Lesen Sie auch den Beitrag "Educating Europeans" in der EHNE.
Wie erschrak die Gouvernante.
Als sie die Gefahr erkannte.
Ängstlich ruft sie: "O mon dieu!
C'est un homme, fermez les yeux!"1
Einleitung
Gouvernanten öffneten Horizonte, sich selbst und ihren Schülerinnen und Schülern. Die englische Komponistin Ethel Smyth (1858–1944) zum Beispiel erinnerte sich in ihren Memoiren, wie wegweisend eine ihrer Hauslehrerinnen für ihre weitere Karriere wirkte:
The whole course of my life was determined … by one of these governesses. When I was twelve a new victim arrived who had studied music at the Leipzig Conservatorium …. For the first time I heard classical music and a new world opened up before me ... And then and there conceived the plan, carried out seven years later, of studying at Leipzig and giving up my life to music.2
Auch auf dem Lebensweg des Dramatikers Arthur Schnitzler (1862–1931) stellte seine deutsche Erzieherin Bertha Lehmann entscheidende Weichen, indem sie ihren Zögling veranlasste, sein Taschengeld in Reclam-Büchlein zu investieren.3
Doch Gouvernanten beförderten nicht nur Künstlerkarrieren, sondern beflügelten auch Dichterphantasien. In den unzähligen Romanen und Erzählungen, in denen Gouvernanten ihren Auftritt hatten, eröffnete sich ein eher schillerndes Bild, das zwischen einem melancholisch-prüden Mauerblümchen und einer bildungshungrigen und abenteuerlustigen Bahnbrecherin changierte. Da viele von ihnen, zumindest seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, aus dem europäischen Ausland kamen, bedeutete ihr Einzug in die Familie häufig den ersten Kontakt mit einer fremden Welt, einer anderen Sprache und Kultur. Je nach Art der Beziehung zu den Erzieherinnen war diese Begegnung mehr oder weniger positiv konnotiert, setzte sich in den Köpfen fest und färbte das Bild der Herkunftsnation der Gouvernante entsprechend ein.
In den Untersuchungen zum Gouvernantenwesen, die vor allem in Großbritannien seit den 1970er Jahren florierten, in Deutschland eine Dekade später einsetzten, dagegen in Frankreich bislang wenig zu finden sind (und damit auch die Verbreitung des Berufs wiederspiegeln), gehen die Einschätzungen zu den Hauslehrerinnen ebenfalls auseinander. Legen die einen den Akzent auf die materielle Not, die schlechte und willkürliche Ausbildung und die prekäre soziale Situation,4 betonen andere und neuere Studien den auch emanzipativen Zug im Lebensweg dieser jungen Frauen, die ihren Zeit- und Geschlechtsgenossinnen neue, selbstbestimmte Wege aufwiesen.5
Dass sie diese Wege nicht nur in fremde Haushalte, sondern auch in fremde Länder führten, sich also Gouvernanten zunehmend auf einem gesamteuropäischen Arbeitsmarkt bewegten, lässt sich vor allem im 19. Jahrhundert beobachten. Anders als die Nannies und Bonnes, die für die Kleinkindererziehung zuständig waren und die sich, ähnlich wie die Dienstmädchen, vornehmlich im engeren regionalen Raum rund um ihren Herkunftsort bewegten,6 zeigten sich die Hauslehrerinnen als hochmobile, zunehmend international agierende Berufsgruppe.
Wie vertrugen sich die weit gereisten Gouvernanten mit dem Frauenideal ihrer Zeit? Warum strebten sie im 19. Jahrhundert immer mehr ins Ausland? Was erwarteten auf der Gegenseite ihre Arbeitgeber von den Ausländerinnen, die sie sich ins Haus holten? Halfen sie mit, festgefahrene nationale Vorurteile aufzuweichen? Gaben sie Impulse zu einer internationalen Beziehungsgeschichte und trugen so zum Kulturtransfer bei? Wie gestaltete sich das Wechselspiel zwischen internationaler Öffnung und nationalistischer Beschränktheit im Laufe des 19. Jahrhunderts? Was führte mit Beginn des 20. Jahrhunderts zum Ende der Gouvernantenkarrieren?
Frauenideal und Gouvernantenwirklichkeit – zwei konträre Lebensentwürfe
Das herrschende Frauenbild, wie es im ausgehenden 18. Jahrhundert von bürgerlichen Denkern konzipiert und propagiert wurde und sich im 19. Jahrhundert in Windeseile und mit großer Hartnäckigkeit durchzusetzen begann, ist nur allzu bekannt: Die Frau galt demnach, entsprechend ihres vermeintlichen Geschlechtcharakters, als auf den familiären Kreis beschränkt, durch ihr eher passives, ruhiges und bescheidenes Wesen von "Natur aus" prädestiniert für ihre Aufgaben als Ehefrau, Hausfrau und Mutter. Sie schien wenig dazu geeignet, auf eigenen Füßen zu stehen, geschweige denn allein per Kutsche, Schiff oder Eisenbahn durch die Welt zu reisen.
Dass eine wachsende Schar von bürgerlichen Frauen dies durchaus tat, bedurfte einiger Rechtfertigung. Waren in den Jahrhunderten zuvor Hauslehrerinnen vor allem Teil des Gesindes in Herrscher- und Adelshäusern gewesen, verbürgerlichte sich die Klientel der Gouvernanten anstellenden Haushalte seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zusehends. Vor allem im früh industrialisierten Großbritannien waren große Teile der upper middle class zu großem Wohlstand gekommen; Deutschland und Frankreich holten dies, wenn auch auf ein kleineres Gesellschaftssegment beschränkt, rund hundert Jahre später nach. Für alle galt spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, dass hauswirtschaftliche Fähigkeiten der Töchter angesichts des Dienstbotenstabs kaum noch gefragt waren. Mehr noch: Europaweit galt es als Zeichen saturierter Bürgerlichkeit, dass die weiblichen Familienmitglieder ihre Hände lediglich zu Klavierspiel und Handarbeiten regen mussten. Umso wichtiger wurde die Fähigkeit, sich leichtfüßig und brillierend auf dem gesellschaftlichen Parkett bewegen zu können. Bürgerstolz und bildungsbegeistert ignorierte man das Adelsverdikt, nach dem man zum Gentleman oder zur Lady geboren sein müsse. Im Gegenteil war das Bürgertum überzeugt, dass die Sprösslinge durch gute Erziehung und Ausbildung diesem Ideal ebenso gut nahe gebracht werden könnten.
Während Eltern ihre Söhne dafür in Großbritannien bereits in jungen Jahren auf public schools und in Deutschland und Frankreich auf die Gymnasien schickten, galt es als ungeschriebenes Gesetz, dass die Töchter in den eigenen vier Wänden erzogen werden sollten. Schließlich sollte die Familie auch zukünftig der ureigene Bereich der weiblichen Nachkommen sein. Ihre Ausbildung zu Hause korrespondierte daher mit ihren späteren Aufgaben. Sie überhaupt aus den schützenden Fittichen des Hauses zu entlassen, galt es tunlichst zu vermeiden. Hierüber herrschte gesamteuropäisch Konsens, doch mit unterschiedlicher Konsequenz in der Umsetzung. In Großbritannien blieb eine Ausbildung für Töchter ausschließlich durch governesses über das ganze 19. Jahrhundert hinweg weitaus verbreiteter als in Deutschland und Frankreich.7 Das hing zum einen damit zusammen, dass es hier noch wenig Alternativen gab, die überdies kaum attraktiv waren. Die sogenannten Dame Schools, vergleichbar den privat organisierten Klippschulen in Deutschland, die in der Regel von älteren Frauen und Männern ganz unterschiedlicher Qualifikation und Motivation geleitet wurden, besuchten in Großbritannien lediglich die Kinder der Unterschichten und der lower middle class. Öffentliche Grundschulen kamen erst nach dem 1870 erlassenen Education Act auf und setzten sich nur langsam durch.8 Die wenigen Girls' Schools, die nach der Jahrhundertmitte entstanden, lagen häufig weit entfernt von den städtischen Vororten, in denen die Mehrheit des englischen Bürgertums ihr Wohnquartier bezog.9 Zum zweiten galt Großbritannien so lange als Hochburg des Gouvernantenwesens, weil hier das Bürgertum früher und in hoher Zahl zu großem Wohlstand gekommen war und neben dem Hoch- und Landadel zum Hauptarbeitgeber für governesses avancierte. Die nationale Volkszählung aus dem Jahr 1861 ging von 24.770 Gouvernanten in England und Wales aus – mit steigender Tendenz.10 In Deutschland und Frankreich waren es eher wenige Familien des Großbürgertums, die es sich leisten konnten und wollten, Hauslehrerinnen einzustellen. Doch auch hier gab es trotz eines zunehmenden Angebots öffentlicher Mädchenschulen viele Befürworter der Privaterziehung. Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts dominierte die Meinung, dass "weibliche Staatschulen" als Widerspruch in sich "unnatürlich und unausführbar" seien.11
Um das Ideal der Mädchenerziehung im eigenen Haushalt zu gewährleisten, musste gleichzeitig dagegen verstoßen werden. Denn die jungen Frauen, die dazu ins Haus kamen, verkörperten ganz offensichtlich ein weibliches Lebenskonzept, das konträr zum bürgerlichen Frauenideal stand. Ledig und kinderlos, entsprachen sie gerade nicht der europaweit seit Beginn des 19. Jahrhunderts in unzähligen Schriften glorifizierten Mutterrolle als der einzig wahren weiblichen Lebensform.12 Noch dazu konterkarierten sie mit ihrer Tätigkeit die Vorstellung, die Mutter sei die eigentliche, dazu geborene Erzieherin der Kinder und deren Erziehung nicht mit Geld aufzuwiegen. Dass den Zeitgenossen der Drahtseilakt, auf den sie sich mit der Anstellung von Gouvernanten begaben, durchaus bewusst war, dokumentiert die Fülle von Ratgeberliteratur, in der die Rolle der Gouvernante ausführlich diskutiert und vor allem problematisiert wurde. Diese ermahnte die jungen Lehrerinnen zu Demut, Leidensbereitschaft und Bescheidenheit, die ohnehin ganz oben auf der Liste gewünschter weiblicher Eigenschaften standen. Auch der Appell, sich ihres "botmäßigen" Platzes im Hause ihrer Arbeitgeber bewusst zu sein, fehlte nie.
