Europäische Kulturen und Kulturräume
Europas Geschichte ist nicht die einer einzigen Kultur, sondern die vieler Kulturen, die sich einerseits transkulturell miteinander vernetzten, andererseits immer wieder entflochten, indem Verbindungen gelöst wurden oder sich allmählich aufrieben, bis sie rissen. Eine bedeutende Rolle in diesen Prozessen spielten kulturelle Transfers. Kulturelle Transfers beruhen grundlegend auf Kommunikation zwischen "Kulturen", also zwischen Erscheinungen, die sich durch eine auffällige Verdichtung ihrer Bedeutungsbezüge und sozialen Zusammenhänge, oftmals mit einer räumlichen Radizierung versehen, manifestieren. Diese Definition trifft nicht nur auf nationale Kulturen, sondern auch auf andere Beispiele wie die höfische Kultur oder die Humanisten, Konfessionen usw. zu. Kommuniziert werden materielle und ideelle Kulturgüter.1 Unter "Kulturgut" lassen sich nicht nur Einzelgüter verstehen, sondern auch komplexere Güter. In dem hier gemeinten Sinn sind beispielsweise Baustile wie die Gotik oder der Barock, Institutionen wie die Universität oder Akademie, Techniken wie das mechanische Uhrwerk oder die Dampfmaschinentechnik oder soziopolitische Strukturinstitutionalisierungen wie "Verfassung" oder "Monarchie" Kulturgüter. Da diese Transfers als verbale und non-verbale kommunikative Akte begriffen werden können, hängt das Geschehen, das Sichereignen von Transfers von den jeweiligen Bedingungen und Strukturen der Kommunikation ab. Diese fortwährenden Prozesse der Vernetzung und Entflechtung führten zur Europäisierung Europas oder zu gegenläufigen Prozessen, als deren Resultat sich jenes Europa, das sinnvollerweise mit Europa als Kultur im Singular bezeichnet werden kann, im geographischen Raum mehrfach verschob.
Im Blick zurück sind wir berechtigt, sowohl die griechische wie die römische Antike als Europa im Sinne von "Kultur Europa" zu bezeichnen, zeitgenössisch wäre dies aber nicht adäquat gewesen, weil es keine solche Selbstbezeichnung gab. Judentum und Christentum zählen wir ebenso zu den Wurzeln Europas, aber beide Religionen, die zugleich vollständig Kultur waren, können nicht schon in der Antike mit Europa identifiziert werden. Eine Identifizierung Europas mit Christentum bzw. Christenheit entsteht erst im Lauf des Mittelalters, eine Teilidentifizierung von Judentum und Europa existiert vorwiegend als Forschungsansatz, der sich in verschiedene Perspektiven auffächert. Die eine nannte Friedrich Battenberg das "Europäische Zeitalter der Juden",2 die andere ist eng mit Forschungen Dan Diners über die Geschichte der Juden als "Paradigma einer europäischen Geschichte" verbunden.3 Schließlich ist der Islam zu nennen, dessen Bedeutung für kulturelle Transfers nach Europa inzwischen nicht mehr in Frage gestellt wird, gegen dessen Teilidentifizierung mit Europa aber erhebliche Widerstände bestehen.4 Als Teil und damit Identitätsmerkmal von "Kultur Europa" gehört er trotz seiner Blüte in Spanien im Mittelalter eher in das 20. und 21. Jahrhundert, seit es große muslimische Bevölkerungsgruppen allenthalben in Europa gibt.
