Einleitung
Was genau unter transnationaler Geschichte zu verstehen ist, war und bleibt umstritten, und gerade diese Vagheit des Begriffs hat wahrscheinlich zum internationalen Siegeslauf des Labels "transnational" in der Geschichtswissenschaft während der letzten Jahre beigetragen. In der Debatte über Transnationalität ist die Geschichtswissenschaft zugleich eher ein latecomer. Lange vor ihr hatten andere Disziplinen, etwa die Rechts- und Politikwissenschaft, aber auch die Anthropologie, mit dem Begriff gearbeitet und ihn in jeweils unterschiedlicher Weise operationalisiert. Auch in der nicht-akademischen Welt hat "transnational" eine lange Vorgeschichte – verschiedene amerikanische Firmen der Nachkriegszeit führten diesen Begriff in ihrem Namen und gaben sich dadurch einen besonderen Touch.1
In der Geschichtswissenschaft dagegen gewann der Begriff erst seit den frühen 1990er Jahren in unterschiedlichen nationalen und subdisziplinären Kulturen an Bedeutung. Zunächst verdichtete sich die Debatte in den Vereinigten Staaten, und ihre zentrale Stoßrichtung bestand darin, die bis dahin dominante Fixierung der Historiographie auf die nationale Geschichte zu hinterfragen und zu brechen – sei es für die Geschichte der USA, Chinas oder anderer Weltgegenden. Diese Motivation sollte bald danach auch den europäischen Diskussionen über transnationale Geschichte zugrunde liegen. In Europa hat heute, rund 15 Jahre nachdem die Debatte auch hier einsetzte, die "transnationale Geschichte" die verschiedenen historischen Subdisziplinen und die nationalen Wissenschaftskulturen jedoch sehr ungleichmäßig erfasst: Während sie Teile der Migrations- und die Kolonialhistoriographie wesentlich prägt, ist zum Beispiel ihr Einfluss auf die Politikgeschichte deutlich geringer geblieben. Auch national lassen sich markante Unterschiede festmachen. Im Gegensatz zur Bundesrepublik, in der eine recht lebhafte Diskussion in Gang gekommen ist, hat die transnationale Geschichte die Forschungslandschaft etwa in Italien oder Bulgarien bislang kaum berührt.2
Zusammen genommen verweist dieser knappe Einblick in die Historiographiegeschichte auf dreierlei: Transnationale Geschichte ist kein Zugriff auf die Vergangenheit, der spezifisch für die europäische Geschichte entwickelt wurde. Die Debatte über transnationale Geschichte hat nicht in Europa, sondern in den USA ihren Ausgangspunkt. Und das Ausmaß, in dem sich Historikerinnen und Historiker in Europa, beziehungsweise Experten der europäischen Geschichte dieser Diskussion zugewandt haben, ist sehr unterschiedlich; transnationale Geschichte ist insofern bis heute zu keiner zentralen Verständigungsplattform einer europäischen Geschichtsschreibung geworden.
Was also ist transnationale Geschichte?
Auch nach 15 bis 20 Jahren Debatte gibt es in der Geschichtswissenschaft keine Einigkeit, was genau als transnationale Geschichte zu fassen sei – jenseits der Negativ-Definition, auf eine Alternative zur bislang vorherrschenden, national zentrierten Geschichtsschreibung zu zielen. In welcher Beziehung transnationale Geschichte jedoch zu Ansätzen mit ähnlicher Stoßrichtung steht – wie etwa zur globalen Geschichte und post-colonial studies, zur Weltgeschichte und histoire croisée, entangled history oder Internationalen Geschichte –, bleibt strittig. Während manche transnationale Geschichte als Dachbegriff in der Debatte verstehen, sehen andere eine Pluralität unterschiedlicher Ansätze oder räumen einem der anderen Labels eine Vorrangstellung ein. Auch zur Frage, ob transnationale Geschichte sich epochal und bezüglich ihrer Gegenstände eingrenzen lässt, gibt es keinen Konsens. Weiter erschwert wird das Problem dadurch, dass sich die divergierenden Vorstellungen und Konzepte in den verschiedenen Sprachen nicht eins zu eins aufeinander abbilden.3
Es ist heute unentschieden, ob sich in diesen Fragen Einhelligkeit wird herstellen lassen. Aufgrund einer gewissen pragmatischen Grundorientierung haben die verschiedenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Debatte es jedoch zumindest bisher vermieden, diese Auseinandersetzungen als Glaubenskriege auszufechten. Stattdessen überwiegt ein international geteilter, pragmatischer Konsens, dass es wichtiger sei, empirisch derartige Studien transnationalen Zuschnitts zu fördern und zu verfassen, als sich in konzeptionellen Debatten zu verstricken. Die positiven Effekte dieser Haltung liegen auf der Hand. Allerdings besteht aufgrund der fehlenden Rigidität auch die Gefahr, dass der Begriff "transnationale Geschichte" zu einer leeren Modeformel verkommt – woran eigentlich niemand ein Interesse haben kann.
