Die Netzwerkanalyse im Allgemeinen
Die Grundprämisse der Netzwerkanalyse ist, dass Handlungsmöglichkeiten und daraus folgend das Handeln von Menschen auch durch die sozialen Beziehungen des handelnden Individuums bestimmt werden. Zwischen die Perspektive des Individuellen und größere Analysekategorien wie Klasse, Schicht, Geschlecht usw. wird also eine weitere Untersuchungsebene geschaltet. Dabei werden Individuen keineswegs als durch soziale Grenzziehungen vollständig determiniert betrachtet. Mit interpersonalen Netzwerken wird ein wesentliches Instrumentarium in den Blick genommen, dessen sich Individuen bedienen, um soziale Grenzen zu überwinden oder zu manipulieren.
Der wichtigste und zugleich in der Praxis methodisch schwierigste Begriff ist der der Qualität von Beziehungen. Im Bereich islamischer Bildungsnetzwerke sind neben der Verwandtschafts- vor allem Lehrer-Schüler- bzw. – im Bereich des Sufismus, der islamischen Mystik – Šaiḫ-Adepten-Beziehungen zu nennen. Die Intensität solcher Beziehungen ist in der Regel auf Basis der jeweiligen Selbstcharakterisierungen in den Quellen nur schwer differenziert zu messen. Deswegen werden neben multiplen Netzwerkbeziehungen (z.B. wenn zu einer Šaiḫ-Adepten- eine Schwiegerbeziehung tritt) vor allem diachrone Untersuchungsaspekte wie Besuchshäufigkeit, Dauer und/oder Krisenfestigkeit der Beziehung in den Blick genommen, um zu einer Einschätzung qualitativer Aspekte innerhalb der Netzwerkanalyse zu gelangen. Unter den quantitativen Elementen sind vornehmlich die Dichte und die Reichweite von Netzwerken zu nennen. "Dichte" bezeichnet die Häufigkeit direkter Beziehungen innerhalb eines Netzwerks.
Die Reichweite eines Netzwerks ist insbesondere bei Ego-Netzwerken eine sinnvolle Analysekategorie, also bei Beziehungsgeflechten, die sich um eine bestimmte, häufig als Gründerfigur einer Gemeinschaft fungierende Persönlichkeit entwickelten. Denn in diesen Fällen kann am leichtesten gemessen werden, ob eine Person eine direkte oder eine über ein oder mehr Zwischenglieder indirekte Beziehung zur zentralen Person des Ego-Netzwerkes hat.
Netzwerke sind oft wenig formalisiert, so dass sie "nach außen hin ausfransen", sie also nicht klar nach außen abgegrenzt werden können. Netzwerke einer Person oder einer Qualität überlappen daher meist mit anderen Netzwerken. Dieses strukturelle Charakteristikum wurde in der Entwicklung der Netzwerkanalyse durch Mark Granovetters (geb. 1943) weak-tie-Konzept theoretisch gefasst. Darin hatte Granovetter herausgearbeitet, dass Personen, die in einem Netzwerk eine marginale Position einnehmen, potenziell gegenüber zentralen Positionen dadurch strukturell im Vorteil sind, dass sie leichter in verschiedene Netzwerke eingebunden sein können. Zwar haben solche Personen innerhalb mehrerer Netzwerke jeweils nur eine marginale Position. In einer netzwerkanalytischen Betrachtung haben sie dennoch mehr Handlungsoptionen, da sie im Falle von Krisen leichter zwischen verschiedenen Netzwerken wechseln können als Personen, die zwar über wesentlich mehr und intensivere Kontakte verfügen, diese jedoch nur in einem einzigen Netzwerk haben bzw. primär mit diesem identifiziert werden.1
Nicht zuletzt ist das Fehlen von Netzwerkkontakten als Analysekategorie zu nennen. Insbesondere in informellen Zusammenhängen werden dadurch Gruppenzugehörigkeiten und -abgrenzungen transparent, die zusammen mit beispielsweise diskursanalytischen Verfahren helfen können, historische Phänomene besser zu erfassen.
