Einleitung
Unter Kemalismus wird im Allgemeinen die Gründungsideologie der Türkischen Republik verstanden, die allein dem Namen nach auf den Vater der Nation und ersten Staatspräsidenten der Türkei, Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938)[], zurückgeführt wird. Die Bezeichnung Kemalismus findet sich bereits in der jungen Republik (1923–1938), in der die türkische Staatsdoktrin auch als Kamalismus bezeichnet wurde.1 Der Kemalismus war also Produkt seiner Zeit und wurde von Kemal Atatürk und seinen Mitstreitern inhaltlich gestaltet. Ungeachtet der vielen Kontinuitäten zwischen der Republik und ihrem Vorgänger, dem Osmanischen Reich, stellte die Ausrufung der Republik und die von Mustafa Kemal forcierte Politik einen Neuanfang und Bruch mit dem osmanischen Erbe dar. Denn mit der Gründung der Republik änderten sich Macht- und Ordnungsverhältnisse im neuen türkischen Staat. Nicht alles Alte verschwand sofort, und schon gar nicht konnte Neues sofort gesetzt werden. Doch drückte sich in der Ausrufung der Republik zumindest der Wunsch nach Veränderung aus. Der Kemalismus sollte die Türkei transformieren, zu neuer Größe führen und vor allem den Mächten Europas ebenbürtig machen. Werte und Normen sowie neue Spielregeln des politischen und gesellschaftlichen Zusammenlebens wurden in ihm verpackt.
Eine klare Definition des Kemalismus blieb jedoch aus. Inhalte wurden nur vage formuliert; eine geschlossene Ideologie wie der Nationalsozialismus war der Kemalismus nicht. Weder gab es ein ideologisches Werk noch tiefe Lehrsätze oder eine Kernphilosophie. Das ideologische Vakuum sollte 1931 mit der Formulierung der kemalistischen Prinzipien – Nationalismus, Republikanismus, Revolutionismus, Etatismus, Populismus, Laizismus – gefüllt werden. Im Parteienemblem wurden sie als sechs Pfeile (altı ok) dargestellt und im Jahr 1937 in den Verfassungstext mit aufgenommen.2 Auch die Verschriftlichung Mustafa Kemals Großer Rede, der Nutuk, sowie Geschichtsthese3 und Sonnensprachtheorie4 sollten Teil eines ideologischen Gerüsts darstellen.
Trotz der geringen ideologischen Tiefe prägte der Kemalismus eine Schlüsselära der türkischen Republikgeschichte und gab ihr einen Namen.5 Der Kemalismus wurde sowohl vom nationalsozialistischen Deutschland als auch von demokratischen Staaten wie den USA, aber auch in der arabischen Welt wahrgenommen und teilweise bewundert. Er formte eine neue Staatselite und vollzog den friedvollen Übergang von einem Einparteienregime hin zu einem demokratischen Mehrparteiensystem.6 Türkische Parteien von der äußersten Rechten bis zur Linken bedienen sich teils bis heute des Bildes Atatürks für ihre Politik und streiten um den "wahren" Kemalismus. Bis heute kommt kein Staatspräsident an einer Legitimation durch Atatürk vorbei.
Das Ziel dieses Beitrags ist es, den Kemalismus in seiner Aufbau- und Hochphase in den 1920er und 1930er Jahren zu beschreiben und danach zu fragen, wie der Kemalismus zu einer die Türkei transformierenden Kraft werden konnte.
Die Wurzeln des Kemalismus
Die Männer, teilweise auch Frauen, die den Kemalismus prägten, wurden während der Spätphase des Reiches sozialisiert: Ihre Ideen, Überzeugungen und Visionen wurden stark durch verschiedene Prozesse, politische Ideen, aber auch spezielle Ereignisse zwischen den 1880er und 1910er Jahren beeinflusst.7 Die politischen Ideen und das revolutionäre Reformprogramm, mit denen Atatürk und seine Anhänger die neue kemalistische Republik gestalteten, waren Produkte einer Neuordnung, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte.
Die Idee einer türkischen Gemeinschaft, die – anders als die osmanische Gesellschaft auf religiösen Fundamenten – auf nationalen Werten aufgebaut werden sollte, der Glaube an Fortschritt, Zivilisation und eine säkularisierte Ordnung wurden sowohl von den Jungosmanen der Tanzimat-Periode als auch von den Jungtürken (1908–1922) adaptiert und zu Visionen der kemalistischen Elite weiterentwickelt.8 Osmanischer Szientismus, die Verwestlichung während der Jungtürkenära und der aufkommende türkische Nationalismus in den 1910er und 1920er Jahren waren ihre ideengeschichtlichen Vorläufer.
