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Publikationswelle
Kaum 70 Jahre nach der Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern erhob sich im Alten Reich, ausgehend von den Vorgängen um den Wittenberger Theologieprofessor Martin Luther (1483–1546), eine Publikationswelle bislang unbekannten Ausmaßes. Luthers Sermon von Ablass und Gnade, im März 1518 veröffentlicht,1 wurde in den Jahren bis 1521 wenigstens 26 Mal aufgelegt.2 Die Exemplare der von Luther herausgegebenen Theologia deutsch3 und seiner Auslegung deutsch des Vaterunsers für die einfältigen Laien4 wurden 1519 in Meißen, wie Beatus Rhenanus (1485–1547) an Huldrych Zwingli (1484–1531) berichtet, nicht verkauft, sondern den Händlern förmlich aus den Händen gerissen.5 Die mit 4.000 Exemplaren ungewöhnlich hohe erste Wittenberger Auflage der Adelsschrift6 war 1520 innerhalb von zwei Wochen vergriffen.7 Im Zusammenhang der von Wittenberg ausgehenden Bewegung traten auch andere Autoren, seltener Autorinnen, publizistisch hervor. Berechnungen zufolge wurden alleine im Jahr 1524 ca. 2.400 Flugschriften mit einer geschätzten Gesamtanzahl von 2,4 Millionen Exemplaren veröffentlicht.8
Es war wohl vor allem diese schon rein publikationsstatistisch nachweisbare "Produktionsexplosion" von mehr oder weniger direkt auf die Person und das Anliegen Luthers Bezug nehmenden Druck-Erzeugnissen gewesen, die den Ausschlag gab, die Wittenberger Reformation insgesamt als Medienereignis zu interpretieren. Der ursprünglich aus der Kommunikations- und Medienwissenschaft stammende Begriff des Medienereignisses hat sich inzwischen – trotz seines nicht leicht zu definierenden Inhalts und seiner anachronismusverdächtigen Anwendung auf historische Prozesse des 16. Jahrhunderts – als reformationshistoriografische Deutungskategorie etabliert – wohl auch nicht zuletzt deshalb, weil er wie nur wenige andere Begriffe in der Lage ist, die Vorgänge um Martin Luther in die Gegenwart zu rücken, gleichsam zu vergegenwärtigen.9
Kommunikationsprozesse
Die von Wittenberg ausgehende reformatorische Bewegung wird seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts verstärkt als ein Kommunikationsgeschehen gedeutet, als ein Konnex von Kommunikationsprozessen, die je nach Sender und Empfänger, nach Inhalt und Vermittlung, Intention und Rezeption recht unterschiedlich verliefen.10 Wesen und Entstehung dieses kommunikativen Gewebes können hier allenfalls angedeutet werden. Die ersten theologischen Verständigungen Luthers mit den Kollegen und Studenten an der Wittenberger Universität, mit den Erfurter Ordensbrüdern, mit befreundeten Humanisten, Besuchern und durchreisenden Gästen, aber auch mit der sonntäglichen Gottesdienstgemeinde in der Wittenberger Stadtkirche verliefen nahezu ausschließlich über den Kanal der Mündlichkeit und der Handschriftlichkeit.
