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Entwicklung eines Forschungsthemas
An der Wende zu den 1990er Jahren begann in Deutschland wie auch in anderen europäischen Ländern ein neuer Topos in die geschichtswissenschaftliche Debatte vorzudringen: Zivilgesellschaft. Die Aufhebung der politischen Teilung Europas 1989 führte ehemals oppositionelle Diskurse zur Zivilgesellschaft im östlichen Teil mit neuen Ansätzen politisch-theoretischer Grundsatzdiskussion in Westeuropa zusammen und eröffnete ein neues Feld des politischen und wissenschaftlichen Diskurses. Seit dem Ende der 1990er Jahre begannen zahlreiche Qualifikationsarbeiten und weitere Veröffentlichungen das Thema in breitem Umfang für die historische Forschung zu erschließen.1 Auch der Deutsche Historikertag 2002 griff das Thema in einer Sektion auf.2
Das Konzept und Thema Zivilgesellschaft hat damit in der deutschen Geschichtswissenschaft an Ausstrahlung gewonnen, die insbesondere von Berliner Forschungseinrichtungen ausging.3 Dies verweist auf die Vielschichtigkeit der Gründe und Antriebskräfte, die zumeist neben den innerwissenschaftlichen Faktoren die Etablierung eines neuen Forschungsthemas begünstigen. In Berlin zeigten sich der politische Umbruch des gesamten europäischen Kontinents 1989 und dessen Folgen für die Umgestaltung der Wissenschaft, ihrer Institutionen und Themen besonders deutlich.4 Das Bewusstsein, in der Mitte Europas das Ende einer geographischen Spaltung des Kontinents zu erleben, die seit 1917 zugleich eine zutiefst politisch-ideologische gewesen war, verstärkte das Bedürfnis nach einem neuen wissenschaftlichen Konzept, das auch in sprachlicher Hinsicht durch eine Wortneuschöpfung den Umbruch und Epochenwechsel zu erfassen vermochte. Der Neologismus "Zivilgesellschaft" in der politischen Sprache verweist gerade auf die politischen Ursprünge und Intentionen dieser Neuprägung, die später ihren Weg in die deutsche Wissenschaftssprache nahm. Die Neuschöpfung "Zivilgesellschaft" und die entsprechenden Begriffe in der Sprache der ost- und mitteleuropäischen Opposition5 bezogen Position gegen das bestehende und verkrustete politische System, für individuelle Freiheit und politische Selbstbestimmung gegen staatliche Unterdrückung und Gängelung. In diesem politischen Kampf, der mit der Besetzung der politischen Semantik durch eine außer- und antistaatliche Bewegung geführt wurde, waren die klassischen Konzepte der westeuropäischen politischen Begrifflichkeit, vor allem das englische "civil society", nicht nur zentraler ideengeschichtlicher und politischer Bezugspunkt, sondern wohl auch Ausgangspunkt6 eines politischen Ideentransfers für den Kampf um Freiheit.
Dieser politische Impetus und sein Erfolg in der Vorbereitung und Durchsetzung der Revolution von 1989 war die maßgebliche politische Voraussetzung für die Akzeptanz von "Zivilgesellschaft" als wissenschaftlichem Terminus insgesamt. Hier konnte auch bei innerwissenschaftlichen Faktoren im Fach Geschichte angesetzt werden: Die Rezeption des Begriffs "Zivilgesellschaft" war in jenen Teilen der Geschichtswissenschaft begünstigt, die von ihren theoretischen Grundlagen her die Zusammenarbeit mit den systematisch angelegten Nachbardisziplinen betrieben und dazu Grundlagen, z. B. im Rahmen von Projekten zur Geschichte des Bürgertums, gelegt hatten. Es waren also vor allem Vertreter der "historischen Sozialwissenschaft", die im Zuge methodischer Gewichtsverschiebungen der Geschichtswissenschaft die Möglichkeit ergriffen, ihre Begrifflichkeit und Fragestellungen auf neue, erweiterte Gegenstände zu richten. In der Auseinandersetzung mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen des linguistic turn eröffnete die Untersuchung von Zivilgesellschaft nochmals die Chance, Strukturen und Prozesse gesellschaftlichen Wandels unter neuer, besonderer Berücksichtigung der Akteure zu erforschen. Angesichts der eminent politischen Rolle, die Akteure der Zivilgesellschaft, insbesondere oppositionelle Bürgerrechtsgruppen in Mittel- und Osteuropa, im Umbruch von 1989 gespielt hatten, war ihre Herausstellung in besonderer Weise sowohl evident als auch aktuell. Schließlich war Zivilgesellschaft ein genuin europäisches Thema, das in Anbetracht des revolutionären Umbruchs, des Endes der Blockkonfrontation und der wissenschaftlichen Öffnung Osteuropas erstmals die Chance eines gesamteuropäischen Gesellschaftsvergleichs ohne die Befangenheit in ideologischen Lagern bot.