Mit den beiden antiken Kulturen Griechenland und Rom, die für mehrere Jahrhunderte eng verschränkt waren, sowie mit den drei Hauptreligionen Judentum, Christentum und Islam, die Kultur immer umfassend prägten, bis sie, jedenfalls in Europa, im Zuge umfassender Säkularisierungsprozesse zunehmend auf den individuellen und privaten Bereich verwiesen wurden, sehen wir uns bereits fünf je für sich identifizierbaren Kulturen gegenüber, die in Europa in einen vielfachen und komplexen Austauschprozess gerieten. Damit ist den Ausdifferenzierungen dieser Kulturen, ihren Ursprüngen weiter im Osten und deren Nachwirkungen5 noch gar nicht Rechnung getragen. Die Bedeutung der antiken Kulturen für kulturelle Austauschprozesse und Transfers, mithin für eine transkulturelle Geschichte, ist eng mit dem Phänomen der Renaissancen verbunden, von denen es im Lauf der Jahrhunderte seit Christi Geburt mehrere gab, die einmal mehr die griechisch-hellenistische, einmal mehr die römische Antike betrafen: die karolingische Renaissance mit Rombezug; die Renaissance ab dem 14./15. Jahrhundert von Italien ausgehend mit Griechenland- und Rombezug; der Klassizismus der zweiten Hälfte des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts mit Konjunkturen der Griechenland- und Romrezeption; der Neoklassizismus des späteren 19. Jahrhunderts; die Gegenwart, die vielleicht mehr antike Zeitschichten ins Bewusstsein hebt, als dass sie Renaissancen kennt.
Dem ist Weiteres hinzuzufügen: Ostrom bzw. Byzanz, das sich als Europa verstand. Später Moskau, das sich als Drittes Rom bezeichnete. Das Christentum differenzierte sich seit dem Mittelalter in verschiedene Kirchen aus (katholische versus orthodoxe Kirchen; unierte Kirchen). Im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit erfolgte ein weiterer Differenzierungsschub durch die verschiedenen Formen des Protestantismus. Dies bedeutete immer zugleich kulturelle Veränderungsprozesse und trotz aller anfänglichen Abgrenzung und Feindschaft längerfristig immer auch kulturellen Austausch. Dies gilt ebenso für das Judentum, dessen verschiedene kulturelle Ausprägungen mit der sehr allgemeinen Unterscheidung in sephardisches und aschkenasisches Judentum unzureichend charakterisiert werden. Erweckungsbewegungen erfassten christliche Konfessionen und jüdische Religion im Lauf der späteren Frühneuzeit gleichermaßen; die Aufklärung veränderte einen Teil des Judentums in Form der Haskala, wie sie Teile der katholischen und besonders der protestantischen Kirchen veränderte. Vor allem ermöglichte sie Transferprozesse zwischen den Konfessionen und Religionen.
Die großen Reiche wie die kleinen politischen Gemeinwesen in der europäischen Geschichte entwickelten sich zu eigenen Kulturräumen, deren Hauptkennzeichen freilich der permanente Austausch mit anderen Kulturräumen war. Das gilt für die Seerepubliken wie z. B. Venedig und Genua ebenso wie für das Heilige Römische Reich (deutscher Nation), die Habsburger bzw. Kaiserliche und Königliche-Monarchie, das Osmanische Reich und Russland. Dazu kamen ständige Zuflüsse aus den angrenzenden nicht-europäischen Kulturräumen wie auch aus Übersee. Die sogenannte europäische Expansion veränderte die Kultur Europa insgesamt und legte den Grundstein für andauernde Transfers bis in die postkoloniale Zeit. Eine zentrale Rolle spielten in diesen Zusammenhängen der mediterrane (seit der Antike), der Ostsee- oder Hanse- (Mittelalter, teilweise noch frühe Neuzeit) sowie ab dem 16. Jahrhundert der transatlantische Raum, der die drei Amerikas, Afrika und Europa in kulturellen Transfer- und Austauschprozessen vernetzte.
