Einleitung
Im Jahr 1937 veröffentlichten die in Ungarn geborene und in die Vereinigten Staaten emigrierte Pazifistin Rosika Schwimmer (1877–1948)[] und ihre amerikanische Kollegin Lola Maverick Lloyd (1875–1944) einen Aufruf zu einer verfassungsgebenden Weltversammlung, aus der eine "Föderation der Nationen" hervorgehen sollte.1 Ihre Erklärung bildete einen Meilenstein in der Geschichte der Bewegung für einen Weltbundesstaat und zeichnet sich besonders durch das Beharren auf demokratischer Repräsentation als wesentlichem Element einer Weltregierung aus.2 Im Angesicht aggressiver Nationalismen vertraten Schwimmer und Lloyd die Überzeugung, dass der Internationalismus nicht nur eine Sache der politischen Organisation, sondern auch der ihr zugrunde liegenden Einstellungen sei. Es schien ihnen ausgemacht, dass "nur international gesinnten Männern und Frauen zugetraut werden [könne], die menschliche Gesellschaft auf sicherer Grundlage neu zu organisieren".3 Folglich müsse jeder Versuch zu einer Neuorganisation der Welt mit erzieherischen Maßnahmen beginnen, etwa in der Herstellung von Schulbüchern, in denen "der moralische, wirtschaftliche, wissenschaftliche und künstlerische Beitrag aller Völker, Rassen, Klassen, Religionen und beider Geschlechter zu Fortschritt und Glück der Menschheit" im Vordergrund stehen müsse.
In knappster Form steht der Begriff des "Internationalismus" für Bestrebungen, die Zusammenarbeit über Staatengrenzen hinweg zu fördern. In seinem Entwurf für eine neue internationale Ordnung war Schwimmers und Lloyds Vorhaben eine spezielle Variante des Internationalismus. Zugleich aber verweisen die Aktivitäten der beiden Organisatorinnen auf eine andere Dimension, nämlich auf die tiefen Verbindungen zwischen dem Internationalismus und bestimmten gesellschaftlichen oder politischen Bewegungen. Als prominente Vertreterin der ungarischen Frauenbewegung hatte Schwimmer auch im Weltbund für Frauenstimmrecht (International Woman Suffrage Alliance) eine aktive Rolle gespielt, etwa bei der Organisation des 1913 in Budapest abgehaltenen Kongresses. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wirkten Schwimmer und Lloyd gemeinsam an einem bedeutenden pazifistischen Vorhaben mit, dem Internationalen Frauenfriedenskongress von Den Haag (1915). Ebenfalls beteiligt waren sie an der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit, die aus der Tagung von Den Haag hervorging. Die Aktivitäten von Schwimmer und Lloyd deuten folglich an, wie sich der Internationalismus auch aus der Perspektive des Aktivismus verstehen lässt. Zudem unterstreicht Rosika Schwimmers persönlicher Werdegang, wie transnationale Erfahrungen wiederum auf den Internationalismus einwirkten, verbrachte sie doch ihre letzten Lebensjahrzehnte als staatenlose Bewohnerin der Vereinigten Staaten.4 So lassen sich selbst an einem einzelnen Vorhaben wie dem Aufruf zu einem Weltbundesstaat unterschiedliche Dimensionen und Subtexte erkennen. Dementsprechend legt dieser Artikel den Akzent auf die Vielfalt der Handlungen und Sinngebungen, die sich mit dem Internationalismus verbinden.
Einerseits handelt es sich beim Internationalismus um eine analytische Kategorie, mit der wir an die Vergangenheit herantreten können. Doch handelt es sich dabei auch um ein historisches Phänomen sowie um einen Begriff, den seit dem 19. Jahrhundert vielfältige Akteure im Mund geführt haben. Etymologisch betrachtet entstand der Begriff aus dem Wort "international", das vom englischen Philosophen Jeremy Bentham (1747–1832) geprägt wurde, um den Geltungsbereich des Völkerrechts abzustecken und umfassendere Prinzipen der internationalen Ordnung zu erarbeiten.5 Doch schon in seinen ersten Verwendungen fiel das Wort "Internationalismus" in ganz unterschiedlichen Anwendungsgebieten: nicht nur in den Beziehungen zwischen den Staaten, sondern auch im Zusammenhang mit Herausforderungen "von unten". Diese Multiperspektivität spiegelt sich folglich auch in der Forschungsliteratur zum Thema. Die historische Auseinandersetzung mit diesem Thema kann sich wahlweise auf Institutionen, Aktivisten oder Experten konzentrieren und dabei den Blick auf Interaktionen auf verschiedenen Ebenen richten, von lokalen bis hin zu globalen Kontexten.6 Der vorliegende Artikel trägt dieser Vielfalt Rechnung, indem er Internationalismus als Idee, als Praxis und als Prinzip einer Organisation der Welt betrachtet.