Die Netzwerkanalyse in der Islamwissenschaft
Die Netzwerkanalyse wurde seit den 1990er Jahren durch Stefan Reichmuth (geb. 1950) und Roman Loimeier (geb. 1957) sowie weitere Wissenschaftler, deren Arbeiten die Grundlage für den vorliegenden Überblick bilden, in die deutsche Islamwissenschaft eingeführt. Reichmuth und Loimeier argumentierten, dass angesichts der Tatsache, dass die Religion des Islam "abgesehen von der Pilgerfahrt keine zentralisierten religiösen Institutionen kennt, ... die Beziehungen zwischen den verschiedenen muslimischen Gruppen und ihren religiösen Autoritäten eine entscheidende Rolle [spielen]". Die Netzwerk-Perspektive dränge sich für die Analyse der Aktivitäten von Religionsgelehrten immer wieder auf. Deren Beziehungen untereinander wie auch zu ihren Schülern, die Grenzen sozialer Stratifikation oder städtischer, ländlicher und nomadischer Gesellschaft genauso überwinden wie naturräumliche, sind letzten Endes die entscheidenden Kanäle, durch die Information – auch über große Distanzen – ausgetauscht, aber auch kulturelles Kapital akquiriert wird. Insbesondere Bildungsreisen und Pilgerfahrten spielen hierbei eine große Rolle.2
Vor allem Stefan Reichmuth versuchte, anschließend an Überlegungen des amerikanischen Islamhistorikers John Voll (geb. 1936) und in Auseinandersetzung mit Immanuel Wallersteins (geb. 1930) Weltsystem-Theorie, die Netzwerkanalyse nicht nur als Methode der Quellenanalyse, sondern darüber hinaus auch als theoretisches Modell zu begreifen, um den Forschungsgegenstand "Islam" als einen Kommunikationsraum zu definieren, in dem sich Muslime unter Bezugnahme auf die durch ihre Religion geprägte Bildungstradition über die Welt und ihre Position, kurz ihre Identität, verständig(t)en.3
Bereits in den wegbereitenden Arbeiten von Reichmuth und Loimeier hatte ein starker Schwerpunkt auf der Analyse von Ego-Netzwerken gelegen. Dieser Trend setzte sich in den Arbeiten zum Teil anderer Wissenschaftler fort, die in der Folge entstanden und vornehmlich Ego-Netzwerke des 17. bis 20. Jahrhunderts untersuchten.
Henning Sievert untersuchte mit Rāġıb Meḥmed Paşa (1699–1763) eine der prägenden politischen Gestalten des Osmanischen Reichs im 18. Jahrhundert. Aus einer Bürokratenfamilie stammend genoss Rāġıb von Kindheit an eine Ausbildung, die ihn für eine Karriere in der Reichsverwaltung qualifizierte. Diese führte ihn über verschiedene Stationen – Irak, Istanbul, Ägypten, Aydın, Raqqa und Aleppo – schließlich bis zum Posten des Großwesirs. Sievert zeigt, dass die Karriere und schließlich überragende Stellung Rāġıbs durch seine Netzwerke und sein kulturelles Kapital bedingt werden. So ist der Verlust von Rāġıbs Gouverneursposten in Ägypten im Jahre 1748 durch veränderte Machtkonstellationen in Istanbul zu erklären.4 Ähnliches gilt für die Berufung Rāġıbs auf den Posten des Großwesirs in Istanbul im Jahre 1757, als er gerade Gouverneur in Aleppo war.5 Er sollte diesen Posten bis zu seinem Tod im Jahre 1763 innehaben – eine für die osmanischen Großwesire des 18. Jahrhunderts ungewöhnlich lange Amtszeit.