Die Reichsbildungen im Osten Europas – Osmanisches Reich, Russisches Reich, Habsburger Monarchie – begründeten eine kulturräumliche Aufteilung Europas mit einem Westen, einem Mitteleuropa, das lange Zeit im Wesentlichen in Gestalt des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation bestand, bevor der Begriff im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine Ostverschiebung implizierte, einem Osten (Russland), einem Südosten (Osmanisches Reich) und einem identitätsmäßig schwer fassbaren Reich, der Habsburgermonarchie, mit ihren westlich-mitteleuropäischen, ostmittel- und südosteuropäischen Anteilen, das gleichwohl einen Kulturraum ausbildete, dessen mentalitätsgeschichtliche Persistenz mit der Öffnung der Grenzen 1989 sofort offenbar wurde.
Schließlich lassen sich mehrere Zivilisationen unterscheiden, die transkulturell zur Kultur Europa beitrugen. Die ältesten sind die Megalith-, die keltische und die römische Zivilisation, wobei letztere mittels des Limes gerne klar begrenzt wird. Die römische Zivilisation ist dabei immer als hybrid zu verstehen, da sie insbesondere zunächst durch hellenistische, dann christliche Bestandteile charakterisiert wurde. Über die Religionen als Zivilisationen bzw. Kulturen wurde schon weiter oben reflektiert. Im 18./19. Jahrhundert entstand mit der westeuropäischen Industrialisierung eine ausgesprochen zivilisatorische Ausdifferenzierung Europas, die anhielt, bis in der stalinistischen Ära die Zwangsindustrialisierung auch Ost- und Südosteuropas, das lange Zeit von der Industrialisierung nur peripher erfasst worden war, weitgehend und flächendeckend erfolgt war. Die Biographie des Begriffes Westeuropa ist mit der Geographie der Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert und zugleich mit der Tatsache eines nordatlantischen Europa (Frankreich, Belgien, Niederlande, Vereinigtes Königreich) eng verbunden, in dem parallel zur Industrialisierung Demokratisierungsprozesse stärker voranschritten als im übrigen Europa. Breiten Raum in der Vorstellungswelt nimmt die Teilung Europas am Ende des Zweiten Weltkriegs in einen freien Westen und einen stalinistischen Osten ein, die nie nur als politische, sondern immer auch als zivilisatorische Teilung verstanden wurde. Deshalb schien der in Polen, in der Tschechoslowakei, Ungarn und weiteren Ländern 1989 erschallende Ruf – und als Wiederholung 2004 bei der Erweiterung der EU – "Zurück nach Europa!" ebenso selbstverständlich wie gerechtfertigt.
Weitere kulturräumliche Differenzierungen fassten nach 1945 Fuß. Am stärksten galt dies für die zunächst Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), dann Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), schließlich die Europäische Gemeinschaft (EG) und die Europäische Union (EU), am wenigsten für die European Free Trade Association (EFTA). Bei den sechs EGKS- und EWG-Staaten spielte der Hinweis auf die scheinbare Parallelität zwischen dem ungefähren Gebiet des mittelalterlichen karolingischen Reiches und dem Gebiet dieser sechs Staaten (Belgien, Niederlande, Luxemburg, Frankreich, Italien, Deutschland) eine wichtige Rolle. Doch wurde eine kulturelle Sonderentwicklung durch größere Vernetzungsstrukturen wie den Europarat, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) – anfänglich: Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) –, die North Atlantic Treaty Organization (NATO), die Westeuropäische Union, später die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE, heute OSZE) und natürlich die sukzessiven Erweiterungen der EG im Wesentlichen verhindert.