Internationalismus als Idee und Narrativ
Eine Möglichkeit, sich dem Internationalismus zu nähern, liegt darin, ihn als Überzeugung vom Wert internationaler Zusammenarbeit zu behandeln. Vor dem Ersten Weltkrieg suchten Friedensaktivisten oft nach juristischen Wegen zur Verhinderung oder Befriedung bewaffneter Konflikte.7 Dabei kam es zu Begegnungen und Überschneidungen mit der im Entstehen begriffenen Gemeinschaft der Völkerrechtler, sodass sich behaupten ließe, die Entwicklung des Völkerrechts im 19. Jahrhundert sei in gewisser Weise von einer "internationalistischen Grundstimmung" getragen gewesen.8 Dieser Akzent auf dem Völkerrecht als Träger einer internationalistischen Vision blieb auch in der Zwischenkriegszeit bestehen, etwa in Bestrebungen, den Krieg als solchen für ungesetzlich zu erklären ("outlawry of war").9 Zwar setzten Pazifisten ebenso wie internationalistische Juristen auf grenzübergreifende Zusammenarbeit, doch stellten sie kaum je die Gültigkeit von Staaten und einer auf Staatlichkeit gegründeten Weltordnung in Frage.10 Deutlich wird diese Perspektive im Werk von Francis Lieber (1800–1872)[]. Der in Preußen geborene Lieber machte in den Vereinigten Staaten eindrucksvoll Karriere. Er wurde auf einen Lehrstuhl an der Columbia University berufen und verfasste später einen Verhaltenskodex für die Unionstruppen im amerikanischen Bürgerkrieg, den sogenannten "Lieber Code" (1863). Es heißt, Lieber habe sich schon "an internationalen Angelegenheiten interessiert" gezeigt, noch ehe er "seine Begabung im Bereich des Völkerrechts und der Organisation" zur Anwendung brachte.11 1868 veröffentlichte er eine Abhandlung, in der er die Vereinbarkeit von Internationalismus und Nationalismus zu belegen suchte. Zwar habe nach einer früheren Phase der "Nationalisierung" ein Prozess der "Internationalisierung" eingesetzt, doch sei "keine Auslöschung der Nationalitäten" zu erwarten. Vielmehr müsse man damit rechnen, dass im Fall einer Beeinträchtigung der Nationalstaatlichkeit die "Zivilisation ernstlich Schaden nehmen würde".12
In der Abwehr des Verdachts, der Internationalismus könne möglicherweise unpatriotisch sein, bildete Lieber keine Ausnahme. Auch viele Unterstützer der Friedensbewegung hoben hervor, dass Tugenden wie Einigkeit und Gesprächsbereitschaft keine Bedrohung nationaler Loyalitäten darstellten. Beispielhaft hierfür mag das Buch True Patriotism and Other Lessons on Peace and Internationalism stehen, das sich an "Sonntagsschullehrer, die Unterricht in Frieden zu erteilen wünschen" richtete. Es erschien in erster Auflage vor dem Ersten Weltkrieg, in zweiter Auflage 1915.13 Die Autorin, die britische Quäkerin und Pazifistin Margaret Pease (gest. 1917), betonte den Gegensatz zwischen "echtem Patrotismus" und jenem "falschen Patriotismus, der die Länder oft gegeneinander in den Krieg treibt, wo sie doch in Frieden leben könnten".14 In einem Kapitel über den Internationalismus beschrieb Pease die "enge Verflechtung" zwischen "den Leben aller Menschen", woraus ein Gefühl der Verbundenheit entstehe: "so, wie wir das gemeinsame Leben aller Engländer in Freundschaft das nationale Leben nennen, so wollen wir gemeinsame Leben vieler Nationen in Freundschaft das internationale Leben nennen".15 Solche Ausführungen fügten sich in einen Diskurs, der den Internationalismus vom Kosmopolitismus zu unterscheiden suchte. Da der Kosmopolitismus als nationalen Kategorien gleichgültig gegenüberstehend galt, legten viele Aktivisten Wert auf solche Unterscheidungen.16
Völkerrechtler und Friedensaktivisten vertraten ein spezielles Bild des Internationalismus, doch standen sie damit keineswegs allein. Sozialisten und Gewerkschaftler erkannten in dem Begriff die Grundsätze und Erfahrungen, die die Arbeiterschaft über LäJean Jaurès (1859–1914)[], eine führende Kraft der Zweiten Internationale, in einer Rede vor dem französischen Abgeordnetenhaus. Darin sprach Jaurès von einem "internationalen Leben", das im Entstehen begriffen sei, und zwar auf Grundlage "einer Gemeinschaft tiefster Sympathie zwischen den Arbeitern aller Länder". Ihm zufolge erlebten Arbeiter überall "dasselbe Leid" und seien sich deshalb einig "im selben Vorhaben: von einem Ende Europas bis zum anderen". In den "gewaltigen politischen und genossenschaftlichen Kongressen" sah der französische Sozialist einen weiteren Ausdruck einer Solidarität, die vor Ländergrenzen nicht Halt machte.17
In der Ära der Zweiten Internationale setzte die sozialistische Bewegung ihren Internationalismus auf vielfältige Weise in Szene.18 Zugleich aber konnte sie politische Anliegen im nationalen Rahmen kaum ignorieren. Auch Jaurès' Rede von 1905 beschäftigte sich eingehend mit der Frage des Patriotismus und der Haltung der deutschen Sozialisten. Nachdem Jaurès am Vorabend des Ersten Weltkriegs ermordet wurde, ließen viele seiner ehemaligen Genossen in der Zweiten Internationale den Unterschied zwischen Idee und Praxis des Internationalismus deutlich werden, indem sie für ihre jeweiligen Herkunftsländer Partei ergriffen. Eine kritische Stimme inmitten der Gräben, die sich nun auftaten, stellte Rosa Luxemburg (1871–1919)[] dar, die sich bereits ausführlich mit deutschem und polnischem Nationalismus beschäftigt hatte. Die deutschen Sozialdemokraten bezichtigte sie, "Schildknappen des Imperialismus im gegenwärtigen Kriege" zu sein. Ein "Wiederaufbau der Internationale", so Luxemburg, setze voraus, dass die Sozialdemokratie sich "des eigenen moralischen Falls" seit Kriegsausbruch gewahr werde. Die Internationalisten hätten indessen für "die baldigste Beendigung des Krieges wie für die Gestaltung des Friedens nach dem gemeinsamen Interesse des internationalen Proletariats" einzutreten.19 Auf offene Ohren stießen solche Töne bei der sogenannten "Zimmerwalder Linken" mit Vladimir I. Lenin (1870–1924) an der Spitze, die ihrerseits den Vorläufer der späteren Kommunistischen Internationalen (Komintern) bildete.20
