Begriffs- und Konzeptionsgeschichte
Der Nordosteuropa-Begriff hat in den letzten rund 200 Jahren, wenngleich mit vergleichsweise mäßiger Amplitude, eine Reihe entscheidender Konjunkturen erfahren. Begriffliche wie perzeptionelle Vorbedingung war, dass ein vorgestellter Osten Europas überhaupt existierte. Der Osteuropahistoriker Hans Lemberg (1933–2009) hat in einem wegweisenden Aufsatz von 1985 herausgearbeitet, wie sich Begriff und Vorstellungen vom "Norden" und "Osten" an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert radikal wandelten.1 Sprach man zuvor in geographischer und kultureller Hinsicht vom "Osten", meinte man in der Regel die auch als "Orient" (Asien, Nordafrika) bezeichnete Weltgegend. "Norden" hingegen umfasste nicht etwa nur Skandinavien, sondern auch Gebiete, die später zunehmend unter dem Rubrum "Osteuropa" subsummiert werden: Russland und Polen etwa, aber ebenso – heute kaum mehr nachvollziehbar – die Länder nördlich des Schwarzen Meeres oder die Balkanhalbinsel. Der Urahn der modernen historischen Nord- und Osteuropaforschung, August Ludwig von Schlözer (1735–1809), z.B. behandelte in seiner Allgemeinen nordischen Geschichte von 1771 neben den skandinavischen und slawischen auch die baltischen Länder, dazu Finnland, Ungarn, Walachei, Moldau, Zentralasien und Sibirien, ja sogar die Siedlungsgebiete der Samojeden und Kelten.2 Dieser Begriff des Nordens basierte in letzter Instanz auf der traditionellen antiken Geographie, die verkürzt gesagt alle Länder nördlich Griechenlands und des Römischen Reiches als Norden (septentrionalia) bezeichnete. Als Osten hingegen firmierten China, Indien, Japan u.a. Die mittelalterlichen Gelehrten übernahmen diese bisweilen widersprüchlichen Auffassungen. Allerdings existierte für das nordöstliche, nicht christliche Europa ein besonderer Begriff, aquilo, bei den Römern ursprünglich die Bezeichnung für den Nordostwind (im Sinne einer Gottheit; vgl. griech. Βορέας), welcher Skandinavien, Ostelbien, Polen oder das Baltikum umfasste. Sobald diese Gebiete teilweise oder ganz christianisiert waren, wurden sie als "Norden" aufgewertet. Interessant ist in diesem Zusammenhang etwa der Begriffswandel der Ostsee, die in der Antike noch als mare orientale, im Mittelalter aber mit der Zeit als occeanus septentrionalis bezeichnet wurde.3
In der Zeit um 1800 wandelte sich das Bild erheblich. Die skandinavischen Großreiche waren nach den napoleonischen Kriegen endgültig zerschlagen und wandten sich einem Primat der Innenpolitik zu. Mit Norwegen und Finnland wurde das Konzert der Mächte im Norden vielfältiger. Und Russlands Expansion wies bedrohlicher als je zuvor nach Westen. Allein diese Neuordnung der Staatenwelt führte zu neuen Konzeptionalisierungen. Das Russländische Kaiserreich wurde nun zum – meist pejorativ konnotierten – Osten und damit aus der traditionellen Gemeinschaft des Nordens exkommuniziert. Damit entstand gleichzeitig ein Diffusionsraum "Nordosteuropa", der die historischen Einflussbereiche des "Nordens" (skandinavische Länder) und des "Ostens" (Russländisches Reich) markierte. Dieser Begriff implizierte sowohl geographische, geopolitische und -wirtschaftliche als auch kultur- und "rassen"-räumliche Vorstellungen. Der französische Physiologe und Anthropologe Louis-Antoine Desmoulins (1796–1828) beispielsweise verwendete ihn 1826 zur Kennzeichnung des Siedlungsraumes eines Teils der "Indogermanen", die er neben "Finnen" und "Türken" als Teil der "skythischen Rasse" ansah. Als Nordosteuropa fasste er dabei den geographischen Raum nordöstlich von Rhein, Alpen, Donau und nördlich des Kaspischen Meeres auf, der im Norden bis nach Skandinavien reichte. Als Nachbarraeume nannte er den Orient und das nördliche Asien.4
In der Folgezeit erschien "Nordosteuropa" als historiographisch-diskursive Konzeption mit ursprünglich handelspolitischen, später auch imperialistischen und geohistorischen Allusionen. Im deutschsprachigen Raum gebrauchte der Dorpater Statistiker Adolph Wagner (1835–1917)5 den Begriff als Bezeichnung für einen objektiv vorfindlichen geographischen Raum. Dabei ist zu bedenken, dass Wagner die deutsche Einigung unter preußischer Führung propagierte, sich in deutschen Kolonialangelegenheiten engagierte und u.a. als Mitglied des antipolnisch orientierten Ostmarkenvereins agierte. In diesem Kontext war Nordosteuropa zugleich Teil des deutschen "Kulturkreises" und kultureller Vorposten gegen Russland. Darüber hinaus handelte es sich um einen geographischen Raum, der in den Augen des dezidierten Antisemiten Wagner von Juden "gestört" wurde.
