Lesen Sie auch den Beitrag "Parliaments and the Public Sphere" in der EHNE.
Einleitung
Zumal in den deutschen Medien findet sich England gerne als "älteste Demokratie der Welt" apostrophiert, eine irreführende Bezeichnung, hatte doch schon Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) in einem berühmt gewordenen Ausspruch behauptet, dass die Engländer lediglich glaubten frei zu sein, was tatsächlich aber allein für den kurzen Augenblick der Wahl der Mitglieder debs Parlamentes der Fall sei, während sie für die Dauer des Parlaments Sklaven seien. In einer weniger bekannten Fußnote des gleichen Werks konzedierte er allerdings immerhin, die Engländer seien "plus près de la liberté que tous les autres".1 Dennoch fand die Einführung des allgemeinen (Männer-)Wahlrechts in Frankreich wesentlich früher statt, nämlich 1793 und dauerhaft ab 1848, als in England (1918), und während Frauen in New Jersey schon 1776 (bis 1807) und in einer zunehmenden Zahl von Territorien und Staaten der Welt im Laufe des 19. Jahrhunderts wählen konnten, erhielten sie in England das volle Wahlrecht erst 1928. Ungeachtet dieser nachhinkenden englischen Entwicklung ist der Hinweis auf die lange Tradition eines demokratischen Elements in der englischen Verfassung keineswegs völlig aus der Luft gegriffen, hatte sich doch seit dem 16. Jahrhundert in England die Vorstellung herausgebildet, der Vorzug der englischen Verfassung sei darin begründet, dass sie eine aristotelische Mischverfassung sei, in der sich Monarchie (König), Aristokratie (Oberhaus, House of Lords) und Demokratie (Unterhaus, House of Commons) harmonisch verbanden, was ihr Bestand gebe und sie vor politischer Degeneration bewahre.2 Was in dem von Verfassungskonflikten geprägten 17. Jahrhundert noch eine durchaus politische Aussage war, verfestigte sich im 18. Jahrhundert zum Dogma, worauf am Ende des Jahrhunderts John Adams (1735–1826)[] feststellte, auch die amerikanischen Verfassungen seien Mischverfassungen, wenngleich die drei Elemente in Amerika (Präsident, Senat und Repräsentantenhaus) naturgemäß nicht Ausdruck einer sozialen Hierarchie seien – hier seien vielmehr alle Menschen gleich –, sondern in den Ämtern (offices) begründet, die sie ausübten.3
Es erscheint mithin angebracht, mit der genaueren Betrachtung der Situation auf beiden Seiten des Atlantiks im 18. Jahrhundert einzusetzen, als die europäische Anglophilie ihren Höhepunkt erreichte und die englische Verfassung zum Vorbild des aufgeklärten Europa wurde. Parallel zu diesem ideellen Transfer englischer Verfassungsvorstellungen nach Europa wurde beiderseits des Atlantiks die Auseinandersetzung über das Ausmaß des praktischen Transfers englischer Verfassungs- und Rechtsgrundsätze nach Nordamerika zunehmend heftiger. Damit bietet sich das 18. Jahrhundert zugleich an zu fragen, warum dieser transatlantische Transfer trotz gleicher Grundüberzeugungen letztlich misslang, so dass die amerikanische Revolution zugleich den Endpunkt des Höhenflugs der europäischen Anglophilie markierte.
In der Konsequenz der amerikanischen Entwicklung standen sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zwei unterschiedliche Verfassungsmodelle gegenüber, die ihrerseits Ausgangspunkt für zwei sich im Laufe des Jahrhunderts völlig unterschiedlich entwickelnde Demokratiemodelle wurden. Erst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, als beide Länder angesichts des Aufstiegs der Vereinigten Staaten zur Weltmacht und des Verlustes zunächst des ökonomischen und schließlich des politisch-militärischen Gewichts Großbritanniens in der Welt politisch angesichts gemeinsamer Gegner wieder zueinander fanden und sich das Bewusstsein durchsetzte, dass ihre unterschiedlichen Verfassungs- und Demokratiemodelle auf gleichen Wertvorstellungen und gemeinsamen Wurzeln basierten, wandelte sich der Dualismus des 19. Jahrhunderts zu einer Gemeinsamkeit bei gleichzeitiger Akzeptanz der Unterschiede in der jeweiligen Ausprägung dieser Modelle. In Europa hatten hingegen die Brüche und Entwicklungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert langfristig die politische Anglophilie aufgerieben. Hatten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch die moderaten bis konservativen Liberalen ihre Bewunderung der englischen Verfassung bewahrt, war es spätestens ab Mitte des Jahrhunderts die kleinere Schar der progressiveren Liberalen, die in der englischen parlamentarischen Monarchie ein erstrebenswertes politisches Ideal sahen, während sich ihre konservativer eingestellten Zeitgenossen, darunter verbliebene Anhänger Edmund Burkes (1729–1797), an der Demokratisierung des Landes störten und Teile der hiesigen Demokraten nunmehr die amerikanische Verfassung als nachahmenswertes Beispiel herausstellten.4
Die Ausgangslage
Das englische Verfassungsmodell im 18. Jahrhundert
Was sich im 18. Jahrhundert in Europa zumal dank der Inszenierung durch Charles de Montesquieu (1689–1755)[] als das Modell einer glücklichen freiheitlichen Verfassung etablierte, hatte die englische Realität nur unvollkommen und zum Teil verzerrt wiedergegeben. Schließlich lag Montesquieus prägender Englandaufenthalt, als sein Esprit des lois mit dem berühmten Kapitel über die englische Verfassung (Buch XI, Kap. 6) 1748 erschien,5 bereits nahezu zwanzig Jahre zurück (1729–1731), in denen sich die Verfassung weiter entwickelt hatte.