Die sozialistische Bezugnahme auf ein übergeordnetes internationales Prinzip verweist auf eine bestimmte Ausprägung des Internationalismus, nämlich einen Internationalismus, dessen Aktivisten eine auf gemeinsamen Interessen und Identitäten gegründete Sache international verfochten. Ein solcher Aktivismus konnte die bestehenden Machtverhältnisse herausfordern, so etwa einige Teile der Frauenbewegung, deren Internationalismus in Vorstellungen einer länderübergreifenden Schwesternschaft wurzelte und aus deren Reihen auch vielfältige Beiträge zum internationalen Denken entstammten.21 In der Zwischenkriegszeit bemühten sich Frauenorganisationen um mehr globale Reichweite, doch blieben diese Anstrengungen erkennbar von national und kulturell geprägten Blickwinkeln und Grundannahmen geprägt.22 An solchen Einschränkungen zeigt sich abermals die Ambivalenz des Internationalismus: Er erwies sich als durchaus vereinbar mit dem Imperialismus und mit Vorstellungen kultureller Überlegenheit und konnte somit auch der Ungleichheit Vorschub leisten.23 Doch ebenso konnten internationalistische Ideen politische oder kulturelle Herrschaft in Frage stellen. So hat man den Panafrikanismus mitunter als "schwarzen Internationalismus" gedeutet; zudem haben manche Protagonisten des Internationalismus einen grundsätzlichen Zusammenhang diverser Freiheitskämpfe betont.24
Während die vorhergehenden Beispiele sich auf politische Bewegungen oder Handlungsgemeinschaften beziehen, stieß der Gedanke des Internationalismus auch in Wissenschaft und Kunst auf Resonanz. So erschien manchen ein Zusammenhang zwischen Forschung, Fortschritt und internationaler Zusammenarbeit als ausgemacht. Beispielsweise betrachtete Irène Joliot-Curie (1897–1956), die 1935 den Nobelpreis für Chemie erhielt, "ihre pazifistischen Ideale als untrennbar mit ihrer humanistischen Erziehung sowie mit ihrer Verantwortung als Wissenschaftlerin verwoben".25 Manche Künstlerinnen und Künstler wiederum behaupteten einen Vorrang ästhetischer Prinzipien vor nationalen Grenzen. In einem solchen Diskurs ließen sich zumal bildende und andere nicht-verbale Künste als "Universalsprache" begreifen.26 Es liegt auf der Hand, dass solche Ansprüche kritisch hinterfragt werden müssen, blieben viele künstlerische Bewegungen doch von nationalen Kontexten geprägt oder wurden gar als nationale "Schulen" rezipiert. Zudem vertrugen sich solche Bekenntnisse zu transnationalen Prinzipien in Kunst und Wissenschaft schlecht mit der im Krieg ausgerufenen "geistigen Mobilmachung".27
Ungeachtet seiner mannigfaltigen Widersprüche beriefen sich vielfältige Gruppen, Gemeinschaften und Einzelpersonen auf den Internationalismus und machten sich daran, ihn in die Tat umzusetzen. Dies blieb auch den Zeitgenossen nicht verborgen. Im 19. wie im frühen 20. Jahrhundert gingen zahlreiche Beobachter davon aus, dass der "Internationalismus" schon Wirklichkeit geworden sei oder sich auf dem Weg dorthin befinde. So lenkt etwa eine 1868 von Francis Lieber publizierte Abhandlung den Blick auf eine Zunahme internationaler Normen und Vereinbarungen, von "einem einheitlichen Postsystem und Einheit stiftenden Telegraphen" bis hin zu "einem internationalen Urheberrecht" sowie einer "immer umfassenderen Übereinkunft in Maßen, Gewichten, Münzen und Signalen auf hoher See, sowie einem einheitlichen Finanzwesen". Aufgeführt wurden in der Studie ferner "ein einheitliches Völkerreicht, selbst in Kriegszeiten" sowie einheitliche wissenschaftliche Praktiken, "eine internationale Literatur" und "eine gemeinsame Geschichte der Zivilisation".28
Einige Befürworter des Internationalismus waren nicht nur vom Fortschritt in der internationalen Zusammenarbeit überzeugt, sondern auch davon, dass er dokumentierenswert sei. Die 1910 in Brüssel gegründete Union der Internationalen Verbände (Union of International Associations, UIA) sammelte Informationen zum Wachstum internationaler Organisationen, Kongresse und Abkommen. Anlässlich der Erstausgabe ihrer Zeitschrift La Vie Internationale sprachen die Gründer der UIA von der "Entwicklung der Beziehungen zwischen Menschen" als "dem charakteristischsten Merkmal der gegenwärtigen Zivilisation". Der Internationalismus sei dabei "kein geistiger Begriff, sondern eine Reihe von Wirklichkeiten".29 Die "zusammenläufige Bewegung von Tatsachen, Organisationen und Ideen" gebe Anlass zu Optimismus hinsichtlich des "Kommens einer universellen Zivilisation".30 An solchen Aussagen wird deutlich, wie der Internationalismus die Gestalt einer teleologischen Erzählung annehmen konnte, in der eine immer engere globale Integration vorausgesetzt wurde.