Begriff und Konzept
Das Wort "Zivilgesellschaft" steht in Zusammenhang mit älteren Begriffen der politischen Theorie wie "societas civilis", "société civile" und "civil society". Insbesondere das englische Konzept der civil society erfuhr in der Phase der Aufklärung eine Ausgestaltung und Verdichtung, die bis in die heutige Diskussion um Zivilgesellschaft hinein konzeptionell prägend geblieben sind. Die Vorstellung von einem fortschreitenden Prozess der Zivilisierung durch Arbeit und wirtschaftliche Tüchtigkeit, durch Bildung und Kultur sowie die Überwindung althergebrachter Beschränkungen durch Status und Geburt gehören ebenso zum Kern von civil society wie die Überzeugung von der zivilisierenden Wirkung der freiwilligen Gesellung in Assoziationen.
Verwendet man "Zivilgesellschaft" als analytischen Begriff, teilt er mit anderen, nicht epochenbezogenen Begriffen der Geschichtswissenschaft, die einen theoretischen Erklärungsanspruch verfolgen wie z.B. "Gesellschaft", "Bürgertum" oder "Öffentlichkeit", die Last der Vieldeutigkeit. Im Fall des Begriffs "Zivilgesellschaft" stellt sich dieses Problem aus zwei Gründen in zugespitzter Weise. Zum einen ist "Zivilgesellschaft", verglichen z.B. mit "civil society", ein recht junger Neologismus der deutschen Sprache. Zum anderen – und dieser Punkt ist besonders wichtig – wurde er unmittelbar entlehnt aus dem internationalen Gebrauch als politischer Kampfbegriff, und zwar auf mehreren Ebenen. Zunächst eng mit den antidiktatorischen Bewegungen und Transformationsprozessen in Osteuropa, Lateinamerika und auf der iberischen Halbinsel verbunden, gewann das Konzept auch bei der Beschreibung problematischer Entwicklungen in westlichen Gesellschaften und als richtunggebendes Ideal möglicher und wünschenswerter Wege aus den hochkomplexen Krisenlagen "postmoderner" Gesellschaften an Attraktivität. Angesichts von Individualisierung und Wertepluralisierung, der Dauerkrise des klassischen Wohlfahrtsstaats, der Glaubwürdigkeitsprobleme herkömmlicher Formen politischer Partizipation und Repräsentation sowie der Herausforderungen einer globalisierten Marktwirtschaft wird ein normativ verstandenes Konzept von Zivilgesellschaft nicht nur von politischen Akteuren, sondern auch von den meisten wissenschaftlichen Autoren als ein Entwurf aufgefasst, der die Ordnung einer guten oder doch einer besseren Gesellschaft verkörpert. Dieser genuin normative Anspruch, der aus dem politischen Raum kommt, ist bei der Übertragung in die wissenschaftliche Sprache nicht aufgegeben worden und prägt auch hier die Begrifflichkeit. Daraus erwächst die spezifische Ambivalenz des Konzepts Zivilgesellschaft, einerseits als Instrument der Gesellschaftsanalyse, andererseits als normatives Ideal.