Den größeren Einfluss auf die ideologische Gedankenwelt der türkischen Herrschaftselite der 1920er und 1930er Jahre hatte die nationalistische Bewegung um die Jungtürken. Sie formierte sich Ende des 18. Jahrhunderts an den Rändern des Reiches, in den Städten der Provinzen und gründete sich zunächst als geheime nationale Bewegung mit dem Namen "Komitee für Einheit und Fortschritt" (KEF, İttihad ve Terakki Cemiyeti),9 bevor sie unter dem Namen Jungtürken10 bekannt wurde. Im Gegensatz zur alten bürokratischen Staatselite der Dynastie kamen die Jungtürken nicht aus dem Machtzentrum Istanbul. Die Mitglieder der Gruppierung bestanden vornehmlich aus jungen Kadetten, Studenten und Absolventen der Königlichen Kriegsakademien,11 die durch die Reformierung des Bildungswesens eine weitgehend säkulare (europäische) Ausbildung erhielten. Mustafa Kemal und seine späteren Mitstreiter gehörten aufgrund ihrer Geburtsjahrgänge zu einer jüngeren Generation dieser Oppositionsbewegung gegen Abdülhamid II. (1842–1918)[].12
Wesentlicher Ort der Einflussnahme auf das Denken und spätere Handeln der noch jungen Kadetten und Offiziersanwärter, die später die Geschicke der neuen Türkischen Republik lenken würden, waren die Militärakademien des Reiches. Die Kriegsakademien importierten nicht nur westliche Kriegsstrategien und eine neue säkulare Erziehung, sondern auch die politischen und philosophischen Ideen des Europas des 19. Jahrhunderts in das Osmanische Reich. Besonders französische Philosophen und Schriftsteller, aber auch Schriften deutscher Denker und Militärs hatten an den Akademien Hochkonjunktur. Eines der meist gelesenen und einflussreichsten Werke war Colmar von der Goltz' (1843–1916) Das Volk in Waffen: Ein Buch über Heerwesen und Kriegsführung in unserer Zeit (1883). Es gehörte zur offiziellen Lektüre und wurde bereits ein Jahr nach seinem Erscheinen ins Türkische übersetzt. Goltz' Ideen beeinflussten bereits 1908 fast das gesamte Senior-Osmanische Offizierskorps, das an eine vom Militär geführte "Nation in Waffen" glaubte und auf die Errichtung dieser Nation hinarbeitete. Dies galt auch für Mustafa Kemal, der sich allerdings eine "Türkische Nation in Waffen",13 keine osmanische, vorstellte.14
Mit dem aus Deutschland importierten "Vulgärmaterialismus" des 19. Jahrhunderts glaubten die Jungtürken an die Wissenschaft und den technischen Fortschritt als Modernisierungskräfte und orientierten sich an den Erkenntnissen der darwinistischen Evolutionstheorie. Ludwig Büchners (1824–1899) Kraft und Stoff, "das als heiliges Buch angesehen wurde",15 bildete für viele Jungtürken die Grundlage ihres Verständnisses von Wissenschaft und Religion.16 Der Wissenschaftsglaube Atatürks und vieler Kemalisten fand seinen Ursprung im Szientismus dieser intellektuellen Elite des Reiches, die spätestens mit der Jahrhundertwende durch die Jungtürken dominiert wurde.17
Den größten "Gegner" dieser modernisierenden Wissenschaft und ein Hindernis auf dem Weg zu einer modernen (türkischen) Nation sahen bereits die Jungtürken in der Religion. Ausdruck fand die jungtürkische und später von den Kemalisten weitergeführte Logik "Wissenschaft vor Religion" in der Kontrolle der Religion durch den Staat. Insbesondere Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und Auguste Comte (1789–1857), aber auch Émile Durkheim (1858–1917), Ferdinand Buisson (1841–1932) und Henri Bergson (1859–1941) sowie Gustave Le Bon (1841–1931) prägten den intellektuellen Background der späteren türkischen Herrschaftselite.18 Die Jungtürken zielten im Sinne der Entwürfe des Soziologen Ziya Gökalp (1876–1924)[], führender Ideologe des KEF, auf die Schaffung eines liberalisierten Islams. Gökalps nationale Ideen beeinflussten auch Atatürk stark; im Umgang mit dem Islam jedoch wich er später für seinen Kemalismus von dessen Vorstellungen ab.19
Schließlich wurde das kemalistische Projekt der Republik stark durch die Westorientierung und den Eurozentrismus der Zweiten Verfassungsperiode unter den Jungtürken beeinflusst.20 Die einzig wahre Moderne sahen sie in der des Westens. Europa war die Zivilisation, und jeglicher Fortschritt musste sich in die Richtung Europas bewegen. Eine Übernahme des westlichen Lebensstils wurde als Instrument zu tiefgreifenden Veränderungen des sozialen und kulturellen Lebens in der Türkei interpretiert. Sie sahen in einer von außen herbeigeführten Veränderung die Möglichkeit, einen Wandel der inneren Haltung herzustellen: Zivilisation und Fortschritt im Inneren durch einen Wandel der äußeren Spielregeln.21 Die unzähligen Reformen, die in den 1920er Jahren das Land tiefgreifend veränderten, und schließlich einige von den Jungtürken bereits theoretisch formulierten Ziele umsetzten, sind Spiegel dieses Denkmusters.22
Atatürks Vorstellungen des Kemalismus