Internationalismus als Praxis
Wenn der Internationalismus – zumindest in den Augen einiger Beobachter – sich wie eine im Wachsen begriffene Realität ausnahm, so beruhten solche Wahrnehmungen auf ganz spezifischen Handlungen. Eine solche internationalistische Handlung war bereits die bloße Dokumentation internationalistischer Tätigkeiten. Doch auch andere Aktivitäten erhielten viel Aufmerksamkeit, weshalb es bei der Erforschung des Internationalismus sinnvoll ist, nicht bei den Ideen stehenzubleiben. Dies gilt beispielsweise in Hinblick auf die These, dass der sozialistische Internationalismus eher als "auf konkrete Fragen der internationalen Politik fokussierte Praxis" denn im rein ideologischen Sinne zu verstehen sei.31 Ein praxiszentrierter Ansatz liegt auch der Forschung zum "kulturellen Internationalismus" zugrunde – der "Vorstellung, dass der Internationalismus am ehesten durch länderübergreifende kulturelle Kommunikation, Kooperation und gegenseitiges Verständnis befördert werden" könne.32 Zu den wesentlichen Bestandteilen des kulturellen Internationalismus gehörten Bildungsmaßnahmen ebenso wie Ausdruck und Pflege bestimmter Gefühlsregungen: Verschiedene Vertreter des Internationalismus "gaben ihren Gefühlen freie Bahn und gingen ihnen hartnäckig nach, weil sie in ihnen einen Kernaspekt ihrer Arbeit sahen".33
Unter den vielfältigen mit dem Internationalismus verbundenen Praktiken spielten internationale Konferenzen und Kongresse eine besonders wichtige Rolle. Obwohl die Datenlage zu internationalen Kongressen in mancherlei Hinsicht zu wünschen übrig lässt, so kann für das 19. und 20. Jahrhundert ein deutlicher Anstieg solcher Veranstaltungen ausgemacht werden.34 Die Folgen waren vielfältiger Art: Auf der persönlichen Ebene gaben sie den Teilnehmern Gelegenheit zur Pflege von Freundschaften (oder Feindschaften), auf der eher formellen Ebene wurden Beschlüsse verabschiedet und Gremien begründet, die die derart in die Wege geleiteten Aktivitäten auf Dauer stellen sollten.
Es steht außer Frage, dass internationale Konferenzen und Kongresse transnationale Begegnungen beförderten. Doch wie schon die Idee des Internationalismus bedeutete auch die Praxis der Zusammenkunft in Kongressen noch längst keine Preisgabe nationaler Kategorien. Die Teilnahme beruhte oft auf dem Prinzip der Ländervertretung, wobei Delegierte Organisationen ihres Herkunftslandes vertraten. Nationale Unterscheidungen wurden im Rahmen der Kongresse schon durch die Beflaggung sinnfällig und blieben auch sonst erkennbar. Die Forschung zum Internationalismus verweist folglich auf "das Nebeneinander nationaler Symbole, insbesondere Flaggen und traditioneller Trachten, bei internationalen Feierlichkeiten".35 Bei allen Solidaritätserklärungen taten sich viele Sozialisten wiederum schwer, sich von ihren jeweiligen nationalen Kontexten und den damit verbundenen Interessen zu lösen.36 In zahlreichen internationalen Veranstaltungen rangen nationale Delegationen um die Kontrolle über die Tagesordnung. Mit dieser Beobachtung stehen umfassendere Fragen zu Inklusion und Exklusion im Raum. Bei Kongressen und ähnlichen Veranstaltungen waren Teilnehmer aus manchen Ländern tendenziell im Vorteil, während subalterne Stimmen marginalisiert wurden.