Die Karriere Rāġıbs war in hohem Maße durch Kontakte sowohl in den osmanischen Provinzen als auch der Zentrale Istanbul geprägt. Dieser "Spagat" zeigt sich vielleicht am deutlichsten an Rāġıbs Heiratspolitik. So vermählte er eine seiner zwei Töchter mit einem Beamten in Istanbul, während die andere Tochter einen Beamten mit Einfluss in der Region Nord-Irak/Syrien/Ostanatolien heiratete.6 Entscheidend für Rāġıbs Fähigkeit, dauerhafte Kontakte in den Provinzen und der Hauptstadt aufzubauen, waren seine vorzügliche Beherrschung des osmanischen literar-bürokratischen Bildungskanons (vor allem der drei Sprachen Persisch, Arabisch und Türkisch, einschließlich der zugehörigen Literaturtraditionen) sowie darüber hinausgehende vertiefte Kenntnisse in religiösen Wissenschaften. Hierdurch gelangte Rāġıb in beiden Bereichen (Hauptstadt und Provinz) zu großem Ansehen, wodurch Kontakte perpetuiert wurden, die ökonomische Chancen, politische Unterstützung und Teilhabe an der osmanischen Reichskultur für die Provinzeliten vermittelten. Sievert zeigt am Beispiel Rāġıbs, wie weit gespannte Netzwerke das Osmanische Reich in gewisser Weise "zusammenhielten", wobei er sich ausdrücklich gegen eine dichotomisierende Betrachtungsweise "Zentrale vs. Provinz" wendet und die Bedeutung der Beziehungen zwischen den Provinzen betont.7
Stefan Reichmuth analysierte die Werke des Universalgelehrten Murtaḍā az-Zabīdī (1732–1791), der in Indien geboren wurde, wo er auch seine erste Ausbildung erhielt. 1749 bis 1754 hielt er sich im Jemen und dem Hijaz mit den Städten Mekka und Medina auf, wo er Kontakte zu einer ganzen Reihe weiterer wichtiger Gelehrter aufbaute. Bis zu seinem Tod 1791 lebte er dann in Kairo, wobei er die Stadt für kürzere Reisen immer wieder verließ. Zabīdī hat mehrere umfangreiche Werke hinterlassen, darunter auch ein unvollendetes biographisches Lexikon (Muʿǧam), in dem er Biographien von Gelehrten aufzeichnete, mit denen er persönlichen Kontakt hatte. Dabei fließen eine ganze Reihe verschiedener Genres wie z.B. Tagebuchnotizen, Reisebeschreibungen oder autobiographische Elemente in die Einträge des Muʿǧam ein. Mit der großen Zahl der Einträge (über 643) und den sehr detaillierten Angaben Zabīdīs stellt der Muʿǧam auch innerhalb des Genres der biographischen Lexika eine herausragende Quelle dar, die zur Anwendung des netzwerkanalytischen Instrumentariums geeignet ist.8 Reichmuths Arbeit wendet unter den hier besprochenen Forschungsbeiträgen die quantitativen Methoden der Netzwerkanalyse mit Abstand am intensivsten an und arbeitet eine ganze Reihe von statistischen Befunden heraus. So zeigt Reichmuth, wie die Beziehungen Zabīdīs sich über verschiedene Lebensstationen hinweg veränderten und wie dies mit verschiedenen Bildungsinhalten korrelierte, die durch diese Beziehungen übermittelt wurden. Beispielsweise wird deutlich, dass Zabīdī Kontakte den Sufismus (also die islamische Mystik) betreffend vornehmlich ins Nildelta unterhielt, während Logik und spekulative Theologie (kalām) überwiegend durch Beziehungen zu Gelehrten aus dem Kerngebiet des Osmanischen Reiches (Anatolien und Balkan) und dem