Im Zeitalter des "Kulturkampfes" und des staatstragenden Protestantismus nach 1871 markierte der Begriff "Nordosteuropa" vor allem eine kulturelle Differenz: zwischen dem protestantischen, germanischen, aufgeklärt-rationalen "Norden" (Deutschland, Skandinavien) und dem slawischen, unaufgeklärt-irrationalen, katholischen (polnischen) oder despotiv-orthodoxen (russischen) Osten. Der Diffusions- und Konfliktraum Nordosteuropa, auf dem diese beiden "Kulturkreise" zusammenprallten, konnte damit – im Zeitalter des deutschen Kolonialismus – auch als kolonialer Kampfplatz und Ort religiöser und kultureller Missionstätigkeit aufgefasst werden.6
Seit den 1890er Jahren gehörte der Begriff "Nordosteuropa" zum Standard-Vokabular der deutschen Konservativen, insbesondere der Alldeutschen und des Ostmarkenvereins. Von dort wanderte er in die deutsche konservative und politisch engagierte Historiographie und Geographie, nicht zuletzt im Rahmen geopolitischer, geostrategischer und kolonialistischer Ideologien und Projekte. Während des 20. Jahrhunderts diente er in der Zwischenkriegszeit und bis in die 1970er Jahre als Kampfparole für eine behauptete deutsche historische Mission im "Osten"; außerdem fungierte er als vorgestellter geographischer Bezugsrahmen für eine als "Bollwerk" gegen Russland, den Panslawismus und schließlich den Bolschewismus zu instrumentalisierende deutschsprachige Bevölkerung im Nordosten des Deutschen Reiches.7
Der deutsche Historiker Klaus Zernack (1931–2017)8 war in den 1970er Jahren der erste, der eine Geschichtsregion Nordosteuropa raumzeitlich neu zu definieren versuchte – und zwar als Teil eines osteuropäischen Regionenfächers "Osteuropa", "Ostmitteleuropa", "Südosteuropa" und "Nordosteuropa".9 Diese Einteilung entsprach den Forschungs- und Lehrschwerpunkten der Osteuropäischen Geschichte an den westdeutschen Universitäten. Für Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa existierten sogar eigene Lehrstühle mit entsprechenden Denominationen. Nordosteuropa hingegen wurde zwar von Zernack selbst und einigen seiner Kollegen in Forschung und Lehre vertreten, eine "Professur für Nordosteuropa" gab es jedoch nicht. In Zernacks Konzeption war die nordosteuropäische Geschichtsregion ein Synonym für den Ostseeraum. Dabei konnte er sich auf Forschungen der Zwischenkriegszeit10 und insbesondere des deutsch-baltisch-dänischen Historikers Paul Johansen (1901–1965)11 stützen. Inhaltlich konzentrierte er sich auf eine Geschichte der "Mächte" und der internationalen Beziehungen; soziale, ökonomische, kulturelle oder religiöse Aspekte spielten nur selten eine Rolle.
Unbeirrt von Zernacks Rekonzeptionalisierung hielt sich in den 1970er und 1980er Jahren eine Auffassung von Nordosteuropa mit dem Baltikum und den Gebieten am südlichen Ostseeufer als Kernregionen unter Historikern, die nach einem Sammelbegriff für den 1945 verlorenen "deutschen Nordosten" des Deutschen Reiches suchten.12 Zernacks Definition fand erst nach dem Ende des Ostblocks und des Kalten Krieges eine nennenswerte Rezeption. Während sich in den 1990er Jahren viele Vertreter einer mittleren und jüngeren Generation im Großen und Ganzen an die Zernackschen Vorgaben hielten,13 erfuhr das Modell bei Stefan Troebst (geb. 1955) und mir selbst leichte Modifikationen. Troebst trat für eine geographisch weiter gefasste Definition ein, indem er die äußerste Peripherie Skandinaviens, Finnlands und Russlands, die sog. Nordkalotte, integrierte.14 Ich plädierte für eine engere Definition, die zwar die Nordkalotte mitumfasste, Nordosteuropa aber vor allem als Einflusszone russischer, schwedischer und dänischer, im 20. Jahrhundert auch deutscher und polnischer Ambitionen in der Ostsee auffasste.15 In der Praxis deutscher und internationaler wissenschaftlicher Forschung der Jahre nach 1990 tauchte der Begriff häufig unreflektiert und undefiniert oder mit unterschiedlichen geographischen Referenzen auf. Auch wirkte er weit über die Geschichtsschreibung hinaus und spielte vor allem in der rechtswissenschaftlichen, slawistischen, finno-ugristischen, baltistischen und politikwissenschaftlichen bis hin zur Tourismus-Literatur eine Rolle.16 Die Geschichtsschreibung hingegen bevorzugte eher den Begriff des Ostseeraums, der in den 1990er Jahren auch aufgrund von EU-politischen Maßnahmen und Institutionalisierungen eine Hochkonjunktur erlebte. Der "Nordosteuropa"-Begriff wurde dabei meist als Synonym verwendet.17 Jenseits der deutschsprachigen Forschung spielten auch britische, finnische, schwedische und baltische Beiträge eine wichtige Rolle im historischen Nordosteuropa-Diskurs.18 Nicht überall sah man dabei "Nordosteuropa" als historisch-geographische Entität. "Nordosteuropa" konnte als eine Art Container-Begriff eine einfache Addition von Nationalgeschichten,19 eine Segmentgeschichte20 oder – im Fall der baltischen Staaten – eine Nationalgeschichte in ihrem Bezug zu den Nachbarn bedeuten.21 Speziell im englischsprachigen Raum hatte es der "Nordosteuropa"-Begriff schwer, weil er dort mit der traditionellen "Northern Europe"-Konzeption zu Teilen identisch war und zu ihr in Konkurrenz trat.