Eine relativ offene – und damit in den Augen mancher eventuell vage – Definition haben Akira Iriye und Pierre-Yves Saunier kürzlich dem von ihnen herausgegebenen Palgrave Dictionary of Transnational History vorangestellt: Danach geht es bei der transnationalen Geschichte um die "links and flows", die "people, ideas, products, processes and patterns that operate over, across, through, beyond, above, under, or in-between polities and societies".4
Zugleich lässt sich für Iriye und Saunier transnationale Geschichte nicht nur über ihren (breit gefassten) Gegenstand definieren. Sie verstehen diese auch als wissenschaftlichen Ansatz – nicht jedoch als Theorie oder Methode, sondern als "an angle, a perspective". Wenngleich der Begriff der Perspektive in der Geschichtswissenschaft untertheoretisiert ist, verweist er grundsätzlich auf das Beziehungsverhältnis zwischen dem Objekt der Analyse (der Vergangenheit) und dem Betrachter (der Historikerin/dem Historiker). Im Kern definiert sich der Ansatz transnationaler Geschichte demnach primär über das wissenschaftliche erkenntnisleitende Interesse, dass sie und wie sie den oben erwähnten "links and flows" nachzugehen trachtet. Eine derartige Definition haben schon andere zuvor vertreten, zugleich ist auch sie nicht unumstritten. Dass sie sich im Palgrave Dictionary, das immerhin rund 350 Autorinnen und Autoren und damit einen wesentlichen Teil der "transnational historians" versammelt, als gemeinsames Dach versteht, gibt ihr jedoch ein gewisses Gewicht.5
Zusammengefasst: Es wäre falsch zu meinen, dass sich hinter der transnationalen Geschichte ein bislang gänzlich unbeachteter Gegenstand oder ein völlig neuer Zugriff auf die Geschichte verberge. Verbindungen zwischen Gesellschaften haben stets die Aufmerksamkeit von Historikerinnen und Historikern gefunden – seien diese diplomatischer und politischer, kultureller und sozialer oder schließlich ökonomischer Natur.6
Neu an der transnationalen Geschichte ist vielmehr zum einen die Idee, eine Alternative zur Dominanz einer national zentrierten Geschichtsschreibung zu bieten. Wenngleich die meisten Praktiker transnationale Geschichte gerade nicht als neues Paradigma oder neue Meistererzählung verstehen wollen, sehen sie in ihr mehr als lediglich eine zusätzliche Ebene, die sich wie in einem Zwiebelmodell zwischen die lokale, regionale und nationale Geschichte einerseits und die globale andererseits schieben ließe. Denn transnationale Geschichte steht quer zu einer solchen Logik der Schichten und kann das Lokale direkt mit dem Übernationalen oder Transkontinentalen verbinden.
Zum anderen gibt es einen relativen Konsens, den Begriff der transnationalen Geschichte selbst nicht zu stark theoretisch oder konzeptionell aufzuladen. Trotzdem verbindet sich mit dem Begriff ein explizites Interesse an methodischen Fragen. Ohne die vielen Forschungen in den letzten Jahrzehnten, die das Verständnis von Interaktionen über Grenzen hinweg verfeinert haben – sei es durch Arbeiten zum historischen Vergleich und zu kulturellen Transfers, zu Netzwerken und Diasporas, durch Inspirationen aus der Anthropologie oder den postcolonial studies –, ohne all dies wäre die transnationale Geschichte nicht denkbar.
Darüber hinaus sollte man schließlich die Tatsache nicht unterschätzen, dass mit dem Begriff "transnational" eine gemeinsame Plattform, ein gemeinsamer Referenzpunkt für Arbeiten geschaffen wurde, die empirisch in extrem unterschiedliche Richtungen weisen. Solchen Labeln kommt grundsätzlich die Rolle zu, Wissen zu ordnen und zu hierarchisieren. Mit "transnational" wurde dem dominanten Territorialitätsprinzip der historischen Wissensorganisation eine bedeutungsvolle Alternative gegenübergestellt – sie führt etwa dazu, dass unter diesem Rubrum ein japanischer, in Amerika lehrender Experte der US-ostasiatischen Beziehungen (Iriye) und ein französischer Stadthistoriker (Saunier) gemeinsame Forschungsinteressen entwickeln, was unter den Prämissen einer national zentrierten Historiographie kaum vorstellbar gewesen wäre.