Sudan abgedeckt wurden.9 Auch können Relationen zwischen verschiedenen Bildungsinhalten statistisch ebenso erfasst werden wie deren Verhältnis zu bestimmten Berufsgruppen innerhalb von Zabīdīs Beziehungsnetz.10 Insgesamt wird es auf diese Weise möglich, den Prozess statistisch zu fassen, durch den Zabīdī zu einem berühmten islamischen Gelehrten des 18. Jahrhunderts wurde – mit Kontakten von Indien über den Kaukasus bis Westafrika und dem Südrand der Sahara. Bemerkenswert an diesen Kontakten ist insbesondere auch der hohe Anteil von Gelehrten aus Regionen außerhalb der sogenannten islamischen Kernlande (Fruchtbarer Halbmond, Ägypten, Nordarabien). Dies wiederum zeigt, dass Regionen wie Jemen oder Marokko keineswegs randständig für die islamische Geschichte des 18. Jahrhunderts, sondern vielmehr vitaler Bestandteil derselben waren.11
Anders als Reichmuth steht Michael Kemper (*1966) in seinen Arbeiten über daghestanische Gelehrte des 19. Jahrhunderts den quantitativen Zugängen der Netzwerkanalyse mit Hinweis auf die Quellenlage kritisch gegenüber, weswegen er eher von einer Netzwerk-Perspektive spricht.12 Diese wendet er vor allem bei der Analyse der daghestanischen Widerstandsbewegungen gegen das russische Vordringen im 19. Jahrhundert an, die sich um die drei Imame – Ġāzī Muḥammad (geb. um 1785 oder 1795, gest. 1832, Imam 1828–1832), Ḥamzat Bek (1789–1834, Imam 1832–1834) und Šāmil (1798–1871, Imam 1834–1859) – etablierten. In früheren Darstellungen dieser Widerstandsbewegungen, die unter Šāmil auch zur Etablierung einer dauerhaften Herrschaft führten, war eine Verbindung zum Sufismus hergestellt worden, unter anderem weil Šāmil einen Sufi-Šaiḫ zur Legitimationsfigur aufbaute. Insbesondere habe der Sufismus neben der ideologischen Legitimation des ğihād durch die Struktur der sufischen Bruderschaft (ṭarīqa) auch eine Art logistische Basis für den Kampf gegen die russische Kolonialmacht geliefert. Kemper konnte demgegenüber aufzeigen, dass sufische Beziehungen bei der ğihād-Thematik keine unmittelbare Rolle spielten. Es gelang ihm, durch Korrelierung sufischer Beziehungsnetze (vor allem anhand von Initiationsketten) und der Analyse verschiedener Streitschriften die politischen Dimensionen sufischer Debatten im Daghestan des 19. Jahrhunderts aufzuzeigen. Es wurde beispielsweise deutlich, dass die schon ältere Diskussion im Sufismus darüber, ob Formeln ritueller Praxis der Sufis laut oder leise rezitiert werden sollen, sich in Daghestan zu einer Kritik an der Verwendung entsprechender Formeln als Schlachtrufe wandelte und somit Distanzierung vom ğihād gegen die Russen ausgedrückt wurde.13 Weiterhin lieferte die Netzwerkperspektive eine Erklärung für die Dauerhaftigkeit der Herrschaft Šāmils. So schuf dieser ein System von Stellvertretern, die sich fast ausschließlich auf militärische Autorität stützten. Die überwölbende Macht Šāmils gründete dagegen auf einer Kombination militärischer und – in Person des Šāmil nahestehenden Sufi-Großmeisters al-Ġāzīgumūqī (1837–1901) – religiöser Faktoren. Auf diese Weise konnte keiner von Šāmils Stellvertretern diesen als Führungsfigur des Imamats herausfordern.14