Epochen transkultureller Geschichte
Kulturelle Austausch- und Transferprozesse, Rezeptionen, Nachahmungen, Renaissancen usw. geschehen nicht einfach, sondern sie werden teils durch Individuen, meist aber durch kleinere oder größere Gruppen von Menschen ins Werk gesetzt. Was die Gruppen zu Gruppen macht, ist sehr unterschiedlich. Es können ethnische, religiöse, soziale, professionelle oder zu diesen immer auch Abgrenzungsmerkmalen querliegende kulturell-funktionelle Faktoren sein. Humanisten und Aufklärer, um zwei für all diese Prozesse besonders wichtige Gruppen zu nennen, lassen sich am besten als kulturell-funktionelle Gruppen charakterisieren, weil andere Merkmale wie "sozial" durchaus auch, aber nur teilweise und unscharf zutreffen. Vielleicht wäre "intellektuell" angemessen, aber dies hieße, eine Bezeichnung des 19. und 20. Jahrhunderts für frühere Jahrhunderte anzusetzen.6
Die europäische Geschichte und damit die Entwicklung der Kultur Europa waren und sind stark durch Migrationen bestimmt. Das Imperium Romanum wurde durch solche Migrationen, die sogenannte "Völkerwanderung", grundlegend verändert. Kulturelle Transfers fanden in beide Richtungen statt, vom Römischen Reich zu den Wanderungsgruppen, von diesen zum Römischen Reich, selbst wenn sie im Sinne von Akkulturation mehr aus der römischen Kultur aufnahmen als umgekehrt. Letzteres sollte sich zu einem mehrere Jahrhunderte währenden Transformationsprozess entwickeln, zu dem kulturelle Transfers und kultureller Austausch zwischen den Wanderungsgruppen gehörten. Als die wichtigsten lassen sich nennen: Alemannen, Angeln und Sachsen, Burgunder, Franken, Ostgoten, Vandalen, Westgoten und Langobarden, Markomannen, Sueben, Hunnen (die alsbald wieder verschwanden).7 Mit diesen Gruppen oder Völkern verschob sich der kulturelle Schwerpunkt vom Mittelmeerraum langsam nördlich der Pyrenäen und der Alpen, während das oströmische Reich eigene kulturelle Zusammenhänge ausbildete. Mit dem Reich Karls des Großen (747–814) finden die geographische Schwerpunktverschiebung und die kulturellen Transformationen im Zuge der kulturellen Transfers, Austauschprozesse und Akkulturationen einen vorübergehenden gemeinsamen Ausdruck.
Im östlichen Europa sind es die Gepiden und Awaren8 sowie sehr viele verschiedene Slawengruppen, die sich am Ende der Migrationsepoche im 9. und 10. Jahrhundert in die drei großen Gruppen der West- (Polaben, Polen, Kaschuben, Lausitzer Sorben, Tschechen, Slowaken), der Süd- (Slowenen, Serben, Kroaten, Bulgaren, Mazedonier) und Ostslawen (Belorussen, Russen, Ukrainer) ordnen lassen. Hinzu kamen Araber, die im 8. Jahrhundert rund zwei Drittel "Spaniens" eroberten und zeitweise auch nördlich der Pyrenäen gelangten, sowie die Magyaren im 9. und 10. Jahrhundert. Kulturelle Transfers bewirkten zweifelsohne auch die Normannen (9. bis 11. Jahrhundert), doch ohne nun weiter auf den Norden und das Baltikum einzugehen, lässt sich sagen, dass mit dem 11. Jahrhundert dieser Typ von nicht zuletzt ethnisch zu kennzeichnender Migration in den europäischen Zentralräumen vorübergehend verschwand. Langfristig traten an dessen Stelle andere Formen der Migration aus religiösen, sozialen, ökonomischen und professionellen Gründen. Zu unterscheiden ist dabei zwischen Sozialgruppen, zu deren Charakteristika Mobilität im Raum gehörte, ohne dass dies in die Kategorie der Migration fiele, saisonalen Wanderungen und Migrationen im Sinne von Emigration oder Immigration.