Luther hatte sich nach der Übernahme der Wittenberger lectura in biblia im Jahr 1512 mit Druckveröffentlichungen zunächst auffallend zurückgehalten. Erst die unautorisierten Nachdrucke seiner 95 Ablassthesen, die noch 1517 in Nürnberg, Leipzig und Basel erschienen, veranlassten ihn offenbar zu einem Wechsel in der Publikationsstrategie.11 Schon im darauf folgenden Jahr veröffentlichte Luther verschiedene Predigten in Form von Flugschriften, in denen er seine theologischen Einsichten eindrücklich, volksnah und vor allem in deutscher Sprache entfaltete. Sie bildeten den Auftakt zu einer außergewöhnlichen literarischen Schaffens- und Veröffentlichungsphase (1518/1519), die auch Freunde, Schüler und Sympathisanten außerhalb Wittenbergs zu Publikationen, Predigten, Disputationen und Gesprächen anspornte und nicht unwesentlich dazu beitrug, dass aus der Wittenberger professoralen Überzeugungsgemeinschaft eine "reformatorische Bewegung" entstand. Die Wittenberger Theologen, allen voran Luther, aber auch Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt (1480–1541) und Philipp Melanchthon (1497–1560), und die sich ihnen anschließenden Geistlichen, Prädikanten und Ordenstheologen in den Städten agierten in diesem Kommunikationsgeschehen als Wortführer der Reformation, sie fungierten gleichsam als opinion leaders,12 denen die große Masse der überwiegend Leseunkundigen den Resonanzraum der "öffentlichen Meinung" bot. Sie hatten Zugang zu den wichtigsten Multiplikationsstellen der Zeit: den Kanzeln und den Druckwerkstätten – die Drucker stritten sich geradezu um die Wittenberger Manuskripte. Der von ihnen, aber dann auch von Laienautoren und -autorinnen gestaltete Raum einer lokalen, regionalen und überregionalen "reformatorischen Öffentlichkeit"13 erzeugte massiven Druck, der zur Folge hatte, dass sich die "Luthersache" nicht mehr in der üblichen Verlaufsform eines Ketzerprozesses kanalisieren ließ, sondern eine Dynamik gewann, die das bisherige Kirchensystem zum Einsturz brachte. Was die inhaltliche und sprachliche Attraktivität anbelangt, hatten die altgläubigen Kräfte, trotz beachtlicher publizistischer Anstrengungen,14 den frühen reformatorischen Publikationen nichts Vergleichbares entgegenzusetzen.
Mediale Vielfalt
Innerhalb der vielstimmigen Medienpartitur15 der Jahre 1518 bis 1525, in denen sich die Wittenberger Reformation konstituierte und durchzusetzen begann, waren die Druckmedien zweifellos von zentraler Bedeutung. Sie erst brachten den Wechsel von der "Kommunikation unter Anwesenden" zur "medialen Kommunikation".16 Daneben spielten aber auch Formen mündlicher Vermittlung im frühen 16. Jahrhundert eine entscheidende Rolle, gerade auch in der Weitergabe der reformatorischen Vorstellungen und Überzeugungen an illiterate Kreise. Ebenso wurden performative und visuelle Medien bedeutsam, die, wie im Fall der Bildpublizistik, nicht selten mit den Druckmedien verbunden sein konnten (Intermedialität). Auch diese nicht-schriftlichen Medien hatten ihre "Öffentlichkeit" und konnten in regelmäßig stattfindenden, wenn auch vielleicht vom Adressatenkreis her "kleineren" Kommunikationsvorgängen, wie im Fall der sonn- und werktäglichen Predigten, aufs Ganze gesehen durchaus eine beachtliche Wirkung entfalten.17
Flugschriften
Die Flugschriften hatten vom Auflagenquantum her den Hauptanteil an der Publikationswelle der Jahre 1521 bis 1525. In Kürze erstellt und ohne großen Kostenaufwand vertrieben, waren die Flugschriften ein geeignetes Format zur schnellen Verbreitung reformatorischer Ideen. Der Umfang einer Flugschrift betrug im Quartformat in der Regel 15 bis 20, maximal 70 bis 90 Druckseiten. Häufig waren sie mit Titelholzschnitten versehen, die über das rein Ornamentale hinausgehend auf den Inhalt des Textes mit eindrücklichen Bildszenen Bezug nahmen, was nicht wenige Käuferinnen und Käufer angesprochen haben dürfte.18
Unter den Autoren war Luther der mit Abstand erfolgreichste, gefolgt von Karlstadt und Melanchthon. Doch blieb der Autorenkreis nicht auf Theologen beschränkt. Auch gebildete Frauen, Ratsherren, Handwerker – am bekanntesten der Nürnberger Schuhmachermeister Hans Sachs (1494–1576) – hatten zum Teil beträchtliche Publikationserfolge. Einen genauen Überblick über den Kreis der Autorinnen und Autoren zu gewinnen, ist schwierig, da nicht wenige Flugschriften, vor allem aus Furcht vor Repressalien, anonym publiziert wurden.19
Die Flugschriftenproduktion ebbte nach 1525, im Stadium einer eher obrigkeitlich durchgesetzten und stabilisierten Reformation, sichtlich ab. Um 1530 lässt sich nochmals eine kurzzeitige Produktionssteigerung erkennen, auch noch um 1546/1547, zu Beginn des Schmalkaldischen Krieges.20 Allerdings sind beide Publikationswellen vom propagandistischen Tonfall, vom Produktionsumfang sowie von der Dominanz theologischer Themen nicht mehr mit derjenigen der "Sturmjahre" zu vergleichen.
