Einleitung
William Shakespeares (1564–1616) Merchant of Venice (1600), Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) Italienische Reise (1813–1817), Stendhals (1783–1842) La Chartreuse de Parme (1839), Thomas Manns (1875–1955) Tod in Venedig (1912) – ihnen allen ist eines gemeinsam: sie spielen in oder handeln von Italien. Egal ob Reiseberichte oder Romane, ob historische oder zeitgenössische Werke, hochliterarische oder populäre Bücher (man denke an Donna Leons (geb. 1942) ab 1992 erschienene erfolgreiche Kriminalromanserie um den Commissario Brunetti) – "Italien" findet sich in vielfältiger Weise in der Literatur. Es stellt sich die Frage, warum Italien ein so beliebter literarischer Ort wurde und welche Entwicklung die verschiedenen Formen dieses Topos in der nicht italienischsprachigen Literatur genommen haben. Es ist unmöglich, alle Autoren und Autorinnen zu besprechen, die von Italien beeinflusst wurden, und alle Werke zu erörtern, die sich auf Italien beziehen. Es soll aber versucht werden, die großen Linien dieses Transfers eines Landes mit seiner Geschichte und seiner Kultur in anderssprachige Literaturen nachzuzeichnen. Diese Übertragung ist im Kontext der Reisen ins "Land, wo die Zitronen blühn" zu verstehen,1 die mit unterschiedlicher Motivation seit der frühen Neuzeit in größerem Ausmaß belegt sind und die die Basis für den Transfer von Wissen über das Land sowie von kulturellen und sprachlichen Besonderheiten bilden. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Italien als staatsförmige Einheit jung ist: bis zum Ende des Risorgimento 1870 bestand es aus vielen, jeweils eigenstaatlichen Fürstentümern und Regionen. Als zusammenhängender Kulturraum, nicht zuletzt mit der katholischen Kirche als überregionaler und identitätsstiftender Institution, wird Italien jedoch spätestens seit dem 3. Jahrhundert wahrgenommen.
Schon immer waren unterschiedliche Bevölkerungsgruppen reisend unterwegs und lösten dabei Transferprozesse auf verschiedenen Ebenen aus. Ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und spätestens seit der Wende zum 19. Jahrhundert reisten vermehrt auch Angehörige der bürgerlichen Schicht. Sie taten dies als Bildungsreise in Anlehnung an die Reisen der Aristokratie (Kavalierstour oder Grand Tour) zum Wissenserwerb und zur individuellen Bildung. Wie für den Adel war Italien auch für das Bürgertum sowie den sich ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelnden Tourismus ein beliebtes, wenn nicht sogar das beliebteste Ziel. Die literarische Verarbeitung der Italienreise steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Popularität; sie trieb, nicht zuletzt in Form von Reiseberichten, die Konzeptualisierung der Italienreise voran bzw. half, den Kanon des zu Besichtigenden weiter zu festigen.
Zunächst soll ein kurzer Überblick über die Bedeutung des (bürgerlichen) Reisens ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und die Veränderung der Gattung des Reiseberichts weitere Orientierung vermitteln.2 In den darauffolgenden Abschnitten kommen verschiedene Formen literarischer Reisen nach Italien zur Sprache, d.h. die schriftliche Verarbeitung von Italienerlebnissen, namentlich einerseits Reiseberichte und anderseits in Italien angesiedelte fiktionale Werke. Diese beiden Formen sind freilich nicht immer leicht zu trennen: Reiseberichte haben stets auch fiktionale Anteile und sind als mehr oder weniger ästhetisch gestaltete Texte zu verstehen. Wenn hier trotzdem eine Abgrenzung vorgenommen wird, dann entlang der Definition, dass Reiseberichten eine vom Autor tatsächlich unternommene Reise zugrunde liegt, die im Text beschrieben wird, wohingegen die behandelten rein fiktionalen Werke unabhängig von einer solchen realen Erfahrung verfasst worden sein können. Das Attribut "literarisch", das den Reisen im Titel dieses Beitrags vorangestellt ist, impliziert, dass hier primär Texte von Autorinnen und Autoren herangezogen werden und andere Gruppen von schreibenden Reisenden, wie z.B. Journalisten, Diplomaten, Gelehrte oder private Verfasser von Briefen, unberücksichtigt bleiben. Der Fokus liegt damit auf dem Feld der Literatur und den damit in Zusammenhang stehenden Transferprozessen, sowohl den internen als auch jenen zu anderen gesellschaftlichen Feldern und Gruppen im Kontext der Italienreise.