Aus dieser Ambivalenz ergaben sich bei der Einführung des Konzepts in die geschichtswissenschaftliche Debatte besondere begriffliche und definitorische Anforderungen. Sie greifen vielfach auf vorgefundene Konzeptbildungen anderer Disziplinen zurück, insbesondere aus den Sozialwissenschaften, und spiegeln deren Terminologie. Dabei lassen sich drei Zugänge unterscheiden:
1. Bereichsbezogene Definitionen: Sie verstehen Zivilgesellschaft als einen Raum sozialen Handelns, der zwischen dem Staat, der Wirtschaft und dem privaten Bereich – vielfach Familie genannt – angesiedelt ist. Dieser Zwischen-Raum, bisweilen auch "Dritter Sektor" genannt,7 ist der Ort, an dem freie Assoziationen in besonderer Verdichtung und Intensität das soziale und politische Handeln prägen. Er zeichnet sich durch ein besonders hohes Maß an gesellschaftlicher Selbstorganisation aus, in dem soziale Bewegungen und Nicht-Regierungsorganisationen agieren.8 In diesem Konzept wird der Staat zumeist als eine räumlich-institutionelle Sphäre interpretiert, die von der Zivilgesellschaft getrennt, ja, dieser sogar entgegengesetzt ist.9
2. Handlungsbezogene Definitionen: In der demokratietheoretischen und historischen Literatur werden vielfach Konzepte der Zivilgesellschaft verwendet, die normative Grundannahmen über die Qualität sozialen Handelns bzw. eines gesellschaftlichen Zusammenhangs zugrunde legen. Sie zielen auf positive Beiträge der Zivilgesellschaft für die Durchsetzung und Stabilisierung von Demokratie sowie auf Zivilgesellschaft als Ort der Einübung demokratischer Lernprozesse und Steuerungszentrum demokratischer Selbstregierung ab.10
An diese gegenwartsbezogene politikwissenschaftliche Lesart schließen historische Studien an und formulieren vielfach einen Kanon von sogenannten "zivilen" Handlungsweisen oder Tugenden. Dieser knüpft häufig an historische, reale Forderungen (bzw. Verhaltensgebote) zivilgesellschaftlicher Akteure an, verdichtet diese aber zu einem System von Werthaltungen, die überzeitliche Qualität und Geschlossenheit aufweisen. Dieser Kanon von Werthaltungen und Verhaltensmodi ist konstitutiv für den Nachweis von Zivilität im Sinne von Zivilgesellschaftlichkeit in der Geschichte.
3. Kombinationen bereichs- und handlungsbezogener Definitionen: Neuere Ansätze aus der Sozialwissenschaft verbinden die auf einen bestimmten sozialen Raum bezogene Definition von Zivilgesellschaft mit normativen Kriterien bzw. Verhaltensmodi. Zivilgesellschaft wird als ein Bereich zwischen Privatsphäre und Staat verstanden, in dem ein "normativer Minimalkonsens" existiert, der in Toleranz, Fairness und Gewaltlosigkeit besteht.11 Dieser Ansatz ist gerade in der Geschichtswissenschaft von jenen aufgegriffen worden, die traditionelle Perspektiven der historischen Sozialwissenschaft um handlungsbezogene Ansätze und die Analyse von Akteuren erweitern. Dabei werden aus historischer Perspektive Idealtypen zivilgesellschaftlicher Interaktionsmodi in ihrer Verbindung mit räumlichen Bereichen der Interaktion entwickelt. Zivilgesellschaft ist danach doppelt definiert: zum einen als spezifischer Typus sozialen Handelns,12 der sich von anderen Handlungsmodi, z.B. des Kampfes und Krieges, des Tausches oder Marktes, der hierarchischen Herrschaft und des privaten Lebens, unterscheidet. Zum anderen ist Zivilgesellschaft jener soziale Bereich, der zwischen Staat, Wirtschaft und dem privaten Bereich der Familie zu verorten ist und sich durch ein besonders hohes Maß an gesellschaftlicher Selbstorganisation auszeichnet.