Montesquieus Auffassung einer Verfassung, deren zentrale Komponenten, der König und das Parlament, sich in einem machtpolitischen Gleichgewicht befanden, hatte in den Jahren um 1770 nur noch wenig mit der englischen Verfassungswirklichkeit gemein. Dank der Glorious Revolution (1688/89) war die Stellung des Parlaments gegenüber dem König deutlich gestärkt worden, hatte die Bill of Rights (1689) doch wesentliche Rechte, die James II. (1633–1701) noch für sich reklamiert hatte, dem König genommen und in die Entscheidungsbefugnis des Parlaments gegeben bzw. dort bekräftigt, darunter die Suspendierung und Dispensierung von Gesetzen, die Einrichtung kirchlicher und anderer außerordentlicher Gerichtshöfe, die Erhebung von Steuern und Abgaben, die Aushebung und Unterhaltung stehender Heere in Friedenszeiten und anderes mehr. Erstmals musste der König in Folge im Krönungseid schwören, das Land nach den Parlamentsgesetzen und dem geltenden Recht zu regieren. Zusätzlich war das Parlament dazu übergegangen, dem König die Gelder für seine Hofhaltung und die normalen Amtsgeschäfte nicht mehr auf Lebenszeit, sondern nur noch auf wenige Jahre zu bewilligen, was dem Parlament einen erheblichen Einfluss auf seine Amtsführung und die von ihm verfolgte Politik sicherte.6 1701 wurde mit dem Act of Settlement schließlich die Unabhängigkeit der Justiz festgeschrieben und damit die Richter königlichem Einfluss entzogen. Zugleich setzte das Parlament eigenmächtig fest, dass nach dem Tode von Königin Anne (1665–1714)[] die Krone an das Haus Hannover übergehen sollte. Damit kam eine landfremde Dynastie in ein politisch tief gespaltenes Land, die sich zum eigenen politischen Überleben vollends in die Abhängigkeit des von den Whigs dominierten Parlaments begab, das soeben seine eigene Amtszeit von bislang drei Jahren auf maximal sieben Jahre ausgedehnt hatte.
Während der Regierungszeit der ersten beiden Hannoveraner (Georg I.[] und Georg II.[]) von 1714 bis 1760, die sich mit einem Land konfrontiert sahen, dessen politische Kultur und Sprache eine erhebliche Herausforderung für sie bedeuteten, regierte de facto nicht wie vor der Glorious Revolution der König mit seinem Geheimrat (Privy Council), sondern ein von der Mehrheit des Parlaments gebildeter Ausschuss, das Kabinett unter der formalen Leitung eines Premierministers, dessen Beschlüsse ebenso wie Parlamentsgesetze vom König gebilligt werden mussten. Theoretisch hätte er letztere zurückweisen können, praktisch geschah dies seit 1707 bis heute nie mehr.7 Das Ergebnis, wie es sich um 1770 darstellte, war nicht das von Montesquieu und den Anglophilen in Europa bejubelte Gleichgewicht voneinander getrennter Gewalten, sondern eine englische Verfassung mit einem König an der Spitze, dessen politischer Handlungsspielraum zunehmend enger geworden war, der noch (bis zum Beginn der 1820er Jahre) einen Premierminister seines Vertrauens ernennen, aber gegen den anhaltenden Widerstand des Parlaments nicht lange halten konnte, während im Gegenzug das Parlament eine Machtstellung erreicht hatte, die praktisch unbegrenzt war. Gegen ein gültiges Parlamentsgesetz hatten weder der König noch die Gerichte eine legale Handhabe. Allein das Parlament brauchte es nicht zu beachten und konnte es jederzeit durch ein neues Gesetz ersetzen.8
Es war diese Omnipotenz des englischen Parlaments – später setzte sich dafür der Ausdruck der in der Theorie bis heute gültigen Parlamentssouveränität durch –, die das liberale Europa im 18. und 19. Jahrhundert nicht wahrhaben wollte.9 Noch Jean Louis de Lolme (1740–1806) zeichnete in seinem 1771 erstmals erschienenen Klassiker über die englische Verfassung ein eher Montesquieusches Bild von ihr,10 während sich die Siedler auf der anderen Seite des Atlantiks mit zunehmender Vehemenz gegen dieses Gestalt annehmende englische Verfassungsmodell zur Wehr setzten.
