigjährigen Krieg oder die napoleonischen Kriege, die Ost- und Westkriege seit der Wende zum 18. Jahrhundert (Nordischer Krieg, Spanischer Erbfolgekrieg) oder an die Weltkriege des 20. Jahrhunderts denkt – in ihrem Verlauf oder an ihrem Ende intensivierte sich regelmäßig der Europa-Diskurs der Intellektuellen mit der Tendenz, Strukturen zu schaffen, die den Krieg für immer aus dem (europäischen) Staatenleben verbannten: das "Modell Europa" in seinem Kern.
Ein dritter Ansatz, das "Modell Europa" herbeizuschreiben, war die Vorstellung, damit eine Harmonisierung der innenpolitischen Rahmenbedingungen der beteiligten Staaten bewirken zu können. Im 19. Jahrhundert waren das die Presse- oder Versammlungsfreiheit und die Beschränkungen der Omnipotenz der Kronen, im 20. Jahrhundert wirtschaftsethische und soziale Fragen, die als vereinheitlichungsbedürftig erkannt wurden. Hier erhofften sich die Autoren, von denen aus dem frühen 19. Jahrhundert nur Henri de Saint-Simon (1760–1825) herausgegriffen werden soll, einen nachhaltigen Ausgleich der Standards – ganz ähnlich wie die Europäische Union (EU) heute bei Neuaufnahmeverfahren die Praxis der "Körbe" handhabt, denen die Beitrittskandidaten ohne Abstriche gerecht werden müssen. Anders formuliert: Die "Rückständigen" sollten von den Errungenschaften der "Vorreiter" profitieren.
Ein viertes Antriebsmoment schließlich, sich über ein "Modell Europa" im Sinn einer engeren Zusammenarbeit unter welchem leitenden Label auch immer Gedanken zu machen, waren die Herausforderungen durch andere Modelle. Kurz nach 1800 setzte – einer der ersten Wortführer war der in Dänemark tätige Ökonom und Kameralwissenschaftler Conrad von Schmidt-Phiseldek (1770–1832)[],1 Julius Fröbel (1805–1893) könnte als ein zweiter Gewährsmann hinzugefügt werden2 – eine intensive Diskussion über das Modell USA ein, von dem Europa etwa im Blick auf die Organisation eines Staatenbundes oder in ökonomischer Hinsicht viel lernen könne. Noch Richard Nikolaus Graf von Coudenhove-Kalergi (1894–1972)[] sollte in den frühen 1920er Jahren sein Paneuropa-Konzept von dem zeitweise recht lebendigen Panamerika ableiten, einem Staatenverbund unter maßgeblicher Führung der USA. Relativ wenig hat dagegen das Modell der kommunistischen Sowjetunion auf das Europa-Denken im Westen und in der Mitte Europas ausgestrahlt, umso weniger als sie ja immer ein globales System als Zielperspektive vor Augen hatte. Als Bedrohungspotential hat es dagegen sehr wohl auf Überlegungen zum "Modell Europa" eingewirkt – hier reicht die Reihe der Autoren von Coudenhove bis in die 1980er Jahres des zurückliegenden Jahrhunderts.
Die verschiedenen Stränge, die es beim Europadiskurs zu unterscheiden gilt, und die lange Laufzeit des Nachdenkens über ein Modell Europa haben es mit sich gebracht, dass dieses Modell manchmal sehr weit, manchmal sehr eng verstanden wurde. Die Spannweite reichte von den Vorstellungen in der Nachkriegszeit, Europa – im Sinn des nicht kommunistischen Europa – könne sich so weit entwickeln, dass am Ende eines Vereinigungsprozesses ein Bundesstaat stehen werde, der die Souveränität der Mitgliedsstaaten weitgehend entleere, bis zu der Vorstellung einer lockeren Assoziation von Staaten mit dem Ziel einer gemeinsamen Vertretung von Interessen, etwa im Bereich der Ökonomie. Das heutige Konstrukt der EU, völkerrechtlich nach wie vor schwer fassbar, bewegt sich in der Mitte dieser Spannbreite: ein Staatenbund mit allerdings weitgehenden Delegationen von Souveränitätsrechten an eine gemeinsame Administration. Es ist das "Europa der Vaterländer", das Charles de Gaulle (1890–1970)[] in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren immer wieder beschwor und dessentwegen er von den "Maximalisten" heftig gescholten wurde. Vielleicht ist das sowohl das Geheimnis des Erfolgs der EU als auch des "Modells Europa", dass beide ganz ausdrücklich verschiedene Identitäten zulassen.