Politisch war nach dem Ende des Kalten Krieges eine transnationale Zusammenarbeit im Ostseeraum wieder möglich und erwünscht, um wirtschaftliche, politische und kulturelle Kooperationen zu fördern. Insbesondere die Kooperation zwischen der EU und Russland, verkörpert beispielsweise im Strategieprojekt der "Nördlichen Dimension" zur Fö"transnationalen Geschichte" und des "Kulturtransfers" im Ostseeraum begleitete – Schlagwörter, die mit anderer Begrifflichkeit und eher auf die internationale Politik bezogen, schon wesentlich früher eine Rolle bei der Darstellung einer Geschichte Nordosteuropas bzw. des Ostseeraums gespielt hatten. Die neuen Schlüsselbegriffe öffneten jedoch die Türen zur öffentlichen Förderung der Ostsee-Forschung.
In den Jahren nach dem EU-Beitritt Schwedens, Finnlands (beide 1995), Polens und der baltischen Staaten (alle 2004) ließ der Elan, mit dem die fachwissenschaftliche Forschung ihrer Grundsatzdebatten über die Nordosteuropa/Ostseeraum-Konzeption geführt hatte, langsam nach – wissenschaftstheoretisch u.a. auch deshalb, weil Raumkonzepte seit der topologischen Wende (spatial turn) der 1990er Jahre immer stärker als kognitive Karten und epistemologische Konstrukte und weniger als Instrumente der wissenschaftlichen Kategorisierung diskutiert werden.22 In einem Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft könnte man auch sagen: Je mehr sich Vertreter der Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur bestimmter Raumkonzepte bemächtigten, desto mehr verschob sich die Grundsatzdebatte von der Kategorienbildung hin zur Entlarvung von Raumkategorien als Repräsentationen spezifischer Gruppeninteressen. Die weniger an solchen letztlich politisch inspirierten Grundsatzdebatten interessierten und eher pragmatisch forschenden Wissenschaftler begnügten sich damit, den Nordosteuropa-/Ostseeraum hypothetisch zu setzen und verschiedene Handlungsfelder zu untersuchen, die einen solchen Raum aufspannen könnten.23
Wenn eine Mehrheit von Historikern der Nachkriegszeit Nordosteuropa mit dem Ostseeraum identifizierte, so geschah dies im Unterschied zu Historikern des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Regel unter Einbeziehung Russlands in die geohistorische Konzeption Nordosteuropas. Nordosteuropa wurde damit zum kultur-, wirtschafts- und sozialhistorischen Diffusions-, Überlappungs- und Konfliktraum, in dem schwedische, dänische, deutsche, polnische, russische, aber auch niederländische und englische Interessen insbesondere von der Nordkalotte bis zu den Gebieten um den Finnischen Meerbusen (Finnland, Nordrussland, Karelien, Ingermanland, Estland, Livland, Kurland – im 20. Jahrhundert Lettland – und Litauen) aufeinander stießen. Ein engerer historiographischer Begriff von Nordosteuropa, der vor allem den Aspekt der Übergangs-/Diffusionszone zwischen Norden und Osten, zugespitzt: zwischen den skandinavischen Ländern und Russland, in den Mittelpunkt stellt, hat deshalb v.a. Aspekte zu diskutieren, die sowohl Phänomene des Nordens als auch des Ostens integrieren oder konflikthaft miteinander verschränken.24 Unberührt davon bleibt die Tatsache, dass vor allem im 20. Jahrhundert auch Preußen/Deutschland und Polen einen bedeutenden Einfluss in der Geschichtsregion hatten; man müsste dazu allerdings eine definitorische Abgrenzung zu Konzeptionen wie "Ostmitteleuropa", "Mitteleuropa" o.ä. vornehmen, die an dieser Stelle nicht diskutiert werden kann.
Zeit-Raum-Kontinuum Nordosteuropa?
Die Annahme eines historischen Raummodells "Nordosteuropa" setzt ein hohes Maß an Kontinuität und Stabilität der in diesem Raum konstitutiven Elemente voraus. Dabei gehen Historiker oft von den Erfahrungen der Gegenwart aus und reprojizieren sie in frühere Epochen. Dieses Vorgehen erfordert mehrere logische Operationen. Der historische Raum und seine konstitutiven Elemente müssen bei der Analyse der Vergangenheit durch alle Perioden hindurch erkennbar sein, und es genügt dabei nicht, nur einen "Schnitt durch die Zeit" zu machen und für ausgewählte Zeitpunkte zu untersuchen, ob die Konstitutionselemente noch vorhanden sind. Vielmehr ist zur Herstellung eines historischen Raumkontinuums jeder erdenkliche Zeitpunkt auf seine räumliche Identität mit der Gesamtkonzeption hin zu analysieren. Weiter muss auch die Relativität der Raumdefinition in die Analyse miteinbezogen werden. Die zentralen Fragen dabei sind: Lassen sich historische Perioden relativer Ähnlichkeit bei der Raumverfassung ausmachen? Ab welchem Grad der Abweichung vom räumlichen Idealtypus "Nordosteuropa" ist die Raumdefinition "Nordosteuropa" nicht mehr erfüllt?