Wo aber war dieser Platz? Dies war solange eine wenig heikle Frage, als Gouvernanten aus der eher niederen, verarmten oder vor den revolutionären Wirren in Frankreich geflohenen Aristokratie stammten, die überwiegend in höherstehende Adelshäuser einzogen, womit die Hierarchie vorgegeben war. Als es dann jedoch im 19. Jahrhundert üblich wurde, dass sich Angehörige des Bürgertums, der middle class und der Bourgeoisie als Lehrerinnen, Schülerinnen und Arbeitgeberinnen gegenüber standen, galt es trotz oder gerade wegen des geteilten Wertehimmels klare Grenzen zu ziehen. Auf der einen Seite zeigten sich die jungen Frauen aus "gutem", aber finanziell weniger gut gestelltem Haus bemüht, ihren Klassenstatus zu erhalten und sich von dem übrigen Gesinde abzusetzen. Seit der Jahrhundertmitte häuften sich in der englischen Times Leserbriefe von Gouvernanten, die einerseits über ihre niedrigen Gehälter klagten und andererseits ihr Dilemma betonten, dass sie als "daughters of gentlemen, well-educated" verpflichtet wären, die Form zu wahren, was von den kaum weniger verdienenden Dienstmädchen nicht erwartet werden würde.13 Auf der anderen Seite mussten ihre Arbeitgeber sich davor hüten, die Klassennähe zu deutlich hervortreten zu lassen, drohte doch dann die Gefahr, ihren Töchtern in den jungen Bürgerinnen ein attraktives Vorbild, ein alternatives Rollenmodell zu dem ihrer Mütter vor Augen zu führen.
Um dies zu verhindern, wurden Autoren nicht müde, die Position einer Hauslehrerin als unerwünschte Ausnahme und aus der Not geboren zu stilisieren: "It is a platform on which middle and upper classes meet, the one struggling up, the other drifting down." Wenn die Familie aus verschiedenen Gründen in finanzielle Not geriet ("a father dies, or a bank breaks, or a husband is killed – if brothers require a college education"), war, wie eine Ratgeberin 1858 schrieb, das traurige Schicksal der Tochter des Hauses besiegelt und das trostlose Gouvernantendasein der einzig akzeptable Ausweg.14 Die zeitgenössische Publizistik wies mit erhobenem Zeigefinger vor allem auf die Schattenseiten des Berufs hin; der Akzent wurde auf die eher prekäre Beziehung zwischen den Hauslehrerinnen und den Familien ihrer Schüler gelegt, nicht zuletzt, um die eigentliche Augenhöhe zu verschleiern. Zu dem "Eindringling" in die vielbeschworene Intimität der Kernfamilie und ihrem "home, sweet home" galt es, so der Tenor, eine prekäre Balance zwischen Nähe und Distanz zu halten.
Wie viel Nähe beide Seiten dabei zulassen wollten und konnten, variierte. Vor allem deutsche Hauslehrerinnen erwarteten "Familienanschluss", der ihnen auch häufig in Stellenanzeigen in Aussicht gestellt wurde. Das hieß, dass sie auch in der Freizeit eng mit der Familie verbunden waren, an Festlichkeiten teilnahmen, gemeinsam Opern und Museen besuchten und bei Gesellschaften dazu gebeten und vorgestellt wurden. Komtess Bertha Kinsky (1843–1914) beschreibt stellvertretend für viele ihre Rolle im Hause von Suttner als Freundin und "Gespielin" ihrer Schülerinnen.15 Dass diese Nähe in ihrem Fall schließlich soweit ging, dass der jüngste Sohn des Hauses die um sieben Jahre Ältere ehelichte, war allerdings keineswegs erwünscht und endete mit Enterbung und Verstoß durch die Familie. Solche Fälle waren in der Realität allerdings die Ausnahme. Entgegen der Verheißungen in den Kolportageromanen, die immer vor dem Traualtar endeten, wurde auch von deutscher Seite davor gewarnt, sich als gleichberechtigtes Familienmitglied zu wähnen:
Die rechte Gouvernante ist nun allerdings keine glänzende Erscheinung, sie wird vor der Welt keine große Rolle spielen, sie will es nicht … Ferner ist sie sich bewußt, daß sie eine Dienerin im Hause ist; je mehr sie das weiß, desto weniger wird sie es zu fühlen haben. Es ist wirklich so, je weniger man Ansprüche darauf macht, als ein Glied der Familie distinguirt zu werden, desto mehr hat man Aussicht darauf.16
In Großbritannien hingegen, dies beklagten vor allem deutsche Ratgeber und Gouvernantenberichte unisono, schien diese Aussicht ohnehin eher gering. Als "nicht dinnerfähig", so kritisierte ein deutscher Pädagoge, würde die governess bei Geselligkeiten niemals dazu gebeten. Das Bild der vereinsamten Gouvernante, die heimwehkrank und wehmütig in ihre kärgliche Stube verbannt dem Familientreiben in der Ferne lauscht, wurde nicht nur in den Romanen gezeichnet, sondern auch von Malern und Mahnern aufgegriffen. "Erscheint sie auch zeitweilig im Salon", so hieß es in einem Lexikonartikel, "so bleibt sie in der Mitte zwischen dem Gastrollen- und dem Almosenbewußtsein … ist weder Fisch noch Frosch, und ist der Familie, die sie dazu verurtheilt, lästig als fremdes Element."17 Es fällt schwer, im Nachhinein zu beurteilen, ob Familien in Großbritannien zu den Gouvernanten wirklich besonders deutlichen Abstand wahrten. Die Möglichkeiten dafür waren immerhin relativ gesehen größer als in Deutschland und Frankreich, erlaubte doch die vertikale Etagenstruktur der englischen Häuser in den Vororten die Platzierung der Dienstboten im Souterrain und die der Gouvernanten in der Mansarde. Wo das nicht möglich war, suchten die Arbeitgeber nach Auswegen. "Unlike our cousins, we had daily governesses; they did not live in, chiefly because my mother thought it would be a bore to have them in the house", erinnerte sich eine Cambridger Professorentochter.18 In Deutschland, wo selbst wohlhabende Bürgerfamilien in der Regel in eleganten Etagenwohnungen innerhalb der Städte lebten, war die Tuchfühlung zu den Gouvernanten weniger vermeidbar. Anders als die Dienstmädchen konnte diese nicht auf dem ursprünglich als Abstellraum vorgesehenen Hängeboden einquartiert werden. Auch dies mag dazu beigetragen haben, dass Gouvernanten hier entsprechend seltener anzutreffen waren und ihre Anwesenheit als Ausweis großbürgerlicher Vornehmheit eher in Vorstadtvillen das Prestige zu heben half. In Großbritannien hingegen war die governess selbst in kleinbürgerlichen Haushalten eine häufige Erscheinung mit vergleichbar geringem Ansehen. Ihre relativ große Zahl führte um die Mitte des Jahrhunderts zur "Governess Question", zum "Gouvernanten-Elend", wie man in Deutschland übersetzte, da das Angebot an Hauslehrerinnen, nicht zuletzt aufgrund der häufig besser ausgebildeten ausländischen Gouvernanten, die Nachfrage überstieg.