Forschungs- und Anwendungsbereiche
Das Interesse an Zivilgesellschaft als Gegenstand historischer Forschung hat seit den 1990er Jahren zu neuen empirischen Studien geführt, deren Schwerpunktsetzungen mit den konzeptionellen Varianten der Zivilgesellschaft zusammenhängen. Die "Beschwörung der Civil Society"13 bedeutet zugleich eine Wiederentdeckung und neue Lektüre der klassischen Texte und anderer Quellen aus der Zeit der Aufklärung, in der die ideellen Ursprünge der civil society / société civile / bürgerlichen Gesellschaft gesucht werden.14 Daran schließt sich die Rekonstruktion zivilgesellschaftlicher Motive in Reformdiskursen des 19. und 20. Jahrhunderts an.15
Parallel dazu gewinnt die Semantik des Wortfeldes "zivil" / "Bürger" / "Bürgerlichkeit" an Bedeutung, insbesondere die vergleichende Semantik bezüglich der Anleihe des deutschen Lehnwortes "Zivilgesellschaft" bei der englischen und französischen Sprache der Politik.16 Ein zweites Feld empirischer Forschung hängt eng mit dem bereichsbezogenen Verständnis von Zivilgesellschaft zusammen und legt einen Schwerpunkt auf das Assoziationswesen zivilgesellschaftlicher Akteure. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie sich Zivilgesellschaft über den Zusammenschluss von Individuen auf lokaler bis nationaler Ebene konstituiert. Bisher kaum erforschte Assoziationsaktivitäten, unter anderem ständische Vertretungen und Adelsvereinigungen17, geraten ebenso in den Blick wie kulturelle Zusammenschlüsse und Zielsetzungen dieser Vereinigungen im lokalen und auch nationalen Zusammenhang.18 Philanthropische Beweggründe und mäzenatische Formen bürgerschaftlichen Engagements stehen im Fokus dieser Studien, die vor allem auf lokaler Ebene neue empirische Befunde erbringen.19
Bei der Ausrichtung auf politische und gesellschaftliche Assoziationen des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts gewinnen religiöse Zusammenhänge und Motivationen größere Bedeutung, als dies in den stark von der Säkularisierungsthese geprägten empirischen Forschungen bis in die 1990er Jahre der Fall war. Insofern trägt die Erforschung der Zivilgesellschaft und zivilgesellschaftlicher Assoziationen zur "Rückkehr der Religion" in die historische Erforschung der Moderne bei.20
Insgesamt überwiegen die neueren empirisch gesättigten Studien zur konstruktiven Wirkung des Assoziationswesens für die Organisation bürgerschaftlichen Engagements und einer zivilgesellschaftlichen Demokratie. Doch fördert die empirische Genauigkeit auch Elemente zutage, die zuvor stärker theoretisch begründet worden waren. Deutlich werden unter anderem die nach außen hin scharf wirkenden Exklusionsmechanismen der nach innen gleichheitlich und selbstbestimmt organisierten Vereinigungen, z.B. der Freimaurerlogen.21 Zudem wird die Kritik untermauert, die aus der Perspektive der gender history an der exklusiv männlichen Konnotation der politischen Öffentlichkeit sowie des Vereinslebens geübt wird. Dies ist auch im internationalen Vergleich herausgearbeitet worden.22 Exklusionsmechanismen auf der Ebene der nationalen Gemeinschaft und damit die Grenzen national verfasster Zivilgesellschaftlichkeit stellen Studien heraus, die zivilgesellschaftliche Ideale der Gleichheit in Bezug auf (Staatbürger-)Rechte und Partizipation zum Maßstab europäischer Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts nehmen.23