Wo in der transnationalen Geschichte liegt Europa?
Unabhängig davon, ob man transnationale Geschichte eher eng oder weit definiert, dürfte offensichtlich sein, dass sich in der europäischen Geschichte viele transnationale Phänomene finden und die transnationale Geschichte uns helfen kann, sie besser zu verstehen und zu erklären. Die transnationale Geschichte kann in dreierlei Hinsicht zu einer vertiefenden Analyse der europäischen Geschichte beitragen.
Erstens ist es der europäischen Geschichte geradezu eingeschrieben, sich mit Verbindungen und Zirkulationen zu befassen, die Grenzen überschreiten. Die Aufklärung, die Industrialisierung oder zum Beispiel die Entstehung des Wohlfahrtsstaats sind transnationale Phänomene mit stark europäischem Akzent und können deswegen in lokaler oder nationaler Perspektive nicht voll erfasst werden. Entsprechend werden solche Phänomene auch schon lange erforscht – etwa wenn sich Michael Werner und Michel Espagne in einer Art transnationaler Geschichte avant la lettre dem Kulturtransfer zwischen Frankreich und Deutschland widmeten, wenn Johannes Paulmann über interkulturellen Transfer schrieb oder wenn neuerdings die Zirkulation von Elementen der Hochkultur besondere Aufmerksamkeit findet.7
Zugleich erinnert gerade die europäische Geschichte daran, dass transnationale Geschichte keineswegs nur den "links and flows" nachgehen darf, welche die obige Definition von Iriye und Saunier betont. Mindestens ebenso sehr sollte sie sich für das Ausdünnen und Abebben, das Umleiten und Unterdrücken, die Vernichtung und das Vergessen transnationaler Beziehungen interessieren. Der Internationalismus vor dem Ersten Weltkrieg bietet dafür ein gutes Beispiel – denn viele der damals geschlossenen Verbindungen brachen im Zeitalter der Weltkriege ab; eine einfache Aufstiegsgeschichte des Transnationalen lässt sich nicht schreiben. Zugleich geht es nicht nur um Chronologien, sondern auch um die Parallelität und Verschränktheit scheinbar widersprüchlicher Phänomene. Dass etwa Nationalisierung und Transnationalisierung, beziehungsweise Globalisierung Hand in Hand gehen, miteinander verwoben sein und ein dialektisches Potential entwickeln können, wurde zuletzt in mehreren Studien zu Recht betont.8
Eine Beschäftigung mit der Geschichte des "dunklen Kontinents" im Sinne Mark Mazowers9 erinnert auch daran, dass das Transnationale nicht a priori positiv besetzt sein muss, wenngleich sich das Gros der Forschung bisher solchen Kontakten und Austauschbeziehungen zugewandt hat. Die einer derartigen Eingrenzung zugrunde liegenden normativen Vorannahmen würden jedoch den Blick auf die Vielfalt transnationaler Strukturen, Prozesse und Erfahrungen versperren. So lassen sich etwa in der Geschichte der europäisch geprägten Sklaverei, der nationenübergreifenden Kooperation von Antisemiten und Rassisten oder von Umweltkatastrophen viele transnationale Themen finden, und nicht alle werden in Erzählungen von Widerstand und Subversion aufgehen.10
Zweitens kann transnationale Geschichte nicht immer an den Grenzen Europas Halt machen. In ihrem Interesse für Verbindungen und Zirkulationen folgt sie idealiter ihren Objekten an all jene Orte, an die diese sie tragen – auch wenn solche Itinerare gegen die Etikette einer weiterhin an territorialen Einheiten orientierten Geschichtswissenschaft verstoßen mögen. Viele Austauschbeziehungen umfassten nur Teile und nicht ganz Europa – und werden dennoch schnell zu einer europäischen Geschichte generalisiert, besonders wenn es sich um westeuropäische Kontakte handelt. Offensichtlich wirkt die Unterscheidung in "richtige"/"wichtige" und periphere Teile des Kontinents, die durch den Kalten Krieg einen Höhepunkt erlebte, in mancher Beziehung bis heute nach. Dabei stellt sich die Frage, was sich aus solchen spezifischen Beziehungsgeschichten Allgemeines über Europa lernen lässt; die Gefahr vorschneller Kurzschlüsse ist groß.