Die enormen, historisch wenig zweifelhaften Produktionszahlen der frühen Reformationsjahre stehen in einem deutlichen Kontrast zur Anzahl der Lesekundigen, die im Anschluss an maßgebliche Studien über diese Zeit im Alten Reich üblicherweise angenommen werden (fünf bis zehn Prozent der Gesamtbevölkerung).21 Selbst wenn man berücksichtigt, dass neben dem privaten Still-Lesen gerade auch das Vorlesen (das "Lesen-Hören") eine damals verbreitete Lektüretechnik gewesen ist, bleibt das Verhältnis von Druckproduktion und Lesebefähigung erstaunlich und nach wie vor in vieler Hinsicht diskussionswürdig.
Dem medialen Format "Flugschrift" konnten so unterschiedliche literarische Textsorten wie Dialog, Traktat oder Brief zugrunde gelegt werden.22 Auffallend ist, dass die Flugschriften der Jahre 1518 bis 1525 nahezu vollständig von religiösen Themen, die in einem mehr oder weniger direkten Zusammenhang mit der Wittenberger Reformation standen, besetzt waren. Schwerpunkte waren die befreiende Botschaft von der allem menschlichen Heilsbemühen und -streben vorauslaufenden Gnade Gottes, die Kritik an Kirche und Klerus, die eine, im Prinzip allen zugängliche Norm der Heiligen Schrift und – insbesondere in den Tagen des Wormser Reichstags von 1521 – die Vorgänge um die Person Martin Luthers. Dabei ist eine beachtliche Konvergenz in der Darstellung gerade auch differenzierter theologischer Inhalte wie der Rechtfertigungslehre beobachtet worden, die wiederum eine integrierende Wirkung der Flugschriften auf die sich ausbildende "reformatorische Öffentlichkeit" vermuten lässt.23 Allerdings wurden die Themen nicht im Duktus lehrender Distanz, sondern zur persönlichen Stellungnahme, ja zur Entscheidung auffordernder Nähe verhandelt. Die Flugschriften suchten nicht die Wissens-, sondern die Überzeugungsgemeinschaft mit ihren Leserinnen und Lesern. Dazu trug der gegenüber den spätmittelalterlichen Flugschriften ungewöhnliche agitatorische Ton ebenso bei wie die überwiegende Verwendung der deutschen Sprache. In beidem unterschieden sich die reformatorischen Flugschriften nicht unwesentlich von ihren spätmittelalterlichen Vorgängern.