Die Merkmale des "Modells Europa"
Dabei waren die Konturen eines solchen "Modells Europa" schon relativ früh erkennbar gewesen, die sich aus den spezifischen Gegebenheiten dieses Kontinents, der ja eher ein Fortsatz eines größeren Kontinents (und von ihm dann auch nur schwer zu "trennen") war, herleiteten. Kennzeichen jenes stark gegliederten, also Großreichbildungen nicht gerade begünstigenden Kontinents war von jeher die Vielheit der Gemeinwesen, die Absenz eines allumfassenden Großreichs, von daher dann auch etwas, was anderen Kontinenten nicht in dieser Zuspitzung zu eigen war: Konkurrenz, Rivalität, gespanntes Nebeneinander, das nicht selten in Kriege einmündete. Europa hat sich aus dieser Konkurrenz und aus den Kriegen heraus konstituiert. Der Krieg bestimmte die Signatur Europas über lange Zeiträume hinweg, so dass es sogar zu Hundertjährigen, Achtzigjährigen und Dreißigjährigen Kriegen kam sowie zu dynastischen Gegensätzen, die mehrere Jahrhunderte überspannten. Irgendwann musste vor dieser Folie fast zwangsläufig der Gedanke größeres Gewicht bekommen, ob zwischenstaatlicher Krieg eine Art Naturgesetz sei oder ob dieser Kontinent nicht auch gänzlich ohne Krieg auskommen könne.
Ein zweites Kennzeichen Europas war das Moment der Freiheit, das in abgestufter Form dem gesamten Kontinent in der Nach-Antike zu eigen war: die Vorstellung, dass jede Herrschaft als von Gott eingesetzt verstanden wurde und ohne die Partizipation der "Untertanen" nicht denkbar war. Ob man an das sich im Spätmittelalter ausbildende Ständewesen mit den periodischen Ständeversammlungen oder an das Institut der Gemeindeautonomie denkt, ob an den Freiraum, den die Adligen unterhalb der Ebene des Monarchen genossen, ob an das Justizwesen als Garant eines Mindestmaßes an persönlicher Freiheit: An Großreichsbildungen mit einem Herrscher an der Spitze, der sich autokratisch über all das hinwegsetzte, war selbst in der Hoch-Zeit des "Absolutismus" nie zu denken, sogar nicht im vermeintlichen Mutter- und Musterland dieses "Absolutismus", in Frankreich. Auch im Russischen Reich der Vormoderne gelang es den Zaren nie, gewisse regionale Rechte des Adels zur Gänze auszuhebeln.
Freiheit – das bedeutete nicht zuletzt, sich im religiösen Bereich entscheiden und für eine nichtkonformistische Variante des Christentums optieren zu können. So einheitlich der Kontinent – oder doch sein größter Teil – seit dem 5. Jahrhundert in religiöser Hinsicht aufgestellt war, nachdem die Grundsatzentscheidung zugunsten des römisch-lateinischen Christentums gefallen war, so wenig hatte das Abspaltungen von der auf Rom ausgerichteten und ihrem Ritus verpflichteten Kirche verhindern können, die dann schnell mit dem Kainszeichen "Häretiker" versehen und damit stigmatisiert wurden. Ob man an die Katharer oder die Waldenser, die Hussiten oder auch die Wiedertäufer denkt – die Freiheit, sich in Bezug auf das Verhältnis zu einer überirdischen Instanz entscheiden zu können, wollten sich die Menschen dieses Kontinents nie nehmen lassen. Letztlich entsprang diesem Bewusstsein auch das, was dann unter reformatorischen Vorzeichen im 16. Jahrhundert zu einer veritablen und dauerhaften Kirchentrennung innerhalb der westlichen Christenheit geführt hat. Aber mit demselben Nachdruck muss unterstrichen werden: In Bezug auf die gemeinsame Grundlage der Heiligen Schrift, die Trinitätsvorstellung, den Glauben an die Wiederkehr Christi und andere Elemente blieb der Kontinent dann doch homogen – selbst die Religionskriege des 16. Jahrhunderts konnten das Bewusstsein nicht völlig verschütten, dass man ein und derselben geistig-religiösen Kultur angehörte. Die französischen "Politiques" des ausgehenden 16. Jahrhunderts haben diese gemeinsame religiöse Kultur immer wieder unterstrichen.