Hinzu kommt, dass eine hohe Zahl von Austauschprozessen über Europa hinausreichte. Ebenso wenig wie Nationen oder Staaten war und ist Europa jedoch eine Monade. Viele innereuropäischen Bindungen und Vernetzungen entstanden in Kontakt mit der weiteren Welt, und es wäre falsch, diese a priori auszublenden. Insofern sollte man nicht leichtfertig mit der Zuschreibung zur europäischen Geschichte umgehen. Vielmehr geht es darum zu untersuchen, welche Beziehungen tatsächlich als spezifisch europäisch zu gelten haben – und durch was sich dieses "Europä
Zugleich verweist all dies auf eine Gefahr, die Konrad Jarausch einmal zu Recht als die "Treitschke-Versuchung" der europäischen Geschichtswissenschaft jenseits der Nationalfixiertheit bezeichnet hat: Damit ist gemeint, dass Historikerinnen und Historiker heute der Gefahr ausgesetzt sind, "Europa" zu einem neuen Referenzraum und zu einer Essenz zu stilisieren, auf die sie ihre Untersuchungsgegenstände dann ausrichten – ganz gleich, ob diese territoriale Zuschreibung der Reichweite der Interaktionsformen der Vergangenheit entspricht oder nicht.11
Während diese beiden Punkte wahrscheinlich relativ konsensfähig sind, soll drittens auf eine bislang relativ wenig reflektierte, noch grundsätzlichere Herausforderung hingewiesen werden, die sich aus der Vagheit des Begriffs "Europa" ergibt. Viele Darstellungen zur europäischen Geschichte orientieren sich an einem geographisch oder kulturell-geschichtlich geprägten, häufig jedoch nicht ausreichend definierten Europabegriff.12 Es handelt sich somit zumeist um eine common-sense-Vorstellung, die klaren wissenschaftlichen Kriterien eigentlich nicht genügt.
Wie aber lässt sich "Europa" scharf stellen? Zunächst einmal teilt der Europabegriff mit der bisherigen national zentrierten Historiographie den Bezug auf eine territorial gefasste Einheit – mit allen Problemen, die sich daraus grundsä13 Denn wie Forschungen an der Schnittstelle von Geschichtswissenschaft und Geographie verdeutlichen, sind alle Kriterien zur Definition des Kontinents sozial konstruiert, und sie unterliegen historischem Wandel. So hat sich zum Beispiel in den letzten 2.500 Jahren immer wieder verändert, was unter "Europa" verstanden wurde. Bei der scheinbar so harten geographischen Uralgrenze handelt es sich etwa um eine Konvention des 18. Jahrhunderts, die nicht zuletzt den Anspruch Russlands untermauern sollte, zu den europäischen Großmächten zu gehören. Gen Westen sieht es kaum besser aus: Es erwies sich zum Beispiel immer wieder als strittig, ob Großbritannien oder Island zu Europa gezählt werden sollten.14
Vor diesem Hintergrund haben einige Autoren vorgeschlagen, den Europabegriff sozialkonstruktivistisch zu fassen. Eine Pionierstudie in diesem Bereich ist Wolfgang Schmales Geschichte Europas, das den vielfältigen und variierenden Diskursen und performativen Akten nachgeht, die sich mit dem Begriff "Europa" in Geschichte und Gegenwart verbinden.15 In verwandter Form untersucht eine internationale Gruppe von Technikhistorikern um Johan Schot Infrastrukturprojekte und andere technologische Großvorhaben und zeigt dabei, wie "actors design and use technology to constitute and enact European integration (or fragmentation)"; Technologie erscheint somit als eine Praxis "in which specific concepts and visions of Europe became embedded in particular designs for artefacts and systems."16 In solchen Arbeiten erscheint Europa somit nicht als Ausgangspunkt oder Bühne transnationaler Prozesse, sondern als Resultat einer Vielzahl von Zirkulationsregimen, die in ihrer Überlappung und Verdichtung Europa erst als solches immer wieder neu hervorgebracht haben. Ein ähnliches konzeptionelles Design liegt einem jüngst abgeschlossenen, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Verbundprojekt zugrunde, das sich mit Vorstellungen vom Europäer befasst hat.17