Illustrierte Flugblätter
Neben den Flugschriften waren die Flugblätter wichtige Vehikel des frühreformatorischen Informationstransports. Sie ließen sich aufgrund ihres geringen Umfangs (Einblatt-Druck) und ihrer geringen Herstellungskosten wie die Flugschriften gleichfalls in kurzer Zeit und hoher Auflage produzieren. Das Format hatte sich schon im Spätmittelalter herausgebildet, gewann aber erst jetzt seine für die neuzeitliche Verwendung typische Text-Bild-Kombinatorik.24 Vergleichbar den Flugschriften wurden die Flugblätter von Theologen, aber auch Handwerkern und anderen "Laien" in einer gegenüber der bisherigen Produktion verstärkten Anzahl publiziert, wobei hier die Zahlenverhältnisse selbst des überlieferten Materials – anders als bei den Flugschriften – bislang nur näherungsweise erfasst sind. Das Themenspektrum ist weit: Gerne wurden in strenger Antithetik alte und neue Lehre einander gegenübergestellt. Besonders in den Wochen und Monaten des Wormser Reichstags erschienen zahlreiche Luther-Porträts auf Flugschriften und Flugblättern, die der Reformation gleichsam ein Gesicht geben sollten[]. Vor allem Laien nutzten die mediale Plattform des Flugblattes, um in Karikatur und Bildunterschrift ihren beißenden Spott über Klerus und Ordensangehörige zu ergießen[][]. Dass die Flugblätter im Vergleich zu den Flugschriften eine stärker informierende Funktion hatten und weniger agitatorisch ausgerichtet waren, lässt sich angesichts des derzeitigen Forschungsstandes so pauschal kaum sagen.25 Jedenfalls markiert auch in diesem Fall das Jahr 1525 eine Zäsur. Nach dem Bauernkrieg sank die Flugblattproduktion und der agitatorische Ton verschwand. Das Interim oder auch das Vordringen der Osmanen – zu beidem wurden verstärkt illustrierte Flugblätter publiziert– ließen sich offensichtlich nicht mehr in demselben Maß als Themen öffentlicher Aufmerksamkeit platzieren, wie das mit Luther und seinen Reformideen zu Beginn der 1520er Jahre möglich gewesen war.
Bibelübersetzung
Von den Buchmedien der Wittenberger Reformation war die Bibelübersetzung Luthers zweifellos das massenwirksamste. Luthers Ziel war es, den Menschen eine dem Urtext möglichst nahestehende, gut verständliche Übersetzung des göttlichen Wortes an die Hand zu geben. Das von Luther in nur elf Wochen auf der Grundlage des von Erasmus von Rotterdam (1469–1536) herausgegebenen griechischen Textes und der Vulgata übersetzte Neue Testament erschien im September 1522 (Septembertestament) in einer Auflage von 5.000 Stück, die trotz des relativ hohen Preises von eineinhalb Gulden in nur drei Monaten ausverkauft war. Luthers Septembertestament erfuhr innerhalb von drei Jahren (1522–1525) 42 Neuauflagen und dürfte damit in der Anzahl der gedruckten Exemplare noch seine erfolgreichsten Flugschriftenpublikationen übertroffen haben.26 Ab 1523 veröffentlichte Luther in unregelmäßigen Abständen die Bücher des Alten Testaments in deutscher Übersetzung. 1534 erschien bei dem Wittenberger Drucker Hans Lufft (1495–ca. 1584) die erste Gesamtausgabe der Bibel in der deutschen Übersetzung Luthers. Von ihr wurden in den verbleibenden zwölf Jahren bis zu Luthers Tod mehr als 100.000 Exemplare verkauft. Der Publikationserfolg ist nicht nur mit dem gesteigerten theologischen Stellenwert, den die Bibel im lutherschen Reformprogramm einnahm, sondern vor allem auch mit der Qualität der Übersetzung selbst sowie nicht zuletzt mit der ansprechenden Druckgestaltung (Illustrationen) zu erklären. Frühere deutsche Übersetzungen basierten auf dem Text der Vulgata, den sie so wörtlich wie möglich ins Deutsche zu übertragen versuchten. Demgegenüber griff Luther auf den hebräischen und griechischen Urtext zurück und erreichte vor allem durch eine stärkere Orientierung an den sprachlichen Eigentümlichkeiten und Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen (in der idiomatischen Gestalt der sächsischen Kanzleisprache) eine ungleich bessere Lesbarkeit und Verständlichkeit des biblischen Textes. Die Lutherbibel diente nicht wenigen landessprachlichen Übersetzungen, die in Folge der Reformation entstanden, ja selbst auch katholischen deutschen Gegenübersetzungen als Vorbild.