Veränderung des Reisens und der Reiseliteratur ab dem 18. Jahrhundert
Historische, gesellschaftliche, politische und nicht zuletzt infrastrukturelle Faktoren beförderten ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das wachsende Interesse verschiedener Gesellschaftsschichten am Reisen. Im Sinne der Aufklärung wurde das Reisen als Möglichkeit der Wissensvermehrung gesehen, sowohl für das Individuum als auch in einem weiteren Sinn: Der Reisende konnte wertvolle Erkenntnisse und Informationen von gesellschaftlicher Relevanz vermitteln. Das Interesse am Exotischen sowie am Erforschen ferner, zum Teil noch unbekannter Länder und Regionen entsprach dieser aufklärerischen Haltung. Gleichzeitig ist aber auch ein Interesse am bereits Bekannten festzustellen: Man reiste in Europa, beispielsweise im beliebten Italien oder, um 1800 nach England, und ebenso im eigenen Land. Politische Motive waren ein weiterer Grund für Reisen: So lockte die Französische Revolution viele Reisende nach Paris.3 Auch kriegerische Auseinandersetzungen konnten Anlässe für Reisen sein: Zum Beispiel kam der französische Autor Stendhal als Leutnant 1799/1800 im Rahmen von Napoleons Italienfeldzug das erste Mal in das Land (insbesondere nach Mailand), in dem einige seiner späteren Werke spielen sollten.4
Die wachsende Reisetätigkeit des Bürgertums ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte nicht zuletzt mit der veränderten Infrastruktur für Reisende zu tun: Das Postkutschenwesen wurde stetig ausgebaut und ermöglichte es, schneller zu reisen. Genauso nahm die Zahl der Herbergen zu, meist entlang der Postkutschenstrecken; die Abstufung in verschiedene Komfort- und Preisklassen ermöglichte es auch weniger betuchten Gästen, dort zu übernachten.5 Für Reisende aus dem Norden war die Reise in den Süden, die Mitte des 19. Jahrhunderts für viele noch einen Aufenthalt von mehreren Monaten, manchmal Jahren bedeutete, zudem oft finanziell attraktiv, da die Lebenshaltungskosten in Italien geringer waren als z.B. in England.6 Das Reisen wurde damit zusehends auch für mittlere Bevölkerungsgruppen erschwinglich und damit für viele Autorinnen und Autoren, die ihre Erfahrungen in verschiedenen Textformen festhielten und veröffentlichten: In Gedichten, Romanen, Dramen, vor allem aber in Reiseberichten, einem zu jener Zeit äußerst populären Genre.
Das allgemeine Interesse am Reisen, der praktische Aspekt in der Funktion als Reiseführer sowie die erhöhte Reiseaktivität erklären die große Popularität des Genres:7 Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und bis ins späte 19. Jahrhundert avancierten Reiseberichte zu einer der beliebtesten, wenn nicht überhaupt der beliebtesten Gattung am Buchmarkt. Die meisten Schriftsteller veröffentlichten früher oder später einen Reisebericht, einerseits, weil sie sich auf eine Reise begeben hatten, andererseits weil man diese Texte leicht publizieren konnte – unter anderem auch kapitelweise vorab in Zeitungen oder Zeitschriften und später zusammengefasst als Buchpublikation;8 sie waren lukrativ und erreichten ein breites Publikum. Letzteres machte das Genre auch für politische Stellungnahmen oder Gesellschaftskritik interessant: Da es sich um Beschreibungen anderer Länder und Regionen handelte, ließ sich indirekt Kritik an der Heimat üben und diese nicht zuletzt leichter durch die Zensur schmuggeln. Reiseberichte waren zudem auch in Übersetzung äußerst beliebt.9