Thomas Eich (*1973) untersuchte Aufstieg und Fall des Abū l-Hudā aṣ-Ṣayyādī (1850–1909), eines Šaiḫ der Rifāʿīya-ṭarīqa, einer mystischen Bruderschaft, die ihren Ursprung auf den 1182 verstorben Ahmad ar-Rifāʿī zurückführt. Abū l-Hudā, aus bescheidenen Verhältnissen in Nordsyrien stammend, schaffte innerhalb von 30 Jahren den Aufstieg ins Istanbuler Umfeld des jungen Sultan Abdülhamid II. (1842–1918, regierte 1876–1908). Die Analyse der persönlichen Beziehungen Abū l-Hudās zeigte, dass er bis zu seiner Etablierung in Istanbul Ende der 1870er Jahre mehrere Karriererückschläge überwinden konnte, da er Kontakte zu verschiedenen Gruppen politisch einflussreicher Personen im Osmanischen Reich aufbaute – nicht nur zu den Reformern, die seine ersten Karriereschritte ermöglicht hatten. Ab den frühen 1880er Jahren begann Abū l-Hudā eine intensive Publikationstätigkeit, die bis zu seinem Tod 1909 fast ungebrochen andauern sollte. Eich wies eine Korrelation zwischen der Entwicklung der persönlichen Netzwerke Abū l-Hudās und den Inhalten seiner Schriften nach. Bis Mitte der 1890er Jahre dienten die Schriften Abū l-Hudās seiner Durchsetzung als Führer der Rifāʿīya im Osmanischen Reich, die insbesondere im Irak auch zum Instrument osmanischer Integrationspolitik wurde.15 In dieser Phase expandierte das Beziehungsnetzwerk Abū l-Hudās rapide. Der Erfolg führte zu Konflikten mit anderen Machtgruppen, die sich in sufischen und polemischen Publikationen von Indien bis Tunesien niederschlugen. Zusammen mit Verlusten von befreundeten Kontakten im Umfeld des Sultans führte dies zu einer zunehmenden Marginalisierung Abū l-Hudās in Istanbul. In der Zusammenschau der Entwicklung persönlicher Netzwerke und der Inhalte der Schriften Abū l-Hudās werden die hochgradig politischen Implikationen sufischer Debatten über Heiligenwunder und Genealogien sichtbar.16 In chronologischer Fortführung der Arbeiten zu Abū l-Hudā weitete Eich die Befunde seiner Arbeit und den Netzwerkansatz auf die Analyse des irakischen Aufstands gegen die britische Besatzungsmacht 1920 aus und konnte auf diese Weise unterschiedliche Aktionsmuster verschiedener politischer Parteien in diesem Zusammenhang erklären.17
Hinsichtlich der quantitativen Methoden der Netzwerkanalyse beschreitet Eich einen Mittelweg zwischen der außerordentlich diversifizierten Anwendung mathematischer Methoden Reichmuths auf der einen Seite und allen anderen hier vorgestellten Arbeiten auf der anderen, die der Anwendung des quantifizierenden Instrumentariums der Netzwerkanalyse sehr kritisch gegenüberstehen. Durch die Analyse von Elementen wie Besuchshäufigkeit oder Charakter und Richtung der Kommunikationsbeziehungen findet Eich demgegenüber zu quantifizierenden Aussagen bei der Beschreibung des Gesamtnetzwerks Abū l-Hudās.18 Geringe Dichte und Intensität der Beziehungen innerhalb des Netzwerks fungieren dabei als Erklärung dafür, warum Abū l-Hudās Kontakte bis etwa Mitte der 1890er Jahre so schnell expandieren konnten und bei Ausbruch von dauerhaften Krisen um Abū l-Hudā sowie seinem daraus resultierenden Machtverlust schnell wegbrachen.