Predigten
Es ist charakteristisch für die Wittenberger Reformation als mediengeschichtlichem Phänomen an der Schwelle vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit, dass zu ihrer Durchsetzung nicht nur die "neuen" Printmedien, sondern vor allem auch traditionelle Formen kommunikativer Vermittlung entscheidend beigetragen haben. Gerade Situationen mündlicher Kommunikation spielten bei der Verbreitung der Reformation eine schwerlich zu überschätzende Rolle,27 zumal die Oralität nicht nur die Rezeption ("Lesen-Hören"), sondern bis zu einem gewissen Grad selbst noch die Produktion der Flugschriften und Flugblätter bestimmte.28
Das Medium, das schon aufgrund der Regelmäßigkeit des Angebots sowie der hohen Nachfrage am nachhaltigsten gewirkt haben dürfte, ist die Predigt. Sie begann im 15. Jahrhundert aus dem Schatten des Altarsakraments herauszutreten, als das verstärkte Verlangen nach volkssprachlicher Verkündigung zur Einrichtung von Prädikaturen an den größeren Stadtkirchen führte. Durch die Parallelisierung mit den Sakramenten, durch die "Umstellung von Kult auf Kommunikation",29 wurde die Predigt neben der Taufe und dem Abendmahl zu einem Medium von heilsvermittelnder Dignität, auf das sich nun das vorrangige Interesse der Gottesdienstteilnehmerinnen und -teilnehmer richtete. Die Verkündigung des biblischen Wortes an die versammelte Gemeinde hatte nicht mehr nur vorbereitenden Charakter, sondern war nun selbst schon Vermittlung des von Gott in Christus dargereichten Heils. Da die Gottesdienste bereits im Spätmittelalter zu den frequentiertesten Veranstaltungen im öffentlichen Leben zählten, vermochten evangelische Predigten eine beachtliche Breitenwirkung zu erzielen. Nicht zu übersehen sind daneben auch andere, die Predigt sekundierende und verstärkende Formen mittelbarer Schriftlichkeit, also Formen der mündlichen Weitergabe von Bibeltexten oder Lutherschriften in Vorlesezirkeln oder Gesprächskreisen, deren Ursprünge, Wesen und Entwicklung jedoch noch weiterer Erforschung bedürfen.30
Aktionen
Von nicht zu unterschätzender Wirkung auf freilich nicht immer leicht abzugrenzende Adressatenkreise waren auch die verschiedenen Formen der Performanz, mit denen reformatorische Glaubensinhalte inszeniert oder aber auch altgläubige Glaubensüberzeugungen, Moralvorstellungen und Frömmigkeitspraktiken behindert, konterkariert, karikiert oder öffentlich dekonstruiert wurden. Die Aktionen wurden von Einzelnen oder Gruppen vollführt, waren spontan oder geplant, verliefen tumultuarisch oder ritualisiert, waren eher provozierend oder eher spottend oder auch appellierend – immer jedoch erreichten sie eine beträchtliche Aufmerksamkeit und vermittelten eine Botschaft, die in einem stark bildorientierten Umfeld ihre Wirkung selten verfehlt haben dürfte. Bekannte Beispiele von überregionaler Ausstrahlung und geradezu mit Fanal-Charakter sind der Wittenberger "Bildersturm" im Januar 1522 und die weiteren gewaltsamen Bildbeseitigungen, die dann vor allem im Bereich der schweizerisch-oberdeutschen Reformation folgten. Aber auch Predigtstörungen, Zehntverweigerungen, Fastenbrüche, Klosteraustritte, klerikale Eheschließungen oder Desakralisierungen von Altären und Reliquien erregten viele Gemüter. Geradezu künstlerische Energien offenbaren karnevaleske Inszenierungen wie zum Beispiel die "Buchholzer Travestie",31 in der die örtliche Jugend des Erzgebirgsstädtchens wohl im Juli 1524 die von Herzog Georg von Sachsen (1471–1539) von langer Hand vorbereitete und schließlich am 16. Juni 1524 erfolgte Erhebung Bennos von Meißen (gest. 1106) zur Ehre der Altäre in einer Spottprozession karikierte und dem allgemeinen Gelächter preisgab.32