Diese scheinbar widersprüchlichen Merkmale des Internationalismus traten in Weltausstellungen besonders deutlich hervor. Sicherlich dienten diese Großereignisse der Zurschaustellung nationalen Fortschritts und imperialen Selbstbewusstseins auf der Grundlage friedlicher Konkurrenz
. Zugleich boten Weltausstellungen Gelegenheiten zu internationalem Dialog, indem sie Besucher aus dem Ausland anzogen und einen Rahmen für internationale Kongresse gaben. So hat etwa eine Analyse der Kongressaktivitäten im Zusammenhang mit den Weltausstellungen von Paris (1889 und 1900) und Brüssel (1910) "bestätigt, dass Weltausstellungen die Aktivitäten internationaler Organisationen entscheidend mitstrukturiert haben".37 Während Weltausstellungen ein besonders prominentes Beispiel abgeben, konnten auch Veranstaltungen in viel kleinerem Maßstab eine dem Internationalismus förderliche Wirkung entfalten. So war beispielsweise der Kunstmarkt international geprägt; Kunstwerke wurden über Ländergrenzen hinweg gehandelt. Einige Kunstausstellungen sahen ganz bewusst von nationalen Kategorien ab und betonten stattdessen gemeinsame ästhetische Leitlinien oder verorteten künstlerische Bewegungen in internationalen Zusammenhängen.38
Die Rede vom Internationalismus in der Kunst verweist auf einen umfassenderen Aspekt: Als Ensemble von Praktiken kam den Internationalismus auch eine symbolische Dimension zu. Internationale Kongresse folgten einer sich herausbildenden Choreographie, zu der etwa der Wechsel formeller und geselliger Programmpunkte gehörte, ebenso wie feste rhetorische Elemente, etwa die Beschwörung internationaler Bruderschaft. Solche Elemente erwiesen sich als überaus langlebig, wie beispielsweise anhand der erstmals 1947 abgehaltenen Weltjugendspiele zu sehen ist. Diese standen (und stehen) unter der Ägide des kommunistisch ausgerichteten Weltbundes der Demokratischen Jugend; ins Leben gerufen wurden sie "als internationales Projekt mit der Idee, allen jungen Menschen ein internationales Forum zu bieten, um globale und lokale gesellschaftliche Probleme gemeinsam zu diskutieren".39 Zwar hat man diese Aktivitäten oft im Rahmen der Politik des kalten Krieges verstanden,40 doch ebenso lassen sie sich aus Ausdruck des Internationalismus deuten. So wurden etwa die Weltjugendspiele von 1957 als Aspekt einer unter Chruschtschow in die Wege geleiteten "Wiederbelebung des Internationalismus" betrachtet.41 Die jüngere Forschung hat betont, dass der im Ostblock hochgehaltene Internationalismus keineswegs bei Lippenbekenntnissen stehenblieb, sondern aktiv an der Herstellung eines "Imperiums der Freunde" arbeitete. Dahinter stand der Gedanke, dass die "Bürger der Sowjetunion und Osteuropas nicht nur durch militärische Macht zusammengehalten wurden, sondern auch durch transnationale Kontakte und persönliche Begegnungen".42
Internationalismus als Organisation
Greifbar wurde der Internationalismus aber nicht nur in speziell zu diesem Zweck organisierten Zusammenkünften. Der Internationalismus bot ein Verfahren zur "Ordnung der Welt" und lässt sich deshalb nicht zuletzt durch sein Streben nach Organisation bestimmen.43 Vielen Internationalisten waren Aufbau und Stärkung internationaler Organisationen ein Kernziel, von der Gründung von Verbänden, die die eigene Sache international vertreten sollten, bis hin zur Forderung nach Organisationen, denen eine völkerrechtlich verbriefte Rolle zukommen sollte. Internationale Organisationen konnten mit der Organisation internationaler Gespräche beauftragt werden, etwa wenn es um Angelegenheiten ging, die sich nicht allein auf der nationalen Ebene lösen ließen – etwa in den Bereichen Verkehr, Kommunikation oder Gesundheit.44 Durch eine solche Kooperation, so ein französischer Beobachter 1910, sollten Staaten in die Lage versetzt werden, "jene Dinge besser zu tun, die sich im Einzelnen weniger gut bewältigen ließen, oder gar im Verbund zu erreichen, was alleine unmöglich wäre".45
Es überrascht kaum, dass der Begriff des "Internationalismus" im Nachgang des Ersten Weltkriegs eine besonders lebhafte Konjunktur genoss. Nach einer solchen Katastrophe, einem solchen Ausmaß an Tod und Zerstörung, konnte der Wunsch nach einer internationalen Ordnung nur plausibel sein – eine Stimmung, die sich in der Gründung des Völkerbundes niederschlug. Aus den dem Völkerbund zugrunde liegenden Prinzipien sprach eine Denkströmung, die in der Forschung zu internationalen Beziehungen als "liberaler Internationalismus" bezeichnet wird. Diese Forschung hat darauf verwiesen, dass die damaligen Protagonisten eines "neuen liberalen Internationalismus" eine "internationale Regierung" nicht als festes Gefüge begriffen, sondern vielmehr "als lockere Verknüpfung von Organisationen mit dem gemeinsamen Ziel, eine Zusammenarbeit zur Mehrung menschlicher Wohlfahrt und Freiheit zu ermöglichen und zu lenken".46 Nachdem er 1920 seine Arbeit aufgenommen hatte, bot der Völkerbund eine institutionelle Basis für die Organisation und Verhandlung internationaler Themen. Darin schien er wichtige Forderungen der Internationalisten der Vorkriegszeit zu erfüllen. Als neue internationale Bestrebung stieß der Völkerbund auf beträchtliches Interesse in der Zivilgesellschaft und wurde zu einem wichtigen Bezugspunkt selbst für jene Aktivisten, die sich seiner Unvollkommenheiten bewusst waren und diese kritisierten.47