Neue Formen des Reisens, die wachsende Beliebtheit des Reiseberichts und die steigende Anzahl von Autorinnen und Autoren, die sich damit auseinandersetzten, sorgten für eine Veränderung der Gattung. Von wissenschaftlich orientierten Berichten, die umfassend enzyklopädisch sein und mit Rücksicht auf den Nützlichkeitswert für das Publikum das Gesehene und Erlebte weitergeben wollten, wandelten sie sich zu stärker unterhaltenden, ästhetisierten und literarisierten Texten, die zusehends das erlebende Ich und seine Reflexionen in den Vordergrund stellten. Das ästhetische Erlebnis der Reise sowie deren individuelle Erfahrung wurden wichtiger, im englischsprachigen Raum früher, im deutschsprachigen etwas später. Diese Veränderung lässt sich gut am Beispiel der beiden Italien-Reiseberichte von Goethe Vater und Sohn nachvollziehen. Während Johann Caspar Goethes (1710–1782) Reise und sein Bericht darüber, Viaggio per l’Italia, vom "frühaufklärerischen Streben nach Wissensaneignung" charakterisiert sind,10 spiegelt die Italienische Reise des Sohnes Johann Wolfgang Goethe das "romantische Bedürfnis nach Persönlichkeitsbildung" wider.11 Letzteres hatte auch mit Goethes Reiselektüre zu tun: Immer wieder bezieht er sich auf Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), dessen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) sowie Geschichte der Kunst des Altertums (1764/1767) den sinnlichen Aspekt antiker griechischer Kunst betonen und, genau wie Goethes Italienerlebnis, großen Einfluss auf sein weiteres Schaffen und die Periode der Weimarer Klassik hatten.
Reiseberichte über Italien
Italien war seit der Neuzeit ein beliebtes Reiseziel. Junge Adelige auf der Grand Tour oder Kavalierstour vom 16. bis ins 18. Jahrhundert, Bürgerliche auf Bildungsreise ab dem späten 18. Jahrhundert, touristisch Reisende ab dem 19. Jahrhundert – alle kamen nach Italien. Dass das Ziel Italien besonders bei der Aristokratie sehr beliebt war, machte es auch im Bürgertum, das den Reiseverlauf und die Reiseziele übernahm bzw. überhaupt erst kanonisierte, zu einem attraktiven Reiseland. Zum Reisekanon gehörten Städte wie Turin, Genua, Mailand, Padua, Vincenza und Venedig im Norden Italiens, vor allem aber Florenz und die Toskana, Rom, Neapel, ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Ausgrabungen von Pompejiund für einige Reisende auch Sizilien wegen seiner griechischen Ausgrabungen. Den Reisen lagen freilich unterschiedliche Motive zugrunde: der Besuch von Ritterakademien, Höfen, Universitäten, der Kontakt zum Militär oder zur Kirche wurde mit dem Verschwinden der Kavalierstour vom kunsthistorischen Interesse der Bildungsreisenden abgelöst. Sie richteten ihren Blick sowohl auf die römische und griechische Antike sowie die Kunst der Renaissance als auch auf die Werke zeitgenössischer bildender Künstler, die häufig aus denselben Heimatländern wie die Reisenden kamen. So wird berichtet, dass zwischen 1800 und 1830 allein in Rom rund 550 deutsche Maler[], Bildhauer und Architekten lebten, später zeitweise sogar 1.200.12 Die Verfeinerung der Sitten und des Geschmacks waren jedenfalls sowohl für den Adel als auch für das reisende Bürgertum ein wichtiger Effekt des Reisens.