Mustafa Kemal selbst zielte nicht darauf ab, eine Ideologie zu erschaffen. Er selbst verfasste weder ein ideologisches Werk noch proklamierte er entsprechende Lehrsätze, die genau definierten, was unter Kemalismus zu verstehen war und worauf er im Kern abzielte. Er war kein Philosoph oder Denker, kein Ideologe. Doch war er derjenige, der seine Vorstellungen der Türkei gegenüber anderen Führern und Strömungen, die zwischen 1922 und 1925 die Politik der Republik beeinflussten, durchsetzte.23 Seine Siege im Unabhängigkeitskrieg halfen dabei, seinen Führungsanspruch zu verwirklichen und machten seine Vorstellungen zu einer "heiligen Sache". Auf dieser Grundlage war er es, dem es gelang die Utopien umzusetzen, aus Vorstellungen Realität werden zu lassen und Visionen in politisches Handeln umzusetzen. Durch Mustafa Kemal bekam der Kemalismus einen starken Pragmatismus.24 Die ideologischen Leerstellen – kein Werk, keine Lehrsätze, keine Philosophie – und der starke Pragmatismus gehörten gewissermaßen zum Kemalismus Atatürks. Dies zeigte sich auch in dem radikalen Reformprogramm, das ab 1925 durchgesetzt wurde.25 Es setzte die Ideen und Vorstellungen radikal um, die sich die kemalistische Elite in der Jungtürken-Ära erworben hatte. Sie veränderten die rechtlichen Grundlagen der türkischen Gemeinschaft vollständig und sollten der Republik unter Berufung auf den weiterhin vagen Kemalismus ihr türkisches, säkulares und westliches Wesen geben.26 Im Kern zielte Atatürk mit seiner Vision des Kemalismus auf die Schaffung einer säkularen Republik mit aufgeklärten, mündigen und westlich-zivilisierten Bürgerinnen und Bürgern ab.27
Die "Hutrevolution" (1925) ist eindrucksvolles Beispiel für den Versuch, der religiös geprägten Kleiderkultur des Osmanischen Reiches nun eine nationale, der türkischen Republik entsprechende, neue Kleiderordnung entgegenzusetzen.28 Bereits ein Jahr später adaptierte das Parlament das Schweizer Zivilgesetz (1926). Darüber hinaus wurden das italienische Strafgesetz und das deutsche Wirtschaftsrecht zur Grundlage der neuen türkischen Gesetzgebung. Als neue Hauptstadt der Türkei wurde 1924 Ankara bestimmt. Sie löste das (religiöse) Machtzentrum Istanbul ab. Als weitere Anpassung an den Westen und Absage an religiöse Tradition wurden 1928 das lateinische Alphabet, 1931 die europäischen Maßeinheiten und 1935 der Sonntag als Feiertag eingeführt. Der Gebetsruf (ezan) erfolgte ab 1932 (bis 1950) nicht mehr auf Arabisch, sondern auf Türkisch; die religiös konnotierten und osmanischen Titel wurden, ebenso wie die religiöse Kleidung, 1934 verbannt. Bis Mitte der 1930er Jahre war damit juristisch gesprochen die "totale" Transformation des türkischen Staates in eine säkulare Republik, zumindest auf dem Papier, abgeschlossen.29
Maßgebend für die Schaffung einer –wenngleich losen – kemalistischen Lehre war der Dritte Große Parteitag (Üçüncü Büyük Kurultay) der Republikanischen Volkspartei (RVP), der vom 10. bis 18. Mai 1931 in Ankara stattfand. Nur wenige Monate nach der Schließung der Freien Partei (Serbest Cumhuriyet Fırkası)30 – die zur "Kontrolle" der wachsenden politischen Opposition auf Geheiß Atatürks gegründet wurde – und dem Menemen-Aufstand31 im Dezember 1930 versammelten sich auf ihm die Mitglieder der Partei und formulierten die sechs kemalistischen Prinzipien der Republikanischen Volkspartei:32 Republikanismus, Populismus, Nationalismus, Laizismus, Etatismus und Revolutionismus, die "Handlungsmaxime sowie die Basis für eine identitätsstiftende nationale Ideologie"33 liefern sollten. Darüber hinaus formulierten die auf dem Großen Parteitag getroffenen Maßnahmen "eine Neudefinierung des Verhältnisses zwischen Partei und Staat".34 Sie führte dazu, dass Institutionen, die sich nicht innerhalb der Reichweite des Staates befanden, gezwungen wurden, sich staatlich kontrollierten Einrichtungen anzuschließen.35
Den Islam sah Atatürk nicht als modernisierende Kraft und Teil einer türkischen Ideologie.36 Allenfalls versprach er sich von einer Indienstnahme des Islams Nutzen für das kemalistische Projekt.37 Die Kemalisten setzten die bereits von den Jungtürken forcierte Kontrolle über die Religion noch radikaler um und etablierten mit der Diyanet, dem Amt für religiöse Angelegenheiten, eine Institution zur Kontrolle jeglicher religiöser Tätigkeiten. Ziel war die Nationalisierung des Islams.38 Atatürk glaubte an den Laizismus Frankreichs. Er selbst verstand sich als Aufklärer und Reformer.39 Der Religion sollte durch positivistische Wissenschaft der Zauber entzogen und der Ulema die Deutungshoheit genommen werden, in der Hoffnung, "die Religion zu privatisieren und zusätzlich einen türkischen Islam zu fördern".40 Hier lagen die größten Unterschiede und Neuorientierungen im Gegensatz zum jungtürkischen Vorbild, das weiterhin einen liberalen Islam als Teil ihrer nationalen Vorstellungen und als Motor zur Modernisierung verstand.