Die englischen Kolonien in Nordamerika
Die schließlich 13 englischen Kolonien an der amerikanischen Nordostküste zwischen Kanada und Florida waren zwischen 1607 und 1732 begründet worden: nicht durch ein direktes staatliches Eingreifen wie im Falle der spanischen Kolonien weiter südlich – lediglich das holländische Nieuw Nederland (im Wesentlichen entsprechend Teilen des heutigen New York, New Jersey und Delaware) fiel 1664 in Folge eines Krieges zwischen beiden Ländern an England –, sondern durch private Gesellschaften mit ökonomischen, religiösen oder philanthropischen Zielsetzungen. Diese gingen mit entsprechenden königlichen Schutzbriefen (charters) an die Kolonisation der ihnen zugewiesenen Gebiete, während Rhode Island und Connecticut durch Abspaltungen von Massachusetts entstanden waren und sich ihre Eigenständigkeit 1662/1663 in London durch charters hatten bestätigen lassen.
Alle diese Kolonien verfügten über ihre eigenen Beziehungen zum Mutterland, und diese waren höchst heterogen. Sie verwalteten sich weitgehend selbst getreu dem englischen Vorbild durch einen Gouverneur, einen ihm zur Seite stehenden und zumeist von ihm ernannten Rat (council) sowie eine gewählte Versammlung (assembly), die in der Regel jährlich das Gehalt des Gouverneurs festsetzte. Angesichts einer stetigen Einwanderung zumal von den britischen Inseln und aus dem deutschen Sprachraum sowie der wachsenden Einfuhr von schwarzen Sklaven aus Afrika nahm die Bedeutung dieser Kolonien für die britische Wirtschaft ständig zu. Wenig überraschend wechselten daher Phasen größerer politischer Vernachlässigung dieser Kolonien mit Bemühungen, sie stärker an das Mutterland anzubinden und ihre politisch-rechtliche Stellung zu vereinheitlichen. In dem einen oder anderen Fall kam es zu Aussetzungen oder Aufhebungen von charters, doch ein straff geführtes Kolonialreich wurde nie daraus, selbst wenn die in den Kolonien beschlossenen Gesetze durch die Regierung in London einkassiert werden konnten.
Am Ende (1776) gab es acht sogenannte königliche Kolonien, in denen der König den Gouverneur einsetzte, drei Eigentümerkolonien (Pennsylvania, Delaware und Maryland), die den Familien Penn und Calvert (Baltimore) gehörten, die jeweils über den Gouverneur bestimmten, und die beiden genannten Rhode Island und Connecticut, die ihren Gouverneur selbst wählten.11
Der transatlantische Transferprozess
Die Gründe für das Scheitern der englischen Bemühungen, die nordamerikanischen Kolonien politisch in den Griff zu bekommen, waren vielfältig. So hatten die Pilgerväter, Abtrünnige der englischen Staatskirche aus dem holländischen Exil, die zusammen mit einer größeren Gruppe von Auswanderern aus London auf der Mayflower den Atlantik überquert hatten, am 11. November 1620, bevor sie bei Cape Cod im heutigen Massachusetts an Land gingen, vereinbart, gemeinsam einen "civil Body Politick, for our better Ordering and Preservation" bilden zu wollen, um zukünftig
[to] enact, constitute, and frame, such just and equal Laws, Ordinances, Acts, Constitutions, and Officers, from time to time, as shall be thought most meet and convenient for the general Good of the Colony; unto which we promise all due Submission and Obedience.12
Dieser Mayflower Compact ist zwar nicht das viel gerühmte Gründungsdokument der amerikanischen Demokratie, doch der früheste und markanteste Ausdruck auf dieser Seite des Atlantiks, sich nach selbst gegebenen und für alle gleichermaßen verbindlichen Regeln und Gesetzen in einem Gemeinwesen zu organisieren. Das sollte auf der bis 1776 ständig wiederholten Überzeugung geschehen, frei geborene Engländer zu sein, die ihre englischen "Geburtsrechte" mit in die Neue Welt genommen hätten. Dazu gehörte nach ihrer Überzeugung das Recht, sich selbst zu regieren und nur solchen Gesetzen zu gehorchen und Steuern zu akzeptieren, die sie sich selbst oder durch ihre frei gewählten Repräsentanten auferlegt hatten. Auf diesen Grundprinzipien sahen sie die englische Verfassung begründet, der sie sich auch weiterhin verbunden fühlten.