Aktuelle, praktische Informationen über Italien erhielt man oft aus Reiseberichten. Bis ins 18. Jahrhundert finden wir allerdings neben den im relativ kleinen Kreis weitergereichten Aufzeichnungen von Kavaliersreisen nur vereinzelt Berichte früher intellektueller Reisender wie Michel de Montaigne (1533–1592), dessen Aufzeichnungen seiner Italienreise (1580–1581) allerdings erst 1774 gedruckt wurden,13 oder Thomas Coryat (1577–1617), der im Jahr 1608 großenteils zu Fuß durch Europa und bis nach Venedig reiste und davon in Coryat's Crudities: Hastily gobled up in Five Moneth's Travels, erschienen 1611, berichtete. Johann Caspar Goethe reiste 1740–1741 nach Italien, sein Reisetagebuch Viaggio per l’Italia wurde aber erst 1932 gedruckt.14 Ab dem späten 18. Jahrhundert und vor allem ab der Jahrhundertwende nahm die Zahl der veröffentlichten Reiseberichte über Italien allerdings deutlich zu; Reisende wie Ernst Moritz Arndt (1769–1860), William Beckford (1760–1844), William Hazlitt (1778–1830), Karl Philipp Moritz (1756–1793), Hester Lynch Piozzi (1741–1821) oder Tobias Smollett (1721–1771) schrieben alle Berichte über ihre Erfahrungen.15 Während der napoleonischen Kriege (1803–1815) waren Reisen nach Frankreich und Italien schwierig, danach hielt die Beliebtheit Italiens aber an, wie die Reisen und Berichte von Autorinnen und Autoren wie Alexandre Dumas (1802–1870), Louise Colet (1810–1876), Heinrich Heine (1797–1856), Edward Lear (1812–1888), Johanna Schopenhauer (1766–1838), Mary Wollstonecraft Shelley (1797–1851) oder Stendhal belegen.16
Die Inhalte der Reiseberichte divergierten naturgemäß, allerdings gab es Themen, die immer wieder angesprochen wurden.17 So beschrieben die Autorinnen und Autoren die Reiseroute und den Reisealltag – Transportmittel, Grenzkontrollen, Mitreisende, Versorgung, Unterkünfte, Wetter, Klima –, sie schilderten die Landschaft und die Orte, die sie sahen, sie erzählten von Kunsterlebnissen (Museums- und Galeriebesuchen, Kirchenbesichtigungen) und von Besuchen antiker Grabungsstätten, sie gaben Beobachtungen über die Sprache, über Traditionen, Bräuche und Rituale, auch religiöse, wieder, sie übten Kritik an Gesellschaft, Politik und Kirche, sie versuchten kulturelle (zum Teil: nationale) Eigenheiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede in verschiedensten Bereichen festzustellen: bei der Ernährung, dem Familienleben, der Kindererziehung, der Gestaltung des Alltags etc. und beschrieben Fremdheitserfahrungen. Als Besonderheit des Reiseberichts kann zudem hervorgehoben werden, dass sich die Autorinnen und Autoren oft auf die Texte anderer Reisender bezogen und aus der literarisierten "Italienreise" somit ein Geflecht zahlreicher intertextueller Bezüge entstand.
Die wachsende Zahl an Reiseberichten brachte mit sich, dass die Autorinnen und Autoren ihren Bericht originell gestalten mussten um am Markt zu reüssieren, zumal wenn ihr Reiseziel ein so bekanntes wie Italien war. Charles Dickens (1812–1870) hielt dies zu Beginn seiner Pictures from Italy (1846) fest, wo es heißt: "There is, probably, not a famous Picture or Statue in all Italy, but could be easily buried under a mountain of printed paper devoted to dissertations on it."18 Und doch legte er mit seinem Buch einen weiteren Italien-Reisebericht vor, den er allerdings individuell und neuartig gestaltete. Er tat dies vor allem mit den Mitteln des Humors und der Ironie sowie einem gesellschaftskritischen Blick. Letzterer richtete sich in Pictures from Italy nicht nur auf die Situation sozial benachteiligter Gesellschaftsschichten, sondern vor allem auch gegen die katholische Kirche, die für viele englisch- und deutschsprachige (protestantische) Reisende bevorzugtes Ziel ihrer Kritik war:19 Diese richtete sich nicht nur auf den Kontrast zwischen prunkvoll ausgestatteten Kirchen und der alltäglichen Armut auf den Straßen, sondern auch auf den Papst und die kirchlichen Zeremonien im Vatikan. So beurteilte auch Dickens, der die Szene bei einer vom Papst gehaltenen Messe im Petersdom mit der Aufführung in einem englischen Theater verglich, die kirchliche Ausstattung "gaudy"20 und die Zeremonie "droll and tawdry".21 Der Papst wird dabei zu einer Marionette, die auf einem Stuhl durch die Menge getragen wird: "his head itself wagging to and fro as they shook him in carrying".22