Für jene transnationalen Prozesse, die Europa in diesem Sinne geschaffen haben, bietet sich ein eigener Begriff an: der der Europäisierung. Merkwürdigerweise fristet dieser in der Geschichtswissenschaft – wenn damit Prozesse innerhalb eines auf diese Weise erst entstehenden "Europas" gemeint sein sollen – bislang ein Schattendasein,18 während sich etwa in der Politikwissenschaft in den letzten Jahren eine hoch differenzierte darüber Debatte entfaltet hat. Da jene jedoch primär um die Effekte der politischen Integration Europas kreist, lässt sie sich kaum auf historische Debatten übertragen.19 Ein expliziter Definitionsversuch würde jedoch darauf abzielen, unter Europäisierung all jene politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Prozesse zu verstehen, die eine nachhaltige Stärkung innereuropäischer Verbindungen und Ähnlichkeit gefördert oder verändert haben; sei es durch Formen der Anverwandlung, des Austauschs oder der Vernetzung. Damit einher gehen stets Formen der Abgrenzung und des othering20 sowie Fragmentierung und Konflikt.21
Um aber wirklich von Europäisierung sprechen zu können, muss noch etwas Weiteres hinzukommen: dass historische Akteure ab einem gewissen Zeitpunkt diese Prozesse eben als "europäisch" wahrnehmen und so benennen. Verdichtungsprozesse kultureller, ökonomischer, politischer und sozialer Art gab es schon lange, und zumeist stehen allein sie im Blickfeld. Bindet man diese jedoch nicht an die Ebene der Bezeichnung durch die Akteure als "europäisch" zurück, so landet man unweigerlich bei einer Definition von Europa, die entweder normativ oder essentialisierend fundiert ist, oder aber lediglich auf common-sense-Annahmen beruht. All dies erscheint analytisch unbefriedigend. Interessant ist vielmehr, wann Prozesse jeder nur denkbaren Art als spezifisch europäisch wahrgenommen werden. Dazu gehört natürlich auch das Problem der Anforderungen, Hoffnungen und Abgrenzungsbemühungen, die sich damit verbinden und die Frage, welche zuvor dominierenden oder bedeutsameren Zuschreibungen – wie etwa christianitas, Abendland, Nation oder Empire – damit an Einfluss verloren und begrifflich neu hierarchisiert und aufgeladen wurden.22
Erst dadurch dass eine Vielzahl von Prozessen mit häufig transnationalem Charakter ähnlich gerichtet war und durch den damit verbundenen Prozess des Labelling, der eben eine solche gemeinsame Stoßrichtung gen Europa identifizierte, hat sich seit der frühen Neuzeit, verstärkt seit dem 18. Jahrhundert und mehr noch seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts "Europa" zu einer bedeutungsvollen Kategorie und Sinneinheit entwickelt – die es davor kaum war. Erst so wurde "Europa" immer mehr zu einem sich selbst verstärkenden Subjekt.
Wenngleich sich viele Historiker lange vor den 1950er Jahren mit "Europa" beschäftigt haben,23 sollte die heutige Europa-Historiographie stets mit bedenken, dass sie ohne den politischen und ökonomischen Integrationsprozess seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts höchstwahrscheinlich ein eher randständiges Dasein fristen würde. Roger Chartier hat einmal pointiert geschrieben, dass die Französische Revolution erst die Aufklärung gemacht habe.24 Daran angelehnt könnte man behaupten, dass erst die europäische Einigung Europa gemacht hat. Das wäre sicherlich überpointiert – aber dennoch erkenntnisfördernd. Denn die Europäische Einigung stellt die Europa-Forschung nicht nur vor die alte Treitschke-Frage, ob sie mehr bieten kann als die Legitimation eines aktuellen politischen Projekts – ein Problem, das es nicht zu ignorieren, sondern konstruktiv zu reflektieren gilt. Sie sollte auch verstärkt Anlass dazu sein, den Integrationsprozess unter den Vorzeichen von Europäischer Union (EU), Europäischer Freihandelsassoziation (EFTA), Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und ähnlichen politischen Projekten weiter historisch-kritisch zu untersuchen und zu anderen transnationalen Interaktionen in und um Europa in Beziehung zu setzen.25
Die These dieses Beitrags lautet somit: Europa ist mindestens so sehr ein Raum, in dem sich transnationale Bindungen besonders verdichtet haben, wie umgekehrt diese Verknüpfungen Europa erst als solches hervorgebracht haben. Die transnationale Geschichte kann unsere Sensibilität dafür schärfen, in der Konstituierung des Europäischen in Räumen aller Art und in allen Teilen der Welt durch Interaktion ein, wenn nicht das zentrale Moment der europäischen Geschichte zu verstehen. Zusammengenommen vermag es erst ein solcher transnationaler Zugang, Europas Ort in der Welt aus der Perspektive einer europäischen Geschichte angemessen zu bestimmen.26