Das temporale Arrangement Nordosteuropas hängt wiederum in hohem Maße davon ab, welche geographischen Räume man in die Analyse mit einbezieht. Die folgende Darstellung fußt wesentlich auf der von Zernack und Troebst vorgeschlagenen siebenstufigen Epochenfolge.25 Die räumliche Referenz hingegen orientiert sich an dem oben skizzierten engeren Begriff eines nordosteuropäischen Diffusions-, Einfluss- und Konfliktraumes zwischen Nord- und Osteuropa.
Wikingerzeit (ca. 800–1050)
Die früheste Periode Nordosteuropas, oft nur archäologisch fassbar, war durch das Wirken wikingischer Kaufleute und Raubfahrer dominiert.26 Diese errichteten im Laufe von rund 250 Jahren eine Oberherrschaft über kleinere politische Einheiten (Clans, Dörfer, regionale Bündnisse) an den Flussmündungen Finnlands und des Baltikums und entlang der Flüsse Volchov und Don bis nach Konstantinopel. Insbesondere die auf dem Weg nach Osten (schwed. österled) fahrenden Wikinger ("Waräger") integrierten dadurch Nordosteuropa zugleich in die Verkehrs- und Handelssysteme des weiteren Nordens und Ostens. Zu betonen ist, dass die viking-(Raubzug-)Aktivitäten sich nicht auf Skandinavier beschränkten, sondern auch im finnischen und baltischen Raum zur Lebenspraxis gehörten.
Christianisierung, frühe Monarchien und Entstehung der Hanse (ca. 1050–1400)
Die chronologisch zweite Epoche ist die erste, die in den schriftlichen Quellen (meist kirchlicher Provenienz) fassbar wird. Westkirchlich von der irischen Mission, später auch vom hamburgisch-bremischen Bistum und den skandinavischen Königen ausgehend vollzog sich in der Zeit vom 10. bis 13. Jahrhundert eine teils schleichende (Mönche, Kaufleute), teils gewaltsame (Kreuzritter) Christianisierung Nordosteuropas und damit auch der früheren viking-Gebiete. Die Ostkirche verzichtete weitgehend auf eine aktive Mission, sicherte sich aber mit der militärischen Expansion des Novgoroder Reiches in den nordosteuropäischen Raum (seit dem 11. Jahrhundert) ebenfalls einen gewissen Einfluss. Sowohl in Nord- als auch Osteuropa bildeten sich Herrschaftsstrukturen, die wesentlich auf einer christlich-kirchlichen Machtlegitimierung basierten. Auf diesem Hintergrund schufen die in Nordosteuropa aktiven Invasoren politische, gesellschaftliche, ökonomische und religiös-kulturelle Strukturen nach Muster ihrer Herkunftsgebiete. Die Westgrenze im Süden dieser baltischen frontier konstituierte sich mit der vernichtenden Niederlage des Schwertbrüderordens gegen den Großfürsten von Litauen im Jahre 1238. Die Ostgrenze bildete sich nach mehreren Niederlagen des Deutschen Ordens gegen novgorodische Heere heraus, etwa in der bekannten Schlacht auf dem Peipussee (1242), der den zentralen Teil des Grenzsraums bildete. Weiter im Norden bestimmte der Friede zu Nöteborg (1323) die Grenze zwischen Schweden und Novgorod. Sie verlief in einem vom Finnischen Meerbusen gerade nach Norden weisenden Grenzstreifen zum Saimaa-See; von dort unregelmäßig bis in die samischen Siedlungsgebiete.27 Nach dem Ende der Eroberungsphase herrschten in Nordosteuropa teils westkirchliche Bischöfe, teils Ritterorden, im Falle Finnlands auch die schwedische Krone. Den früheren Wikingerhandel übernahmen seit der Mitte des 12. Jahrhunderts Hansekaufleute. Die vorchristlichen Clan- und Dorfgemeinschaften Nordosteuropas wurden von ständisch geprägten Gesellschaftsordnungen abgelöst. Novgorod hatte an diesem Prozess einen stetig nachlassenden Anteil. Zwar hatte es sich nach dem Zerfall des Kiever Reichs im 12. Jahrhundert im Gegensatz zu anderen Teilen der ehemaligen Rus' eine weitgehende Selbständigkeit bewahren können; sein außenpolitischer Einfluss beschränkte sich aber auf Karelien, Ingermanland und die nordrussischen Gebiete. Gelegentliche Übergriffe auf livländisches Gebiet können dieses allgemeine Bild nur wenig beeinträchtigen.
