Einleitung
Exemplarisch kann man die Verhältnisse des Judentums in Osteuropa zwischen dem 17. und dem 18. Jahrhundert an einer Sekte beobachten, deren Entstehung von zwei zeitgeschichtlichen Phänomenen maßgeblich beeinflusst wurde: zum einen von dem vom Osmanischen Reich ausgehenden Sabbatianismus, zum anderen von der schwierigen Situation, in der sich die osteuropäischen Juden, sowohl in Hinblick auf die sie umgebenden Mehrheitsgesellschaften, aber auch in Bezug auf innerjüdische Angelegenheiten, befanden.1
Der Frankismus war trotz seiner sabbatianischen Wurzeln eine durch und durch osteuropäische Sekte, die in der damaligen historischen Situation zu den sozialen Spannungen und Zukunftshoffnungen der Juden Polen-Litauens Position bezog (siehe Abschnitt 4). Auch was den Aufbau der Gemeinschaft und die Stellung ihres Gründers Jakob Frank (1726–1791) []betrifft, können vorsichtig bestimmte Strukturparallelen zur jüdischen Orthodoxie und zum späteren Zaddikkult bei den Chassiden gezogen werden,2 da sie alle einem gemeinsamen zeitlichen und regionalen Hintergrund entstammen ‒ dies gilt auch und gerade obwohl der Frankismus von beiden Seiten, der Orthodoxie wie dem Chassidismus, massiv bekämpft wurde. Orthodoxe und Chassiden waren hauptsächlich deshalb gegen den Frankismus eingenommen, weil sie befürchteten, dass sich seine Anhänger, die den Talmud ablehnten, ganz vom Judentum abkehren würden. Außerdem war die sabbatianisch-messianische Komponente, die im Frankismus vorhanden war, in Osteuropa schon im 17. Jahrhundert auf Abwehr gestoßen.
Auch die Person Jakob Franks lässt bereits die Spannungen im osteuropäischen Judentum sichtbar werden, die – mit dem Auftreten des Chassidismus – die organisatorische und geistige Einheit der Juden in der Rzeczpospolita (so die Selbstbezeichnung Polen-Litauens als Lehnübersetzung von lat. res publica) in den Folgejahrzehnten zerreißen sollten. Aus der Betrachtung der Ereignisse um Jakob Frank und seine Anhänger kann ‒ auch wenn diese Gemeinschaft im Gegensatz zum Chassidismus zu keiner Zeit eine wirkliche Bedrohung für die jüdische Orthodoxie wurde ‒ auf die Eigentümlichkeiten der jüdischen Diasporageschichte in Osteuropa und die Spannungen in der dortigen jüdischen Gemeinde geschlossen werden.
Die Geschichte des Frankismus ist eng mit Franks Biographie verknüpft. Er war die zentrale und autoritäre Führungspersönlichkeit und sein Schicksal war eng mit dem seiner Anhänger verwoben. Daher soll in den folgenden Abschnitten der Frankismus anhand von Franks Vita beschrieben werden. Die Lehre Franks entwickelte sich erst im Verlauf der Ereignisse; verschiedene Einflüsse wurden aufgenommen und reflektiert. Das wird im Folgenden an ausgewählten Beispielen dargestellt.
Von den Anfängen bis zur Massenkonversion (1759): Eine polnische Variante des Sabbatianismus
Aus sabbatianischem Hause stammend, wurde Jakob Frank 1726 als Ya'aqov ben Yehuda Leib3 in Korolówka4 in Podoliengeboren, das nach 1699 wieder Polen-Litauen zugefallen war, aber die Verbindung zu den sabbatianischen Gruppen aus dem Osmanischen Reich noch lange aufrecht erhielt.5 Seit seinem zwölften Lebensjahr diente er im Haushalt eines jüdischen Kaufmanns in Bukarest6 und verkehrte dort offenbar auch mit Anhängern Shabtai Zvis (1626–1676) []. Die anderen erhaltenen Quellen über seine Jugend berichten davon, dass er sich als Händler zunächst in Istanbul und dann (ab November 1753) in Saloniki, damals die Hochburg der Dönme,7 aufgehalten habe.8 Als sich Frank Mitte der 1750er Jahre wieder in der Rzeczpospolita befand, übernahm er in Podolien die Führung einer sabbatianischen Gruppierung.9
Der erste Konflikt mit der jüdischen Orthodoxie folgte kurz darauf, als im Januar 1756 nach der später so genannten Orgie von Lanckoron10 die Repräsentanten des Judentums in Polen-Litauen den Herem (Exkommunikation) über alle Sabbatianer ausriefen.11 Es soll sich bei der Orgie von Lanckoron um ein Ritual gehandelt haben, das Frank von den Dönme übernommen hatte: Ein weibliches Mitglied des Frank'schen Zirkels, so heißt es, soll die Rolle der kabbalistischen, weiblich konnotierten Sefira (Emanation) Tif'eret (Krone, Herrlichkeit) übernommen und mit den männlichen Teilnehmern die heilige Hochzeit vollzogen haben. Dieses Ritual repräsentiere die kosmische Harmonie und partizipiere an ihr, indem es bestimmte metaphorische Aussagen aus der Lehre der Kabbala in die Praxis umzusetzen gesucht habe. Theologischer Hintergrund der Orgie war wohl die antinomistische Lehre des Sabbatianers Berakya Russo, nach der die Tora des Mose im angebrochenen messianischen Zeitalter durch eine neue Tora, die die genaue Umkehr der alten Gebote verordnet, ersetzt werden soll: Was im Judentum bisher durch göttliche Offenbarung als verboten galt (wie etwa die Speisegesetze oder Unzuchtsklauseln, z.B. das Inzestverbot), war in dieser neuen Tora nun als ein zu erfüllendes Gebot anzusehen.