Die Sozialkritik zog sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts als eine Art roter Faden durch viele Reiseberichte über Italien und wurde gleichzeitig in der jeweiligen Ausgestaltung zum individuellen Alleinstellungsmerkmal. Ein weiteres Beispiel dafür ist Fanny Lewalds (1811–1889) 1847 erschienenes Italienisches Bilderbuch, in dem sie sich, wie auch in ihren fiktionalen Werken und journalistischen Veröffentlichungen, für die Emanzipation der Frauen einsetzte. So geht es im Kapitel über den römischen Karneval, das eine in sich abgeschlossene fiktionale Erzählung darstellt, um die Zwangsverheiratung eines Mädchens, die schließlich zugunsten einer Liebesheirat abgewendet werden kann. Lewalds Bilderbuch kann zudem als ein Beispiel für die weit seltener veröffentlichten Reiseberichte von Frauen genannt werden. Frauen reisten zu dieser Zeit weniger als Männer, zumal im deutschsprachigen Raum, für den Ida Pfeiffer (1797–1858) noch 1846 festhielt, dass sich "Reisebegierde […] nach den Begriffen der meisten Menschen, für eine Frau nicht ziemt".23 Diese Einstellung war kulturell geprägt, denn zur gleichen Zeit waren schon weit mehr Engländerinnen auf dem Kontinent unterwegs und verfassten Reiseberichte über ihre Erfahrungen.24
Beschreibungen alternativer Formen des Reisens sind eine weitere Möglichkeit für die individuelle Gestaltung von Reiseberichten. Die Fußreise Johann Gottfried Seumes (1763–1810) von Grimma bei Leipzig nach Syrakus auf Sizilien stellt eine solche originelle Form des Reisens dar, die ihm einerseits Abwechslung zu seiner sitzenden Tätigkeit als Verlagskorrektor bot, es ihm andererseits aber auch ermöglichte, "anthropologisch" mehr zu sehen, wie er es selbst bezeichnete.25 Dies drückt sich in seiner Beschreibung der Reise, dem Spaziergang nach Syrakus im Jahr 1802, aus, in der entsprechend der Blick auf die Menschen, deren Alltagsleben, aber auch die Armut und das Elend im Vordergrund stehen. Der aufmerksame Reisende stellte diese Beobachtungen in einen größeren Zusammenhang, wenn er genauso großes Interesse an ökonomischen Aspekten, insbesondere der Landwirtschaft, zeigte und nicht müde wurde, vor allem die katholische Kirche anzuklagen, die wertvolles Land brachliegen lasse, während die Bevölkerung Hunger leide. Seume war freilich weder der erste noch der einzige Reisende, der zu Fuß nach Italien ging; schon 1790 brach William Wordsworth (1770–1850) gemeinsam mit einem Studienkollegen zu einer Fußreise durch Frankreich und über die Alpen nach Italien auf.26 Zudem gibt es weitere Berichte von deutschsprachigen, zu Fuß nach Italien Reisenden des frühen 19. Jahrhunderts, wie von Johann Baumann (1805–1847) und Christian Friedrich Mylius (1762–1841).27
Seit der Hochzeit des Italienreiseberichts im 19. Jahrhundert ging die Anzahl neuer Texte kontinuierlich zurück, allerdings erschienen auch im 20. Jahrhundert literarische Reiseberichte über das Land, wie zum Beispiel von Elizabeth Bowen (1899–1973), Jean Giono (1895–1970), Henry James (1843–1916) oder Edith Wharton (1862–1937).28 Sie entwickelten das Genre weiter, indem sie immer stärker die persönliche, subjektive Erfahrung in den Vordergrund stellten; oft haben die Texte zudem poetologische Qualität und berichten vom Schreiben und Schaffen ihrer Autorinnen und Autoren.29
Italien als Topos in der Literatur