Betrachten wir die Geschichte des Völkerbundes durch das Prisma des Internationalismus, so können wir über hergebrachte Narrative von Erfolg oder Scheitern hinausgehen und die Institution stattdessen in einen umfänglicheren historischen Kontext einordnen. Die Vereinten Nationen konnten nach 1945 auf den Erfahrungen des Völkerbundes aufbauen, auch wenn sie es mit einem völlig veränderten geopolitischen Kontext zu tun hatten.48 In seiner Einschätzung des noch im Entstehen begriffenen UN-Systems sprach der italienische Politiker Luigi Sturzo (1871–1959) offen über die zugrunde liegende Absicht, "die Fehler der Genfer Vorgängerorganisation auszumerzen und das neue Experiment mit größerer Tatkraft zu versehen". Zugleich betonte er die Schranken, innerhalb derer sich auch die Neuorganisation des Internationalismus weiterhin bewegte. Sturzo zufolge stünden die Architekten der neuen internationalen Strukturen "ihren Vorläufern in nichts nach, wenn es darum geht, die politische Souveränität ihrer eigenen Länder zu wahren und die je eigene Position zu wahren und zu festigen, zulasten eines echten Begriffs von Internationalität".49
In den Augen der Mehrzahl ihrer Unterstützer lag der Sinn des Völkerbundes in der Stärkung der bestehenden Ordnung, nicht in deren Sturz. Ganz andere Absichten verfolgte hingegen eine weitere nach dem Ersten Weltkrieg gegründete Organisation, die Komintern. Seit 1919 verschrieb sie sich der Sache der Weltrevolution, auch wenn ihr Handeln vor Ort dem vorgeblichen Ziel bisweilen zuwiderlief.50 In den 1930er-Jahren betätigte sich die Komintern bei der Organisation der Internationalen Brigaden und stützte damit eine Form internationalistischer Aktion, nämlich des freiwilligen Kampfes aufseiten des republikanischen Spanien. Auch die 1927 auf einem Kongress in Brüssel gegründete Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit (LGI) baute auf finanzielle und logistische Unterstützung von kommunistischer Seite. Die Organisation sah sich im erklärten Widerspruch zum Völkerbund, den sie als "Liga der Imperialisten" diffamierte. Indem sie nicht kommunistische Akteure zunehmend an den Rand drängte, brachte die LGI sich bald um einen Teil der eigenen Basis. Doch in den ersten Jahren ihres Bestehens versammelte sich unter ihrem Banner ein bemerkenswert breites Spektrum von Aktivisten im Kampf gegen die Kolonialherrschaft.51
Nach 1945 fand der internationalistische Organisationsdrang unterschiedliche Betätigungsfelder.52 Die Länder im sowjetischen Einflussbereich taten sich weiterhin zu internationalen Organisationen wie dem Kominform (1947–1956). Zwar hat man dieses "Kommunistische Informationsbüro" als "kläglichen Nachfolger der aufgelösten Komintern" abgetan, doch kam es in der post-stalinistischen Ära zu verstärkten Versuchen, das Prinzip internationalistischer Überzeugung auch durch verschiedene Bestrebungen auf offizieller oder semioffizieller Ebene zu untermauern. Unter den doppelten Vorzeichen von Kaltem Krieg und Dekolonisation waren diese nicht zuletzt an den Globalen Süden gerichtet: "Der Sowjetstaat trat vor der Dritten Welt nun als Vorbild eines nicht westlichen Entwicklungsmodells auf und gerierte sich als altruistischer Helfer."53 In den 1960er-Jahren übernahm das nunmehr kommunistische Kuba eine wichtige Rolle in neuen internationalistischen Netzwerken, etwa in der Solidaritätsorganisation der Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas (OSPAAAL) und der Lateinamerikanischen Solidaritätsorganisation (OLAS). Der im Bereich der internationalen Beziehungen forschende Wissenschaftler Fred Halliday (1946–2010) hat die These aufgestellt, dass "OSPAAL und OLAS, darin der Komintern gleich, in ihrem Nachleben eine größere Wirkung entfaltet haben als in ihrer Aktivität als Organisationen".54
Zur Zeit seiner Beteiligung an OSAAL und OLAS wurde Kuba auch zum Brennpunkt linker Sympathien, worin sich ein zunehmendes Interesse an der "Dritten Welt" unter europäischen Aktivisten spiegelte.55 Der Internationalismus einer neuen Generation jüngerer Aktivisten suchte sich immer weniger institutionelle Bahnen. Besondern mit der Niederschlagung des Aufstands in Ungarn (1956) und des Prager Frühlings (1968)
hatte ein sowjetisch dominierter Internationalismus an Attraktivität verloren. Zwar versammelten sich einige trotzkistische Gruppen im Westen unter dem Banner einer "Vierten Internationalen", doch vielen Protagonisten der Neuen Linken ging es weniger um den Aufbau formeller internationaler Organisationen. So spiegelte sich etwa in einer Großversammlung von Aktivisten wie dem Vietnamkongress an der (West-)Berliner Technischen Universität im Februar 1968
der Internationalismus der Antikriegsbewegung, doch nahm diese Opposition keine institutionelle Gestalt an. In dieser Zeit zeigten sich mehrfach die Spannungen zwischen dem kommunistischen Internationalismus älterer Prägung und dem Internationalismus der Neuen Linken, so etwa anlässlich der Weltjugendspiele von 1968 in Sofia. Dort kam es zu offenen Konfrontationen zwischen radikalen Studenten aus der BRD und kommunistischen Jugendfunktionären, in denen "gegensätzliche Auffassungen von Begriffen wie Solidarität, global und Internationalismus zum Vorschein kamen".56