In Deutschland indessen begann sich das Ansehen der Hauslehrerinnen im Laufe des 19. Jahrhunderts deutlich zu verbessern. So erinnerte sich Thekla Trinks (1831–1900), die ihre Erzieherinnenkarriere in den 1850er Jahren begann, wie eisern ihre Familie den Entschluss der Tochter verschwieg:
So abenteuerlich und befremdend hielt man damals bei uns einen solchen Schritt, daß ich mit keiner meiner Freundinnen die Sache zu bereden wagte und daß niemand in unserem Verwandtenkreise von meinem Vorhaben in Kenntnis gesetzt wurde.19
Rund zehn Jahre später hatte sich das Blatt gewendet , wie der Pädagoge Adolf Diesterweg (1790–1866) keineswegs erfreut anmerkte: "Wurde früher Kopfschütteln und Achselzucken, stilles mitleidiges Bedauern bemerkt[,] wenn von einem herangewachsenen Mädchen verlautete, sie wolle Lehrerin werden", so wäre es jetzt eine "Modesache" und "beinahe wie eine Art Triumph" wenn eine "Tochter des Hauses … Gouvernante geworden und nach bestandener Prüfung mit dem Freibrief versehen ist, nun in Osten und Westen in verwandte Dienste zu treten".20
Offensichtlich folgte in der zweiten Jahrhunderthälfte wirklich eine zunehmende Zahl von Frauen dem Beispiel der Rechtsanwaltstochter Thekla Trinks und wählte nicht aus materieller Not, sondern aus Abneigung gegenüber der klassischen Frauenrolle und aus pädagogisch-wissenschaftlichem Interesse diesen Berufsweg. Vordem schien es in der Tat sehr häufig keine freiwillig beschrittene Laufbahn gewesen zu sein. Namentlich in der Anfangsphase der Industrialisierung, in der der Kapitalismus ohne Netz und doppelten Boden noch in seiner Inkubationsphase steckte, war schnell erworbener Reichtum ein fragiles Gut, dessen Verlust nicht zuletzt die Töchter zwingen konnte, für ihren eigenen Unterhalt aufzukommen. Überdies war das europäische Bürgertum als "Klasse", gerade was die materiellen Mittel betraf, äußerst heterogen. Zu ihm gehörten der Großmagnat aus Manchester ebenso wie der Advokat aus Paris oder der Pfarrer aus Oldenburg. Entsprechend unterschiedlich gut ausgestattet war das Familienbudget. Ein Teil von Gouvernanten rekrutierte sich so aus Töchtern, die nicht mehr mit dem wirtschaftlichen Vermögen ihrer Väter rechnen konnten. Der überwiegende Teil jedoch kam aus Beamten und Pfarrersfamilien. "So erscheint der Unterschied, welcher zwischen … der Gouvernante und ihren Elevinnen besteht, weniger im Range und der gesellschaftlichen Stellung, als in den Vermögensverhältnissen seinen Grund zu haben", konstatierte die ehemalige Hauslehrerin Meta Wellmer (1832–1889).21
Auch wenn sie häufig gar nicht die Wahl hatten, ob sie sich außerhalb der Familie verdingen wollten, betrachteten und begrüßten einige Gouvernanten ihren Beruf durchaus als Chance größerer Selbständigkeit und Horizonterweiterung. Die englische Schriftstellerin Anne Brontë (1820–1849) legte ihrer fiktiven Titelheldin Agnes Grey Worte in den Mund, die so mancher realen Gouvernante ganz ähnlich aus der Feder hätten fließen können: "How delightful it would be to be a governess! To go out into the world; to enter upon a new life; to act for myself; to exercise my unused faculties; to try my unknown powers; to earn my own maintenance…"22
Solche Wünsche waren zu dieser Zeit nur für Männer wirkliche Optionen. Es ist daher wenig erstaunlich, dass es vor allem die Gouvernanten selbst waren, die in ihren Memoiren oder in autobiographisch getönten Gouvernantenromanen ihren Berufsweg als Befreiungsschlag aus den Fesseln der einengenden Frauenrolle priesen. Konsequenterweise entwickelte manche bürgerstolze, hochgebildete und weitgereiste Gouvernante ein Gefühl der Überlegenheit ihren Arbeitgebern gegenüber. So schrieb etwa die spätere Ärztin und Vorkämpferin für das Frauenstudium Franziska Tiburtius (1843–1927) über die Engstirnigkeit einer pommerschen Adelsfamilie, in der sie in den 1860er Jahren tätig war, äußerst ironisch: "Sie reisten wenig, hatten also keine Gelegenheit zu vergleichen, waren in ihrem Gebiet, auf ihren Gütern nahezu unbeschränkt und fühlten sich durchaus als Weltmittelpunkt."23
Die Gefahr, dass deren Töchter, ihre weltläufige Gouvernante vor Augen, dieses Gehabe als bornierte Selbstüberschätzung entlarven könnten, war nicht gerade gering. Namentlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Vertreterinnen der europäischen Frauenbewegung die Ehefrauen- und Mutterrolle als einzig seligmachend hinterfragten und Berufsalternativen für ihre Geschlechtsgenossinnen einklagten, wuchs in Bürgertöchterherzen die Sehnsucht nach anderen Vorbildern als die der Mütter und erst recht die der unverheirateten und altjüngferlichen Tanten. Wie anders traten dagegen die jungen, zunehmend selbstbewussten Gouvernanten auf! Den modernen Typus der polyglotten Hauslehrerin, der vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte das Berufsbild prägte, zeichnete auch eine ehemalige Erzieherin, als sie im Jahr 1877 ihre Erfahrungen niederschrieb:
[Sie] sieht die große Welt, lebt in einer gewählten Gesellschaft; sie bezieht einen Gehalt, der ihr erlaubt, sich geschmackvoll zu kleiden, ihre Familie zu unterstützen und noch etwas zurückzulegen … Was für erstaunte Blicke würde die Bürgersfrau einer deutschen Reichsstadt auf ihre heutige Ur-, Ur-, Urenkelin werfen, sähe sie diese mit der Eisenbahn allein von fernher zur Ferienreise ins elterliche Haus zurückkehren und hörte sie dieselbe in fremdartigen Sprachen von ihrer Erzieherinnen-Laufbahn und deren Leiden, Freuden und Studien erzählen.24
Her mit den jungen Ausländerinnen – Erwartungen und Wertungen
Auch um die Vorbildgefahr zu mildern, setzten viele Eltern ihre Inserate nach Hauslehrerinnen häufig in ausländische Zeitungen. Von den rund 25.000 Gouvernanten, die 1861 in England gezählt wurden, kamen 1.408 aus dem europäischen Ausland.25 Dadurch, dass sie eine "Fremde" einstellten, versprachen sich die Familien vielleicht, die analoge Kinderstube von Lehrerinnen und Schülerinnen zumindest ein Stück weit kaschieren zu können. Wichtiger jedoch war das Ideal, durch eine Muttersprachlerin die Fremdsprachenkenntnisse der Töchter zu perfektionieren. Denn diese rangierten auf dem lange kaum normierten Bildungsplan der Töchter an erster Stelle. Mit Literaturkenntnissen, die über die jeweiligen nationalen Klassiker hinausreichten, konnten die jungen Damen im gesellschaftlichen Verkehr glänzen, erst recht, wenn sie die Zitate dann auch akzentfrei zu artikulieren verstanden. Im zunehmend auch global agierenden Wirtschaftsbürgertum kam hinzu, dass häufig Geschäftspartner aus dem europäischen Ausland zu Abendgesellschaften geladen waren, deren Gewogenheit gegenüber dem Hausherren durch eine sprachgewandte Tochter als Tischdame unter Umständen gesichert werden konnte. Hier gewann in der zweiten Jahrhunderthälfte, als auch Deutschland und Frankreich nach dem Vorreiter Großbritannien als global player ins Spiel kamen, die englische Sprache langsam die Oberhand.
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts galt allerdings noch das Französische als besonders elegante Sprache, deren Beherrschung als Ausweis ausgesuchter Distinguiertheit. Daher waren es zunächst vor allem Gouvernanten aus Frankreich und der französischsprachigen Schweiz, die in Großbritannien und Deutschland Anstellung fanden. In Frankreich selbst zogen Eltern Mädchenpensionate der Erziehung durch Hauslehrerinnen vor, so dass viele Gouvernanten zwar französischer Herkunft waren, sich aber hauptsächlich in Großbritannien oder Deutschland verdingten. "Die große Menge der Pensionate und Institute" sah schon ein Zeitgenosse als Ursache dafür an, dass das Gouvernantenwesen in Frankreich eine äußerst seltene Erscheinung war.26 Im Ausland hingegen dominierten Französinnen den Gouvernantenmarkt. So sehr, dass es sich nicht nur in Deutschland eingebürgert hatte, die Bezeichnung "Französin" synonym mit "Gouvernante" zu benutzen.27 Deren lange Zeit währende Beliebtheit in adeligen und großbürgerlichen Familien resultierte auch aus der Erwartung, dass sie den ursprünglich am französischen Hof entwickelten conduits, die vornehme Etikette, besonders gut beherrschten und an die Töchter zu vermitteln verstanden. Unabhängig von aller Adelskritik, die das Bürgertum in seiner Konstituierungsphase artikulierte, gehörte es zum guten Ton, dass bereits kleine Bürgerinnen perfekt französisch parlierten und sich makellos betrugen.
Die Entscheidung für eine französische Gouvernante lässt sich aber durchaus auch mit der "Entdeckung der Kindheit"28 durch das Bürgertum und der Hochschätzung einer angemessener Bildung begründen. Schließlich galt Frankreich, nicht zuletzt aufgrund der 1678 erschienenen Schrift Traité de l'éducation des filles (1687) des bekannten Philosophen François de Fénelon (1651–1715), als Wiege der Töchtererziehung. Fénelons Abhandlung wurde ins Deutsche und Englische übersetzt und nährte damit europaweit die Vorstellung eines besonderen pädagogischen Geschicks junger Französinnen.