Die Bildung und Aufklärung des Volkes wurden zu Kernpunkten des kemalistischen Programms. So wurde die allgemeine und unentgeltliche Schulpflicht eingeführt und das "Gesetz über die Vereinheitlichung des Unterrichts" verabschiedet, das dem Klerus den Einfluss auf die Erziehung entzog. Auch über Volkshäuser41 und Volkszimmer42 wurde staatliche Bildungsarbeit im Sinne der neuen kemalistisch-republikanischen Werte und Normen betrieben. Insbesondere die Volkshäuser sollten zu Zentren des Wissens und der Bildung werden. Die Vertiefung der Schulbildung zählte genauso dazu wie die kulturelle, soziale und staatsbürgerliche Bildung. Ein weiterer Schwerpunkt lag auf der Hygiene- und Gesundheitserziehung.43 Mit den Volkshäusern wurde darauf abgezielt auch die nicht mehr schulpflichtige Bevölkerung zu erreichen. In "öffentlichen Gebäuden, Fabriken, Hospitälern, aber auch Moscheen und Kaffeehäusern"44 wurden ebenfalls sogenannte "Schulen der Nation"45 (Millet Mektepleri) eingerichtet. Mit ihnen sollte ein rasantes Alphabetisierungsprogramm für alle Analphabeten zwischen 16 und 30 Jahren vorangetrieben werden.46
Trotzdem hatte der kemalistische Nationalismus seine Wurzeln auch in das ideologische Fundament der Jungtürken geschlagen. In Anlehnung an seine jungtürkischen Prägungen "wünschte Atatürk einen türkischen Nationalismus zu haben, der vom Szientismus, von modischen Rassenmodellen auf der Grundlage von Phrenologie und populären darwinistischen Evolutionstheorien unterstützt wurde".47 War die Frage der "Rasse" für die Jungtürken noch eine zu klärende, wurde diese durch die Folgen des Ersten Weltkriegs, den territorialen Niedergang, die Ermordung, Vertreibung und Umsiedlung verschiedener Volksgruppen sowie den Sieg der Nationalisten im Unabhängigkeitskrieg vorerst beantwortet. Innerhalb der neuen Landesgrenzen des ehemaligen Vielvölkerstaates bildeten die Türken – vor den Kurden – die größte Volksgruppe.
Den "neuen" Türken sollte zudem eine alte Geschichte gegeben werden. Dies diente einerseits einer gewissen Legitimation der türkischen Vorherrschaft, andererseits sollte dadurch eine vom Osmanischen Reich und islamischen Erbe unabhängige nationale Geschichte erzählt werden. Mit der Konstruktion dieser Geschichte wurden die 1932 gegründete Türkische Geschichtsgesellschaft (GTG, Türk Tarih Kurumu) und der 1933 ins Leben gerufene Türkische Sprachverein (GTS, Türk Dil Kurumu) betraut. Diese "Schoßkinder"48 Atatürks sollten den türkischen Nationalismus definieren, die Republik und ihre Entstehung auf ein wissenschaftlich-legitimiertes Fundament stellen.49 Wesentliche Instrumente dafür waren die von GTG und GTS verbreitete Geschichtsthese und die Sonnensprachtheorie. Mit ihnen ließ Atatürk ein türkisches Zentralasien zur Wiege der zivilisierten Völker, die Türken zu einem weißen Volk und die Sumerer und Hethiter zu den Vorfahren der Turkvölker sowie Türkisch zur Ursprache der Menschheit erklären. Die Türkei sollte im Sinne der Westorientierung in Kultur und Zivilisation der Größe und Bedeutung der Staaten Europas angeglichen bzw. ihre Geschichten miteinander verknüpft werden. Die Osmanische Herrschaft wurde umgekehrt zur Periode der Fremdherrschaft gemacht. Die Reinigung der türkischen Sprache von arabischen und persischen Elementen sollte ebenfalls den Bruch mit dem osmanischen Erbe vollziehen. Für Atatürk sollte der Kemalismus vor allem westlich-zivilisiert, säkular und türkisch sein.50
Interpreten des Kemalismus