Tatsächlich hatte sich die englische Verfassung über die Zeit, wie gesehen, dramatisch verändert. Bereits nach der Glorious Revolution, die in einigen nordamerikanischen Kolonien zu erheblichen Turbulenzen geführt hatte,13 hatte die englische Regierung darauf bestanden, dass ihre Ergebnisse, das sogenannte revolution settlement, nicht für die Kolonien gelten würden.14 Zu keinem Zeitpunkt war die Parlamentsmehrheit zudem bereit zu akzeptieren, dass die Kolonien – ähnlich den Kanalinseln – lediglich dem König unterstellt seien und das Parlament mithin gar keine Gesetzgebungsbefugnis über sie hätte.15 Überhaupt weigerte sich London bis zuletzt, je mehr die Siedler in den Kolonien auf ihren angestammten Rechten beharrten, verbindlich die definitive Rechtsstellung der Kolonien und ihrer Bewohner zu klären. Nur umso mehr insistierten die politischen Führer in den Kolonien auf der englischen Verfassung und ihren fundamentalen Prinzipien, wie sie sie verstanden, die ungeschmälert und ungeachtet der politischen Abirrungen in London auch für sie zu gelten hätten.16
Britische Versuche, mittels Gesetzen den Handel innerhalb des Reiches zu regeln, wie es sie seit dem 17. Jahrhundert immer wieder gegeben hatte, mochte man, wenn sie sich nicht durch Schmuggel umgehen ließen, zähneknirschend und mitunter nicht ohne Proteste noch hinnehmen. Doch als das Parlament 1765 mit dem Stamp Act zur internen Besteuerung überging, war aus ihrer Sicht eine rote Linie überschritten, und bereits nach wenigen Monaten sah sich die englische Regierung angesichts des massiven Widerstands gezwungen, das Gesetz zurückzunehmen. Doch das damit zugleich erlassene Declaratory Act (1766) goss Öl ins Feuer, erklärte es doch unumwunden, das Parlament "had, hath, and of right ought to have, full power and authority to make laws and statutes of sufficient force and validity to bind the colonies and people of America, subjects of the crown of Great Britain, in all cases whatsoever".17
Es war die donnernde Bekräftigung der Omnipotenz des englischen Parlaments, die die Führer des amerikanischen Widerstands sich bis zum Schluss weigerten anzuerkennen und der sie ihre mit Argumenten des Naturrechts unterfütterte Interpretation der englischen Verfassung entgegensetzten, die in England lediglich eine ihnen wohlgesonnene liberale Minderheit interessierte. Während sich die Regierung beharrlich geweigert hatte, Grundzüge ihrer Verfassung nach Amerika zu transferieren, bestand man dort darauf, dass dieser Transfer durch die eigene Migration tatsächlich stattgefunden habe,18 ohne der in der Zwischenzeit im Mutterland erfolgten Weiterentwicklung dieser Verfassung im Vertrauen auf ihre dortigen liberalen Fürsprecher gebührend Beachtung zu schenken. Stattdessen verurteilte man diese Entwicklungen als den wahren Kern der Verfassung verfälschende Degenerationserscheinungen.19
Das amerikanische Verfassungsmodell
Nur so ist zu erklären, warum das aus dieser Krise hervorgegangene amerikanische Verfassungsmodell sich so anders präsentiert, obwohl ihre Autoren nie die englische Verfassung ausdrücklich verworfen hatten.20 Dieses amerikanische Modell manifestiert sich in den Verfassungen , die sich die unabhängig gewordenen vormaligen Kolonien ab 1776 gaben, einschließlich der Bundesverfassung von 1787.21 Ein Schlüsseldokument ist dabei die Virginia Declaration of Rights vom 12. Juni 1776. In ihr standen jene zehn Grundprinzipien, die nach Überzeugung der Wortführer des amerikanischen Widerstands gegen die Politik Londons zumindest ideell der englischen Verfassung, so wie sie sie verstanden, zugrunde lagen und lediglich klarer zum Ausdruck gebracht werden mussten, um eine England vergleichbare politische Degeneration zu vermeiden. Seither stellen diese Grundsätze weltweit die zehn Prinzipien des modernen Konstitutionalismus dar: Volkssouveränität, universelle Prinzipien, Menschenrechte, repräsentative Regierung, Gewaltentrennung, begrenzte Regierungsmacht, richterliche Unabhängigkeit, Rechenschaftspflicht, Verfassung als oberstes Gesetz, Änderung der Verfassung unter Mitwirkung des Volkes.22 Mit Ausnahme der Volkssouveränität konnten sie sich alle als konstitutive Merkmale der englischen Verfassung bei William Blackstone (1723–1780), ihrem autoritativen Interpreten, herauslesen lassen.23
Diese Prinzipien fanden in zunehmendem Maße Eingang in die amerikanischen Verfassungen, wobei die Verfassung von Massachusetts von 1780 – die bis heute gültige älteste geschriebene Verfassung der Welt – und die Bundesverfassung von 1787 Meilensteine dieser Entwicklung darstellten, während die Verfassung von Pennsylvania von 1776 aus dem amerikanischen Modell aussscherte und einen radikaldemokratischen Gegenentwurf darstellte, der dann für die Jakobinische Verfassung von 1793 während der Französischen Revolution Pate stehen sollte.24 Dieses amerikanische Verfassungsmodell basierte auf einer geschriebenen Verfassung, die 1776 noch aus zwei getrennten Teilen bestand, der Declaration of Rights, die die Prinzipien beinhaltete, auf denen die Verfassung basierte, und dem Plan oder Frame of Government, der die Machtverteilung und die Organisation und Aufgaben der verschiedenen Teile regelte. Beide zusammen bildeten die Verfassung. Beides wuchs in der Folge rasch zu einem gemeinsam verabschiedeten Dokument zusammen, wobei ab 1790, mit der zweiten Verfassung von Pennsylvania, die Rechteerklärung unter Aufgabe ihrer ursprünglichen Intention an das Ende der Verfassung rücken konnte. Dennoch blieb das Wesen des amerikanischen Modells, das die Anordnung von 1776 so augenfällig zum Ausdruck gebracht hatte, im Kern erhalten: Die Aufgabe einer Verfassung war es, die Rechte und Freiheiten der Bürger zu sichern und die Staatsmacht so zu organisieren, dass sie diese nicht beeinträchtigen konnte. Damit erschienen die Akzente, insbesondere mittels Volkssouveränität, Menschenrechtserklärung, strikter Gewaltentrennung mit der Judikativen erstmals als eigenständiger dritter Gewalt, der Verfassung als oberstem Gesetz, aber auch der neuartigen bundesstaatlichen Ordnung der Union, konsequenter gesetzt als im englischen Verfassungsmodell, und so mancher in Europa sah seit der amerikanischen Revolution das amerikanische Modell als Ausdruck freiheitlicher Grundordnung als dem englischen überlegen an.