Doch über die sprachlichen, galanten und vermeintlichen erzieherischen Kompetenzen hinaus wirkten bei der Wahl der Hauslehrerin auch langlebige Vorurteile und nationale Stereotype. Man glaubte zu wissen, welche nationalen Eigenarten man erwarten konnte, sowohl bei den Gouvernanten als auch bei ihren Arbeitgebern:
Aber eine Deutsche muß doch ihr Herz fest in beide Hände nehmen, wenn sie nach England geht … Die Engländer sind, obwohl uns stammverwandter als andere Nationen in Europa, doch unendlich viel anders in Beziehung auf den Ton, der durch das Haus geht. Da ist die Sprache beim Kommen und Gehen, beim Empfang und Abschied u.s.f. eine ganz verschiedene. Kalt und steif erscheinen sie uns oft, wo sie in der Tiefe doch herzlich warm sind, doch nicht für jedermann, sondern exclusiv für die, welche geprüft und eingelassen sind. Von vorn herein namentlich halten sie Fremde von sich ferne. Selbst die englischen Gouvernanten können es oft kaum verwinden, daß man sich so gar nicht um ihre Gefühle kümmert. Die eigenthümliche englische Etikette ist himmelweit verschieden von der liebenswürdigen, aber oft treulosen Zuvorkommenheit der Franzosen.29
Ähnlich wie die wachsende Zahl der Touristen, die dank Straßenbau und Eisenbahn mit dem Baedeker in der Tasche zu regelmäßigen Auslandsreisen aufbrachen, die sahen und wiederholten, was ihnen die boomende Reiseliteratur vorgab, glaubte man auch bei den Gouvernanten stets die mit ihrer Nationalität assoziierten Eigenschaften zu finden. Viele Kindheitserinnerungen stießen ins gleiche Horn: Die Engländerinnen, steif und schmallippig, bezweckten mit kalten Bädern und offenen Fenstern die Abhärtung ihrer Zöglinge, die charmanten Französinnen, immer zu einem Flirt aufgelegt, legten viel Wert auf ihr Äußeres und wenig auf eine solide Ausbildung, deutsche Gouvernanten wirkten unscheinbar, diszipliniert wie disziplinierend und waren selbstverständlich ausnahmslos hochmusikalisch. Wer es sich leisten konnte, nahm gleich mehrere Hauslehrerinnen aus unterschiedlichen Ländern ins Haus, um von deren zugeschriebenen nationalen Besonderheiten zu profitieren. Im Hause eines vermögenden englischen Geschäftsmannes und Vaters von fünf Töchtern und zwei Söhnen gaben sich in den 1870er und 1880er Jahren fast alljährlich wechselnde Gouvernanten unterschiedlicher Nationalität die Klinke in die Hand. Mit der Folge, so zumindest glaubte sich eine der Töchter zu erinnern, dass die Schwestern sowohl deutsche Kinderreime und "disciplin", irische Gebete und französische Chansons lernten als auch englische Königsdramen einstudierten und aufführten.30
Die jungen Frauen, die ins Ausland aufbrachen, hatten nicht weniger Vorurteile im Gepäck. Thekla Trinks, die Ende der 1850er Jahre ihre erste Stelle in Irland antrat, verwickelte sich in ihren Lebenserinnerungen ständig in Widersprüche – zu wenig entsprachen ihre Erfahrungen ihren Erwartungen. Nach einer turbulenten Reise an ihrem Bestimmungsort angekommen, schien es ihr, "als hätte hinter Killarney alle Kultur, alle Zivilisation so ziemlich aufgehört", um dann aber im gleichen Federstrich bewundernd das Haus ihrer Arbeitgeber als angefüllt mit kostbaren Möbeln, Bildern, Büchern und Musikinstrumenten zu schildern.31 Obwohl sie selbst in ihren irischen und englischen Familien das genaue Gegenteil erlebte, beteuerte Thekla Trinks, die Publizistik ihrer Zeit bestätigend, dass in angelsächsischen Haushalten die Gouvernante unfreiwillig vereinsame, da sie nicht ins Familienleben integriert sei. Gleichzeitig zeichnete sie das Familienleben, sie selbst mittendrin, völlig anders:
Noch sehe ich vor mir das weite Gemach, Drawingroom genannt, in dem die Sitzplätze über den ganzen Raum verteilt waren. An dem geöffneten Erardschen Flügel, dessen Töne mächtig und lieblich zugleich erklingen, sitzt Marion, eine Beethovensche Sonate spielend. Nicht weit davon erblicken wir an einem kleinen Schachtischchen Sir Edward und Florence, seine gewöhnliche Partnerin; er hat das edle Haupt in die Hand gestützt und überschaut sinnend und äußerlich unbeweglich die elfenbeinernden Figuren. Hinter einer silbernen Teeurne sitzend ist Lady St. John beschäftigt, den Tee zu machen. Geschäftig trägt John die gefüllten Tassen zu denjenigen, welche am Diner teilnahmen. Emma, eine begeisterte Irländerin, die die Geschichte und Geschicke ihres Landes emsig studiert, hat mehrere Bände vor sich, in denen sie eifrig liest. Lucy und Bella spielen Domino; ich sitze an demselben Tisch, ein Buch in der Hand; aber es vermag mich nicht zu fesseln: immer wieder überschaue ich die Scene vor mir, dies so farbige, festliche, lebensvolle Bild. Welch ein Gegensatz zu den in meinem einsamen Stübchen in Wesel verlebten Abenden.32
Bezeichnenderweise sieht sie selbst sich als Zuschauerin in dieser Genreszene, aus der sie sich bald darauf selbst herauslöst, um sich, sehr zur Verwunderung ihrer Herrschaft, auf ihr Zimmer zurückzuziehen – man könnte meinen, ängstlich bemüht, ihr eingefahrenes Weltbild nicht aufzustören. Als sie dann noch als Deutsche mit ihrem unbeholfenen Klavierspiel enttäuscht, aber ihre freundlich-höflichen Arbeitgeber ihr nicht grollen, sondern ihr durch musikalische Nachhilfestunden auf die Sprünge helfen, vermerkt sie dies mit Erstaunen. Zu einer Revision ihres Bildes motivierten sie diese Erfahrungen allerdings nicht. Im Gegenteil trug sie, wie viele andere Gouvernanten, mit ihren Memoiren dazu bei, dieses weiter zu zementieren.33
Vielleicht spielte hier die Hartnäckigkeit von Vorurteilen mit oder das mit der sich durchsetzenden "Moderne" wachsende Bedürfnis, in einer sich zunehmend ausfächernden Gesellschaft festgefügte Gewissheiten nicht zu verlieren, vielleicht aber auch das in – zumeist männlichen – Lebenserinnerungen häufige Muster, die eigene Laufbahn als steinig und umso heroischer zu stilisieren. Ungeachtet anderer Erfahrungen hielt sich die Vorstellung, dass junge Frauen als Gouvernanten in Großbritannien einen besonders schweren Stand hätten. Umso mehr erstaunt es, dass Großbritannien als Arbeitsplatz bei deutschen Gouvernanten äußerst beliebt blieb. Nicht zuletzt die vergleichsweise gute Bezahlung, die einigen Frauen ansehnliche Ersparnisse einbrachte, wie auch der vermehrte Wunsch nach guten Englischkenntnissen führte dazu, dass sich Heerscharen von jungen Deutschen und Französinnen von den düsteren Szenarien nicht abschrecken ließen.
Im Gegenzug zeigten sich britische Familien namentlich gegenüber jungen Deutschen äußerst aufnahmebereit. Eine Pfarrerstochter aus Hannover trug dafür einen Teil der Verantwortung: Louise Lehzen (1784–1870), die langjährige Erzieherin und spätere Vertraute der englischen Königin Victoria (1819–1901), hatte den guten Ruf von deutschen Gouvernanten begründet.34 Dass diese nun überdies immer häufiger sogar Zeugnisse von Lehrerinnenseminaren in der Tasche trugen, machte sie umso willkommener. Gleichzeitig verblasste europaweit der Ruf der französischen, häufig schlechter ausgebildeten Gouvernanten. Ihre Erziehungsmaximen galten nun als vergleichsweise oberflächlich, das Stereotyp der eitlen, putzsüchtigen und arrogant auftretenden Französin gewann die Oberhand und ließ ihre deutschen Kolleginnen aufrücken.