Andere Intellektuelle und Staatsmänner innerhalb der kemalistischen Elite versuchten im Gegensatz zu Atatürk selbst immer wieder den Kemalismus in eine stärkere ideologische Form zu bringen. Unter ihnen gab es Hardliner und Liberale, extreme Laizisten und dem Islam eher offen Gegenüberstehende. Auch sie beeinflussten Wesen und Ziele des Kemalismus. Sie können im weitesten Sinne zur herrschenden Elite der Republik gezählt werden und gehören vorwiegend zur zweiten Generation der jungtürkischen Bewegung (geboren um 1880). Regierungsmitglieder, die nach der Säuberung der Nationalversammlung im Jahr 1925 übriggebliebenen Abgeordneten (auch wenn es weiterhin Oppositionelle gab) sowie Teile der intellektuellen Elite, sozialisiert im Niedergang des Osmanischen Reiches, beeinflusst von europäischer Bildung, ausländischen Ideologien und geprägt vom Glauben an Wissenschaft und Fortschritt, stützten und förderten durch ihre Profession den Kemalismus. Sie bildeten die neue – wenn gleich schwache – "Bourgeoisie" der Republik51. Ihr Handeln nahm Einfluss auf das Bildungswesen, formte die Vorstellungen einer türkischen (National)Geschichte oder sorgte für die Umsetzung der Regierungsziele.52 Sie gestalteten als Denker und Lenker die neue Republik, in der sie die Erfüllung ihrer Visionen und Utopien sahen – wenngleich diese unterschiedlich gewesen sein mögen. So beeinflusste beispielsweise Yusuf Akçura den Kemalismus durch seine turkistischen Vorstellungen und förderte eine ethnische Interpretation des türkisch-kemalistischen Nationalismus. Auch stützten Mitglieder der Intelligenzija die anti-islamische Haltung und den Ruf nach einer stärkeren gesellschaftlichen Durchdringung der laizistischen Reformen.53
Ebenso beeinflusste der Kreis der "'üblichen Gentlemen' (mutat zevat)" das Gesicht der kemalistischen Republik. Sie zählten zu Atatürks engsten Freunden und Beratern und waren seine Zuhörer, wenn nicht Ratgeber, bei informellen Treffen.54 Die Ziehtöchter Atatürks Afet İnan (1908–1985) und Sabiha Gökçen (1913–2001) waren "Ikonen des Kemalismus" und arbeiteten Atatürks Vision der Republik entgegen. Die Historikerin İnan beeinflusste den Kemalismus durch die "Erforschung" und Verbreitung der "türkischen Geschichte"; Gökçen wurde als erste Kampffliegerin der Welt zur Heldin stilisiert. Sie sollte das Sinnbild der modernen Frau und einer fortschrittlichen Türkei verkörpern.55
Die beiden prominentesten Gruppierungen innerhalb der Staatselite aber waren der Links-Kemalismus der Kadro-Gruppe und der Rechts-Kemalismus der Ülkü-Gruppe. Beide Gruppierungen versuchten aus Atatürks Ideen eine Ideologie des Kemalismus zu errichten. Die Links-Kemalisten formierten sich im Umfeld der Zeitschrift Kadro. Gründer und führende Schreiber der Zeitschrift waren Şevket Süreyya Aydemir (1897–1976), Vedat Nedüm Tör (1899–1967), İsmail Hüsrev Tökin (1902–1994) und der Herausgeber der Kadro, Yakup Kadri Karaosmanoğlu (1889–1974).56 Das politische Fundament der Gruppe kann als eine oberflächlich-lose "Kombination aus Marxismus, Nationalismus und Korporatismus"57 beschrieben werden. Kapitalismus und Imperialismus lehnten sie ab. Sie zielten darauf ab, die RVP in eine "geschulte Elite, einen Kader zu transformieren, der als Vorhut der kemalistischen Revolution fungieren sollte".58 Die Gruppe forderte einen starken Staat, der in alle Bereiche des sozialen, öffentlichen und kulturellen Lebens eingreifen sollte. Etatismus war für sie eine Alternative zu Kommunismus und Kapitalismus. Die neue Türkei sahen sie als klassenlose Gemeinschaft und einen starken wirtschaftlich handelnden Staat als Mittel, um diesen Zustand zu bewahren.59
Führende Mitglieder der Staatselite, wie der erste Ministerpräsident und zweite Staatspräsident der Republik, İsmet İnönü (1884–1973)[], stellten sich aktiv gegen die Kadro-Gruppe.60 Insbesondere die als liberal geltende İş-Bankası-Gruppe, die sich innerhalb der RVP um Wirtschaftsminister und späteren Ministerpräsident, Celal Bayar (1883–1986), und Präsident der İş-Bankası, Mahmut Soydan (1889–1936), gebildet hatte, stellte sich gegen den starken Etatismus, aber auch die kommunistischen Tendenzen der Kadro-Gruppe und die Idee einer klassenlosen korporatistischen Gesellschaft. İnönü war zwar Verfechter eines starken Staates mit absoluter Kontrolle, die Kadro-Männer standen ihm jedoch zu weit links. Bayar hingegen sah den starken Staat nur als Übergang hin zu einer liberaleren Republik.61 Der Einfluss der Kadro-Gruppe blieb letztlich beschränkt – sie erreichte nur einen kleinen Elitenkreis, nicht die breite Masse; ihre Ideen wurden von der Führung nicht aufgegriffen. Der von der Kadro geforderte Etatismus blieb auf die Wirtschaftspolitik begrenzt. Mit der "Entsendung" Karaosmanoğlus als Botschafter nach Teheran (1934) löste sich die Gruppe schließlich auf.62