Erzwungene ethnische Migration setzte im 19. Jahrhundert ein, wobei das Ergebnis häufig ethnische Säuberung und damit das Gegenteil von Kulturtransfer und transkultureller Geschichte war.9 Dieser Typ "entstand" im Zuge des Machtverfalls im Osmanischen Reich, der Ausdehnung des russischen Zarenreiches und dem Ende der habsburgischen Donaumonarchie; er setzte sich fort in der Zwischenkriegszeit, im Zweiten Weltkrieg und mit den Vertreibungen nach Kriegsende. Der Genozid an den Armeniern 1915 wird von Benjamin Lieberman den ethnischen Säuberungen als Oberbegriff zugeordnet, da sich der Ablauf vom Genozid an den Juden im Zweiten Weltkrieg deutlich unterscheidet. Die jüngsten ethnischen Säuberungen in Europa ereigneten sich in den 1990er Jahren in den Kriegen, die die ehemaligen jugoslawischen Regionen miteinander führten. Der Holocaust entzieht sich nicht nur wegen der systematisch und fabrikmäßig durchorganisierten Tötung von sechs Millionen Menschen innerhalb eines kurzen Zeitraumes einem Vergleich, sondern er, und nur er, führte zur Vernichtung der wichtigsten europäischen kulturellen Mittlerbevölkerung, der Juden.
Die transkulturelle Geschichte Europas kennt bis Ende der 1940er Jahre drei Epochen: Die Entstehung transkultureller Techniken, Mechanismen, man kann sagen: eines transkulturellen Habitus in Europa im Zuge der Migrationen vom ungefähr 4. bis zum 10./11. Jahrhundert; die Konsolidierung von Transkulturalität in den darauf folgenden ca. acht- oder neunhundert Jahren; die teilweise Zerstörung der Grundlagen der Transkulturalität im Zuge ethnischer Säuberungen mit 60 bis 80 Millionen Vertriebenen, Abermillionen massakrierter Menschen und im Zuge zweier Genozide vor allem seit dem späten 19. und im 20. Jahrhundert.
Mit der Institutionalisierung europäischer Integration seit 1948 (Europarat!) stellt sich die Frage, ob wir es mit einer neuen Form von Transkulturalität zu tun haben oder mit einer europäisch-regionalen Variante von Globalisierung. Andererseits durchlebt Europa seit dem frühen 20. Jahrhundert eine neue Migrationsepoche: Im Westen Europas waren nach dem Ende der umfassenden Migrationsbewegungen um 1.000 n. Chr. kaum mehr Zuwanderungen von außerhalb Europas zu verzeichnen. Die einzigen Nichteuropäer, die Araber, wurden im Zuge der sogenannten Reconquista aus Spanien vertrieben. Aus den Expansions- und Kolonialgebieten kamen vor dem späten 19. Jahrhundert und dem 20. Jahrhundert nur wenige Menschen dauerhaft nach Europa, der Strom floss vielmehr von Europa nach Übersee, vor allem in den amerikanischen Kontinent, später auch nach Australien und Neuseeland. Anders stellte sich die Situation im Osten und Südosten Europas dar, wo sich im Osmanischen Reich Bevölkerungsmischungen ergaben, die mit ethnischen Säuberungen auf höchst blutige Weise rückgängig gemacht wurden. Im Westen aber, im atlantischen Europa, setzte aus den Kolonien eine Zuwanderung ein, die jedoch erst mit der Entkolonialisierung, also überwiegend nach 1945, sehr hohe Zahlen erreichte (Maghrebiner in Frankreich, Inder, Pakistani etc. in Großbritannien, Indonesier etc. in den Niederlanden; usw.). Dazu kam die staatlicherseits geförderte Arbeitsmigration, die teils innereuropäische Züge trug (Italiener, Griechen, Spanier, Portugiesen etc.), teils die europäische Peripherie wie im Fall der Türken mit einbezog und vor allem auch Deutschland und Österreich betraf, die keine kolonial bzw. postkolonial bedingte Einwanderung kannten. Nach der kolonial bzw. postkolonial begründeten Einwanderung von Afrikanern vorwiegend zunächst im atlantischen Europa erreichte diese Immigration nach und nach Mittel- und Nordeuropa. Chinesen, Vietnamesen, Koreaner und andere Gruppen immigrierten im 20. Jahrhundert teils als Folge von Kriegen, teils aus einem komplexen Bündel von Gründen wie im Fall der Chinesen.10
Immigration im 20. und 21. Jahrhundert ist nicht automatisch mit dem Auslösen transkultureller Prozesse verbunden. Es wirken zu viele Abschottungsmechanismen sowohl bei den Migranten wie bei den Aufnahmebevölkerungen, aber Kulturaustausch, -transfer oder Hybridkulturen sind ebenso wenig ausgeschlossen.