Diese konnten ein weiteres Plus aufweisen: Da in Familien der britischen upper-class die Hausmusik zum Abendritual unabdingbar dazu gehörte, waren die musikalisch häufig gut geschulten Deutschen besonders gefragt. Weil Franziska Tiburtius auf die Frage, "Do you play Thalberg?" mit "Ja." antworten konnte – beherrschte sie doch die leichten Salonstückchen des Modekomponisten ganz leidlich –, trieb sie ihr Gehalt, das eine englische Pfarrersfamilie ihr zahlte, um einige Pfund in die Höhe. Von deutscher Seite wurde umgekehrt das Klischee der unmusikalischen Engländer, dem "Land ohne Musik", gepflegt, wenn es in einem Lexikon-Artikel zu "Gouvernanten" hieß: "Ein musikalischer Abend in einer englischen Soiree, wo dilettirende Frauenzimmer singen, ist freilich für deutsche Ohren oft außerordentlich angreifend, und schwer zu ertragen."35
Je mehr deutsche Gouvernanten und englische Arbeitgeber, ungeachtet der jeweiligen musikalischen Talente, miteinander harmonierten, desto schriller wurden die Misstöne, die gegenüber den französischen Hauslehrerinnen angeschlagen wurden. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts von deutschen Publizisten als "Putzmacherinnen des Geistes" beschimpft,36 stimmte noch 1906 die Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer (1873–1954) in die harsche Kritik der gouvernante ein:
Man hat auch vorzugsweise Französinnen für diese Posten gewählt, und von der verderblichen Rolle, die sie für die Entwicklung der Frauen jener Zeit spielten, wissen Romane, Erziehungsschriften, Lustspiele und Artikel in den moralischen Wochenschriften viel zu erzählen.37
In Großbritannien waren ähnliche Klagen zu vernehmen. Mit dem "evangelical revival"38, der seit der Jahrhundertmitte eng mit einem spezifischen Familienideal verknüpft wurde, wurde vor allem die katholische Konfession der französischen Hauslehrerinnen nun als Problem gesehen.39
Überhaupt mischten sich in die nationalen Diskurse über das Gouvernantenwesen zunehmend nationalistische Untertöne. Chauvinistische Überheblichkeit gegenüber dem "Osten" war in allen drei Ländern das ganze Jahrhundert über zu finden, vor allem wenn es darum ging, die Lage für Gouvernanten in Russland zu bewerten. Dort seien, so höhnte ein deutscher Pädagoge, "französische, englische, deutsche Gouvernanten besser bezahlt als deutsche ordentliche Professoren!"40 Überdies sei die Nachfrage groß und steigend. Bald geriet Russland in den Ruf eines "Eldorado" für Erzieherinnen, "die fertig französisch sprechen und gut Klavier spielen" können.41 In St. Petersburg und Umgebung gingen Zählungen von rund 1.500 Gouvernanten aus Westeuropa aus.42 Allerdings, so mahnten die Kommentatoren, müssten die "junge[n] Damen", die dort regelmäßig "mit zerknickten Schleiern und zerrütteter Coiffure, noch bleich von der Seekrankheit" den Schiffen entstiegen, erst einen Kulturschock überstehen, ehe sie dann voller Eifer "das Feuer der Cultur in Rußland entfachen und … unterhalten" könnten.43
Diese Anmaßungen gegenüber der "culturlosen" Fremde wurden in der zweiten Jahrhunderthälfte vor allem in Großbritannien und Deutschland durch Stimmen verstärkt, die generell die Erziehung durch Ausländerinnen verurteilten und ausländische Gouvernanten in Misskredit brachten: "Incidentally, we were a little bitten with the Victorian attitude towards 'foreigners'. Anything not purely British in the way of a governess was sure to be a disadvantage".44 Die Gefahr einer Vernachlässigung der eigenen Sprache, Geschichte und Literatur wurden als Argumente ins Feld geführt:
For my own part I much prefer English to foreign governesses. The absence of unity in doctrine seems to me a heavy price to pay for slightly better pronunciation of the language …. It is not right to condemn a whole nation, but it is notorious that the French standard of truth is very unlike the English, especially in Roman Catholics. Of course there are many excellent foreign governesses, but on the whole, it seems to me that the character has much greater chance of being formed by a fellow-countrywoman and Churchwoman.45
Was für die Zöglinge galt, traf auch auf die Gouvernanten selbst zu. Eine englische governess, die lange Zeit in Russland tätig war, fühlte sich zusehends in die Kultur des Landes hineinwachsen, gleichzeitig aber auch von der Furcht erfüllt, dadurch ihre eigene Sprache und Kultur zu vernachlässigen. Mit intensiver Lektüre englischer Literatur versuchte sie dieser Gefahr entgegenzuwirken.46 Die deutsche Seite, von ähnlichen Sorgen umgetrieben, zeigte Verständnis:
Wer wollte es den Engländern übel nehmen, wenn sie schließlich der Landsmännin den Vorzug geben? Die Zeit wird kommen, dass man gar keine deutschen Gouvernanten mehr in England braucht. Wir brauchen ja auch keine Engländerinnen in Deutschland.47
Um der "Modesache" der Auslandsstelle ihre "Glorie" zu nehmen,48 waren alle Mittel recht. Die kaltherzige Atmosphäre in britischen Haushalten war und blieb ein beliebter Topos vor allem in der deutschen Publizistik. Britische Autoren schossen sich weiter auf Frankreich ein. In der Times wurden immer wieder Schreckensszenarien des Gouvernantenlebens in Frankreich entworfen, so auch in einem Leserbrief eines englischen Kaplans aus dem Jahr 1857. Er schrieb von dem desolaten Zustand einer jungen Engländerin aus besten Verhältnissen, deren Krankheit von ihrer Pariser Herrschaft lange ignoriert worden war, die dann mehr tot als lebendig in den Zug gesetzt wurde, in London angekommen schon nicht mehr bei Bewusstsein war und kurz darauf starb.49
Besonders im deutschen Kaiserreich, das nach der späten Nationalstaatsgründung 1871 noch eine "innere Staatenbildung" zu vollziehen hatte, kamen Schriften auf, die die Stärken deutscher Erziehungsprinzipien rühmten und diese durch Vergleiche mit ausländischen Zuständen nicht relativierten, sondern pointierten. In ihrem autobiographischen Gouvernantenroman Gertruds Wanderjahre (1890) begleitet die Autorin Brigitte Augusti (1839–1930) eine junge Pastorentochter auf ihrem Weg durch Spanien und Frankreich bis zurück an den heimischen Herd. Voll Bangen vor der Fremde bricht Gertrud Stein "in die weite Welt" auf. Ihr geht es, so wird betont, darum, das oberflächliche Schulwissen durch Erfahrungen an Ort und Stelle mit "Blut und Leben" zu füllen.50 Offen für Neues und gleichzeitig äußerst sprachgewandt, wächst ihr Selbstbewusstsein.51 Diese Sicherheit im Auftreten und ihre Anpassung an die sie umgebenden Verhältnisse beeindruckt. "Wie konnte ich denn wissen, welcher Nation Sie angehören", schmeichelt ihr ein Verehrer, "ich hörte Sie in allen Zungen reden, spanisch, englisch, französisch; Sie erschienen mir ganz kosmopolitisch."52 Tatsächlich ist das vermeintlich "Kosmopolitische" der Gertrud Stein mehr Schein als Sein. Ihre äußere Weltläufigkeit korrespondiert keineswegs mit einer verinnerlichten Weltoffenheit. So zeigt sich die fromme Protestantin bereits "entsetzt", in einem katholisch dominierten Haushalt zu landen, obwohl doch der Herr des Hauses ursprünglich deutscher Herkunft ist. Der wiederum fürchtet, dass seine erzkatholische Schwiegermutter die Deutsche als "Ketzerin" ansehen könnte, der daraufhin sofort Bilder der spanischen Inquisition vor Augen stehen.53 Die prunkvollen religiösen Prozessionen beobachtet sie mit Abscheu und bringt auch ihre katholischen Zöglinge dazu, sie mit kritischen Augen zu sehen. Schon bald registriert sie mit Genugtuung ihren wohltuenden Einfluss: Sie zähmt durch ihr einfühlsames Klavierspiel die wilde, stets als "Zigeunerkind" bezeichnete jüngste Tochter. Als sich herausstellt, dass die ältere Tochter an einer Augenkrankheit leidet, dies dem Vater jedoch verschwiegen wird, und die Großmutter lediglich zur heiligen Lucia um Besserung betet, ergreift die aufgeklärte Protestantin die Initiative: Sie geht auf die Suche nach einem professionellen Experten.54 Nach ihrer Spanien-Episode zieht es sie nach Paris, um ihr Französisch zu vervollkommnen. Beinahe nebenher bringt sie, patent und zupackend, dort auch den desolaten Haushalt auf Vordermann. Jetzt spricht sie die Botschaft des Romans, die vorher schon zwischen den Zeilen durchschimmerte, offen aus:
Warum blieb sie noch länger in der Fremde? Warum kehrte sie nicht in die einfachen, gesunden Verhältnisse in der Heimat zurück? Sie hatte viel erlebt und gelernt, ihre Kenntnisse und Anschauungen hatten sich sehr erweitert; Schätze hatte sie freilich nicht gesammelt.55
Dass ihre Anschauungen nicht eben von Toleranz geprägt waren, ihr internationaler Bildungsweg als heilsamer Läuterungsweg zurück "ins Vaterland" stilisiert wird, unterstreicht auch das Ende des Romans: Wieder in Deutschland, stimmt sie auf ihrer Hochzeitsfeier mit einem deutschen Augenarzt, den sie in Spanien kennengelernt hatte, begeistert in die Hochrufe auf Kaiser und Vaterland ein.56
Vom Broterwerb zum Beruf: Professionalisierungstendenzen des Gouvernantenwesens
Solche Schriften, die deutlich machten, dass die Reiselust und Sprachbegabung von Gouvernanten nicht unbedingt mit Weltoffenheit einhergehen mussten, lassen sich jedoch nicht nur als Indiz eines wachsenden Nationalismus` und gesteigerter Xenophobie deuten. Wenn der Chor der Gegner ausländischer Gouvernanten und ihrer Betätigung als Hauslehrerinnen anschwoll, war dies auch die Reaktion darauf, dass eine zunehmend große Gruppe junger Frauen es als durchaus reizvoll erachtete, die heimischen Gefilde zu verlassen. Anzeigen wie die folgende aus der Kölnischen Zeitung von 1854 wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer üblicher:
Eine junge Deutsche, evang. Confession, die im Stande ist, in allen wissenschaftlichen Fächern gründlichen Unterricht zu erteilen, so wie in der Musik, dem Französischen und den Anfangsgründen des Englischen, sucht eine Stelle als Lehrerin oder Erzieherin im In- und Auslande, doch würde dem letzteren den Vorzug geben.57
Solche Anzeigen, die deutliche Prioritäten setzten, waren ein Hinweis auf einsetzende Professionalisierungstendenzen des Berufs. Diese zeigten sich zum einen in einer ausgefeilteren und zunehmend professionalisierten Vermittlungspraxis. Der diesbezügliche Bedarf war umso größer, wenn es um Stellen im Ausland ging; die Möglichkeit, dass sich im Vorhinein Arbeitgeber und Hauslehrerinnen persönlich kennenlernten, war hier in der Regel nicht gegeben. Umso mehr waren beide Seiten auf vertrauenswürdige Expertise angewiesen. Lange Zeit waren es die ortsansässigen Geistlichen gewesen, die mit ihren Amtsbrüdern im Ausland in Kontakt traten und als Vermittler agierten. Auch die Lehrertochter Dorette Mittendorf (1826–1909), die in den 1840er Jahre ihre erste Stellung in London suchte, brauchte dafür den Empfehlungsbrief eines Pastors.58 Gerade bei einer Erstanstellung erwies sich dies als wichtig, da andere Belege für die Qualitäten der Gouvernanten in der Regel fehlten. Bis in die 1860er Jahre hinein war es in allen Ländern wenig üblich, dass Hauslehrerinnen Bildungspatente vorweisen konnten, da von einer normierten Ausbildung noch nicht die Rede sein konnte. Um sich ein Bild machen zu können, war man auf die Zeugnisse vorheriger Arbeitgeber angewiesen. Diesen wurde vor allem dann Vertrauen geschenkt, wenn sie aus dem Verwandten- oder Bekanntenkreis kamen. Insbesondere im weit vernetzten Adel, der bewährte Gouvernanten in der Großfamilie herumreichte, funktionierte diese Verfahrensweise gut. Das aufkommende Bürgertum musste nach anderen Möglichkeiten suchen. Nicht selten waren es angesehene Honoratioren, die als Vermittler tätig wurden. Die schon genannten Pfarrer gehörten dazu, bei den ausländischen Gouvernanten dann vor allem Landsleute vor Ort. In Brandenburg etwa erfüllte Jean Henri Samuel Formey (1711–1797), Sohn französischer Hugenotten, Theologe, Schriftsteller, Pädagoge und Mitglied der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften diese Funktion deshalb so erfolgreich, weil er sich einerseits für eine verbesserte Mädchenbildung stark machte und entsprechend engagiert war und andererseits über ein weitgespanntes europäisches Netzwerk verfügte.
Doch solche Glücksfälle waren selten. Stattdessen bürgerte es sich ein, professionelle Vermittlungsbüros, "Plazierungsbureaus" zu frequentieren, deren Seriosität jedoch, häufig zu Recht, angezweifelt wurde. Um sich selbst ein Bild von den potentiellen Lehrerinnen machen zu können, luden einige Familie sie für einen Tag nach Hause ein. "Ich war geneigt", so schrieb Franziska Tiburtius über die wiederholt bei ihr eingehenden Einladungen zum Lunch, "dies als große Freundlichkeit aufzunehmen, bis mir klar wurde, daß es ja auch als eine Art Prüfung gedacht war! Man wollte sehen, ob meine manners den englischen Begriffen entsprachen, ob ich mit Messer und Gabel nach orthodoxer englischer Auffassung umzugehen verstünde!"59
Dass zu ihrer Zeit, in den späten 1860er Jahren, die "manners" vieler ihrer Landsmänninnen zu wünschen übrig ließen, sah sie als Indiz für mangelnde Vorbereitung und fehlendes Einlassen auf die Gepflogenheiten im Ausland. Hier, das unterstrichen auch andere erfahrene Kolleginnen, herrschte großer Nachholbedarf, den es zu institutionalisieren galt. In Großbritannien, wo die Anstellung von governesses vergleichsweise üblicher war, kamen entsprechend früh Institutionen auf, die das Gouvernantenwesen kanalisieren und lenken sollten. Die Governesses' Benevolent Institution (GBI) wurde 1843 ins Leben gerufen und ihr "Board of Management" brachte regelmäßig Berichte über die Berufsentwicklung heraus. Bei dieser vergleichsweise frühen Einrichtung handelte es sich um eine Mischung aus Wohltätigkeitsverein und Berufsverband. Auch ausländische Gouvernanten begannen sich zu organisieren, um ihre Stellung vor Ort zu festigen und bei Schwierigkeiten ihren Landsmänninnen unter die Arme zu greifen. 1877 wurde der internationale Verein "Freundinnen junger Mädchen" gegründet, der Lehrerinnen bei der Stellungsuche im Ausland zur Seite stand. Ehemalige Hauslehrerinnen fungierten hier als wertvolle Ansprechpartnerinnen. 1885 wurden im Deutschen Reich Spenden zugunsten eines Heims in Paris gesammelt, in dem deutsche Erzieherinnen und Dienstmädchen während ihrer Stellungssuche und der Ferien Unterkommen finden konnten. Kronprinzessin Cecilie (1886–1954) übernahm das Protektorat für die Einrichtung. 1886 öffnete das Heim in Paris seine Pforten – mit separaten Eingängen für Gouvernanten und Dienstmädchen. 1890 richtete der Verein deutscher Lehrerinnen in Frankreich ein eigenes Heim ein, das vor allem der Stellen- und Sprachvermittlung diente.60
Auch Schriften, die nun zum Gouvernantenwesen erschienen, wandelten sich von moralisch-christlichen Unterweisungen, wie die Useful Hints61, zu praktischen professionellen Ratgebern, die vor allem auf die Lehr- und Lern-Atmosphäre zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen abhoben. Erfahrene und erfolgreiche Gouvernanten meldeten sich hier zu Wort. Familienzeitschriften räumten ihnen großzügig Spalten ein: Helene Adelmann (1843–1915), die als ehemalige Hauslehrerin in London ein Vermittlungsbüro betrieb, durfte regelmäßig und seitenlang in der Gartenlaube für ihre Institution werben.
Auch in ihrem Duktus wurden diese Schriften deutlich selbstbewusster. Hier schrieben keine verhuschten Pastorentöchter, sondern gestandene Lehrerinnen, die auf ihr Berufsethos pochten und Foren des Erfahrungsaustausches suchten und nutzten. Streng ging etwa Adelmann mit der Vorstellung ins Gericht, um in England als Gouvernante unterzukommen, sei keine Vorbildung nötig. Sie berichtet über junge Deutsche, die in naivem Übermut das Schiff über den Kanal enterten und dann in England ohne Anstellung strandeten.62 Zu Recht verwies sie auf die seit der Jahrhundertmitte deutlich höheren Standards, die für eine Anstellung erforderlich wurden. Die Frauen, die ihre Erfahrungen zu Papier brachten, kannten seit Jahren ihr Geschäft und betonten nun die Bedeutung ihrer Erziehungsaufgabe mit Verweis auf ihre Erziehungserfolge. Von daher lag es nicht zuletzt in ihrem Interesse, genau zu selektieren, wen man dieses Berufs für würdig befand.