Auch Recep Peker (1888–1950), zwischen 1925 und 1936 Generalsekretär der RVP, bekannte sich öffentlich gegen die Kadro-Front und machte deutlich, dass wenn es eine RVP-Ideologie geben sollte, nicht die Kadro-Männer diese formen würden.63 Der Rechts-Kemalismus entstand somit als eine Art Gegenentwurf und "Richtigstellung" der politischen Visionen der Kadro. Verbreitungsinstrument des Rechts-Kemalismus war die seit 1933 durch die Volkshäuser herausgegebene Zeitschrift Ülkü, zu Deutsch "Ideal".64 In ihr wurden "korporatistische und solidarische Vorstellungen"65 der Autoren als ideologische Grundlage präsentiert und diskutiert. Damit gingen sie ebenfalls von einem Volk ohne Klasse aus. Die Nation wurde als sozialer Organismus und gemäß der Arbeitsteilung in verschiedenen Berufsgruppen gedacht.66
Vorbilder für diese rechts-orientierte Interpretation des Kemalismus lagen ebenfalls in Europa, allerdings eher im faschistischen Italien und im nationalsozialistischen Deutschland.67
Neben dem "Hauptideologen der Bewegung",68 Recep Peker, waren weitere führende Männer der Ülkü-Gruppe Necip Ali Küçüka, Nusret Köymen, Mehmet Saffet, Kazım Nami Duru, Ahmet Nesimi, Ferit Celal sowie Behçet Kemal.69 Sie alle waren sowohl "berühmte Figuren der Republikanischen Volkspartei",70 als auch innerhalb der Institution der Volkshäuser. Die Ülkü-Männer fühlten sich "dazu verpflichtet 'das Volk' zu kultivieren"71 und "verstanden Politik als messianischen Brauch".72 Sie stellten sich in die Tradition der Französischen Revolution und vertraten eine Idee von Solidarität, die sich beides, "säkulare Moral und die Jakobinische Demokratie", zu eigen machten.73 Die Angehörigen des Kreises können in diesem Sinne als Apostel und Missionare ihres Bildes einer neuen Türkischen Republik verstanden werden. Durch ihre Version des Kemalismus wollten sie die türkische Bevölkerung geistig erhellen (aufklären) und erziehen. Die Republik stellten sie sich als ein heiliges Wesen vor, mit Mustafa Kemal als ihrem großen Genie, dem sie göttliche Führerqualitäten zusprachen.74 Ziel der Gruppe war es, eine umfassende Nationalisierung der Sprache, Geschichte, Kunst und Kultur einzuleiten und durch publizistische Mittel den Geist der Volkshäuser zu verbreiten.75 Die Gruppe wollte ein neues und positives Bild des Türken implementiere und stand hinter Atatürks Geschichtsthese.76
Recep Peker war nicht nur führendes Mitglied der Ülkü-Gruppe, sondern eines der "härtesten Mitglieder des kemalistischen Regimes"77 und bekleidete verschiedene Ministerämter – zuletzt war er sowohl Innenminister als auch Generealsekretär der RVP. Nach seinen großen Vorbildern Deutschland und Italien wollte er in der Türkei den Staat unter die Macht der Partei stellen und ihr Hoheit über die Verwaltung geben.78 Der Vorschlag, dies zu tun, führte 1936 zum Zerwürfnis zwischen Recep Peker und Atatürk, der eine solche Verbindung zwischen Staat und Partei nicht unterstützte. Recep Peker wollte für Atatürks Begriffe eine zu geschlossene Ideologie.79 Bis dahin beeinflusste Peker das Bild der Republik durch seinen Kemalismus jedoch nachhaltig. Gerade Peker nahm als Generalsekretär der RVP Einfluss, wo er nur konnte. Doch auch andere Männer der Ülkü-Gruppe besetzten teilweise Schlüsselpositionen im Staat, waren mit der RVP verbunden oder konnten auf andere Art und Weise – Zeitung, Kunst, Literatur – Einfluss auf das Leben in der Republik nehmen.