Der Dualismus des 19. Jahrhunderts
USA: Demokratie als Ausweitung von Individualrechten
Es war nicht das Ziel des amerikanischen Verfassungsmodells gewesen, die Demokratie in den Vereinigten Staaten einzuführen, und die überwiegende Mehrheit der Verfassungsväter hätte eine derartige Behauptung als Unterstellung entrüstet zurückgewiesen.25 Bei aller Mitwirkung des Volkes hatte die politische Kultur des Landes im 18. Jahrhundert eine durchaus elitäre Grundstruktur. Doch das sollte sich unter dem Eindruck der Französischen Revolution und ihrer Rückwirkungen auf die Vereinigten Staaten rasch ändern. 1800 gewann Thomas Jefferson (1743–1826) die Präsidentenwahlen gegen John Adams unter dem Slogan der Rückkehr zum "Geist von 1776".
Demokratie bekam einen neuen Klang – einige sprachen von der Jeffersonian democracy. Das allgemeine Klima wandelte sich, und in einigen Staaten wurde das Wahlrecht ausgeweitet und vormalige Eigentumsqualifikationen fielen oder wurden zumindest gemindert. Nach dem Krieg von 1812 verschwanden diese Beschränkungen in den neuen Staaten des Westens nahezu völlig. Aber es gab auch Gegenbewegungen. 1807 verloren die Frauen in New Jersey ihr Wahlrecht wieder für mehr als ein Jahrhundert, und freien Schwarzen wurde in einer wachsenden Zahl von Staaten das Wahlrecht verwehrt.26 In den alten Staaten des Südens, in denen – anders als in Neu-England – die politische Repräsentation auf County-Basis anstelle der Township erfolgte, verhinderte in der Regel die alte Elite bis zum Bürgerkrieg jede Veränderung der politischen Vertretung, um das Übergewicht der Küstenregionen gegen das Hinterland zu wahren, obwohl dort längst die Mehrheit der Bevölkerung lebte. Im Falle Virginias führte dies mit der Sezession zum Auseinanderbrechen des Staates, dessen westliche Counties sich der fortdauernden Bevormundung durch die Ostküstenelite zur Wehr setzten und 1863 als eigener Staat West Virginia in die Union aufgenommen wurden.
Aber das vorwärtsstürmende Land hatte sich inzwischen grundlegend verändert. 1828 wurde mit Andrew Jackson (1767–1845) erstmals ein Präsident gewählt, der nicht der Ostküstenelite Virginias oder Massachusetts' entstammte, und der wie kein zweiter amerikanischer Präsident mit dem Durchbruch der Demokratie im Lande gleichgesetzt wird, dessen Auswirkungen auf die politische Kultur eines Landes Alexis de Tocqueville (1805–1859)[] scharfsinnig anlysierte und in seinem Epoche machenden Buch De la Démocratie en Amérique (dt. Über die Demokratie in Amerika; zwei Bände 1835/1840)insbesondere Frankreich als Spiegel vorhielt.27 Die Jacksonian democracy wurde auch die era of the common man genannt, obwohl sich in einigen Ostküstenstaaten die letzten Eigentumsqualifikationen im Wahlrecht zäh behaupteten. Doch moderne Parteien entstanden, die Wähler aller Schichten an sich banden und sie in ihre Kandidatenfindung einbezogen. Viele Staaten gaben sich neue Verfassungen auf breiterer demokratischer Grundlage bis hin zur Wahl von Richtern durch das Volk, um ihre demokratische Legitimation und Volksnähe sicherzustellen. Der elitäre Charakter der amerikanischen Politik verschwand – außer im Süden –, aber der Wandel kannte auch seine deutlichen Grenzen. Er bezog nicht die Frauen und nicht die Schwarzen ein, von den Ureinwohnern ganz zu schweigen, die unverändert als außerhalb der amerikanischen Gesellschaft stehend hingestellt und vielfach brutal aus ihren angestammten oder zugewiesenen Wohngebieten vertrieben wurden, wo immer sie den Kapitalinteressen der Weißen im Wege standen.28