Dieser Antinomismus stieß auf das Interesse des Bischofs Dembowski von Kamieniec-Podolsk, der ihn für einen Ritualmordprozessgegen die rabbinischen Juden in seiner Diözese verwenden wollte.12 Er organisierte 1757 in Kamieniec eine Disputation zwischen rabbinischen Delegierten und den Kontratalmudisten, wie die Frankisten vom polnischen Klerus genannt wurden, da sie nur die Hebräische Bibel und den Zohar als heilige Schriften anerkannten, nicht aber den Talmud. Frank selbst war nicht anwesend, weil er ins Osmanische Reich geflohen war und sich dort wie die Dönme zum Islam bekehrt hatte. Diese Disputation stellte gegenüber ihren mittelalterlichen Vorläufern ein gewisses Novum dar.13 Diesmal stritt nicht die jüdische Seite mit einer christlichen, sondern zwei jüdische Streitparteien kämpften vor einem christlichen Publikum und Richtergremium und versuchten, die christliche Seite zu überzeugen.14 Die Frankisten nahmen hierbei – obwohl sie Juden waren – faktisch die antijüdische Position ein, indem sie alte Klischees bedienten (s.u.) und diese mit rabbinischen Schriften zu belegen versuchten. Während dieser ersten Disputation legten die frankistischen Delegierten der Versammlung ein Positionspapier mit neun Disputationspunkten vor, welche den Glauben der Sekte zusammenfassten.
Das Zusammentreffen fiel jedoch ernüchternd aus, da die rabbinische Partei sich guter Argumente zu bedienen wusste. Trotzdem wurden die Sektierer zu den Siegern der Disputation erklärt, woraufhin Bischof Dembowski innerhalb seiner Diözese alle verfügbaren Talmud-Ausgaben öffentlich verbrennen ließ. Weil er aber unmittelbar danach verstarb, was von rabbinischer Seite als Gottesurteil angesehen wurde, änderte sich nun plötzlich die Lage für die Frankisten. Viele flohen ins Osmanische Reich, um der Vergeltung durch die jüdischen Gemeinden zu entgehen; einige von ihnen konvertierten wie Frank selbst zum Islam.15
1758 sicherte der polnische König August III. (1696–1763) auf Bitten Franks die Rückkehrfreiheit durch ein königliches Privileg zu. Frank kam daraufhin im Dezember 1758 nach Polen-Litauen zurück. Seine Delegierten stellten sich einer zweiten Disputation mit den rabbinischen Autoritäten. Auch diesmal scheinen die Anhänger Franks teilweise abenteuerliche Anschuldigungen gegen das traditionelle Judentum vorgebracht zu haben.16
Nach dieser Auseinandersetzung boten die Frankisten im Juli 1759 die Konversion zur römisch-katholischen Kirche an, sofern es ihnen gestattet bleibe, bestimmte eigene Lehren zu vertreten und ihre Rituale zu vollziehen.17 Obwohl dies von königlicher und kirchlicher Seite abgelehnt wurde, ließen sich zwischen 1759 und 1764 vermutlich etwa 3.000 Sektenmitglieder taufen;18 diese Massenkonversion ist übrigens bis dahin überhaupt die erste in Polen-Litauen gewesen. Die Taufpaten waren oft Mitglieder des Adels, bei Frank der polnische König selbst.19
Die sabbatianischen Anfänge des Frankismus
Wegen des großen Einflusses des Sabbatianismus auf den Frankismus kann man letzteren durchaus als "messianism's aftereffect"20 betrachten bzw. vom "letzte[n] Ausläufer"21 der Sekte Shabtai Zvis sprechen. Gleichwohl kann die Sekte Jakob Franks ihre osteuropäische Herkunft nicht verbergen.