Kemalistischer Staats- und Personenkult
Der Kemalismus80 mag eine schwache Ideologie ohne Philosophie und Lehrsätze gewesen sein, doch bedeutet dies nicht, dass sein Einfluss auf das gesellschaftliche, politische und kulturelle Leben in der Türkei gering gewesen wäre. Im Sinne des Pragmatismus Atatürks fegte nicht nur in den 1920er Jahren ein enormes Reformprogramm durch die Republik, ebenso fuhr die kemalistische Führung in den 1930er Jahren ein immenses Programm symbolischer Kommunikation und sakralisierter Politik auf.81 Es war die Reaktion auf die Feststellung, dass die durchgesetzten Reformen die Gesellschaft nicht so schnell und nachhaltig beeinflussten, wie von den kemalistischen Führern beabsichtigt. Der Islam wurde zwar formal und aus der Öffentlichkeit verdrängt, ein Ersatz für diesen gesellschaftlichen Kitt jedoch nicht geschaffen. Vor allem die säkularen Reformen waren in der Realität nicht so radikal, wie sie auf dem Papier zu sein schienen.82 Mithilfe der Schaffung eines türkischen Nationalismus in kemalistischer Lehre sollte diese Lücke gefüllt und der Bevölkerung wieder etwas gegeben werden, woran sie glauben konnte.83 Er sollte aus den ehemaligen osmanischen Untertanen türkische Bürgerinnen und Bürger formen. In diesem Sinne sollte er als Religionsersatz, nicht als Ersatzreligion dienen. Das Heil der Türken lag im Heil der Republik. Instrument des Austauschs – Islam gegen türkischen Nationalismus – war der kemalistische Staats- und Personenkult, der spätestens mit der Zehn-Jahres-Feier der Türkischen Republik um Mustafa Kemal und die Republik inszeniert wurde. Indem man dem Volk verschiedene Kulte – Kult der Vernunft, des Militärs, der Republik, Personenkult um Atatürk84 – anbot und eine bombastische, ebenso weit- wie tiefreichende Symbolpolitik auffuhr, wurde der türkische Nationalismus sakral überhöht. Einen Parteienkult wie im Nationalsozialismus entwickelte der Kemalismus nicht. Wenngleich die Partei 1933 und 1938 symbolisch stärker fokussiert wurde, war sie niemals Mittelpunkt von Inszenierung und Propaganda. Heilsbringer und Massenmagnet war sie nicht. Auch das Ausscheiden Recep Pekers verhinderte die Entwicklung eines RVP-Kults.85
Errichtet wurden die Kulte mittels der rituellen Handlungen an den nationalen Feiertagen, die insbesondere durch den Vorsitzenden des Hohen Festtagskomitees, Recep Peker, und von Teilen der Ülkü-Gruppe entworfen, aber auch durch einen Großteil der oben genannten Personen organisiert und umgesetzt wurden. Aufgrund ihres fröhlich-festlichen Anlasses hatten die Feiertage eine hohe Integrationskraft, sie waren für alle unabhängig vom Bildungsstand zugänglich und hatten als "Erlebnis der Massen" ein gemeinschafts- und sinnstiftendes Moment.86 Die Festlichkeiten an den nationalen Feiertagen, jede gesungene Nationalhymne, jeder geschworene Atatürk-Eid, jedwede Parade, die zahlreichen Türkeifahnen und Grafiken, die Errungenschaften und Werte der Republik, Märsche, Theaterstücke und Gedichte, gaben Handlungsanleitung zum Türkesein. Die Kemalisten folgten somit auch in der 1930er Jahren der Vorstellung, das Bewusstsein der türkischen Bürgerinnen und Bürger von außen nach innen verändern zu können. Die Vision einer türkischen Identität wurde visuell in die Wirklichkeit überführt. Musik, Theater, Kino, Radio, Literatur, Zeitungen und Gedichte, Kleidung, Kopfbedeckung, Architektur, Denkmäler, Statuen und ephemere Bauten, Plätze und Straßen, Nationalfahne und -hymne, Ausstellungen, Museen, Transparente, Banner und Bilder dienten der absoluten Implementierung einer kemalistischen Zukunftsvision der neuen Türkei.87 Die Volkshäuser und Volksinstitute unter der Führung der Ülkü-Gruppe sowie Sprach- und Geschichtsvereine, aber auch das Erziehungsministerium und Zeitschriften, wie das vom Presseamt herausgegebene Magazin La Turquie Kemaliste, halfen ebenfalls dabei den von Atatürk "abgesegneten" Nationalismus zu verbreiten.88 Gleichzeitig wurde die "revolutionäre Programmatik" zum "Pflichtstoff" in der Schule.89 Die Nutuk, die inhaltlich vor allem eine Rechtfertigung für Atatürks Handeln zwischen 1920 und 1927 und eine Abrechnung mit seinen Gegnern innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung darstellt, blieb als Gesamtwerk letztlich eher unbedeutend.90 Die "Rede an die Jugend", die den auf die Zukunft gerichteten letzten Teil der Nutuk darstellt, wurde durch die Zeremonien an den Feiertagen jedoch tatsächlich zu einem der kanonischen Texte des Kemalismus.91 Teile der Rede wurden als Atatürk-Eid gemeinsam geschworen oder immer wieder auch von anderen Rednern für ihre propagandistischen Texte herangezogen.92