Ein wichtiger Beitrag dieser neueren Studien zur Zivilgesellschaft liegt vor allem in zwei Ergebnissen: Sie erschließen zum einen unter dem Leitbegriff "Zivilgesellschaft" neues empirisches Material mit Konzentration auf lokale Gemeinschaften und assoziative Gruppierungen. Insbesondere aber zielen viele dieser Studien zum anderen auf einen Vergleich, der über die klassischen westlichen Ursprungsländer von civil society / société civile / Zivilgesellschaft – England und Frankreich, daneben, mit Abstrichen, Deutschland – hinausgeht. Die historische Erforschung ost- und mitteleuropäischer Gesellschaften im Vergleich zum Westen unter Einschluss der USA hat durch das Forschungsparadigma Zivilgesellschaft Aufschwung genommen.24
Kritik und Grenzen des Ansatzes
Die Einführung der Zivilgesellschaft als wissenschaftliches Paradigma der sozialwissenschaftlichen Forschung hat grundsätzliche Kritik und Kontroversen ausgelöst, die sich in der historiographischen Debatte fortgesetzt und dort eine fachspezifische Zuspitzung erfahren haben. Ein grundsätzlicher Einwand zielt – aus analytischer Warte – auf den überschießenden normativen Gehalt des Konzepts. Niemand hat dies klarer formuliert als der Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998), der über dessen wissenschaftliche Verwendung sagte: "Die heutige Wiederaufnahme dieses Begriffs aufgrund historischer Rekonstruktion hat so deutlich schwärmerische Züge, dass man, wenn man fragt, was dadurch ausgeschlossen wird, die Antwort erhalten wird: die Wirklichkeit".25 Die in dieser Aussage enthaltene Kritik an der semantischen Überdehnung und der damit einhergehenden politischen wie analytischen Entwertung lässt den Politikwissenschaftler Volker Heins (*1957) von einer "Worthülse" sprechen.26
Innerhalb der Geschichtswissenschaft Deutschlands – aber auch Großbritanniens und Frankreichs – verkörpert das theoretische Konzept der Zivilgesellschaft keine Hauptströmung und befindet sich angesichts seiner wissenschaftsgeschichtlichen Verbindung mit der Historischen Sozialwissenschaft auch nicht auf dem Weg dorthin. Die Mehrheit der politikgeschichtlich,27 aber auch der kulturgeschichtlich orientierten Historiographie in Deutschland ignoriert den Ansatz der Zivilgesellschaft – entweder aufgrund grundsätzlicher Skepsis gegenüber der Theoriebezogenheit oder aufgrund der sozialgeschichtlichen Prägung der Historischen Sozialwissenschaft. Zurückhaltung ist teilweise auch innerhalb der Historischen Sozialwissenschaft selbst zu spüren, die neben dem Neologismus "Zivilgesellschaft" an die historiographisch eingeführten, aus den Quellen ableitbaren Begriffen der "bürgerlichen Gesellschaft" und der "Bürgergesellschaft" erinnert.28 Die Kritik wird entschiedener hinsichtlich offenkundiger Blindstellen des theoretischen Konzepts Zivilgesellschaft, das, gefangen in säkularistischen Modernitätsvorstellungen, insbesondere die Rolle der Religion in der Begründung und Praxis zivilgesellschaftlicher Organisationsformen übergangen und unterbewertet habe.29 Parallel dazu erhobene Einwände werden gegen die "geschlechtsblinde", tatsächlich aber implizit männlich dominierte Vorstellung von Öffentlichkeit und Partizipation in der tradierten Theorie zur civil society und Zivilgesellschaft vorgebracht.30
Die grundlegendste Kritik aus historischer Perspektive richtet sich gegen die weitgehende Konzentration auf das Assoziationswesen als Signum und Qualitätsmerkmal von Zivilgesellschaft. Unter Berufung auf die sozialwissenschaftliche Kritik an der von Alexis Charles Henry de Tocqueville (1805–1859) herrührenden Idealisierung des Assoziationswesens31 zeigen eingehende historische Forschungen die Schwäche des bereichsbezogenen Konzepts von Zivilgesellschaft: Eine Studie zur prädiktatorischen Weimarer Republik mit ihrem überaus weitgespannten und lebendigen Vereinsleben beweist die vielfach demokratiegefährdende und hochexklusive Praxis des damaligen Vereinslebens. Das Assoziationswesen ist eben nicht als solches ein Ausweis bürgerschaftlichen Engagements im Dienste einer auf Freiheit, Toleranz und gleicher Partizipation beruhenden – in diesem Sinn zivilgesellschaftlichen – Organisationsform des Gemeinwesens schlechthin.32 Hier spitzen sich die Paradoxien der Zivilgesellschaft, genauer: der Konzepte von Zivilgesellschaft, zu.33