Gemeindegesang
Einen gegenüber dem Zuhören und Zuschauen noch einmal anderen Grad an "Interaktivität" erreichte das Medium des volkssprachlichen geistlichen Liedes. In den Gottesdiensten des Mittelalters war die versammelte Gemeinde nur selten singend beteiligt. Das Gros der liturgischen Gesänge entfiel auf die Zelebranten, Vorsänger oder liturgischen Chöre. Die Wittenberger Reformvorstellungen banden die Gemeinde durch den volkssprachlichen Gemeindegesang ungleich stärker in das gottesdienstliche Geschehen ein, als es in der Messfeier des Spätmittelalters der Fall gewesen war. Angestoßen von Thomas Müntzers (1489–1525) Gottesdienstreform, begann Luther 1523 deutschsprachige Gemeindelieder zu schreiben. So entstanden in einer ersten intensiven Liedschaffensphase von Mitte 1523 bis Mitte 1524 insgesamt 24 Lieder, das sind zwei Drittel seiner Lieddichtungen überhaupt. Dabei handelt es sich oft um Umdichtungen lateinischer Hymnen, denen als weitere Strophen eigene Texte Luthers hinzugefügt wurden wie zum Beispiel bei Nun komm, der Heiden Heiland (Veni redemptor gentium) oder Komm, Heiliger Geist, Herre Gott (Veni sancte spiritus), aber auch um Lieder der von Luther geschaffenen speziellen Liedgattung des "Psalmliedes".33 Luther war der erste, der eigene, neue geistliche Liedtexte in deutscher Sprache verfasste. Weitere Liederdichter folgten: Huldrych Zwingli, Lazarus Spengler (1479–1534), Nikolaus Herman (1480–1561), Johannes Zwick (1496–1542), dazu auch Lieddichterinnen wie Elisabeth Cruciger (1500–1535). 1524 erschienen bereits vier evangelische Gesangbücher, grundlegend darunter das Wittenberger Geistliche Gesangbüchlein von 1524 mit einer Vorrede Luthers. Wie bei der Predigt, so handelte es sich auch bei den volkssprachlichen Liedern, mediengeschichtlich gesehen, um eine Mischform von Literalität und Oralität. Denn die eigentliche mediale Zeichenhandlung war das gesungene, nicht das gedruckte Lied. Der selbstvergewissernd-kämpferische Ton, der den reformatorischen Bekenntnisliedern zu eigen war, kam besonderes in den Protestgesängen zur Geltung, bei denen sich Menschenansammlungen wie in Magdeburg oder Göttingen singend durch die Stadt bewegten und unüberhörbar ihre Meinung kundtaten, dürfte aber auch noch beim Gemeindegesang des sonntäglichen Gottesdienstes mitgeschwungen haben.34
Mediengeschichtlicher Meilenstein
In diesem hier nach seinen wichtigsten Protagonisten skizzierten Zusammenspiel von Print- und Non-Printmedien, deren Stimmen sich gegenseitig nicht unwesentlich verstärkten, vollzog sich in den Jahren 1518 bis 1525 das "Medienereignis Reformation". Dabei wird in mediengeschichtlicher Betrachtung ein gewisser historischer Zäsurcharakter der Reformation erkennbar. Wie zu Recht betont worden ist, war die Reformation die erste epochale Bewegung der Geschichte überhaupt, die ihren Durchbruch der neuen Technologie des Buchdrucks und den mit ihm verbundenen Möglichkeiten einer raschen Text-Multiplikation verdankte. Die Wittenberger Autoren und ihre Sympathisanten erreichten durch die konsequente, in vieler Hinsicht geradezu kongeniale Indienstnahme der Druckmedien eine Öffentlichkeit bis dahin unbekannten Ausmaßes. Freilich gilt das vor allem für die Betrachtung des medialen Geschehens insgesamt, einzelne Medien, selbst manche Printmedien, haben vielfach nur