Als Streben nach Ordnung trat der Internationalismus in den 1970er-Jahren in mehrerlei Gestalt auf. Einerseits engagierten sich zahlreiche Nichtregierungsorganisationen (NROs) für humanitäre Hilfe, Menschenrechte und Umweltschutz und setzten dabei auf eine Weltordnung, in der Nationalstaaten und die Vereinten Nationen NROs als Vertreter einer Weltbürgergesellschaft anerkennen würden.57 Das Erstarken des Menschenrechtsdiskurses in den 1970er-Jahren ist in diesem Zusammenhang gar als neues Prinzip der Weltorganisation gedeutet worden – eine "letzte Utopie", nachdem sich sozialistische und postkoloniale Utopien zerstoben hatten.58 Solche Bestrebungen konnten sich durchaus noch in institutionellen Bahnen bewegen, so beispielhaft in den Interaktionen zwischen Dissidenten aus Ost- und Mitteleuropa und dem in Gestalt der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) geschaffenen institutionellen Bezugspunkt.59 Doch ebenso typisch für die Lage in den 1970er- und 1980er-Jahren waren kurzlebigere, auf internationale Solidarität gegründete Koalitionen. So lassen sich etwa die europäischen Proteste gegen die Diktatur in Chile unter Augusto Pinochet (1915–2006) in den 1970er- und 80er-Jahren oder die Unterstützungsnetzwerke für Nicaragua in den 1980er-Jahren als Ausdrucksformen eines breiteren, auf einer Politik der Solidarität gegründeten Internationalismus verstehen.60
Nach dem Ende des Kalten Krieges erstarkte die auf "Organisation und Ordnung" setzende Strömung des Internationalismus, wofür es im Wesentlichen zwei Gründe gab. Zum einen waren es die humanitären Katastrophen im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda, in deren Gefolge die Sprache des Internationalismus in Debatten über humanitäre Interventionen Einzug hielt.61 Zum anderen gaben die Auswirkungen der Globalisierung Anstoß zu neuen Debatten. Dabei ging es entweder um eine Stärkung bestehender internationaler Organisationen, etwa um künftige Wirtschaftskrisen von der Art der Finanzkrise von 2008 abzuwenden, oder aber um die Schaffung einer völlig neuartigen, auf globalem Recht beruhenden internationalen Ordnung, wie sie seit 2001 im Weltsozialforum vorgetragen werden. Solche Initiativen sind als Äußerungen eines "komplexen Internationalismus" gedeutet worden.62
Orte des Internationalismus
Aus den Zusammenkünften in Kongressen sowie der Gründung von Organisationen mit tatsächlichen oder ideellen Hauptsitzen folgte, dass sich der Internationalismus mit bestimmten Orten verband. Eine quantitative Analyse von Kongressorten von 1840 bis 1960 hat deren äußerst "ungleiche Verteilung" nachgewiesen und gezeigt, dass "bestimmte Städte […] rasch zu veritablen Polen des Internationalismus wurden". Doch aus denselben Daten geht auch eine "Diversifizierung der Konferenzorte" im Lauf der Zeit hervor.63 Kurzum, der Internationalismus war in verschiedenen Orten anzutreffen: Er hatte bestimmte Schwerpunkte, ließ sich aber selten zentralisieren. Es lohnt sich deshalb, einen Blick auf die Orte und Räume des Internationalismus zu werfen.64
Der Internationalismus ermöglicht uns einen Zugang zur internationalen Geschichte, der den Fokus von der Politik der "Großmächte" ablenkt. Beispielsweise waren ab dem späten 19. Jahrhundert kleinere westeuropäische Länder wichtige Orte des Internationalismus.65 Schon vor der Gründung des Völkerbundes in Genf spielte die Schweiz eine wichtige Rolle: In Basel und Bern siedelten sich internationale Organisationen an, während Zürich zu einem Brennpunkt der Emigration und des damit verbundenen Aktivismus wurde. Schon lange bevor sich Europäische Kommission und NATO dort etablierten, war die belgische Hauptstadt Brüssel ein wichtiger internationaler Kongressort. Den Haag in den Niederlanden wurde mit der Friedenskonferenz von 1899 und der darauffolgenden Einrichtung eines ständigen Schiedsgerichts gleichbedeutend mit internationaler Gerichtsbarkeit.66
Die neuere Forschung zum europäischen Internationalismus hat indessen den Blick über Westeuropa hinaus gerichtet und damit den Fokus beispielsweise auf Polen und die Tschechoslowakei gelenkt, vom internationalen Engagement auf dem Gebiet der Medizin und Gesundheitsvorsorge in der Zwischenkriegszeit bis zur Rolle Prags als Hauptquartier verschiedener internationalen Organisationen während des Kalten Krieges.67 So konnte der Internationalismus Protagonisten aus Ost- und Mitteleuropa auch dabei helfen, ihre Rolle in einer sich im Wandel befindenden internationalen Ordnung zu definieren. Auch die Beteiligung an scheinbar eher abwegigen internationalistischen Unternehmungen konnte dabei von Bedeutung sein. Das Engagement Ungarns, Polens und der Tschechoslowakei an der Union Internationale des Associations d'Alpinisme, einer internationalen Bergsteigerorganisation, konnte etwa darauf hindeuten, inwiefern der "ostmitteleuropäische Internationalismus eine Antwort auf die Auflösung des Habsburgerreiches" darstellen mochte.68 In anderer Hinsicht stellen neue Muster des Internationalismus in den 1960er-Jahren eine Aufforderung dar, andere Länder in die breitere Geschichte von "1968" hineinzuschreiben. Ein Beispiel hierfür ist Griechenland, wo sich unter der Militärregierung ein Teil der linken Jugend mit Studentenbewegungen in Westeuropa verbündete und die eigenen Erfahrungen zu antiimperialistischen Kämpfen in anderen Erdteilen in Beziehung setzte.69