Die Zäsur des Bürgerkrieges (1861–1865) brachte in seiner Folge eine neue Welle von Ausweitungen der Individualrechte, die nunmehr ihre vormalige gesellschaftliche Einbettung vollends verloren. Die rechtliche Stellung der Frauen begann sich grundlegend zu verbessern, und ab 1869 gab es erste, wenige Territorien und Staaten, die ihnen in den kommenden Jahrzehnten das Wahlrecht gewährten. Auf Bundesebene war das zur maßlosen Enttäuschung der Frauenbewegung 1870 gescheitert, als im 15. Zusatzartikel zur Verfassung Geschlecht, anders als Rasse, Hautfarbe, "or previous condition of servitude", nicht als unzulässiger Grund für die Verweigerung des Wahlrechts definiert wurde. Langfristig als noch folgenreicher sollte sich der 14. Zusatzartikel von 1868 erweisen. Seine Rechtsgarantien stärkten nicht nur den Bundesstaat gegenüber den Einzelstaaten, sondern ermöglichten es auch dank der Rechtssprechung des Obersten Bundesgerichtes (Supreme Court) ab 1925, die Mehrheit der in der Bill of Rights der Bundesverfassung garantierten Rechte auf den Schutz vor Übergriffen der Einzelstaaten auszuweiten, die ungeachtet des 15. Zusatzartikels und jüngerer Gesetze bis in die Gegenwart immer wieder versuchen, bestimmte Personen oder Bevölkerungsgruppen von Wahlen auszuschließen oder von der Ausübung ihres Wahlrechts abzuhalten.
Das progressive movement zu Beginn des 20. Jahrhunderts brachte einen weiteren Demokratisierungsschub, indem es gegen die politische Korruption entschieden vorging, Vorwahlen einführte, mit denen die Bürger aktiv die Kandidatenaufstellungen der Parteien bestimmen konnten und diese damit aus den Hinterzimmern holten, die Direktwahl der Senatoren für den Bundessenat (17. Zusatzartikel) und schließlich 1920 das Frauenwahlrecht (19. Zusatzartikel) in die Verfassung einfügten.29
So viel das amerikanische Demokratiemodell 1920 auf der Habenseite auch vorweisen konnte, waren die Schattenseiten nicht zu übersehen. Die amerikanische Urbevölkerung war dezimiert und der in trostlosen Reservaten zusammengepferchte Rest von dieser Entwicklung ausgeschlossen. Erst 1924 sollten sie das amerikanische Bürgerrecht erhalten. Die Schwarzen wurden diskriminiert und segregiert, was der Supreme Court in einem berüchtigten Urteil 1896 (Plessy v. Ferguson) für verfassungskonform erklärt hatte. Aber auch die Mehrheitsgesellschaft war schutzlos einem überbordenden Kapitalismus mit seinem rigiden Individualismus ausgeliefert, so dass der Supreme Court in einem weiteren berühmten Urteil (Lochner v. New York) 1905 dem Staat New York verbot, die Arbeitszeiten im Bäckergewerbe zu regeln, da dies der Vertragsfreiheit der – so ungleichen – Tarifpartner widerspreche. Es war, um es kurz zu machen, ein Demokratiemodell, das zwar dem Einzelnen eine Fülle an freiheitlichen Rechten gewährte, in dem aber letztlich, ideologisch sanktioniert durch den Sozialdarwinismus der letzten Jahrzehnte, die Rechte des Stärkeren den Ton angaben, so sehr die Reformbewegung zum Jahrhundertbeginn auch um Korrekturen bemüht blieb.