Zeitalter der Unionen und Korporationen (14. und 15. Jahrhundert)
Der militärische und außenpolitische Druck des Heiligen Römischen Reiches und des Moskauer Reiches führten im 14. Jahrhundert zur Vereinigung mehrerer Monarchien in Nord- und Osteuropa. Das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen schlossen sich 1385 in der (Personal-)"Union von Krewo" zusammen, die in der Folgezeit unterschiedliche Neuauflagen erlebte – bis die beiden Staaten nach 1569 in der (Real-)"Union zu Lublin" auch rechtlich, kulturell und religiös langsam zu einem einheitlichen Herrschaftsgebilde verschmolzen. 1397 gelang es der dänischen Krone, die Königreiche Dänemark, Norwegen (einschl. Färöer und Island) und Schweden in der "Union von Kalmar" zu vereinen. Auch die Hanse bildete als Bund von Kaufleuten und Städten eine Art Union, allerdings weniger mit einer außenpolitischen Stoßrichtung gegen das Heilige Römische und Moskauer Reich als mit wirtschaftlichen und rechtlichen Zielsetzungen. Die Kolonisation Alt-Livlands durch deutsche Ritter und Bischöfe führte zu einer Durchdringung des Raums mit deutschem Recht und deutschen sozioökonomischen Strukturen – allerdings nicht zu einer formalen Angliederung an das Heilige Römische Reich. Finnland wurde in das Herrschafts-, Wirtschafts-, Sozial- und Kirchensystem Schwedens integriert und bildete gleichzeitig ein Glacis gegen novgorodische Einfälle. In der Nordkalotte entstand ein Steuerkondominium skandinavischer und novgorodischer Herrscher. Nordosteuropa wurde also zu großen Teilen integriert in die Herrschaftsgebiete der nördlichen und östlichen Nachbarmächte, die sich die lokalen Eliten unterwarfen und für ihre politischen Ziele nutzbar machten.28 Allein die Kirche und die Hanse mit ihren transterritorialen Verwaltungs- und Verkehrsstrukturen garantierten eine gewisse kulturelle Einheitlichkeit des Raums: die Kirche durch ihren Anspruch auf Verbindlichkeit des christlichen Glaubens, durch Kirchenrecht und Kirchenverwaltung und durch die kirchliche Infrastruktur (Kirchengebäude, Klöster, Schulen, Armenhäuser u.a.), die sich in Finnland und Alt-Livland nach dem westlich-römischen Modell richteten und selbst in den von Novgorod dominierten Gebieten Spuren hinterließen; die Hanse durch ein festes Handelsnetz, Niederlassungen in den nordosteuropäischen Hanse- (z.B. Riga, Reval, Dorpat) und Partnerstädten (z.B. Hansekontor Nowgorod) und eine niederdeutsche Verkehrssprache, die zu dieser Zeit in fast allen Handelsstädten des nordosteuropäischen Raums gesprochen und verstanden wurde.
Konfessionalisierung und Dominium maris Baltici (ca. 1500–1700)
Wie in vielen Teilen Europas stellte die Reformation lutherischer Prägung auch in Nordosteuropa (16./17. Jh.) ein zentrales Ereignis dar. Die neue Lehre und damit das Landeskirchentum setzten sich in nahezu der gesamten Region durch. Allerdings blieb sie in Polen-Litauen und Teilen Ingermanlands Episode; in Karelien und Nordwestrussland spielte sie gar keine Rolle. In den von der Reformation erfassten Teilen Nordosteuropas gerieten die mittelalterlichen Partikularordnungen von Kirche, Ritterorden und Hanse ins Wanken. Auch der Ausbruch Schwedens aus der Kalmarer Union unter Führung der Vasa-Familie (1521) vermittelte einen Vorgeschmack auf den "Sieg des modernen Staates über die mittelalterliche Korporation".29 Er führte außerdem zu einer neuen Mächtekonstellation im Umfeld der nordosteuropäischen Region, indem sich Schweden in der Epoche der Nordischen Kriege (1558–1721) vor allem gegenüber Dänemark, aber auch gegen Anfeindungen Polen-Litauens und des aufsteigenden Moskauer Reiches durchsetzen konnte. Als Militärstaat und nordosteuropäische Großmacht löste Schweden Dänemark in seinem Anspruch auf ein Dominium maris Baltici (Ostseeherrschaft) im 17. Jahrhundert ab. Dieser wurde nicht nur im Ostseeraum, sondern gegenüber Moskau auch in der Nordkalotte und im nördlichen Eismeer verteidigt. Schweden konnte dabei eine dynastische Krise Moskaus (russ. smuta, "Zeit der Wirren") ausnutzen, die Ende des 16. Jahrhunderts begonnen hatte und bis weit ins 17. Jahrhundert fortwirkte. Die im Kern merkantilistische Wirtschaftspolitik des schwedischen Reichskanzlers Axel Oxenstierna und anderer Regierungsmitglieder verdrängte die Hanse als ökonomische Ordnungsmacht aus den Handelsstädten der Ostsee und richtete die städtische Wirtschaftskraft auf die Bedürfnisse des Zentralstaats aus. Militärische Interventionen in fast sämtliche militärische Verwicklungen des Ostsee- und Nordmeerraums führten nach 1561 zu einer Expansion Schwedens weit über die Grenzen seines ursprünglichen Herrschaftsterritoriums hinaus. Nordosteuropa verwandelte sich in einen Dependenzraum der schwedischen Krone. Die schwedischen Ostseebesitzungen erhielten besonders in Kriegszeiten koloniale Attribute. Der damit verbundene Rechts-, Verwaltungs-, Personen- und Kulturtransfer verlief allerdings nicht einseitig. Zahlreiche innenpolitische Reformen Schwedens in dieser Zeit profitierten von den rechtlich-administrativen und kulturellen Traditionen der baltischen und preußischen Ostseeprovinzen. Insbesondere deutschbaltische Adlige und Stadtbürger brachten spezielle Fertigkeiten mit, die beim empire building Schwedens dringend gebraucht wurden.30
Die russische Vorherrschaft (ca. 1700–1900)