Das "Modell Europa" entstand also nicht mehr oder weniger aus Zufall nach dem Ende eines Krieges, der an Intensität alles weit hinter sich ließ, was Europa jemals erlebt hatte. Es gab Elemente, die dem Gedanken eines Zusammenwachsens des Kontinents immer wieder neue Nahrung gegeben hatten: die Staatenkonkurrenz, die auf dem engen Raum häufig zu vielen Kriegen führte, die aber trotzdem eine Großreichsbildung nie zuließ, die Freiheiten des Einzelnen oder sozialer Gruppen, die den "starken" Staat, der bis auf die lokale Ebene durchzugreifen in der Lage war, bis ins 19. Jahrhundert in den Bereich des Wunschdenkens verbannte, die relative religiöse Homogenität, die gleichwohl "Sonderwege" nie ausschloss, wie sie etwa dann im 16. Jahrhundert auch auf der britischen Insel beschritten wurden. Es gab Momente, die Europa als eine relativ einheitliche Konfiguration erscheinen ließen und an denen jene Intellektuellen und Beamte, die lange vor der Formation des "Modells Europa" begannen, sich Gedanken über Europas Zukunft "in Frieden und Freiheit" zu machen, jederzeit anknüpfen konnten.
Die Liste der Männer – kaum Frauen –, die sich publizistisch und/oder literarisch mit der Physiognomie eines so verstandenen Europa beschäftigten, liest sich wie ein Who's Who der europäischen Geistes- und politischen Geschichte. Ob man an Literaten wie Novalis (Friedrich Freiherr von Hardenberg, 1772–1801)[], Victor Hugo (1802–1885)[] oder Romain Rolland (1866–1944)[] denkt, ob an Charles Mackay (1814–1889), Heinrich (1871–1950)[] und Thomas Mann (1875–1955)[] oder René Schickele (1883–1940)[], ob man politische Publizisten wie Maximilien de Béthune Sully (1560–1641), William Penn (1644–1718), Arnold Ruge (1802–1880), Coudenhove-Kalergi oder Karl Anton Rohan (1898–1975)[] ins Auge fasst, von den aktiven Politikern einmal ganz zu schweigen, von denen aus dem 20. Jahrhundert wenigstens Aristide Briand (1862–1932), Gustav Stresemann (1878–1929)[] und Winston Churchill (1874–1965)[] aus der Zeit vor Beginn des eigentlichen Europäisierungsprozesses hier genannt sein mögen – es waren nicht die schlechtesten europäischen Köpfe, die sich, zugegebenermaßen mit ganz unterschiedlichen Akzentuierungen, des Themas "Europa" annahmen und Visionen für seine Zukunft entwickelten.
Europa als Wertegemeinschaft
Dabei war diesen Männern klar, dass es rationale, aus den jeweiligen politischen Situationen geborene Gründe gab, einem Zusammenschluss Europas auf föderaler Grundlage das Wort zu reden, dass aber noch andere Momente hinzutreten mussten, um diesem Konstrukt Leben einzuhauchen. Auch wenn sie es nur selten so formuliert haben, war es ihn doch bewusst, dass ein zukünftiges Europa sich nicht nur als eine Erfahrungs-, sondern auch als eine Wertegemeinschaft zu konstituieren habe. Von diesen Werten war bereits oben die Rede, und es ist insofern kein Zufall, dass am Beginn des Europäisierungsprozesses nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)3 stand, die bis heute verbindlich geblieben ist. Kein anderer Kontinent hat bis heute ein ähnliches Dokument vorzuweisen, freilich liegt weltweit allen Staaten die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 19484 zur Beachtung vor, die allerdings niemals verpflichtenden Charakter hatte gewinnen können. Dieses für die Identitätsfindung der Europäer zentrale Dokument, das 1950 vom Europarat verabschiedet wurde und das in kürzester Frist vor der Folie und zum Teil sogar auf Initiative des wegweisenden Haager Europakongresses vom Mai 1948 und der sich bildenden Europa-Vereinigungen entstand, hat in seinem Grund- und Menschenrechtekatalog (Artikel 1–15) gewissermaßen die Summe aus den europäischen Diskussionen des 19. und 20. Jahrhunderts über einen Grundbestand an Freiheitsrechten gezogen. Sie hat damit dem ganzen Kontinent eine ethische Grundlage gegeben – jeder Staat, der dem Europarat beitritt, hat sich auf die Einhaltung der EMRK zu verpflichten und sie in sein nationales Recht zu überführen.