Wird der Blick auf das an den Nationalfeiertagen (den Ritualen)93 Proklamierte gerichtet, entwarf der Kemalismus einen Nationalismus, der sich auf eine türkische Nation richtete, Wissenschaftsglauben und die Privatisierung der Religion forderte (Laizismus). Türke zu sein, hieß die schönen Künste und die Musik zu fördern und zu lieben, um Teil der zivilisierten Welt zu sein. Geschichtsthese und Sonnensprachtheorie gehörten ebenfalls zur Werte- und Ordnungsvorstellung des Nationalismus. Der Unabhängigkeitskrieg und das Wunder des türkischen Sieges wurden zum Referenzpunkt aller Errungenschaften der Republik. Die Opfer des Krieges wurden genutzt, um die Republik auf ein heiliges Fundament zu stellen (Republikanismus). Errungenschaften, Fortschritt und "Moderne" (Revolutionismus), sollten von allen Bürgerinnen und Bürger gegen innere und äußere Feinde verteidigt werden. In diesem Zusammenhang wurde das Militär zum Stifter von Frieden, Freiheit und Republik erhoben, das es zu unterstützen und dem es zu vertrauen galt. Ohne Atatürk, und dies war Hauptbotschaft der kemalistischen Symbol- und Feiertagspolitik, wäre die Republik, wäre die Nation nicht entstanden. Atatürk war die Republik, war die Nation und umgekehrt. Türke zu sein, bedeutete daher den Vater, Atatürk, den Oberkommandanten, Staatsmann, Lehrer und Ewigen Führer zu lieben und zu ehren. Er war das symbolische Fundament des türkischen Nationalismus. Auch Demokratie und Teilhabe (Populismus) wurden zwar inszeniert, sollten allerdings letztlich den schönen Schein wahren. Der Etatismus blieb in den Inszenierungen der Republik eher unbedeutend, wurde aber trotzdem – zumindest symbolisch beispielsweise durch die Reden an den Feiertagen – postuliert und damit integriert. Somit spielten die kemalistischen Prinzipien nicht nur als leere Schlagworte eine Rolle für den Aufbau des Staates. Durch die Feiertage wurden sie teils zu direkter Handlungsaufforderung. In ihrer Bedeutung fielen sie allerdings unterschiedlich ins Gewicht.94
Die Beerdigungszeremonien für Atatürk im November 1938 schrieben den von Atatürk geprägten Kemalismus und den durch ihn geformten türkischen Nationalismus für die Zukunft fest. Lösten sich die kemalistischen Vorstellungen später von der Geschichtsthese und der Sonnensprachtheorie, blieben der durch den Kemalismus hervorgebrachte Wissenschaftsglaube, das starke Militär, die Heiligkeit der Republik und der Unabhängigkeitskrieg als Schlüsselerlebnis und Geburtsstunde von Führer und Vaterland (im Türkischen Mutterland), vor allem aber der Personenkult um Atatürk, weitestgehend im türkischen Nationalismus verankert.95
Errichtet wurde dieser türkische Nationalismus kemalistischer Prägung nicht allein durch Atatürk. Verschiedene Gruppierungen und Einzelpersonen nahmen Einfluss, sowohl ideologisch-theoretisch als auch praktisch. Vor allem die Ülkü-Gruppe mit Peker an der Spitze prägte den Kemalismus bzw. über die nationalen Feiertage, aber auch andere symbolische Ausdrucksweisen das Bild der Republik nachhaltig. Obwohl Atatürks Nachfolger, İsmet İnönü, eher zum linken Flügel der Kemalisten tendierte, wurde der Rechtskemalismus zur Grundlage des offiziellen Staatskemalismus der 1930er Jahre.96
Atatürk hatte starke Mitstreiter und Anhänger bei der Errichtung der Republik, aber keine echten Partner. Er blieb zu Lebzeiten uneingeschränkter Nationaler und Ewiger Führer (Ulu ve Ebedi Önder). Er ließ die Vorstellungen anderer zu; ließ seine Anhänger gewähren, wenn es ihm für die Errichtung seiner Republik dienlich erschien. Sah er ihre Politik als Teil seiner Version des Kemalismus, wurde sie im Zuge seines Pragmatismus in das (Um-)Erziehungsprogramm der Nation übernommen. Entsprachen ihre Pläne und Visionen nicht seinen Vorstellungen, setzte er ihrem "Treiben" jedoch ein jähes Ende. Atatürk entschied, so muss daraus geschlossen werden, selbst über die Inhalte, Tiefe und Radikalität des Kemalismus. Dies sorgte dafür, dass der Kemalismus nicht erstarrte, sondern in gewisser Weise handlungsfähig blieb.
So integrierte der Kemalismus teils unterschiedliche Interpretationen – die sich ohnehin nicht in allen Punkten konträr gegenüberstanden – und erreichte es, „dass verschiedene Intellektuelle aus unterschiedlichen Kreisen wie İsmayıl Hakkı Baltacıoglu, Peyami Safa, Recep Peker, Ahmet Ağaoğlu and Şevket Süreyya Aydemir unter der Kritik am Alten zusammenkommen konnten"97 – hierzu zählten vor allem traditionelle Strukturen des Osmanischen Reichs und der Religion.98
Der Kemalismus sollte schließlich das bleiben, was er für Atatürk stets gewesen war: treibende Kraft zur Transformation von Reich zu Republik, Untertan zu Bürger und Osmanen zu Türken. Somit errichtete Atatürk keine selbstreferentielle Ideologie, sondern nutzte den Kemalismus, um einen türkischen Nationalismus zu gestalten, der in seinen Wesenszügen daher auch bis heute, ohne Mustafa Kemal, Bestand hat. Trotz eines gewissen Interpretationsspielraums und "ideologischer Freiheit" blieb der Kemalismus zwischen 1923 und 1938 somit vor allem eines, "atatürkistisch".