Italien ist bereits seit dem Ende des 16. Jahrhunderts ein beliebter literarischer Topos in der nicht italienischsprachigen Literatur, das heißt sowohl Thema als auch Schauplatz literarischer Werke.30 Selbst Autoren, die Italien mit großer Sicherheit nie selbst besucht hatten, wählten das Land als Schauplatz ihrer Werke. So spielen fast zwei Drittel der Stücke William Shakespeares in Italien, obwohl der Autor das Land nur aus zweiter Hand kannte.31 Sein spanischer Zeitgenosse Lope de Vega (1562–1635) wählte das Land ebenfalls zum Schauplatz einiger seiner Dramen, ohne es persönlich bereist zu haben. Charles-Louis de Secondat, Baron de Montesquieu (1689–1755) reiste zwar ab 1728 unter anderem nach Italien, jedoch spielt bereits sein davor, ab 1717, verfasster Briefroman Lettres Persanes (1721) teilweise in Venedig. Auch Friedrich Schiller (1759–1805), der nie nach Italien kam, setzte sich mit 'italienischen' Stoffen auseinander (z.B. in Die Verschwörung des Fiesco zu Genua, 1783, oder in Die Braut von Messina, 1803). Ann Radcliffe (1764–1823) schließlich, erfolgreiche englische Autorin sogenannter Schauerromane (Gothic novels), wählte Italien zum Schauplatz einiger ihrer populären Bücher, wenngleich sie das Land selbst nie gesehen hatte.32 Die Gründe für diese Wahl sind unterschiedlich. Erstens war italienische Literatur in England bekannt: Geoffrey Chaucer (ca. 1340–1400) hatte Giovanni Boccaccio (1313–1375) und Petrarca (1304–1374), den er möglicherweise 1368 in Mailand persönlich getroffen hatte, ins Mittelenglische übersetzt. Bocaccios Decamerone (entstanden 1349–1353) sowie Dante Alighieris (1265–1321) Divina Commedia (entstanden 1307–1321) waren, neben vielen anderen Werke, Inspiration und Quelle für Chaucers Canterbury Tales (entstanden 1387–1400). Durch Transferprozesse wie diese waren auch spätere Autoren, wie Shakespeare, mit den Werken der italienischen Renaissancedichter vertraut und verwendeten sie als Quelle für eigene Stücke. Zweitens bildete in anderen Fällen Italien den historisch korrekten Schauplatz für literarische Werke, zum Beispiel für die sogenannten Römerdramen Shakespeares über historische Figuren wie Julius Cäsar (100 v. Chr.–44 v. Chr.) und Marcus Antonius (86, 83 oder 82 v. Chr.–30 v. Chr.) oder für sein episches Versgedicht The Rape of Lucrece (1594). Drittens bot Italien als zwar nicht ganz unbekannter, aber doch weit entfernter und damit unweigerlich fremdartiger Ort eine gute Grundlage für die Verhandlung schwieriger oder kontroverser Themen. So war zum Beispiel Venedig als Schauplatz für Shakespeares The Merchant of Venice (entstanden ca. 1596–1598) ideal, weil so der mit der Hinrichtung von Roderigo Lopez (1525–1594) in England ausgebrochene Antisemitismus in einem anderen kulturellen Kontext verhandelt werden konnte,33 und das in der Stadt, in der einige Jahrzehnte davor (ab 1516) das erste Ghetto gegründet worden war. Auch Ben Jonson (1572–1637) griff in seinem Stück Volpone, or the Fox (ungefähr 1606) auf den exotischen Schauplatz Venedig zurück,34 der ihm die beliebte Verwendung italianisierter (und damit spielerisch verfremdeter) Namen ermöglichte, wie den der Titelfigur Volpone (italienisch: schlauer Fuchs), seines Dieners Mosca (italienisch: Fliege) oder des Händlers Corvino (italienisch: rabenschwarz). In Jonsons Stück gibt es neben den italienischen auch englische Figuren – in gewisser Weise wird er damit zum Vorläufer für spätere fremdsprachige Italien-Literatur, deren Protagonisten oft aus denselben Sprach- und Kulturräumen wie ihre Autorinnen und Autoren kommen.
Italienreisende als Protagonisten
Als Vorbilder für diese Protagonisten dienten zum Teil andere Reisende. Der Blick auf andere Reisende beeinflusste nicht nur die Reiseberichte vieler Autorinnen und Autoren, sondern auch ihre fiktionalen Texte.35 Ein Beispiel dafür, das gleichzeitig den Übergang vom Reisebericht zur verstärkt fiktionalen Verhandlung der Reise nach Italien markierte, ist Laurence Sternes (1713–1768) Sentimental Journey Through France and Italy (1768). Sterne reiste zwischen 1765 und 1766 bis nach Neapel.36 Bei seinem Werk handelt es sich um eine Reisebeschreibung mit fiktiven Charakteren,37 die vor allem in Paris angesiedelt ist und trotz der Ankündigung im Titel über Lyon nicht hinausgeht. Unter anderem karikierte Sterne darin einen bekannten Reisenden, den er selbst unterwegs getroffen hatte und dessen (von Klagen und Unzufriedenheit gekennzeichneten) Reisebericht er kannte: Tobias Smollett.