Jan-Peter Hartung (geb. 1969) widmete seine Untersuchung dem Wirken des indischen Gelehrten Sayyid Abū l-Ḥasan ʿAlī al-Ḥasanī Nadwī (1914–1999). Nadwī galt lange Zeit als bedeutende Integrationsfigur gebildeter Muslime in Indien und stellte eine wesentliche Verbindung zwischen indisch-muslimischen Gruppierungen und Organisationen der arabischen Welt dar. So erhielt er bereits in den 1950er Jahren eine Gastprofessur in Damaskus, war Gründungsmitglied der in Mekka ansässigen Islamischen Weltliga und in den Aufbau der Islamischen Universität in Medina involviert (beides in den 1960ern).19 Bei seiner Etablierung als wichtiges Bindeglied zwischen dem muslimischen Indien und der arabischen Welt stechen zwei Elemente hervor. Erstens unternahm Nadwī mehrere Pilgerfahrten nach Mekka, auf denen er wichtige persönliche Kontakte knüpfte, die unter anderem dann auch bewirkten, dass er in den 1960er Jahren plötzlich – und wohl auch für ihn selbst überraschend – von den Saudis zur Mitwirkung bei der Gründung der Islamischen Universität in Medina aufgefordert wurde. Bei diesen Kontakten wiederum kamen ihm, zweitens, seine vorzüglichen Arabischkenntnisse zugute, die ihm z.B. schnell Einladungen zu öffentlichen Vorträgen und Rundfunkansprachen in verschiedenen arabischen Ländern brachten.20
Nadwī vertrat die Ansicht, dass die islamische Weltgemeinschaft sich in einem langen Prozess des Niedergangs befinde, der letzten Endes seit der Frühzeit des Islams andauere und sich in der realpolitischen Machtlosigkeit der Muslime seiner Zeit sinnfällig manifestiere. Dem hielt er die koranisch begründete Idee entgegen, dass die Muslime zur politischen wie auch spirituellen Leitung der gesamten Menschheit berufen seien. Um dieses Ziel erreichen zu können, sei die im Glauben geeinte muslimische Gemeinde Voraussetzung. Diese Sichtweise trug schließlich zu Nadwīs Scheitern auf internationaler Ebene bei, da er in den unterschiedlichen Gremien und Kontexten nicht fähig oder willens war, regionale Spezifik in seinem Denken zuzulassen. Dies zeigte sich insbesondere bei seiner Mitarbeit bei der Islamischen Weltliga, wo er nach der Ermordung des saudischen Königs Faiṣal (1906–1975) zunehmend marginalisiert wurde. Hintergrund hierfür waren nicht zuletzt das stark durch seine indische Sozialisation geprägte Islamverständnis Nadwīs, wie etwa seine positive Einstellung zum Sufismus (was der puritanischen Stoßrichtung der wahhabitischen Denkschule Saudi-Arabiens zuwiderläuft) und seine Forderung nach Anerkennung der Rolle Südasiens in der arabisch-islamischen Geschichte der Neuzeit.21
Hartung verknüpft in seiner Arbeit die Netzwerkanalyse mit dem durch Pierre Bourdieu (1930–2002) geprägten Begriff des sozialen Feldes, "eine[s] abgegrenzten und vorstrukturierten Bereich[s], innerhalb dessen mehrere Akteure miteinander um symbolische Güter konkurrieren".22 Hartung analysiert Nadwīs Wirken anhand dreier Kategorien, den geschlossenen, halboffenen und offenen Feldern. Diese unterscheiden sich durch graduelle Abstufungen voneinander: "Je offener ein Feld nach außen hin ist, desto gleichberechtigter sind die Akteure und desto weniger sind die kommunikativen Codes dauerhaft restringiert und in Bezug auf das soziale Handeln restringierend."23 Als geschlossenes Feld in diesem Sinne analysiert Hartung wichtige indische Kontaktnetzwerke Nadwīs. Er arbeitet heraus, dass drei verschiedene Formen der Beziehung systematisch überlappen: biologische Verwandtschaft, Lehrer-Schü24 Halboffene Felder sind nach Hartung durch eine Kombination aus "geschlossenem Feld" und "offenem Diskurs" geprägt, offene Felder durch eine Verbindung von "offenem Feld" und "offenem Diskurs". Beispiele für beide Bereiche finden sich jeweils sowohl innerhalb Indiens als auch der arabischen Welt. Nadwīs anfänglich sehr erfolgreiches Engagement bei der Islamischen Weltliga rangiert dabei als Beispiel für ein offenes Feld.