Jakob Frank übernahm weitgehend die Paradigmen der Lehre des Sabbatianismus, die sich aus kabbalistischen und zum Teil christlichen Elementen speisten (z.B. die mystische Erlösung der Schöpfung und die Rolle, die die Juden als Mitarbeiter Gottes dabei spielten; die Inkarnation Gottes [unter Verzicht auf seine göttlichen Attribute] in Shabtai und seinen Nachfolgern). Hierdurch verweist der Frankismus auf seine sephardische Herkunft im Osmanischen Reich, wo Frank selbst einige Jahre gelebt hatte.
An den Religionsdisputationen der Frankisten kann das sabbatianische Fundament gut abgelesen werden: Sie bekannten sich zur Trinität, ohne jedoch eine präzisere Beschreibung der drei göttlichen Personen vorzunehmen. Die Vorstellung von drei Personen in Gott übernahm Frank nicht vom Christentum, sondern vom Sabbatianismus: Kurz vor seinem Tod hatte Shabtai Zvi unter dem Titel Raza di Mehemnuta (Geheimnis des Glaubens) eine eigene Glaubenslehre diktiert. Hierin beschrieb er die Dreifaltigkeit Gottes, die aus den Personen des allerheiligsten, verborgenen Gottes (welcher auch kabbalistisch Eyn-Sôf=Ohne-Ende genannt wird), des geschichtsmächtigen Gottes Israels und der Schechina bestehe.
Die Inkarnation Gottes wird ebenfalls erwähnt, auch hier wieder ohne eine nähere Spezifizierung. Da die Frankisten ihre Lehre nicht näher erläuterten, vermittelten sie dem der Disputation beiwohnenden katholischen Klerus den Eindruck, dass sie faktisch schon Christen seien. In Wirklichkeit aber dissimulierten sie ihr eigentliches Bekenntnis, das die Trinität, die Inkarnation und die Tora-Auffassung vollkommen anders und vornehmlich sabbatianisch verstand. Frank übernahm vom Sabbatianismus die Identifikation des Göttlichen mit einem führenden Mitglied der Glaubensgemeinschaft (wie dies auch die Dönme in Adaptation der christlichen Inkarnationslehre taten). So wurde Jakob Frank als die Reinkarnation Shabtai Zvis22 betrachtet und damit als die menschliche Erscheinungsweise des Gottes Israels, welcher der bösen Schöpfung gegenübersteht und das jüdische Volk erretten möchte.
Der Glauben an die mosaische Tora, den die Frankisten während der Disputation anführten, war Teil ihrer Verschleierungstaktik und diente als Korrelat zur Verwerfung des Talmuds; sie wollten sich damit offenbar Bischof Dembowski gegenüber empfehlen. Aber in ihrem Antinomismus, den sie von der Dönme übernommen hatten, zeigte sich ihre wahre Haltung gegenüber der Tora des Mose.
Franks Gefangenschaft in Częstochowa (1760–1773): Ein mariologischer Messianismus
Durch das Festhalten an ihrem Gründer Jakob Frank erregten seine Anhänger das Misstrauen des Königshofes, der auch aufgrund von Denunziationen an der Ehrlichkeit ihrer Konversion zweifelte. Um die Gruppe von ihrem Gründer zu trennen, wurde Frank Anfang 1760 verhaftet und in Częstochowa (Tschenstochau) interniert, wo er bis zur ersten Teilung Polens (1772)als Gefangener blieb. Ihm gelang es jedoch, auch aus der Gefangenschaft den engen Kontakt zu seinen Anhängern zu behalten, wodurch das Ansinnen der staatlichen Organe letztlich scheiterte; einige Frankisten zogen in seine Nähe und vollzogen ihre Rituale nach der Haftlockerung 1762 sogar in der Festung selbst. Unterdessen schrieb Frank aus der Haft Briefe nach Petersburg, als sich die Eroberung Polen-Litauens durch Russland ankündigte, und bot im Gegenzug für seine Freilassung die Konversion zur russisch-orthodoxen Kirche an.