Früher bestand das Hauptgewerbe eines großen Teils der englischen Agenturen in dem Herüberlocken junger unerfahrener Lehrerinnen in solche schlecht oder gar nicht bezahlte Stellen. Diesem Treiben setzten unsere ausländischen Vereine in Verbindung mit dem Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein kein geringes Hindernis entgegen. Alle 49 Vereine deutscher Lehrerinnen im Inlande und Auslande haben durch die Centralleitung der Stellenvermittlung in Leipzig, Pfaffendorfer Straße 17, die genaueste Fühlung miteinander, und wer irgendwohin ins Auslande gehen will, kann nichts Besseres thun, als sich nach dem Bescheid richten, der ihm von der Centralleitung in Leipzig wird. Allerdings placiert man in den Vereinen überall nur wirkliche Lehrerinnen und Erzieherinnen. Für solche, denen die nötige Ausbildung fehlt, kann durch ihn nicht geschehen. Daß nur Sachverstände (Lehrerinnen) die Stellenvermittlung leiten, ist natürlich ein großer Vorteil.63
Der "Sachverstand", auf den hier rekurriert wurde, bezog sich jetzt nicht mehr nur auf die Landeskunde, sondern zunehmend auch auf die Kenntnisse und Lehrinhalte, die von Gouvernanten erwartet wurden. Was die Gouvernanten über ihre Sprachkompetenzen hinaus noch mitbrachten, war lange Zeit wenig vorhersehbar und wurde auch nicht kritisch reflektiert. Zumindest bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte bei den Familien, die Gouvernanten einstellten, Konsens, dass "good manners, good breeding" gepaart mit den "accomplishments einer Lady: water colours, drawing, music", wie es eine ehemalige Hauslehrerin beschrieb, die wichtigsten Grundvoraussetzungen für eine gute governess seien. Dass viele der jungen Lehrerinnen durchaus weiter reichende Kenntnisse mitbrachten und weitergaben, wissen wir aus den Memoiren, die den "Pädagoginnen" aus dem In- und Ausland dankbar gedachten. Je nach Eignung und Neigung lag es in der Hand der jeweiligen Gouvernante, die Unterrichtsschwerpunkte zu setzen. Hinzu kam, dass eine Konstellation, die keinem strikten Lehrplan unterstand, in nicht seltenen Einzelfällen die Chance in sich barg, dass bei einem harmonischen Lehrerinnen-Schülerinnen-Verhältnis die Bürgertöchter eine besondere, auf ihre Interessen und Talente zugeschnittene Förderung erhalten konnten, erinnert sei an die eingangs zitierte Ethel Smyth. So manche Schülerin wurde auf diese Weise vielleicht auch in Disziplinen unterrichtet, die im Fächerkanon der langsam aufkommenden Mädchenschulen gar nicht auftauchten.
Das Fehlen von Vorbildungsinstitutionen bedeutete für die Lehrerinnen aber auch, dass sie sich zumindest in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts primär autodidaktisch fortbilden und zur Verfügung stehende Angebote selbständig nutzen mussten. Diese Angebote veränderten sich zusehends. Konnte die 1826 in Hannover geborene Dorette Mittendorf lediglich zweieinhalb Jahre lang ein Töchterpensionat in Einbeck besuchen, war der Ausbildungsweg der rund zwei Dekaden später tätigen Thekla Trinks bereits ungleich facettenreicher. Zunächst besuchte sie nach eigenem Bekunden "das beste Institut der Stadt" und erhielt nach Ende der Schulzeit Privatstunden in Musik, Französisch und Englisch.64 "Von einer systematischen, durch den Staat kontrollierten Ausbildung als Lehrerin wußte man damals in Thüringen noch nichts", wohingegen in Preußen bereits erste Lehrerinnenseminare etabliert worden waren.65 1869 gab es in Preußen bereits 39 Lehrerinnenbildungsstätten.66 Für die ehrgeizige Thekla hieß dies, die Koffer zu packen: Ab Oktober 1851 besuchte sie 18 Monate lang ein Erzieherinnenseminar in Droysig im Kreis Merseburg67 und genoss dort in ihren Augen "eine überaus originelle unterrichtliche Behandlung" vor allem durch den Leiter des Instituts. "Es wurde alles durch ihn angeregt, aber wir mußten das Unsrige zur Entwicklung seiner Gedanken beitragen."68 Überdies nutzte die Einrichtung die Anwesenheit von Elevinnen unterschiedlicher Nationen und die Schülerinnen sprachen wochenweise ausschließlich eine bestimmte Sprache. Die Ausbildung endete mit einer zweitägigen Prüfung in Düsseldorf.
Trinks Lernbegierde und Neugier war damit keinesfalls erschöpft. 1855 nahm sie die Pariser Weltausstellung zum Anlass, um ihrem Französisch den letzten Schliff zu verleihen.69 Ihre erste Anstellung bei einer hochgestellten irischen Familie verließ sie, weil sie ihrem Ziel, dort ihr Englisch zu vervollkommnen, nicht näher kommt, musste sie doch mit ihren Schülerinnen in Unterricht und Freizeit deutsch und bei den Abendessen französisch sprechen. Bei ihrer zweiten Familie in England wurde sie ungleich mehr gefordert und gefördert. Gemeinsam mit ihrer sechszehnjährigen Schülerin übersetzte sie deutsche und französische Lektüre ins Englische. Aber nicht nur das:
Da mir auch der Unterricht in englischer Geschichte und Literatur anvertraut war, so war mir hier eine höchst wertvolle Gelegenheit zu meiner Weiterbildung im Englischen dargeboten. Ich mußte mich gehörig vorbereiten, um diese Stunden zu geben. Wir lasen manche klassischen Werke – namentlich Milton und Shakespeare – zusammen; ich besprach den Inhalt mit Lucy [ihrer Schülerin], und dann machte jede von uns eine schriftliche Ausarbeitung über den Inhalt.70
Auf diese Weise erlangte die deutsche Lehrerin zunehmend Sicherheit sowohl in der Sprache als auch in der Kultur des Landes, in dem sie tätig war.
Während die deutsche Lehrerin in diesem Fall vor allem Kenntnisse des Landes mitnahm und nicht zuletzt kulinarischen Genüssen wie der "herrlichen Devonshire-Cream" nachtrauerte, gaben andere ihrerseits deutsche Gepflogenheiten an ihre englischen Arbeitgeber weiter. Die zwei deutschen Hauslehrerinnen, die in der Familie Walford unterrichteten, waren zwar auch wegen ihrer deutschen Backrezepte bei ihren Zöglingen sehr beliebt. Letztlich überzeugten sie aber vor allem aufgrund ihrer großen Qualitäten auf musikalischem Gebiet, die alle Familienmitglieder in ihren Bann zogen. "Fräulein Lindemann" und "Fräulein Müller", die in den 1850er Jahren Einzug in die siebenköpfige Familie hielten, waren beide ausgebildete Sängerinnen, harmonierten stimmlich vortrefflich und gaben allabendlich, von der Dame des Hauses am Flügel begleitet, Konzerte. Dass sie dabei vor allem "sweet songs of the Vaterland" zum Besten gaben, stieß offenbar in der Familie keineswegs auf Kritik. Überhaupt, so erinnerte sich Tochter Lucy Walford, hatten die beiden Deutschen das Regime im Kinderzimmer der fünf Schwestern übernommen, von den Eltern, äußerst interessiert an pädagogischen Fragen, unterstützt und von den Kindern geschätzt.71
Einige Gouvernanten entwickelten im Zuge ihrer Tätigkeit didaktische Fertigkeiten und gaben diese weiter. Die englische Gouvernante, die zwei kleine Russinnen in Moskau zu betreuen hatte, besuchte regelmäßig mit ihren Schülerinnen die Eremitage, nicht ohne sich zuvor intensiv mit den dort ausgestellten Kunstwerken beschäftigt zu haben, um dann vor Ort ihr Wissen weiterzugeben.72 Thekla Trinks nutzte bei ihrer englischen Elevin das Lernkonzept des "forschend entwickelnden Unterrichts", und auch schon Louise Lehzen war sich in den 1830er Jahren des Nutzens der Anschaulichkeit bewusst, als sie gemeinsam mit der kleinen Prinzessin Viktoria 132 Puppen von historischen Persönlichkeiten bastelte und somit der Geschichte, die sie der künftigen Regentin nahebringen sollte, einprägsame Gesichter gab.
Queen Viktoria dankte dieses Einfühlungsvermögen ihrer "süßen Lehzen" mit lebenslanger Freundschaft. Ihre Gouvernante trug ihrerseits dazu bei, dass wir bis heute über das Innenleben der Königin vergleichsweise gut informiert sind, da sie ihre Schülerin, kaum des Schreibens mächtig, zum regelmäßigen Tagebuchschreiben anhielt.73 Mögen auch Lehzen und Legionen anderer Erzieherinnen mit ihr eher intuitiv den richtigen Ton getroffen haben, wurde diese Fähigkeit als Qualitätsmerkmal für gute Gouvernanten nicht zuletzt in ausländischen Diensten pointiert. Dass der Unterricht durch die Hauslehrerinnen dann umso erfolgreicher war, wenn man eine angenehme Atmosphäre schuf, herzlich miteinander umging, Rücksichten auf die familiären Gepflogenheiten nahm und vor allem Begeisterung für die Aufgabe ausstrahlte, wurde zu einem Topos, der auch Eingang in die offizielle Ratgeberliteratur fand. "Recall the state in which you began the morning's work", mahnte eine Gouvernante 1860. "Were you well? And cheerful? And ready to see everything in the pleasantest light in which it could truthfully be seen?"74
Auch wenn das Spektrum der Gefühle, das Gouvernanten hervorriefen, groß war, schien es doch vielen zu gelingen, die Herzen ihrer Zöglinge zu erobern. Das Fundament dazu war meist schon gelegt: Die Hauslehrerinnen und ihre Schüler verbrachten viele Stunden des Tages miteinander und damit häufig mehr Zeit als die Eltern oder andere Familienmitglieder, machten gemeinsame Erfahrungen, feierten gemeinsame Erfolge und wurden so schnell miteinander vertraut. "The Age of Governesses", hat der 1894 geborene Offizierssohn und spätere Schriftsteller Gerald Brenan (1894–1987) das Kapitel seiner Kindheit überschrieben und damit den großen Einfluss dieser Frauen auf den Punkt gebracht.75
Wenn diese Frauen aus dem Ausland kamen, trugen sie, wie immer wieder betont wurde, eine besondere Verantwortung. Zum einen für sich selbst, zum anderen aber auch, weil sie als Botschafterin ihres Landes auftraten und namentlich bei den kleinen Kindern früh eine Basis gegenseitiger Achtung legen konnten. Fundierte Bildung und Erziehung gehörten unabdingbar dazu, wie eine erfahrene Gouvernante nicht müde wurde, zu betonen:
Heute kommt überall im Ausland nur die deutsche Lehrerin vorwärts, die etwas Gründliches gelernt hat. Eltern, die ihre Töchter in der Fremde nach dem Erwerb suchen lassen, den das Vaterland ihnen nicht bietet, sollten bedenken, daß sie sie damit in erhöhtem Maße dem Kampf ums Dasein aussetzen, und daß sie dazu einer geistigen und sittlichen Ausrüstung bedürfen, die sie befähigt, in jedem Treffen zu stehen und dem deutschen Namen im Auslande Ehre zu machen.76
Offensichtlich verbesserte sich im Lauf des Jahrhunderts nicht nur die Qualität der Lehre, sondern erhöhten sich parallel dazu auch die Erwartungen an die Gouvernanten. Da nun vor allem im Deutschen Reich eine größere Zahl von Lehrerinnenbildungsinstituten existierte, stieg entsprechend die Zahl von Gouvernanten, die ein Diplom oder ähnlich geartetes Bildungspatent vorweisen konnten. Hinzu kam, dass die bürgerlichen Kreise, die jetzt häufig als Arbeitgeber auftraten, mehr Wert auf eine solide Bildung ihrer Kinder legten – dies galt zunehmend auch für die Töchter. Auch das Gehalt richtete sich nun stärker nach dem mehr oder minder hohen Ausbildungsniveau einer Hauslehrerin.