Charles Dickens verarbeitete seine Italienreise im Roman Little Dorrit (1855–1857): Nachdem die Familie Dorrit zu Reichtum gekommen ist, reist sie nach Venedig und Rom – Reisen solcher Art waren im 19. Jahrhundert ein Statussymbol. Dickens verarbeitete die Rituale und den Habitus dieser Reisen nach eigener Beobachtung. Der amerikanisch-britische Autor Henry James beschrieb in seinen Werken dagegen Ausländer, zumeist Amerikaner, die sich in Italien niederließen. So ist die Hauptfigur in seinem wohl berühmtesten Roman The Portrait of a Lady (1881) die in Rom lebende Amerikanerin Isabel Archer. Wie auch in seinen Romanen Roderick Hudson (1875) und The Wings of the Dove (1902) wird Italien bei James oft zu einem Ort mit letztlich negativen Folgen für die Protagonisten, der sogar zum Tod führen kann, wie für Daisy Miller, die Hauptperson der gleichnamigen Novelle (1878). Ähnlich tödliche Folgen hat Italien bzw. insbesondere Venedig für Gustav von Aschenbach, den berühmten deutschen Schriftsteller, der in Thomas Manns Tod in Venedig (1912) von München nach Venedig aufbricht. Dort trifft er auf den schönen 14-jährigen Tadzio, in den er sich verliebt; im ungewohnten Gefühlsrausch verliert Aschenbach jedwede Würde. Aschenbach fällt schließlich der Cholera zum Opfer, die in Venedig wütet, und stirbt am Strand des Lidos. Eine heiterere Note wählte demgegenüber Edward Morgan Forster (1879–1970), der in seinem Roman A Room With a View (1908) englische Touristen in Italien ironisch-humorvoll darstellt. So finden sich typische Reiseszenen, wie die Enttäuschung bei der Ankunft im Hotel in Florenz, da das Zimmer nicht die versprochene Aussicht auf den Arno bietet. Für ihren Besuch der Kirche Santa Croce wird der Hauptfigur Lucy Honeybush der Baedeker-Reiseführer von der Mitreisenden Miss Lavish entwendet, damit sie das wirkliche Italien sieht und kennenlernt.38 Miss Lavish ist generell streng mit britischen Touristen, die sie am liebsten in Dover eine Prüfung absolvieren lassen würde, bevor sie auf den Kontinent gelassen werden.
Die persönliche Italienerfahrung als Inspiration
Andere Autorinnen und Autoren wenden den Blick nicht so sehr auf die anderen als auf sich selbst. So verbrachte George Sand (1804–1876) von 1833 bis 1834 einige Monate mit ihrem damaligen Geliebten Alfred Musset (1810–1857) in Venedig und begann dabei eine Affäre mit dem Arzt Pietro Pagello (1807–1898). Musset wollte die Stadt vor allem wegen seiner Bewunderung für Lord Byron (1788–1824) kennenlernen und hatte bereits zuvor Gedichte über Venedig verfasst. George Sand hingegen verarbeitete später in vielen ihrer Werke ihren positiven Eindruck der Stadt. Marcel Proust (1871–1922) literarisierte seine Erfahrungen in Venedig, das er 1900 zweimal bereiste, vor allem im sechsten Band seines opus magnum À la recherche de temps perdu (1913–27), Albertine disparu (1925), daneben finden sich auch im Contre Sainte-Beuve (1954) Bezüge auf die Serenissima. Auch in der Recherche kann man von einem melancholischen, nostalgischen Unterton in den Venedig-Passagen sprechen, vor allem, da der Erzähler Marcel erst zu der langersehnten Reise aufbrechen kann, nachdem Albertine endgültig 'verschwunden' (d.h. verstorben) ist und die Reise für ihn zu einem Abschied von seiner Jugend wird. Ernest Hemingway (1899–1961) war während des Ersten Weltkriegs in Norditalien stationiert, eine Erfahrung, über die er in seinem Buch über den Stierkampf, Death in the Afternoon (1932), schrieb. In seinem Roman Across the River and into the Trees (1950) verarbeitete er die Liebesbeziehung mit einer wesentlich jüngeren Frau während eines Aufenthalts 1948 in Venedig.