Gerade im Bewusstsein dieses verpflichtenden Normenkatalogs haben es nicht wenige – selbst aktiv an diesen Prozessen beteiligte – politische Funktionsträger bedauert, dass Europa sich in Fortschreibung der sogenannten "Montan-Union" (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EGKS) von 1951 nach den Römischen Verträgen von 1957 so lange auf das rein Ökonomische konzentriert hat. Aber es lag insofern ganz auf der Linie der Gründungsväter der Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die zum Teil noch identisch waren mit denen, die die Europäische Menschenrechtskonvention durchgesetzt hatten, dass sich dieser Verbund Schritt um Schritt auch anderen Feldern öffnete und in seinen Grunddokumenten seit dem Maastrichter Vertrag5 immer deutlicher auch die gemeinsamen Werte akzentuierte. Die Diskussion über die Frage, ob in die geplante, dann gescheiterte EU-Verfassung ein Gottesbezug implementiert werden solle, zeigt schlaglichtartig, dass die Werte, die Europa ausmachen – Menschenrechte ganz allgemein, persönliche Freiheit und Parlamentarismus, Gewaltentrennung, Toleranz und Religionsfreiheit, Presse- und Meinungsfreiheit sowie Koalitionsfreiheit, soziale Sicherheit und freie Wahl des Aufenthaltsorts, Schutz der Ehe, Diskriminierungsverbot, um nur einige wenige herauszugreifen –, nach wie vor als zentral für das Funktionieren dieses Gebildes eingeschätzt werden. Das "Modell Europa" ist ohne den grundsätzlichen Konsens über einen gemeinsamen Vorrat an Werten nicht vorstellbar, und es hat sich am Beginn des Europäisierungsprozesses als einziger Kontinent diesen Vorrat selbst geschaffen, der den Zeitläuften und dem Zeitgeist seit 1950 immer wieder angepasst wird.
Der grundsätzliche Konsens über Werte, die die Spezifik des Kontinents seit langer Zeit ausmachen, ist auch einer der Gründe dafür, dass dieses Modell nirgendwo sonst adaptiert oder kopiert werden sollte: Die regionale Nachbarschaft oder ein nur partielles gemeinsames Interesse – etwa zur gemeinsamen Verteidigung oder zur Optimierung des Wirtschaftsaustauschs – genügen eben nicht, um dauerhaft eine politische Organisation am Leben zu erhalten. Ein sprechendes Beispiel ist die sogenannte Andengemeinschaft, die bei ihrer Begründung durch das Abkommen von Cartagena 1969 deutlich der damaligen EWG nachempfunden wurde und dazu dienen sollte, den relativ großen Entwicklungsrückstand jener Gruppe von Staaten (Bolivien, Chile, Ecuador, Kolumbien, Peru) gegenüber den potenteren Nachbarstaaten aufzuholen. Die Andengemeinschaft, die gegenüber der EWG/EG/EU die gemeinsame Sprache und, ganz ähnlich wie in der EU, ein Zusatz auf den Pässen auszeichnet, hat es freilich nie geschafft, sich über das Wirtschaftliche hinaus weiterzuentwickeln, etwa in Richtung einer gemeinsamen Außenpolitik oder der gemeinsamen Drogenbekämpfung. Selbst im ökonomischen Bereich gab es mehr Rückschritte als Fortschritte. In ihren Institutionen, die alle in Lima tagen, durchaus denen der EU nachempfunden (Präsidentenrat, Andenparlament, Kommission der Andengemeinschaft), ohne dass ein vergleichbares Maß an supranationaler Integration erreicht worden wäre, ist selbst die angestrebte Wirtschafts- und Währungsunion ein fernes Wunschziel geblieben. Dies ist auch deswegen unterblieben, weil eine gewisse Fluktuation – Austritt Chiles, partieller Austritt Perus in Bezug auf die Zollunion – eine kontinuierliche Entwicklung verhinderte. Entscheidend aber ist, dass sich diese Gruppe lateinamerikanischer Staaten nie auf einen Wertekanon verständigen konnte, der eine weiter gehende politische Zusammenarbeit auf eine stabilere Grundlage hätte stellen können. Das "Modell Europa" mit seinem Verdichtungsgrad, der den Konsens über einen gemeinsamen Vorrat an Werten voraussetzt, ist für diese Gruppe von Staaten eine Fata Morgana geblieben.