Nach dem Großen Nordischen Krieg (1700–1721) gelangten die schwedischen Ostseeprovinzen (Kexholmer Gebiet, Ingermanland, Estland, Livland) im Frieden zu Nystad (1721) unter die Herrschaft Russlands. Damit versuchte Russland unter Peter I. und seinen Nachfolgern nicht nur, das schwedische Dominium maris Baltici zu übernehmen, sondern auch Teile des inneren schwedischen Staatsaufbaus zu kopieren, war dabei aber nur teilweise erfolgreich. Der Widerstand Schwedens, das nach dem Nystader Verlustfrieden immer noch eine einflussreiche Seemacht darstellte, und das wiederholte Einschreiten der westlichen Seemächte (Niederlande, Großbritannien) gegen eine einseitige russländische Ostseeherrschaft begrenzte Russlands direkten Einfluss auf die ehemals Schweden unterstehenden Territorien in Südostfinnland, Ingermanland, Estland und Livland. Auch Russlands Herrschaft in der Nordkalotte nahm Schweden nicht widerspruchslos hin. Gleichzeitig übte Russland einen starken Einfluss auf die Außen- und Innenpolitik Polen-Litauens aus – bis hin zu den Teilungen Polen-Litauens (1772–1795), die Russland mit der Einverleibung Kurlands, Litauens und der östlichen Teile Polens eine weitere Ausdehnung gen Westen verschafften. Der Finnische Krieg (1808–1809) bescherte Schweden den Verlust Finnlands und bedeutete für Russland abermals einen Schritt nach Westen. Die Gebietszuwächse erwiesen sich gleichwohl als recht oberflächliche Erfolge. Tatsächlich fehlten dem Zarenreich die finanziellen, rechtlichen, administrativen und edukativen Mittel, um die neuen Staatsterritorien effektiv zu beherrschen. Die russische Regierung blieb während des gesamten 18. und teilweise auch des 19. Jahrhunderts nicht nur auf die Kooperation der regionalen Eliten bei der Herrschaft in den neuen Provinzen angewiesen, sondern brauchte deren Kompetenzen auch, um das russische Kernreich zu einem funktionierenden Staatswesen zu formen. Aus diesem Grund – aber auch, weil es in mehreren Kriegen gegen das Osmanische Reichgebunden war – verfolgte Russland seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gegenüber den Königreichen Schweden und Dänemark sowie den Ostseeanrainern des Heiligen Römischen Reiches eine außenpolitische Strategie der "Ruhe des Nordens", die mitunter invasive Züge annahm, etwa wenn Russland versuchte, die schwedische oder polnisch-litauische Innenpolitik zu manipulieren. Wichtige Ergebnisse dieser internationalen Politik waren die russisch-schwedisch-dänischen Neutralitätsabkommen von 1780 und 1800, die die Ostsee, und damit auch Nordosteuropa, dem Einfluss dieser drei Mächte sichern und den Begehrlichkeiten anderer Seemächte, vor allem Großbritanniens und der Niederlande, entziehen sollten. Im 19. Jahrhundert musste Russland allerdings erkennen, dass Nordosteuropa mehr war als ein Spielball von Großmachtinteressen, die mit Hilfe mehr oder weniger kooperativer regionaler Eliten verfolgt werden konnten: Die im Gefolge von Volksaufklärung, Liberalismus, Bauern- und Gewerbefreiheit aufkommenden Nationalbewegungen erreichten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die zum Zarenreich gehörenden Gebiete Nordosteuropas. Der Versuch der russischen Regierung, die meist aus dem bürgerlichen Lager stammenden Anhänger nationaler Ideen gegen die traditionellen, vom Adel dominierten Eliten auszuspielen, scheiterte. Die teils von sozialen, teils wirtschaftlichen, teils auch nationalen Zielen angeheizten Revolutionen im Zarenreich in den Jahren 1905 und 1906 markierten diesen Misserfolg eindrücklich und erwiesen sich als Signum für den Untergang russischer Oberherrschaft in Nordosteuropa.31
Die sowjetische Periode (20. Jahrhundert)
Die nordosteuropäischen Nationalbewegungen mündeten nach dem Ersten Weltkrieg zum großen Teil in Nationalstaaten und unterbrachen bis in die späten 1930er Jahre die russische Suprematie. Mit dem Wiedererstarken der Kriegsverlierer Deutschland und Sowjetunion in den 1930er Jahren allerdings geriet die nordosteuropäische Staatenwelt erneut unter Druck. Der Hitler-Stalin-Pakt (1939) und nachfolgende Nichtangriffspakte mit den baltischen Staaten (1939) führten zur sowjetischen Besetzung der baltischen Staaten. Finnland blieb ein ähnliches Schicksal erspart. Nach dem finnisch-sowjetischen Winterkrieg (1939/1940) allerdings verlor Finnland einen beträchtlichen Teil seines Staatsterritoriums an die Sowjetunion. Der östliche Teil Polens wurde auf dem Hintergrund geheimer Klauseln des Hitler-Stalin-Paktes ebenfalls Teil des sowjetischen Imperiums. Nach dem Zweiten Weltkrieg mündeten diese Entwicklungen in ein neues sowjetischen Dominium über Nordosteuropa: Die baltischen Staaten zwang die Kremlführung zur Selbstverwandlung in Sowjetrepubliken; Polen und Finnland, die ihre Souveränität und Staatlichkeit formal bewahren konnten, wurden von Moskau außenpolitisch und wirtschaftlich direkt abhängig.32 Der Ostseeraum zerfiel bis 1990 in eine östliche Einflusssphäre unter der Oberherrschaft der Sowjetunion und mit Hilfe des Warschauer-Pakt-Systems, darin inbegriffen die nordosteuropäischen Gebiete, und eine westliche Einflusssphäre unter der Ägide der USA und der NATO-Staaten. Gleichwohl fungierten die nordosteuropäischen Staaten und Gesellschaften auch in der Zeit des "Kalten Krieges" als Vermittler zwischen Ost und West in Politik, Wirtschaft und Kultur – bis hin zur Schlussakte von Helsinki (1973) und zu den Reform- und Unabhängigkeitsbewegungen der baltischen Staaten in den 1980er Jahren.