Das Ende der Gouvernantenkarriere
Die Gouvernanten hatten ihrerseits weitere Ambitionen entwickelt. Diese gingen in eine gänzlich andere Richtung als die Zukunftsvorstellungen, die männliche Publizisten für Gouvernanten hegten, denen noch immer eine Ehe als "happy end" einer Lehrerinnenkarriere vorschwebte. Doch die wenigsten, nämlich nur vier bis fünf Prozent, so klagte Adolf Diesterweg stellvertretend für viele, konnten, wollte man der "Statistik der Lehrerinnen und Gouvernanten" trauen, wirklich auf eine Heirat hoffen, selbst wenn manche von ihnen aufgrund ihrer Lehrjahre eine "edlere Sprache, feineres Benehmen, [einen] vielleicht entwickelteren Geist und praktischen Blick, gesellige Tournüre und Sinn für Schönheit und Zartheit" mitbrächten. "Wo bleiben aber die 96 oder 95?"77 Ein Großteil dieser unverheiratet gebliebenen Lehrerinnen fand sich, um Diesterweg zu antworten, auf den nun zahlreichen privaten und öffentlichen Töchterschulen wieder.
Galt für ihre Kolleginnen in der ersten Jahrhunderthälfte das Leben als Gouvernante, besonders wenn es sie ins Ausland führte, als Befreiungsschlag, hatten die besonders erfolgreichen unter ihnen jetzt einen weiteren Karriereschritt im Visier. Viel reizvoller erschien es vielen Gouvernanten, eine Stellung an einer öffentlichen oder privaten Schule einzunehmen:
Ende des Jahre 1866 verließ ich das mir sehr liebgewordene Haus … Ich war inzwischen wohl über die Jahre hinaus, in denen man auch in abhängiger Stellung sich vollständig in die Interessen eines fremden Hauses einleben und sich darin befriedigt fühlen kann. Mein Ziel war damals die Übernahme einer Schule.78
Die Chancen hierzu stiegen gegen Jahrhundertende erheblich. "Die mehr und mehr Boden gewinnende Instituts- und öffentliche Erziehung" sei den Gouvernanten "nicht günstig",79 hieß es bereits in einer Publikation von 1862, es sei denn, sie wechselten von der Privat- in die öffentliche Erziehung.
Ihr gaben viele, namentlich die ambitionierteren Frauen, nun deutlich den Vorzug, da der Makel der Abhängigkeit, der dem Gouvernantendasein weiterhin anhaftete, hier weit weniger ausgeprägt war. Für Thekla Trinks war die Gouvernantentätigkeit ohnehin nur als ein lehrreiches Intermezzo gedacht gewesen; ihr Berufsziel hieß von vorneherein "Institutsvorsteherin".80 Dabei hatte sie schon früh eine besondere Klientel im Kopf, die, als besonders zahlungskräftig bekannt, sie strategisch Schritt für Schritt zu erobern suchte. "Ich war nach England gekommen", so erläuterte sie, "weil ich den Aufenthalt in diesem Lande als die wesentliche Voraussetzung, den eigentlichen Boden für die künftige Begründung eines von Engländerinnen besuchten Pensionats ansah."81
Langsam, aber sicher näherte sie sich diesem Ziel an, wobei ihr ihre reichlich gemachten Englanderfahrungen goldene Brücken bauten. Sprachlich fehlerlos und mit diplomatischen Geschick führte sie die Korrespondenzen mit den Eltern potentieller Schülerinnen, kam diesen buchstäblich entgegen, indem sie sie persönlich von zu Hause abholte bzw. eine Kollegin schickte, um sie in ihr Meininger Institut zu bringen. Mit Toleranz begegnete sie fremden Modeerscheinungen, als eine Gruppe junger Engländerinnen mit offenen Haaren und bunten Kleidern dem Zug entstieg, und sie freute sich, als ihre Elevinnen zu ihrem Geburtstag "eine Reihe lebender Bilder aus der englischen Geschichte" vorführten. Wohl wissend, dass die Musik der Hauptgrund ist, "der die Engländerinnen nach Deutschland führt", hatte sie sechs Klaviere angeschafft, die nur während einer Scharlachepidemie kurzzeitig schwiegen: "Nur wer selbst ein Pensionat geleitet, weiß, was es heißt, wenn die Klaviere still stehen."82 Nicht zuletzt die Tatsache, dass sie und ihre Kollegin "das Englische rein und geläufig sprachen", ließ ein vertrautes Miteinander aufkommen, hatte sie "manch trauliches Stündchen in ernstem Gespräch mit den einzelnen" zubringen können.83 Dank der schon in der Gouvernantenzeit bewährten Lehrmethode des nicht nur "gedächtnismäßigen Aneignens des Lehrstoffes, sondern zugleich Verständnis desselben durch Verbindung mit Gleichartigem auf anderen Gebieten" zu wecken, gelang es ihr, eine Basis zu schaffen "für die Weiterbildung nach Rückkehr ins elterliche Haus … Dies haben uns die Briefe vieler lieber Schülerinnen bestätigt."84
Doch diese Akzeptanz und Anerkennung englischer Wünsche und Besonderheiten war keineswegs grenzenlos. Die Vorstellung der eigenen Überlegenheit blieb und rief missionarischen Eifer hervor:
Wir hatten also bei der Erziehung hauptsächlich den englischen Charakter ins Auge zu fassen gehabt. Unser Streben war in erster Linie darauf gerichtet gewesen, größere Vertiefung des Gemühtes, überhaupt Verinnerlichung des ganzen Wesens zu erzielen gegenüber der Oberflächlichkeit und Leichtlebigkeit, die sich bei den meisten Ankömmlingen zeigte.85
Thekla Trinks Auslandserfahrungen hatten sie eher in ihrem Nationalstolz bestärkt; manch andere Erzieherin mag ihren Erfahrungsschatz anderweitig verwertet haben, wird auf ihren Reisen auch Vorzüge des jeweils "Anderen" gesehen und sich angeeignet haben. Dies jedoch zu konzedieren schien namentlich im nationalistisch gestimmten Deutschen Kaiserreich wenig opportun, da die Gegnerschaft gegen gut ausbildete Lehrerinnen sich immer wieder lautstark zu Wort meldete und der Kampf der Lehrerinnen um Anerkennung auf zähen Widerstand stieß.86 Als mit der zunehmenden Institutionalisierung der Mädchenbildung auch eine Nationalisierung des Lehrkörpers einherging, nahmen Chancen für eine demonstrative Weltoffenheit ohnehin wieder ab. Dass Schülerinnen von einer Ausländerin oder auslandserfahrenen Pädagogin unterrichtet wurden, war nun wieder eher eine Seltenheit geworden.
Die These, dass vor diesem Hintergrund auch die Chancen des Kulturtransfers schwanden, würde aber die Bedeutung der Gouvernanten für diesen Prozess überbewerten: Neben den gegenseitigen Vorurteilen, die sich offenbar hartnäckig hielten, machte es der dreifache Fremdheitseffekt – als Ausländerin, manchmal als Klassenfremde und noch dazu Fremde in der Familie – den jungen Frauen nicht leicht, als Kulturmittlerin aufzutreten bzw. kulturelle Werte der anderen Seite anzunehmen. Doch je mehr sie auf Vorbilder blickten und eigene Erfahrungen machen konnten, desto selbstbewusster traten die jungen Frauen auf und desto mehr forderten sie das traditionelle Weiblichkeitsideal heraus. Einige von ihnen öffneten damit wirklich Horizonte.