Auch in anderer Beziehung sind Fragen von Zentrum und Peripherie von Belang. In seiner institutionellen Ausprägung gründete der Internationalismus meist auf dem Prinzip der nationalen Repräsentation und ließ damit Bevölkerungen außen vor, die unter kolonialen und anderen imperialen Herrschaftsverhältnissen lebten. Doch auch hier konnte der Internationalismus dabei helfen, eine Stimme zu finden. So untermauerten etwa lateinamerikanische Staaten auf dem Weg über internationale Organisationen ihren Anspruch auf Zivilisation und Handlungsmacht.70 Zudem kam im Zuge der Dekolonisation neuen Orten eine internationalistische Bedeutung zu – so etwa Bandung im Gefolge der Konferenz von 1955 als Ort asiatisch-afrikanischer Solidarität oder Algier nach dem algerischen Unabhängigkeitskrieg (1954–1962) als Schnittpunkt verschiedener Freiheitskämpfe.71 Die "Dritte Welt", als internationales Projekt begriffen, bot Gelegenheiten zu neuen überstaatlichen Bündnissen und neuen Raumbegriffen, in denen beispielsweise lateinamerikanische Perspektiven zu asiatisch-afrikanischen Solidaritäten in Bezug gesetzt wurden.72
Nach 1945 begannen sich auch die organisatorischen Gestalten des Internationalismus unter dem Eindruck globaler Dynamiken zu verändern. Dieser Prozess verlief in gewisser Hinsicht langsam. So geht aus der Auswertung der internationalen Kongressdaten durch die UIA hervor, dass noch in den 1950er Jahren 78 % der einschlägigen Veranstaltungen in Europa stattfanden.73 Doch zwischen 1951 und 2011 ging der europäische Anteil an den Sekretariaten oder Hauptsitzen internationaler Organisationen von 82 auf 58,9 % zurück.74 Solche Veränderungen sind im Zusammenhang mit umfassenderen geopolitischen Verschiebungen und deren Auswirkungen auf die Tätigkeit internationaler Nichtregierungsorganisationen (INROs) zu betrachten: "Die aus Kaltem Krieg und Dekolonisation hervorgegangenen Grenzziehungen bildeten ihrerseits den Hintergrund für das Entstehen einer neuen Generation von INROs, die eine breitere geographische Streuung als zuvor aufwiesen".75 Zugleich haben INROs und zwischenstaatliche, auf Regierungsebene operierende Organisationen in der so genannten "globalen Transformation seit den 1970er-Jahren" eine bedeutende Rolle gespielt.76
Ein vielseitiges Phänomen
Wie dieser Artikel zu zeigen versucht hat, definierte sich der Internationalismus durch seine breite Unterstützung für das Prinzip internationaler Kooperation, wie es sich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Tätigkeitsfeldern äußerte. Wenn diese Formulierung ein wenig im Ungefähren bleibt, dann aus gutem Grund: Es fanden sich kaum je zwei Akteure, die sich auf eine präzisere Definition des Internationalismus hätten einigen können. Manche Internationalisten maßen dem Begriff eine normative Bedeutung bei, indem sie bestimmte Ideen und Regeln in den Mittelpunkt stellten. Andere dagegen vertraten eine viel breitere Auffassung des Internationalismus und suchten daraus keine allgemein verbindlichen Normen abzuleiten. Es scheint deshalb geboten, den Internationalismus als eine Sammlung von Werkzeugen und Mechanismen zu betrachten, derer sich vielfältige Akteure bedienen konnten. Aus dieser Perspektive wird auch deutlich, dass der Internationalismus nicht Sache allein liberaler oder sozialistischer Akteure war.77 Während beispielsweise die römisch-katholische Kirche seit jeher ihren Universalismus behauptet, kam im 19. und 20. Jahrhundert auch ein katholischer Internationalismus auf, der zu einem Teil auf der Initiative von Laien gründete.78
Bemerkenswert ist, dass Formen des Internationalismus auch von der extremen Rechten gebraucht wurden. Obschon der Ultranationalismus der faschistischen Bewegungen im Widerspruch zu den Werten internationaler Zusammenarbeit zu stehen scheint, erwiesen sich die Mechanismen des Internationalismus dennoch als nützlich. So nahm das faschistische Italien vor der Abessinien-Krise lebhaften Anteil am Völkerbund, insbesondere an dessen Kulturpolitik. Auch Nazideutschland verstand es, bestimmte internationalistische Praktiken zu nutzen, etwa durch aktive Beteiligung an internationalen Kongressen. Praktiken, die um eine Sprache der Kooperation herum aufgebaut worden waren, ließen sich somit auch einem Programm der Machtentfaltung dienstbar machen. Zwar gibt der Internationalismus der extremen Rechten ein besonders drastisches Beispiel ab, doch kann er dazu anregen, den problematischeren Aspekten scheinbar "gutartiger" Internationalismen nachzuspüren.79
Begreift man ihn als zutiefst wandelbares Phänomen, so hört der Internationalismus auf, eine periphere Erscheinung zu sein. Vielmehr hat die neuere Forschung "die historische Relevanz des Internationalismus für die neuzeitliche Geschichte von Nationalismus, Imperialismus und Globalisierung" herauszuarbeiten versucht und dabei "deren thematische Bedeutung als Kernideologien und -praktiken des 20. Jahrhunderts" sichtbar zu machen.80 Die Geschichtsschreibung hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten verstärkt dem Internationalismus zugewandt, parallel zu einem erstarkenden Interesse an globalen und transnationalen Ansätzen in der Geschichtsschreibung.81 Hier liegt freilich kein Zufall vor, denn der Internationalismus konnte, selbst wo er nationalstaatlichen Vorstellen verhaftet blieb, zu transnationalem und globalem Austausch anregen. Heute, da internationale Normen und globale Prozesse Gegenstand intensiv geführter Debatten sind, erweist sich die Forschung zum Internationalismus als in mehr als einer Hinsicht hochaktuell.