England: Demokratie durch Anpassung der Institutionen
Englands Weg zur Demokratie war im 19. Jahrhundert völlig anders verlaufen. Wenn es von Englands Mischverfassung geheißen hatte, in ihr sei die Demokratie dank der Repräsentation des Volkes im House of Commons verankert, bedarf dies einiger Differenzierungen. In dem für die Zukunft stilprägenden Parlament von 1265 wurden für die Commons zwei Vertreter für jede Grafschaft, die knights of the shire, und zwei für jede Stadt, burgesses, einberufen.30 Dieses blieb bis in das 19. Jahrhundert das Grundmodell, wenngleich die Zahl der Vertreter der counties, wie etwa im Fall von Yorkshire, schließlich höher sein konnte und die Zahl der boroughs, die das Recht einer eigenen Vertretung im Parlament erhielten, im Mittelalter auf mehrere hundert angewachsen war, von denen etliche jedoch nur einen Parlamentsvertreter entsandten. Hinzu kamen noch je zwei Vertreter für die Universitäten Oxford und Cambridge. Seit dem Mittelalter galt in den counties ein passives Wahlrecht für alle Männer, die über gewissen Grundbesitz verfügten, das sogenannte forty-shilling freehold. Das Wahlrecht in den boroughs richtete sich nach der jeweiligen borough charter und war höchst heterogen. Diese boroughs entwickelten sich über die Jahrhunderte sehr unterschiedlich, einige waren zu großen Städten angewachsen, so etwa London, andere kleine Marktflecken geblieben und wiederum andere hatten an Bevölkerung abgenommen oder waren gar ganz ausgestorben, darunter Old Sarum bei Salisbury. Angesichts dieser Situation reichten, wie es 1780 hieß, lediglich 6.000 Wähler aus, um eine klare Mehrheit in den Commons zu bestimmen, und nach der Union mit Irland 1801 sagte man, dass von den nunmehr 658 Mitgliedern des House of Commons 487 praktisch nominiert würden,31 d.h. Abgeordnete aus jenen kleinen und kleinsten boroughs waren, in denen letztlich der lokal dominierende Adelige, was in dem besonders viele dieser boroughs aufweisenden Cornwall etwa der jeweilige Thronfolger war, regelte, wer für die betreffende borough im Parlament saß. Was also vor 1832 in der Theorie als Ausdruck des demokratischen Elements in der englischen Verfassung galt, bezeichnete in Wirklichkeit eine Parlamentskammer, deren Mehrheit sich überwiegend aus den jüngeren Söhnen, Verwandten oder Abhängigen des Hochadels zusammensetzte, der seinerseits im House of Lords saß.
Der Ruf nach Reformen wurde immer lauter, zumal als im Zuge der Industriellen Revolution Städte wie Birmingham, Manchester oder Leeds zu nationaler Bedeutung aufstiegen, die im Parlament über keine eigenständige Vertretung verfügten. Nach langen Kämpfen und einer ernsten politischen Krise verloren 1832 mit einem ersten Representation of the People Act, dem sogenannten Great Reform Act[], 56 der sogenannten rotten boroughs ihre bisherige Parlamentsvertretung vollends, während 30 weitere zukünftig nur noch einen Vertreter in die Commons entsandten. Die frei gewordenen Parlamentssitze wurden vor allem auf die neuen Industriestädte im Norden und aufstrebende Städte im Großraum London verteilt. Neben den maßvollen Veränderungen in der Repräsentation der Städte sowie einigen weiteren im Bereich der county-Repräsentation wurde das Wahlrecht in den Städten auf Hausbesitzer ausgeweitet, deren Eigentum jährlich mindestens zehn Pfund abwarf.32
Das Gesetz war alles andere als revolutionär, und dennoch waren mit ihm Dämme auf dem Weg zur Demokratie gebrochen. Es schwächte nachhaltig die Position des Königs und der Lords, die beide schließlich zähneknirschend dem Gesetz hatten zustimmen müssen – "Reform, that you may preserve" in den beschwörenden Worten von Thomas Babington Macaulay (1800–1859)33 –, und es stärkte die Commons als die politisch dominierende Parlamentskammer, in der der Einfluss des Hochadels zurückging, während sich in der Folge Whigs und Tories zu den modernen Parteien der Liberals und Conservatives wandelten, die sich fortan um Wähler und Mehrheiten bemühen mussten. Zwar hatten die Arbeiter noch keinen direkten Einfluss auf die Wahlen gewonnen, aber die Rolle des Bürgertums war gestärkt. Es sollte im Laufe des 19. Jahrhunderts in wachsender Zahl Kabinettsmitglieder und selbst den Premierminister stellen.34
Mit den weiteren Representation of the People Acts von 1867, 1884–85 und 1918 wurde die Repräsentationsbasis schrittweise weiter demokratisiert bis hin zur Einführung der heutigen Ein-Mann-Wahlkreise und das Wahlrecht vereinheitlicht und sukzessive ausgeweitet, das 1918 allen Männern über 21 Jahren und allen Steuer zahlenden Frauen oder mit Steuer zahlenden Männern verheirateten Frauen über 30 Jahren das Wahlrecht verlieh. Damit hatte der Hochadel seinen letzten Einfluss auf die Zusammensetzung der Commons verloren; 1895 wurde mit Lord Robert Cecil, Marquess of Salisbury (1830–1903), letztmals ein Premierminister ernannt, der seinen Sitz im House of Lords hatte.35
Dank dieser Reformen hatte sich in England ein Demokratiemodell durchgesetzt, das dem Land zwar nach außen seine mittelalterlichen Institutionen bewahrt hatte, in denen der König weitgehend auf die Wahrnehmung repräsentativer Aufgaben beschränkt war, während die eigentliche Regierung in den Händen eines Kabinetts unter Führung eines Premierministers lag, die das Vertrauen der Mehrheit der Commons besaßen. In einem evolutionären und graduellen Prozess waren die ehrwürdigen Institutionen an die Moderne herangeführt worden. Dass dabei zu Beginn des 20. Jahrhunderts die alten elitären Strukturen durchaus noch intakt waren und über viele weitere Jahrzehnte bestehen bleiben sollten und Großbritannien somit durchaus noch von der "rule of the multitude" entfernt, die James Bryce (1838–1922)[] in Amerika konstatiert hatte,36 ist die andere Seite dieses Modells, das sich rühmte, ohne Brüche und Revolution die Arbeiterklasse in das politische System und seine Institutionen integriert zu haben.