Gleichfalls gegen das bereichsbezogene Modell der Zivilgesellschaft, dessen Aporien und implizit normative Grundannahmen richtet sich Kritik, die sich auf die Abgrenzung der Zivilgesellschaft von Staat und Wirtschaft bezieht. So ist die vielfach politisch propagierte Entgegensetzung der Zivilgesellschaft zum Staat in der historischen Analyse nicht haltbar. Der Staat mit seinen rechtlichen Institutionen war historisch nicht nur Widerpart, sondern vielfach auch Verbündeter und Garant der zivilgesellschaftlichen Forderungen nach Gleichheit und Autonomie bzw. Schutz vor Übermacht.34 Strukturell analog besteht eine Kontroverse in der zivilgesellschaftlichen Forschung darüber, ob die Wirtschaft bzw. der Markt historisch als Teil (John Keane (*1949)) oder Widerpart (Jürgen Kocka (*1941)) der Zivilgesellschaft aufzufassen ist.35 Entsprechende Kritik wird an der Trennung von Familie und Zivilgesellschaft vorgebracht.36
Perspektiven der Forschung
Die Kritik und Kontroversen um das Forschungsparadigma der Zivilgesellschaft zeigen dessen Grenzen in der historischen Forschung. Aber sie eröffnen gerade in der Auseinandersetzung auch Forschungsperspektiven.
Die Kritik an der oftmals impliziten Normativität des Konzepts Zivilgesellschaft legt offen, wie sehr seine Verwendung in der historischen Forschung eine umfassende Historisierung desselben voraussetzt. Das bedeutet zunächst, die Normativität sowohl in bereichs- als auch handlungsbezogenen Konzepten von Zivilgesellschaft offen zu belegen, führt aber zu unterschiedlichen Folgerungen. Während das bereichsbezogene Konzept angesichts seiner Verengung auf Assoziationen zutreffend kritisiert wird, eröffnet das handlungsbezogene Konzept die entgegengesetzte Perspektive: Die offenkundige Normativität der Maßstäbe zivilgesellschaftlichen Handelns als "gutes" Handeln, das auf die Einrichtung einer "guten gesellschaftlichen Ordnung" gerichtet ist, kann gerade zum Gegenstand historischer Untersuchung werden., z.B. in einer Analyse der Disziplinierung und Delegitimierung von Gewalt. Zwei Zugänge bieten sich dabei an: Zum einen werden normative, handlungsleitende Konzepte von Zivilgesellschaft, die von Akteuren der Zivilgesellschaft in ihrer Zeit entwickelt werden (z.B. Toleranz, Gewaltfreiheit, Selbstbestimmung, Gemeinsinn etc.) auf ihre Entwicklungsbedingungen und Wirkungen im historischen Wandel untersucht. Zum anderen kann, umgekehrt, ein normatives Ideal zivilgesellschaftlichen Handelns, zum Maßstab für zivilgesellschaftliches Handeln genommen werden. So können, etwa am Beispiel des in der Sozialtheorie der bürgerlichen Gesellschaft seit Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770–1831) formulierten Ideals der "Anerkennung des anderen" vereinigt mit Werten wie Toleranz, Solidarität und Gegenseitigkeit37, Grundelemente von Zivilgesellschaftlichkeit bzw. Zivilität in einer historischen Längsschnittanalyse an den Diskursen und Handlungspraktiken historischer Akteure auf ihre Realisierung bzw. ihr Scheitern hin überprüft werden. Zivilität als normatives Handlungselement wird damit zum leitenden Paradigma der historischen Erforschung der Zivilgesellschaft.