Bekim Agai (geb. 1974) untersuchte die Aktivitäten des seit Ende der 1990er Jahre in den USA lebenden türkischen Denkers Fethullah Gülen (geb. 1938) netzwerkanalytisch. Zentral ist dabei für Agai der Begriff der cemaat, der in der Türkei für Formen religiöser Selbstorganisation verwendet wird, ohne allerdings genau definiert zu sein. Agai definiert cemaat als
ein Netzwerk mit Beziehungen, die auf der Anerkennung eines Diskurses und zweckrationaler Motive beruhen ... Jeder, der den Diskurs teilt und sich ihm unterordnet, kann Kontakte zur cemaat knüpfen und innerhalb der cemaat multiplexe Beziehungen eingehen.25
Zentral in Gülens Äußerungen ist die positive Bewertung nicht unmittelbar religiöser Bildung: Wissenschaft ist für ihn ein Mittel, Gott rational zu begreifen, genauso wie sie zu Wohlstand und politischer Unabhängigkeit führe. Für den Untergang des Osmanischen Reichs wie für nationale und internationale Missstände macht er die Vernachlässigung von Bildung verantwortlich. Auch nichtreligiöse Bildung dient für Gülen daher religiösen Zielen und ihre Vermittlung wird zu einem religiösen Akt. Auf diese Weise spricht er auch über die Türkei hinaus viele Menschen an, da seine islamischen Aussagen überwiegend konventionell und konservativ sind, durch die neue Kombination verschiedener Diskurselemente aber erheblichen Interpretationsspielraum lassen und somit für viele Menschen – gerade auch ein säkulares Publikum – interessant sein können.26 Die Arbeit und Ausweitung der cemaat im Sinne Agais erfolgt dann in hohem Maße in je nach Land verschiedenen Bildungseinrichtungen, in Deutschland z.B. in Nachhilfeeinrichtungen.27 Entscheidend für die Erweiterung des Netzwerks rund um Gülen war eine Umwandlung von einem sehr dichten, mit einem sehr spezifischen Diskurs verknüpften Netzwerk der ersten Wirkungszeit hin zu einem offenen Netzwerk, das verschiedene Beziehungsarten zur Verfügung stellt und sich in einem weniger eng gefassten Diskurs verortet. Hierdurch wurde es möglich, auch nichtreligiöse soziale Bereiche mitzubesetzen. Es ergibt sich so ein Bild von kreisförmig um die zentrale Figur Gülen gelegten sozialen Bereichen, die Gülen unterschiedlich nahe stehen und eng verbunden sind, was sich teilweise unmittelbar in ihren Beziehungen ausdrückt; darüber hinaus aber auch darin, dass sie sich des von Gülen geprägten Diskurses auf unterschiedliche Weise bedienen. Bei diesen Bereichen handelt es sich in quasi absteigender Reihenfolge um frühe Anhänger, religiöses Publikum, nationalsäkulares Publikum (jeweils in der Türkei) sowie das internationale Publikum.28
Allen hier kurz dargestellten Arbeiten ist gemeinsam, dass sie mit jeweils unterschiedlicher Akzentsetzung den Zusammenhang zwischen personalen Netzwerken und islamischen Bildungsinhalten herstellen. Auf diese Weise wird es nicht nur möglich, die geographische Verbreitung und Reichweite (im räumlichen Sinne) von bestimmten Bildungsinhalten herauszuarbeiten, wie es sich vielleicht am deutlichsten an Reichmuths Arbeiten zu Zabīdī zeigen lässt. Daneben kann auch die pragmatisch-soziale oder politische Dimension bestimmter Diskussionen aufgezeigt werden, wie etwa in Kempers Arbeiten zu Daghestan oder Eichs über Abū l-Hudā. Auch wird sichtbar, wie stark über Diskurse definierte Netzwerke an ihre Wachstumsgrenze geraten können – wie Hartung es für Nadwī aufzeigte – oder nicht (wie in Agais Arbeit über Gülen demonstriert wird). Dies hängt jeweils von der Flexibilität ab, mit der Bildungsinhalte an lokale Zusammenhänge angepasst werden (dürfen). Weiterhin wird deutlich, wie sehr der Aufbau und die Erhaltung von personalen Netzwerken an sehr konkret definiertes soziales Kapital gekoppelt sind, wie es vor allem die jeweiligen Sprachkenntnisse Rāġıb Paşas in Sieverts Studie und Nadwīs in Hartungs Arbeit zeigen.