Ausblick
Der im 19. Jahrhundert in England eingeschlagene Weg, durch institutionelle Reformen der Demokratie zum Durchbruch zu verhelfen, war ebenso eine Fortsetzung bereits zuvor unternommener und im 20. Jahrhundert fortgeführter institutioneller Reformen,37 wie sich dies ebenso für die Vereinigte Staaten mit der Durchsetzung von Individualrechten sagen lässt. Die Rechtediskussion hatte dort bereits die Kolonialzeit geprägt und sollte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die "Civil Rights Revolution" münden, zu der ebenso das 1954 durch Brown v. Board of Education of Topeka einsetzende Ende der Segregation und Baker v. Carr von 1962 mit der Gleichheit der Wählerstimmen durch gleich große Wahlbezirke wie das Civil Rights Act von 1964 und das Voting Rights Act von 1965 gehören.38 In England hatten sich die politischen Institutionen nicht erst seit der Glorious Revolution und das ganze 18. Jahrhundert über gewandelt, und die House of Lords-Reformen von 1911, 1949 und 1999 sollten das 20. Jahrhundert kennzeichnen, ohne dass derzeit bereits ein vorläufiger Endpunkt erreicht wäre. Dennoch sind in beiden Ländern speziell die Reformen des 19. Jahrhunderts mit der Durchsetzung der Demokratie verbunden.
Damit hatte sich auch der Charakter der Verfassungen beider Länder gewandelt. Der Gedanke der Mischverfassung, der im 18. Jahrhundert beiderseits des Atlantiks noch so virulent gewesen war, entschwand. Für viele in Europa, zusätzlich gefördert durch die Amerikanische und Französische Revolution, hatte auf diese Weise die englische Verfassung ihren Vorbildcharakter verloren. An seine Stelle trat im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts, wenn auch nur für eine deutlich reduzierte liberale Gemeinde, ein neues Paradigma, für das insbesondere England Pate stehen konnte: das Ideal der parlamentarischen Monarchie als Mittelweg zwischen autoritärer konstitutioneller Monarchie und der Republik, aus der sich dann im 20. Jahrhundert generell die Verfassungen mit parlamentarischer Regierungsform entwickelten, deren Regierungen angesichts einer "weichen" Gewaltentrennung aus der und durch die Parlamentsmehrheit gebildet werden. Ohne dabei auf das weite Feld der Demokratietheorien einzugehen,39 verkörpert England in diesem Zusammenhang das, was man vielfach das "Westminster-Modell" nennt, eine Mehrheits- oder Konkurrenzdemokratie, in der der Regierung stets eine politische Opposition als inhaltliche und personelle Alternative gegenübersteht – entsprechend ist die Sitzordnung in den Parlamentskammern –, die diese kontrolliert und herausfordert und jederzeit bereit ist, an ihre Stelle zu treten. In einer Reihe vormaliger britischer Kolonien und jetziger Commonwealth-Staaten und darüber hinaus hat dieses System Nachahmung gefunden.
Dem gegenüber steht das amerikanische Verfassungsmodell einer präsidialen Republik mit strikter Gewaltentrennung, in der der Präsident als Chef der Exekutive vergleichsweise eigenmächtig die Regierung führt und –anders als in England – nicht vom Parlament durch ein Misstrauensvotum gestürzt werden kann. Im Gegenzug kann er es allerdings auch mit einem Parlament zu tun haben, dessen Mehrheiten ihm politisch entgegenstehen und ihm am Regieren nachhaltig hindern können. Dieses Verfassungsmodell hat insbesondere in Lateinamerika verbreitete Nachahmung gefunden und – nach 1989 – vielfach in den Staaten des vormaligen Ostblocks, nicht ohne inzwischen Gegenbewegungen in dem einen oder anderen Land gegen einen übermächtigen und selbstherrlichen Präsidenten hervorzurufen.
Was in der Anglophilie des 18. Jahrhunderts als Verherrlichung der freiheitlichen englischen Verfassung begonnen hatte, wurde verbreitet im 20. Jahrhundert als das liberale westliche Verfassungs- und Demokratiemodell gefeiert, als dessen prägende Wurzeln England und die Vereinigten Staaten gelten. Damit erscheinen die Unterschiede im Detail wie auch die jedem System innewohnenden Defizite und Versäumnisse sekundär, während die Betonung eindeutig – und nicht unähnlich dem 18. Jahrhundert – auf der freiheitlichen Grundordnung liegt. Darin klingt jenes von James Harrington (1611–1677) thematisierte Menschheitsideal des "empire of laws, and not of men" an,40 das als Markenzeichen der westlichen Demokratien gilt und, obwohl mitunter eher ein hehres Ziel, doch grundsätzlich eine ständige Herausforderung darstellt, die für Selbstgefälligkeit keinen Raum lässt.