Für die Forschungspraxis leiten sich daraus zwei thematische Folgerungen ab: Erstens wird die historische Semantik von Zivilgesellschaft, insbesondere Zivilität, als Fundus zivilgesellschaftlicher Konzepte und Handlungsanleitungen eine zentrale Rolle spielen. Diese diskursgeschichtliche Perspektive auf Zivilgesellschaft ist in der bisherigen Forschung kaum eingenommen worden, insbesondere nicht im Hinblick auf transnationale Vergleiche.
Zweitens wird die Frage nach dem Transfer zivilgesellschaftlicher Handlungsnormen in mehrfacher Hinsicht neue Zusammenhänge erhellen: Der Transfer von Normen und Praktiken der Zivilität zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und Trägern einer Gesellschaft ist bisher nur in Ansätzen erforscht.38 Noch mehr gilt dies für die Wege und Wirkungen des transnationalen Transfers und der Verflechtung von Diskursen um Zivilität. Die Rezeption westlicher Diskurse um Zivilgesellschaft, z.B. im (post-)kolonialen Indien39 und in Osteuropa seit den siebziger Jahren,40 vermag in neuer Weise koloniale und kulturelle Machtgefälle innerhalb Europas und im Bezug zu außereuropäischen Kulturen zu erhellen. In der Untersuchung sogenannter "westlicher" und "nicht-westlicher" Diskurse um das Zivile der Zivilgesellschaft zeichnen sich drei Grundlinien ab: Im Hinblick auf die imperiale Geschichte Europas und den hegemonialen Anspruch europäischer politischer Konzepte aus der Kolonialzeit stoßen diese vielfach zum einen an die Grenzen ihrer Akzeptanz und Verwendbarkeit in post-kolonialen Zeiten und Gebieten. Zum zweiten können grundlegende Verschiedenheiten politischer Grundkonzepte westlicher und nicht-westlicher Prägung gerade dort deutlich werden, wo keine kolonialen Beziehungen bestanden. Zum dritten zeigen Studien zur Verflechtungsgeschichte von Begriffen die Veränderung europäischer Konzepte von civil society / Zivilgesellschaft in ihrer Anwendung auf nicht-europäische Kontexte und, umgekehrt, die Rückwirkung dieser veränderten Konzepte auf den europäischen Ursprungskontext.
Gerade wenn man eine Historisierung von Zivilgesellschaft als Paradigma der Forschung fordert, erweist sich dieses in der europäischen Geschichte nach 1989 als weniger überholt denn je. Die zivilgesellschaftlichen Kernforderungen von rechtlich gesicherter Autonomie und gleicher Partizipation an der Entscheidung über das Gemeinwesen sind in der gegenwärtigen europäischen Gesellschaft weitgehender verwirklicht als zur Zeit der Entwicklung des Konzepts civil society während der Aufklärung. Auf der Ebene Europas als politischer Verband spielt sowohl in den Debatten über die Fortschritte wirtschaftlicher und politischer Integration wie über deren Demokratiedefizite das Konzept einer europäischen Zivilgesellschaft eine wachsende Rolle: als Maßstab für die Realisierbarkeit einer integrierten europäischen Gesellschaft, ihrer Organisation und ihres Zusammenhalts.41 Das rechtfertigt nicht die Annahme eines historischen Sieges der Zivilgesellschaft, wohl aber die historische Rekonstruktion der Entwicklungsschritte und -rückschritte dieses gesellschaftlichen Ideals von globaler Ausstrahlung.