recht begrenzte Adressatenkreise erreicht. Auch darf nicht übersehen werden, dass die Wittenberger Reformation, trotz ihrer transnationalen Ausstrahlung, im Grund ein Medienereignis blieb, das sich als "Massenphänomen" auf den deutschsprachigen Raum beschränkte. Die anfängliche, durch eine stark humanistisch geprägte Lesart der Wittenberger Bewegung bedingte Nachfrage in anderen europäischen Ländern35 versandete mit der Zeit, als das inhaltliche Profil der lutherschen Reformvorstellungen von Theologie und Kirche deutlicher wurde. Von den 3.998 zu Lebzeiten publizierten Luther-Drucken sind 667 Drucke in Latein, aber lediglich 168 Drucke, also 4,2 Prozent der Gesamtzahl, in nicht-deutschen Sprachen erschienen, worunter die Übersetzungen ins Niederländische (60 Drucke), ins Dänische (31 Drucke), Französische (25 Drucke) und Tschechische (22 Drucke) quantitativ noch herausragen. In den für das Luthertum später so bedeutsamen schwedischen und finnischen Kulturräumen erschien bis 1546 jeweils nur ein einziger Luther-Druck in der Landessprache.36 Anders freilich fällt der Befund aus, wenn man auf die Verbreitung von Schriften Philipp Melanchthons schaut.
Die Botschaft als Ereignis
Das "Medienereignis" Reformation bezog sich nicht auf einen distinkten, in den Druckmedien narrativ rekonstruierten Vorgang, auch nicht auf eine Persönlichkeit, obgleich es nicht an Versuchen fehlte, Martin Luther zum "Printmedienstar"37 aufzubauen. Selbst mit der Person des Reformators zusammenhängende Begebenheiten wie das berühmte Verhör vor dem Reichstag in Worms 1521 traten nie in einer den Medienereignissen des 20. Jahrhunderts vergleichbaren Weise in den Mittelpunkt des medialen Thementableaus. Die Reformation erweist sich in medientheoretischer Betrachtung weniger als mediale Inszenierung bestimmter historischer Persönlichkeiten oder Begebenheiten; vielmehr war die Botschaft, waren die neu gewonnene biblische Norm und die daraus abgeleitete Agenda der Freiheit selber das Erregende, überspitzt formuliert: das Ereignis. Und gerade in dieser Hinsicht, im Blick auf die Faszinationskraft der Botschaft, hatten die altgläubigen Theologen der reformatorischen Publizistik in den Anfangsjahren nichts Gleichrangiges entgegenzusetzen. Darin dürfte die schleppende Nachfrage nach den Druckwerken der Luther-Gegner maßgeblich begründet liegen, so sehr dann auch andere, sozialpsychologische Konstellationen noch hineingespielt haben mochten.38
Wechselwirkungen
An dem komplexen kommunikativen Gesamtgeschehen der Wittenberger Reformation wurden immer wieder zwei Wechselwirkungen beobachtet, deren grundsätzliche Bedeutung unumstritten, deren Tragweite aber im Einzelnen noch vielfach unklar ist:
1) Die wechselseitige Bedingung von reformatorischer Bewegung und medialer Vermittlung. Sie gehört heute zu den anerkannten mediengeschichtlichen Wissensbeständen, die gerne in Form der conditio sine qua non ausgedrückt werden: "Ohne Buchdruck keine Reformation!" Und umgekehrt: "Ohne Reformation kein Medienereignis!"39 Medien und Reformation bedingten einander. Die neuen Medien beeinflussten den Gang der Ereignisse, sie bewirkten einen "Strukturwandel der sakralen Kommunikation".40 Umgekehrt bezogen sie ihre Attraktivität entscheidend aus der "packenden Andersartigkeit"41 der reformatorischen Theologie und Kirchenkritik. Die Reformation beförderte dadurch wesentlich die Druckproduktion, die Entwicklung neuer medialer Formate und leistete der Volkssprachlichkeit nicht unerheblichen Vorschub.