Die Zeit seit dem Umbruch von 1990
Es waren auch die nordosteuropäischen Staaten, die den Abrüstungs- und Annäherungsprozess zwischen Ost und West in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre vorantrieben und zur Erosion des "Ostblocks" und der Sowjetunion (1990/91) entscheidend beitrugen. Die nordeuropäischen Länder, v.a. das neutrale Schweden und das inzwischen stark mit den skandinavischen Ländern kooperierende Finnland, nahmen dabei eine wichtige Mittlerrolle ein. Die 1990er Jahre standen im Zeichen der Transformation der vormals kommunistisch formierten Staaten Nordosteuropas in demokratisch-kapitalistische Gesellschaften und des wirtschaftlichen Aufschwungs. Besonders erfolgreich vollzog diesen Prozess Estland, während Lettland und Litauen in dieser Zeit mit dem Erbe sowjetischer Hierarchien, gesellschaftlicher Traditionen und überkommener Wirtschaftssysteme zu kämpfen hatten. Die unter russischer Herrschaft verbliebenen nordosteuropäischen Gebiete (Nordrussland, Karelien, Ingermanland) versuchten, sich mehr Freiheit von der Moskauer Zentrale zu erkämpfen, scheiterten aber. In den Transformationsländern hingegen besann man sich vielfach auf nationalistische Werte des 19. Jahrhunderts und der Zwischenkriegszeit. Diese Tendenzen sind heute unübersehbar geworden und äußern sich mehr und mehr in staatlichem Egoismus und Fremdenfeindlichkeit – womit sie gleichzeitig einem gesamteuropäischen Trend folgen. Symptomatisch etwa sind der stetig zunehmende Erfolg rechtspopulistischer Parteien, eine Geschichtspolitik mit stark nationalem Einschlag oder die dilatorische Taktik bzw. Weigerung, EU-Normen bei der Aufnahme von Asylanten vollständig umzusetzen. Diese Haltung hat bei den nordosteuropäischen Staaten nicht zuletzt zu tun mit dem seit Beginn des neuen Jahrtausends reformulierten Weltmachtanspruch Russlands, der sich im vorliegenden Fall als regionaler Hegemonialanspruch zeigt, vorläufig aber kaum durchsetzbar ist, da an der Ostgrenze der baltischen Staaten inzwischen eine NATO-Grenze verteidigt wird und Finnland mit seiner engen nordeuropäischen Kooperation ebenfalls nicht ohne Verlust an militärischer Stärke und Ansehen zu kontrollieren ist. Die traditionelle Brückenfunktion Nordosteuropas zwischen Norden, Westen und Osten scheint aber gleichwohl kaum einlösbar.
Die zeitlichen Differenzierungen überschreitend sind historische Phänomene langer Dauer für Nordosteuropa zu konstatieren, die hier nur in knapper Auswahl genannt werden können:
- Die Geschichte Nordosteuropas lässt sich über Jahrhunderte im Rahmen eines Zentrum-Peripherie-Modells deuten, in dem die Mächte an der Peripherie Nordosteuropas (Russland, Schweden, Dänemark, später auch Polen und das Deutsche Reich) je nach politischer Konstellation als Schutz oder Bedrohung Nordosteuropas wahrzunehmen sind. Aufgrund dieser Konstellation konnten die nordosteuropäischen Gebiete aber immer wieder auch eine Brückenfunktion zwischen Ost-, Nord- und Westeuropa einnehmen, die den Transfer von politischen Kulturen, Rechts-, Wirtschafts- und Sozialsystemen, kulturellen Normen und Entwicklungen sowie den Austausch von Religionen und Weltanschauungen ermöglichte.
- Mit dem Zentrum-Peripherie-Modell eng verbunden ist eine binäre Machtkonstellation relativ hoher Stabilität: Die Peripheriemächte entwickelten sich wesentlich früher zu Monarchien mit zentralisierten Machtstrukturen und hohem technischen Standard. Die nordosteuropäischen Länder fungierten dabei als Grenz- und Übergangsgebiete und damit auch als ständig vom Krieg bedrohte Konfliktzonen der Peripheriemächte, was eine fast unausgesetzte Auszehrung ihrer Ressourcen mit sich brachte. Unabhängige Staatswesen entwickelten sich in Nordosteuropa erst spät und erst in einer Situation der Schwäche der Peripheriemächte nach dem Ersten Weltkrieg. Die Gesellschaften der bis ins 20. Jahrhundert von Oberherrschaften abhängigen Gebiete fanden nur langsam zu einem politischen Selbstverständnis. Im 20. Jahrhundert bildeten diese eine Region von Kleinstaaten, die in der jahrhundertealten Tradition abhängiger Vorstaatlichkeit Konflikte zwischen den Peripherie- und Großmächten im eigenen Interesse nutzten und eng mit anderen Kleinstaaten kooperierten. Eine prinzipielle außenpolitische Linie eines je einzelnen nordosteuropäischen Staates konnte sich dabei kaum herausbilden.