Forschungslage
Es gibt keine Forschungsteildisziplin, die sich im Sinne dieses Artikels mit transkultureller Geschichte Europas nicht nur raum- sondern auch epochenübergreifend als Kernaufgabe befassen würde. Die Forschung wird generell durch die Epochen getrennt, Migrationsforschung befasst sich nicht automatisch mit Transkulturalität, sie kennt auch kaum einen epochenübergreifenden Ansatz11, die räumlichen Spezialisierungen (Westeuropäische, Osteuropäische, Südosteuropäische, Skandinavische Geschichte usw.) tun ein Übriges.
Rund um den Begriff Kulturtransfer hat sich in den letzten dreißig Jahren eine Forschung entwickelt, die Transkulturalität als Ergebnis kultureller Transfers in ihren Mittelpunkt stellt. Den Anstoß hierzu gaben Michel Espagne und Michael Werner Mitte der 1980er Jahre in Paris.12 In jüngeren Jahren hat sich unter dem Einfluss von Peter Burke Kulturaustausch als Leitbegriff stärker etabliert13, aber er meint nicht wirklich etwas Anderes als Kulturtransfer, da es in dieser Forschung zentral um Austauschprozesse geht, selbst wenn es kulturelle Transfers gab und gibt, die vorwiegend in eine Richtung erfolgten. Weitere Begriffe wie entangled history und histoire croisée14 knüpfen an den Leitbegriff Netzwerk15 an, der der Zusammenschau kultureller Transfers Orientierung vermitteln kann. Im Folgenden soll als Sammelbegriff Kulturtransferforschung verwendet werden.
Beiträge zur Kulturtransferforschung beziehen sich im Wesentlichen auf die neuere Geschichte, vereinzelt und zunehmend auch auf das Mittelalter sowie die frühe Neuzeit. Im Bereich des 20. Jahrhunderts gelten sie vielfach der Amerikanisierung einzelner Länder oder Europas. Der Schwerpunkt lag bisher auf dem 18. und 19. Jahrhundert sowie auf der Moderne um 1900. Kulturelle Transfers bildeten offenkundig ein Gegengewicht oder auch Korrektiv zum Nationalismus. Darin liegt ein wichtiger Forschungsimpuls, da die Nationalgeschichte aus der Befangenheit, in die sie der Nationalismus setzte, befreit werden kann. Die nationalkulturellen Räume, zwischen denen Transfers stattfanden, reichen freilich ins Mittelalter zurück und sie stellen nicht die einzige Betrachtungskategorie dar. Wie eingangs skizziert, bildeten die Religionen, die Konfessionen oder auch die älteren Zivilisationen Kulturräume, die durch Transfers zueinander in Beziehung gesetzt wurden. Der Begriff des Raums muss nicht zwangsläufig geographisch gemeint sein, er kann sich auch ideell bzw. intellektuell verstehen, beispiels- und typischerweise im Fall der Angehörigen einer Religion oder Konfession, die wie die Juden oder, nach 1685, die exilierten französischen Hugenotten im Raum weit verteilt sind. Der Begriff des Kulturraums kann mit einem Gebäude oder Gebäudekomplex verbunden sein wie im Fall der höfischen Kultur oder mit einer sich stets wiederholenden "Gegensätzlichkeit" wie im Fall von Stadt und Land. Er kann die Lebenswelt einer bestimmten sozialen Gruppe meinen wie der Jesuiten, die sich an vielen Orten wiederholt, die aber nicht geographisch aneinander grenzen, sondern ideell und intellektuell sowie durch Mobilität, Habitus, Ritus etc. verbunden sind.