Gegenmodelle
Freilich hat es im Lauf der neueren und vor allem der neuesten Geschichte nicht nur Entwürfe für ein "Modell Europa" gegeben, die dem heutigen nahestehen, sondern auch solche, die sich deutlich von ihm abhoben. Schon das napoleonische Europa mit seiner strikten Ausrichtung auf Paris war mit den bis dahin diskutierten Modellen, die ausnahmslos auf föderalistischer Grundlage ruhten und die Souveränität der Gemeinwesen respektierten, nicht kompatibel. Dies gilt erst recht – ohne eine direkte Verbindungslinie konstruieren zu wollen – für Adolf Hitlers (1889–1945) Gedanken eines "Neuen Europa". Dass die nationalsozialistischen Ideologen sich dabei immer wieder auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als eine Referenzgröße beriefen, war eine der großen Perversionen der damaligen Geschichtspolitik. Nach dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion 1941 wurde die Schaffung des "Neuen Europa" mit dem antibolschewistischen Kreuzzug in eins gesetzt und zu einem wesentlichen Element der Propaganda. Stalingrad wurde für die nationalsozialistische Propaganda zum Symbol der Verteidigung des Westens aus der Festung Europa. Im März 1943 wurde von Seiten Joseph Goebbels' (1897–1945) und Joachim von Ribbentrops (1893–1946) über die Physiognomie des "Neuen Europa" nachgedacht. Ribbentrop mag vorsichtiger als Goebbels gewesen sein, aber im Grunde schwebte doch das Modell im Hintergrund, das er bereits im Herbst 1940 vor tschechischen Intellektuellen entwickelt hatte:
Dann wird unser großes volksstarkes Reich neben Italien praktisch die Führung Europas übernehmen. Daran ist gar nichts mehr zu drehen und zu deuteln. Das heißt also für Sie: Sie sind jetzt schon ein Glied eines großen Reiches, das sich eben anschickt, Europa eine neue Ordnung zu geben. Es will die Schranken, die die europäischen Völker noch voneinander trennen, niederreißen und ihnen den Weg zueinander ebnen.6
Ribbentrop sprach bereits 1941 von der "bereits vorhandenen und ständig wachsenden sittlichen Einheit Europas in der neuen Ordnung, die unsere großen Führer angekündigt und für die Zukunft der Kulturvölker vorbereitet haben. Hierin liegt die tiefe Bedeutung des Krieges gegen den Bolschewismus. Er ist das Zeichen der geistigen Erhebung Europas."7 In unzähligen Propagandaveranstaltungen und Plakaten, auch in den besetzten Staaten wie z.B. Frankreich, ist diese Botschaft den Menschen geradezu eingehämmert worden: "L'Europe unie contre le bolchevisme".