2) Die Wechselwirkung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Wie bereits erwähnt, bestimmte die Oralität nicht nur die Rezeption ("Lesen-Hören"), sondern bis zu einem gewissen Grad auch die Produktion von Flugschriften und Flugblättern. Luthers Bibelübersetzung stand von vornherein unter dem Imperativ, "dem Volk aufs Maul zu schauen". Umgekehrt wurden durch die konsequente Rückbindung der reformatorischen Botschaft an das biblische Wort gerade auch orale Mitteilungsformen in einer neuen, nämlich heilsvermittelnden Weise "skriptualisiert". So war etwa der Anspruch der reformatorischen Predigt kein geringerer, als dass durch die Stimme des Predigers der biblische Text als Gottes Wort hörbar gemacht werden sollte.
Medienrezeption
Was lässt sich aus der auffälligen Publikationswelle im Zusammenhang der Wittenberger Reformation hinsichtlich der Rezipientenüberzeugungen folgern? Kann man von der extensiven Produktion an Druckschriften, unter der Annahme einer strengen Korrelation von Angebot und Nachfrage, auf ein gesteigertes Lese- oder Hörinteresse, von diesem wiederum auf eine tatsächliche Medienwahrnehmung und von dieser wiederum auf eine Inhaltsrezeption im Sinne der Autorinnen und Autoren schließen? Die sich auf den ersten Blick nahelegende Schlusskette ist in der gegenwärtigen Fachdiskussion an mehreren Stellen brüchig geworden. Trotz der wenig zweifelhaften Zahlen, mit denen die Produktionssteigerungen im Druckgewerbe in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts belegt werden können, gibt es derzeit kaum gesicherte Kenntnisse darüber, wen die zahlreichen Flugschriften, Flugblätter oder Bibelausgaben de facto erreicht haben.42 Die gedruckten und auch viele der ungedruckten Medien des reformatorischen Kommunikationsgeschehens signalisieren zunächst und zuerst einmal nicht mehr als den Informations- und Appellationswillen eines kleinen Kreises lese- und schriftkundiger Verfasserinnen und Verfasser. Sie geben, für sich betrachtet, zur Beantwortung der Frage, von wem und wie sie aufgenommen worden sind, nichts her, sind gewissermaßen rezeptionsopak. Dass etwa die in den Flugschriften massenwirksam aufbereiteten reformatorischen Inhalte nicht einfach die Rezipientenüberzeugungen widerspiegeln, scheint evident. Umgekehrt dürfte aber auch auf so ergiebige und detaillierte Quellen wie die Flugblätter und Flugschriften zur Erforschung des reformatorischen Formierungserfolges beim "Gemeinen Mann" schwerlich verzichtet werden können.43
Veränderungen im Bereich religiöser Einstellungen und Überzeugungen werden sich historisch jedoch kaum anders als an Einstellungs- und Überzeugungsäußerungen der Medienrezipienten studieren lassen. In diesem Zusammenhang scheinen vor allem diejenigen medialen Formate interessant zu sein, in denen auch illiterate Kreise ihre Überzeugungen zu artikulieren und zu vermitteln vermochten – wie etwa die Umzüge, gesangliche Protestaktionen oder karikierende Inszenierungen. Sie lassen sich unter den hier angesprochenen Vermittlungsformen vielleicht am ehesten als "Willenskundgebung" gerade auch nichtalphabetisierter Reformationssympathisanten lesen. Freilich sind diese Medien nur in der Brechung einer Information aus zweiter Hand historisch greifbar. Berichte, Notizen, Aufzeichnungen zu Aktionen und Inszenierungen sind kritisch zu prüfen; andere Quellen werden hinzuzunehmen sein. Die Frage nach success and failure der Wittenberger Reformation ist in mediengeschichtlicher Perspektive noch nicht beantwortet.