Kulturtransfer geschieht letztlich immer durch Menschen, auch wenn sie dazu materielle und/oder ideelle "Objekte" benötigen. Wer mobil ist, kann zum Träger kultureller Transfers werden, wer über Distanzen kommuniziert, ebenfalls, ohne deshalb mobil sein zu müssen. Kulturtransfer geschieht somit – als Beispiel – sowohl durch umfassend korrespondierende Humanisten im 16. Jahrhundert, deren Korrespondenz oftmals durch Objekte begleitet wird, wie durch deutsche Kinder- und Dienstmädchen in den Niederlanden im frühen 20. Jahrhundert16, die physisch mobil sind. Damit ist nicht gesagt, dass Humanisten nicht mobil gewesen seien, aber ihre kulturtransferierende Korrespondenz ersetzte durchaus persönliche Mobilität und überließ das Mobilsein der Post oder anderen Reisenden.
Grundzüge einer transkulturellen Geschichte Europas
Bestimmte soziale Gruppen waren für kulturelle Transfers besonders "prädestiniert": Kaufleute und Händler; Angehörige diskriminierter Religionen und Konfessionen; kulturell-funktionelle Gruppen wie Gelehrte (Humanisten, Aufklärer etc.); Professionisten des weiten künstlerisch-kulturellen Feldes (Musik, Theater, Oper, Bildende Künste, Architektur, Literatur); Angehörige verschiedener Berufe mit hoher Spezialisierung wie Bergleute; junge adlige Ritter, später junge Adlige auf der Grand Tour bzw. Bürgerliche auf Bildungsreise; Verwaltungsfachleute; spezialisierte Soldaten wie die Schweizer, auf die sich nicht nur der Papst, sondern u.a. auch der französische König verließ, oder irische Offiziere in der Armee der Habsburger. Die weit bis ins 20. Jahrhundert anhaltende Einschränkung der Betätigungsfelder von Frauen auf den Bereich von Haus und Haushalt, Familie und Privatsphäre machte diese oftmals zu Schlüsselpersonen bei kulturellen Transfers. Dies ist einerseits für Frauen am Hof17, andererseits für eine Berufsgruppe wie Kindermädchen im 19. und 20. Jahrhundert untersucht worden, während insgesamt große Forschungslücken verbleiben.
Bestimmte Orte waren für kulturelle Transfers besonders geeignet: die Höfe der Herrscher, Klöster und Ordenseinrichtungen, Universitäten und andere Bildungs- bzw. Ausbildungseinrichtungen wie Schulen, Studier- und Gelehrtenstuben, Kabinette mit wissenschaftlicher oder politischer Bestimmung, große Städte, insbesondere Hafenstädte, die oftmals ausgesprochen multikulturell waren, außerdem Haus und Haushalt in unterschiedlichen sozialen Schichten. Eine besondere Rolle spielten in Europa Orte, die die Angehörigen einer bestimmten Gruppe bewusst, wenn nicht zwangsweise zusammenfassten. Das gilt für die jüdischen Ghettos, aber auch für die geschlossene Ansiedlung von beispielsweise albanischen Söldnern in Süditalien und Sizilien in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, nachdem es schon früher albanische Flüchtlinge in diesem Raum gegeben hatte, denen weitere Flüchtlinge vor der Osmanischen Expansion bis in die ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts folgten. Dies lässt sich bis heute nachvollziehen, auch wenn Karl Markus Gauß die sogenannten Arbëreshe in Kalabrien zu den "sterbenden Europäer[n]" zählt.18 Das gilt für die Hugenotten, von denen vermutlich über 300.000 Frankreich nach der Widerrufung des Toleranzedikts von Nantes (1685) durch Ludwig XIV. (1638–1715) verließen und die nicht zuletzt wegen ihrer beruflichen Kompetenzen gerne in den Niederlanden, England und Brandenburg und anderswo aufgenommen wurden.19 Gerade durch die Hugenotten wurden viele Transfers französischer Kulturgüter in die Aufnahmeländer bewirkt. In außergewöhnlich hohem Maß zeigte sich dies im Kurfürstentum Brandenburg.