Einflüsse der katholischen Mariologie
Nach seiner Inhaftierung im Marienwallfahrtsort Częstochowa – der Wallfahrtsberg Jasna Góra (Klarenberg) wurde bei Frank nun mit dem Berg Zion identifiziert – übernahm Frank auch mariologische Theologoumena und entwickelte die speziell frankistische Form des Sabbatianismus, in der die Šekina nunmehr in Anlehnung an Maria als Magd, Jungfrau und Herrin bezeichnet wird23 und als Seinsweise Gottes in einem Menschen Fleisch wird: Da sie weiblich konnotiert war, wurde sie zunächst mit der Frau Jakob Franks identifiziert. Nach ihrem Tod im Jahr 1770 galt für die Frankisten dann Franks Tochter Ewa (1754–1816) als Šekina in menschlicher Erscheinung. Die ursprünglich kabbalistisch verstandene Interpretation der Vereinigung der Sefirot wird seit dieser Periode des Frankismus in synkretistischer Weise mit der katholischen Mariologie verschmolzen.
Der "Polackenfürst" (bis 1791): Eine utopische Militärmonarchie
Unklar bleiben die folgenden Ereignisse, denn Frank wurde unmittelbar nach der ersten Teilung Polens tatsächlich aus der Haft entlassen und verließ Częstochowa im Januar 1773, siedelte dann aber nach Brno (Brünn) in Mähren um, wo er bis 1786 oder 1787 lebte.24
Danach ließ sich Frank schließlich in Offenbach bei Frankfurt am Main nieder und erwarb vom hochverschuldeten Fürsten von Ysenburg ein eigenes Schloss, in dem er als "Freiherr von Offenbach" mit einer eigenen Hofhaltung und Privatmiliz residierte.25 Mit dem Kauf sicherte sich Frank gewisse Privilegien wie die eigene polizeiliche Hoheit und Autonomie.26 Der harte Kern seiner Anhänger folgte ihm oder schickte zumindest finanzielle Unterstützung aus Polen-Litauen und Prag.27 Nach seinem Tod am 10. Dezember 1791 und der prunkvollen Bestattung zerstreute sich die Sekte schnell,28 so dass seine Tochter Ewa völlig verarmt starb.29 Weil sie hohe Schulden hatte, wurde Ewa zeitweilig sogar unter Hausarrest gestellt. Ihre Gläubiger konnte sie allerdings lange hinhalten, indem sie sich als Sprössling der Romanow-Dynastie ausgab und die Begleichung ihrer Schulden durch ihre "Zarenverwandtschaft" in Aussicht stellte.
Nach dem Tod Ewas zerstreuten sich die Anhänger des Frankismus. Die zur katholischen Kirche konvertierten Mitglieder blieben bei ihrem neuen Bekenntnis und gaben offenbar die geheim gehaltene Zugehörigkeit zum Frankismus bald endgültig auf. So gingen sie schließlich in der polnischen Kirche auf.30
Die Umkehrung der Verhältnisse: Utopie und Militarismus
Eine wichtige Komponente von Franks Lehre war die Kritik an den sozialen Zuständen der Judenheit in Osteuropa. Auffällig ist die messianische Erwartung der Umkehrung der Verhältnisse,31 genauer gesagt, die Hoffnung, die Juden würden die Szlachta (den polnischen Landadel) versklaven und sich so für ihre Geschichte in der Diaspora rächen können. Die Organisation seiner Gemeinschaft war einem uniformierten Heer nachempfunden, das Frank als messianisch-königliche Gestalt ‒ wie er sich bisweilen präsentiert hatte ‒ treu ergeben und gehorsam zu dienen hatte. Es herrschten daher militärische Verhaltensmuster und eine strenge Kontrolle innerhalb der Sekte vor; nach der Konversion zum Katholizismus ernannte Frank zwölf Apostel sowie zwölf Schwestern, deren Hauptaufgabe es war, dem Anführer der Gemeinschaft als Konkubinen zur Verfügung zu stehen. Die Frankisten waren streng von ihrer Umgebung separiert, und nur Endogamie war gestattet.32 Gegenüber dem Staat war den Anhängern die reservatio mentalis, also das Verschweigen des Bekenntnisses bis hin zur Falschangabe, erlaubt. In Franks Terminologie spiegelte sich darin der endzeitliche Antagonismus zwischen den biblischen Brüdern Jakob und Esau, wobei Esau für das katholische Christentum stand, während sich Jakob Frank mit seinem Namensvetter identifizierte und sich eine messianische Erlöserrolle zuschrieb.33 Am Ende seines Lebens deutete Frank die Französische Revolution als Anbruch der Endzeit,34 an deren eschatologischem Kulminationspunkt alle Juden ins Gelobte Land, das Frank allerdings mit Polen identifizierte, kommen würden.35 Diese positive Konnotation Polens hatte nach Franks Tod die relativ problemlose Assimilation seiner ehemaligen Anhänger zur Folge.