- Es existieren zwei sozioökonomische Scheidelinien in der Geschichte Nordosteuropas, die ebenfalls die Abhängigkeit von den Großmächten und von alten Traditionen widerspiegeln und den Grenz-, Konflikt- oder Kooperationscharakter Nordosteuropas unterstreichen. Die erste Scheidelinie betrifft die jahrhundertealte Differenz zwischen bäuerlicher Freiheit in Finnland, Karelien, Nordrussland und der Nordkalotte auf der einen und der in Ingermanland, Estland und Livland vom späten Mittelalter und bis ins 19. Jahrhundert hinein unterschiedlich stark ausgeprägten Leibeigenschaft. Die zweite Scheidelinie betraf die städtische Souveränität im Rahmen vorstaatlich-ständischer Prämissen. Die größeren Städte Estlands und Livlands genossen seit ihrer Zugehörigkeit zur Hanse (ab dem 13. Jh.) zahlreiche Freiheiten und Privilegien, die in Nordrussland, Karelien und Ingermanland und in den von Schweden beherrschten Gebieten (Finnland, Nordkarelien, Nordkalotte) unbekannt waren und sie eher dem mitteleuropäischen Modell der Stadt als eigenständigem Rechtssubjekt näherten. Diese Scheidelinien verschwanden erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Leibeigenschaft aufgehoben und die städtische Gewerbefreiheit eingeführt wurde.
- Als religions- und kulturgeschichtlicher Transfer- und Konfliktraum war Nordosteuropa seit dem 13. Jahrhundert einerseits trotz einer Persistenz vorchristlicher Vorstellungen stark durch die Westkirche (Katholizismus, Protestantismus) geprägt. Ingermanland, Karelien und Nordrussland hingegen unterlagen dem Einfluss der Russisch-Orthodoxen Kirche. Da die religiöse und kulturelle Formierung direkt mit der politischen Abhängigkeit Nordosteuropas von den Peripheriemächten korrespondierte und die politischen Konflikte sich immer wieder auch als religiöse und kulturelle Auseinandersetzungen zeigten, hinterließ diese Konstellation deutliche Spuren in der Kultur und Mentalität der Region. Die Konfliktlinien vermehrten sich noch, als die Reformation die Westkirche erneuerte und zur Grundlage des schwedischen Staatswesens und damit auch Finnlands, Estlands und eines großen Teil Livlands wurde, während Polen und damit Litauen sowie ein kleinerer Teil Livlands (Lettgallen) beim alten Glauben und Reformen innerhalb der Russisch-Orthodoxen Kirche (1660er Jahre) von schwachem Einfluss blieben. Christliche Missionstätigkeit und Teile der vormals adligen und bürgerlichen Kultur der deutschen, schwedischen, polnischen und russischen Oberschicht werden in den nordosteuropäischen Gesellschaften bis heute als Elemente einer "Herrenkultur" misstrauisch-distanziert beargwöhnt.
Nordosteuropa als pragmatische Konstruktion
Es steht außer Frage, dass jede historische Region als wissenschaftliche Konstruktion interpretiert und kritisiert werden kann. Das muss nicht bedeuten, dass, gemäß einer radikal-skeptischen oder radikal-konstruktivistischen Lesart, keine "Wahrheit" oder "Wirklichkeit" in ihr enthalten ist. Das Modell einer nordosteuropäischen Geschichtsregion ermöglicht Sätze und Diskurse, die die Aporien und Dilemmata des in der historischen Wissenschaft oft dominierenden Nationalstaats-Paradigmas überwinden oder zumindest eine übergeordnete Perspektive eröffnen können. Insbesondere Entwicklungen der internationalen Politik und transkulturelle Erscheinungen entziehen sich nationalstaatlichen Schemata. Genauso erschweren Wissenskategorien, wie sie sich im "Zeitalter der Nationalstaaten" (19./20. Jahrhundert) herausgebildet haben, einen Blick in pränationale oder ggf. postnationale historische Verhältnisse.
Selbstverständlich steht auch hinter der Formulierung einer nordosteuropäischen Geschichtsregion in den Jahren nach 1990 ein bewusstes oder unbewusstes politisches Interesse: Die Auflösung der Trennlinien des Kalten Krieges, der Versuch, ältere historische Schichten einer Region wieder sichtbar zu machen, die wirtschaftliche, soziale und politische Zusammenarbeit über die Grenzen von EU und NATO hinaus, die Idee eines "Meeres des Friedens" – in der DDR entwickelt, von den Ostseeanrainern nach 1990 praktiziert –, das Bedürfnis nach einer nicht nur kulturellen, sozialen oder wirtschaftlichen, sondern auch räumlich fixierbaren Identität. Auch das Denk- und Argumentationsmodell "Nordosteuropa" unterliegt damit dem historischen Prozess und mag von späteren Generationen modifiziert, verworfen, durch andere historische Regionen ersetzt oder ignoriert werden.