In den großen und Hafenstädten lebten die Angehörigen derselben ethnischen Gruppe in der Regel im selben Viertel, ohne dass dies immer erzwungen worden wäre. So blieb ihre Herkunftskultur verdichtet und wurde durch Neuankömmlinge immer wieder aufgefrischt und ergänzt. Solche Umstände können zur Abschottung, aber auch zum Gegenteil, nämlich zu permanenten kulturellen Transfers und Austauschprozessen führen. Was wäre die italienische Renaissance ohne die "griechischen" Flüchtlinge im 15. Jahrhundert, die Manuskripte und Abschriften antiker Texte mitbrachten? Was wäre Europa ohne die italienischen Baumeister, Handwerker, Architekten, Künstler, Musiker, Theaterleute, Kaufleute und Bankiers vom 15. bis 17. Jahrhundert? Wie hätte sich Europa demographisch ohne die aus Übersee transferierten Nahrungsmittel wie Mais und Kartoffeln, die teils im 18., teils im 19. Jahrhundert zu Massen- und Grundnahrungsmitteln wurden – um nur zwei von mehreren Dutzend möglichen Beispielen zu erwähnen – entwickelt? Was wäre in vielen ostmittel-, südost- und osteuropäischen Regionen aus der Landwirtschaft ohne die "deutschen" Bauern und Handwerker, die ins Land geholt wurden, geworden? Was wären das ausgehende 17. und das 18. Jahrhundert ohne den Transfer französischer Kultur bis nach Sankt Petersburg? Was wäre mit der europäischen Demokratie ohne den Transfer aus Nordamerika, den Vereinigten Staaten von Amerika im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert geworden? Was wäre mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert ohne die großen jüdischen Bankiersfamilien geworden? Was wäre die sogenannte Moderne um 1900 ohne die jüdischen Intellektuellen20 gewesen? So könnte man lange weiterfragen.
Da Zuzug und Abzug sowie Mobilität von Berufsgruppen auch und vor allem von politischen Entscheidungen abhängig, also nicht einfach dem freien Spiel der Krä21 etc. Dies kann massenhaft in Bezug auf italienische Kulturtransfers vom 15. bis 17. Jahrhundert und in Bezug auf italienische Musik und Theater auch noch im 18. und 19. Jahrhundert beobachtet werden, gilt aber sinngemäß für vielfältige Transferprozesse.
Die Epoche der europäischen Integration, in der wir heute leben, stellt die Frage einer transkulturellen Geschichte neu. Vielfach handelt es sich um einen gigantischen Akkulturierungsprozess. Die Kultur des integrierten Europas einschließlich des europäischen Rechts lässt sich mit Recht "Kultur" nennen. Deren Übernahme wird von neuen Mitgliedern gefordert; dies braucht inzwischen viele Jahre der Anpassung und Verhandlung mit der Europäischen Union, bevor ein Beitritt in Frage kommt. Bestes Beispiel hierfür ist die Türkei, die einen oft unterschätzten Transformations- und Akkulturationsprozess durchmacht. Dieser dient sicher nicht ausschließlich dem angestrebten EU-Beitritt, aber er hat sehr enge Verbindungen zu diesem politischen Vorhaben.
Durch die neue "europäische" Kultur werden freilich nationale Unterschiede stark nivelliert, womit eine historisch gesehen stete Quelle kultureller Transfers zwar nicht austrocknet, aber an Bedeutsamkeit verliert. Die Europäische Union fördert daher den Erhalt kultureller Diversität auf vielen Ebenen, was, wenn es gelingt, unverändert kulturelle Transfers ermöglicht.