Zur gleichen Zeit wurde bereits an anderer Stelle über eine Nachkriegsordnung nachgedacht, die an die Traditionen anknüpfte und sich von den nationalsozialistischen Phantastereien überdeutlich absetzte. Auch wenn die Männer und Frauen des deutschen Widerstands, die exilierten Brüder Mann oder auch Churchill in ihren Zielperspektiven ganz unterschiedliche Akzente setzten, in der strikten Ablehnung jeder zentralistischen Europa-Lösung waren sie sich einig. Ihre gemeinsame Maxime lautete zudem: Alles tun, um nie wieder einem totalitären Gebilde die Chance zu geben, Gedanken eines europäischen Zentralstaats zu entwickeln, alles tun, um den Krieg für immer von europäischem Boden zu verbannen. Der ehemalige Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler (1884–1945)[], einer der prominenten Widerständler, mag stellvertretend mit einem kurzen Abschnitt aus einem Typoskript des Herbstes 1943 zitiert werden: In dem vor allem an britische Leser adressierten "Friedensplan" plädierte er für eine innere und lebendige Einheit Europas und thematisierte die allseitige Sicherheit als das zentrale Problem der Nachkriegsordnung, wofür ihm "der Zusammenschluss der europäischen Völker zu einem Staatenbund geboten" erschien. "Sein Ziel muss sein, Europa vor jeder Wiederkehr eines europäischen Krieges vollkommen zu sichern. Jeder europäische Krieg ist glatter Selbstmord."8
Das "Modell Europa" in der Geschichtswissenschaft
Das "Modell Europa" hat – avant la lettre – nicht zuletzt auch die Geschichtswissenschaft nachhaltig beeinflusst. Unbeschadet der Tatsache, dass die meisten nationalen Geschichtskulturen im 19. und bis zum letzten Drittel des 20. Jahrhundert eindeutig national, wenn nicht nationalistisch ausgerichtet waren, hat es seit dem 18. Jahrhundert immer wieder Bemühungen gegeben, dem "Wesen" Europas und seiner Spezifik wissenschaftlich auf die Spur zu kommen und diese wissenschaftlich aufzubereiten. Auch wenn Leopold von Ranke (1795–1886) nie eine "Europäische Geschichte" geschrieben hat, sein historisches Denken war gesamteuropäisch orientiert und nahm sowohl Serbien wie das Papsttum, sowohl Frankreich wie Venedig in den Blick. Seine unter dem Titel Über die Epochen der neueren Geschichte9 publizierten Vorträge belegen diese europäische Dimension schlagend. Aber man muss gar nicht gleich auf den Großmeister der historischen Wissenschaft schauen, sondern kann auch weniger bekannte Zeitgenossen als Kronzeugen ins Feld führen: etwa August Ludwig von Schlözer (1735–1809), von dem sein Biograph sagt, sein innerer Zusammenhang mit europäischen Erfahrungen sei für den Göttinger Gelehrten grundlegend gewesen: "Europa war für ihn kein System, sondern ein Aggregat von Staaten mit unterschiedlichen Regierungsformen, in denen dynastische, diplomatische, religiöse, ethische und ökonomische Beziehungen und Schnittstellen bestanden",10 oder Arnold Herrmann Ludwig Heeren (1760–1842) und seine verschiedenen Studien zum europäischen Mächtesystem in der Neuzeit, dessen Strukturen ihn beschäftigten,11 oder Friedrich Ludwig Georg von Raumer (1781–1873), auch wenn seine achtbändige Geschichte Europas seit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts (1832–1850) nicht gerade zum historischen oder literarischen Bestseller avancierte.12 Es bedurfte dann freilich erst der konkreten Bemühungen um eine europäische Föderation, um – allerdings von ganz unterschiedlichen Positionen – die Europa-Historiographie in den 1930er und dann in den 1950er und 1960er Jahren zu einem wirklich großen Thema der Geschichtsschreibung zu machen, auffälligerweise übrigens vor allem in den europäischen "Flügelstaaten" Großbritannien und Italien, wo in rascher Folge Gesamtdarstellungen erschienen, die jedoch auch jetzt dem "Modell Europa" noch nicht ausnahmslos lauten Beifall zollten. Die Gesamtsynthesen von Geoffrey Barraclough (1908–1984)13, Christopher Dawson (1889–1970)14 und Denys Hay (1915–1994)15, von Federico Chabod (1901–1960)16 und Carlo Curcio (1898–1971)17 seien hier nur stellvertretend genannt.