Rezeption netzwerkanalytischer Arbeiten in der Islamwissenschaft
Die Rezeption der vor allem nach 2000 entstandenen Untersuchungen zu islamischen Netzwerken fiel sehr unterschiedlich aus (neben offenkundig nicht in der Sache begründeten Polemiken).29 Für die überwiegende Zahl der Reaktionen kann man konstatieren, dass die einzelnen Studien hinsichtlich ihrer inhaltlichen Ergebnisse rezipiert wurden, die jeweiligen Beiträge, Überlegungen und Vorstöße bezüglich der Anwendung netzwerkanalytischen Instrumentariums demgegenüber jedoch kaum vertiefte Diskussion erfuhren.30 Eine immer wiederkehrende Kritik ist die aus der Nennung zahlreicher Namen resultierende schwere Lesbarkeit der jeweiligen Studien.31 Es entsteht das Bild, dass einerseits die mit der Netzwerkanalyse erzielten Ergebnisse überwiegend als substanzielle Forschungsbeiträge gewertet wurden. Andererseits wurde die Methode, die diese Ergebnisse erst ermöglichte, kaum thematisiert.32 Dies verblüfft, da insbesondere in der deutschen Islamwissenschaft spätestens seit den späten 1990er Jahren explizit kritisch reflektiert wird, dass das Fach sich wissenschaftsgeschichtlich primär über philologische Kompetenz definiert habe und immer noch definiere, dies jedoch allein nicht mehr genügen könne, und vor dem Hintergrund selbst diagnostizierter Theorie- und Methodendefizite der Aufbruch zu entsprechend neuen Horizonten gefordert wird.33 In diesem Zusammenhang ist auch das große Interesse zu verstehen, auf das die Netzwerkanalyse anfänglich in der deutschen Islamwissenschaft stieß.34 Die Überlegungen über die Zukunft der Islamwissenschaft aber gingen in den maßgeblichen Beiträgen wenige Jahre später bereits in eine scheinbar gänzlich andere Richtung, nämlich die Area Studies: Die Islamwissenschaft müsse sich von ihrer Arabo-Zentrierung lösen, die sich nicht nur in der Wahl der hauptsächlichen Quellensprache niederschlage, sondern damit einhergehend auch zu einem Zentrum-Peripherie-Modell führe, in dem die arabische Welt als Zentrum auf die restlichen Regionen mit großen muslimischen Bevölkerungen ausstrahle. Regionen wie Iran, Indien oder Subsahara-Afrika seien durchaus eigenständig und als gleichwertig aufzufassen und entsprechend im Fach zu verankern, nachdem sie dort längere Zeit gleichsam "an den Rand gedrängt" gewesen seien. Neben geographischen Regionen wurden mit dem Verweis auf Kunstgeschichte und Gender Studies auch bestimmte Quellengruppen und gesellschaftliche Bereiche als in der Islamwissenschaft "scheinbar randständig" bezeichnet.35
Dass die Netzwerkanalyse in diesem Zusammenhang nicht diskutiert wurde, überrascht, da entsprechende Beiträge Stefan Reichmuths zu ihrer theoretischen Fundierung in der deutschen Islamwissenschaft genau in die gleiche Richtung der Kritik am überkommenen Zentrum-Peripherie-Modell gezielt hatten.36 Ferner hatten die konkreten Forschungsprojekte, die ein netzwerkanalytisches Instrumentarium anwandten, fast ausnahmslos Untersuchungsgegenstände behandelt, die in der bisherigen Islamwissenschaft marginalisiert worden waren: Indien, Subsahara-Afrika und Kaukasus können hier als geographische Beispiele dienen.37