Die Breitenbewegungen
Die eigentliche Breitenwirkung der Europa-Idee und des Konzepts eines "Modells Europa" aber wurde selbstredend nicht von den Historikern erzielt, sondern von den großen Bewegungen, die sich seit der Zwischenkriegszeit ausbildeten und große Mengen von Menschen in den verschiedensten europäischen Staaten erreichten: die Paneuropa-Bewegung Codenhove-Kalergis in der Zwischenkriegszeit, die Europa-Union, die sich aus Schweizer Anfängen in den späten 1940er Jahren ausbildete und bis heute besteht. Zeichnete diese beiden Bewegungen die Überparteilichkeit aus, gab es daneben auch Bewegungen, die politisch gebunden waren, etwa unter kommunistischen Vorzeichen stehende pazifistische Bewegungen mit ihren Weltkongressen, denen selbstverständlich ein anderes Europa vorschwebte als das, das sich dann seit 1957 zu formen begann. Manche dieser pazifistischen Bewegungen – auch schon in der Zwischenkriegszeit – changierten ständig zwischen Pazifismus und Europäismus und veränderten je nach der Aktualität die Schwerpunkte ihrer Aktivitäten. Wenn das "Modell Europa" der jüngeren Vergangenheit sich immer wieder auf seine geistigen Grundlagen besann und sie thematisierte, dann war das zu einem ganz erheblichen Teil natürlich auch ein Reflex, eine Art Antwort auf das sowjetrussisch dominierte System des Warschauer Paktes, das sich allenfalls verbal auf einige der europäischen Werte berief. Seit 1989/1990 hat diese Herausforderung aufgehört zu existieren. Die Integrationsgeschichte seit damals hat gezeigt, dass zwischen der verbalen Verpflichtung auf die EMRK und der Praxis nicht selten eine erhebliche Lücke klafft.
Mit symbolischen Handlungen und Akten tut sich die EU bis heute schwer. Sie hat erkennbar Mühe, dem "Modell Europa" öffentlichkeitswirksam ein Forum zu geben. Die Verleihung des Aachener Karlspreises seit 1950 ist eine lokale Initiative, um verdiente Europäer auszuzeichnen, aber sie ist nie in den Rang eines von der EU oder vom Europäischen Parlament protegierten offiziösen Aktes aufgestiegen. Dem "Modell Europa" in einem zentralen Museum Sprache zu verleihen, wird seit Jahrzehnten – vorläufig ohne nachhaltigen Erfolg – zu realisieren versucht. Große Ausstellungen wie die Kölner von 1979 im Vorfeld der ersten Europawahlen18 oder die Berliner von 200319 ziehen kulturell oder politisch Interessierte an, aber selbstredend nicht alle Bevölkerungsschichten in gleicher Weise. Auch die vielen europäischen Rahmenprogramme sind nur bedingt geeignet, große Menschenmassen in ihren Bann zu ziehen und ihre europäische Identität zu stärken. Wenn es den Euro, die Europaflagge, die gleichförmigen Pässe, die Europäische Hymne und die periodischen Wahlen zum Europäischen Parlament nicht gäbe, müsste man das "Mythendefizit" Europas vollends beklagen.
Das Faszinosum des "Modells Europa"
Das alles nimmt dem "Modell Europa" aber nichts von seiner Faszination – für Außenstehende. Hier ist erstmals in der Geschichte ein Versuch gemacht und ein Weg gefunden worden, eine inzwischen an die Zahl von 30 heranreichende Gruppe von souveränen Staaten, die sich vom Nordkap bis nach Zypern und von der Algarve bis ans Schwarze Meer erstrecken, auf freiwilliger Basis und unter Beachtung eines verpflichtenden Bestandes an Werten in eine Gemeinschaft zu überführen, die auf Dauer angelegt ist und den Krieg als Mittel der Interessendurchsetzung irreversibel ausgeschlossen hat. Dieses "Modell Europa" ist eine Erfolgsgeschichte mit kleinen Brüchen, die hin und wieder einmal anderswo auf der Erde zu kopieren versucht wurde, aber ausnahmslos ohne Erfolg. Zu reflektieren, wo die Gründe dafür liegen, dass das Modell in Europa funktioniert(e) und anderswo nicht, ist müßig – es scheint aber einiges dafür zu sprechen, dass das Bewusstsein, nicht nur einer Erfahrungsgemeinschaft anzugehören, sondern – abgestuft – eine Menge gemeinsame Werte zu teilen, sich hier über die Jahrhunderte kontinuierlicher entwickelt hat und deswegen tiefer verwurzelt ist als etwa in den Andenstaaten. Das war es wohl auch, was Jean Monnet (1888–1979)[], der eigentliche Architekt des "Modells Europa", vor Augen hatte, als er in seinen Memoiren von 1976 formulierte:
[Inzwischen] haben über die Institutionen hinaus – und als tiefes Bedürfnis der Völker – die europäische Idee und der Geist gemeinschaftlicher Solidarität Wurzeln geschlagen. Diese Idee "Europa" wird allen die gemeinsamen Grundlagen unserer Zivilisation vor Augen führen ...20