Lyrische Auseinandersetzungen mit Italien
Einen wichtigen Aspekt in der literarischen Verhandlung von Italien bildet die Lyrik. So war Italien besonders für die englischen Romantiker ein wichtiger Ort, über den sie nicht nur schrieben, sondern an dem sie sich auch tatsächlich trafen: Zum Beispiel lebten Percy Bysshe Shelley (1792–1822) und seine Frau Mary Shelley ab 1818 in (Nord-)Italien, wo sie oft auf Lord Byron trafen. Dieser verarbeitete sein Italienerlebnis in Werken wie Childe Harold's Pilgrimage (1812–1818), Ode on Venice (1818) oder Beppo (1818). Auch Samuel Taylor Coleridge (1772–1834) und William Wordsworth (1770–1850) reisten nach Italien. Die Shelleys stellten ihr Haus in Rom unter anderem John Keats (1795–1821) zur Verfügung, der dort an Tuberkulose starb.39 Rund ein Jahrhundert später war das Schloss Duino bei Triest Inspiration für Rainer Maria Rilkes (1875–1926) Gedichtzyklus Duineser Elegien (1923). Er hatte sich zwischen 1911 und 1912 mehrere Monate auf Einladung der Prinzessin Marie von Thurn und Taxis (1855–1934) in dem Schloss aufgehalten. W. H. Auden (1907–1973) verbrachte zwischen 1948 und 1957 einige Sommer in Süditalien und ließ sich davon inspirieren – schließlich 1985 auch zu Good-bye to the Mezzogiorno, als er seine Sommerresidenz nach Österreich verlegte. Für die beiden griechischen Lyriker Titos Patrikios (geb. 1928) und Yiannis Ritsos (1909–1990) wurde Italien zum Exil bzw. zur zweiten Heimat: Patrikios lebte während der Militärdiktatur (1967–1974) rund fünfzehn Jahre in Rom, Ritsos begann Italien nach dem Ende der Diktatur regelmäßig zu bereisen. Beide Autoren verfassten Gedichte, in denen sie diese Italienerfahrungen einfließen ließen und gleichzeitig über ihr Heimweh schrieben.
Italiens Geschichte und Politik als Quelle
Die (Zeit-)Geschichte Italiens inspiriert ebenfalls viele Autorinnen und Autoren. So verfasste Madame de Staël (1766–1817)auf Basis eigener Reiseerfahrungen ihren zeitgenössischen Roman Corinne ou l’Italie (1807) um die italienische Dichterin Corinne und den englischen Aristokraten Lord Oswald Nelvil. Neben der wechselhaften Liebesgeschichte zwischen den beiden enthält das Buch eine Vielzahl von Informationen über Italien, seine Geschichte, seine Kultur und Traditionen. Zudem gilt es als einer der ersten Romane einer Frau im 19. Jahrhundert und als einer der ersten europäischen Bestseller, der zudem mit der Verhandlung der Position des (weiblichen) Künstlers die Romantik einführte. Die englische Autorin George Eliot (1819–1890) setzte sich dagegen mit anderen historischen Epochen auseinander. Sie widmete ihren Roman Romola (1863) Florenz am Ende des 15. Jahrhunderts, knapp nach dem Tod des legendären Lorenzo de Medici (1449–1492)[], unter dessen Patronat die Stadt und Region eine kulturelle Hochblüte erlebt hatte. Der Roman setzt ein, als Florenz eine Zeit des Umbruchs und der Unsicherheit erfährt, in der Kritiker eine Parallele zu Eliots eigener Zeit und Gesellschaft, dem viktorianischen England des 19. Jahrhunderts, sehen.
Ab dem frühen 19. Jahrhundert regte vor allem der Kampf um die Unabhängigkeit bzw. um eine vereinte Nation im Sinne des Risorgimento auch viele ausländische Schriftstellerinnen und Schriftsteller zur Auseinandersetzung mit Italien an. Lord Byron war, nicht zuletzt durch seine Liebesbeziehung zur verheirateten Gräfin Teresa Guiccioli (1800–1873), die Mitglied des Geheimbundes der Carboneria war, in Venedig in den italienischen Freiheitskampf involviert; er wurde von der österreichischen Polizei beobachtet und schließlich gemeinsam mit seiner Geliebten nach Pisa verbannt. Charles Dickens veröffentlichte im Anschluss an seine Reise unter anderem eine Erzählung, in der er den italienischen Freiheitskampf unterstützte.40 Auch Mary Shelley fand in ihrem Reisebericht klare Worte für die italienische Sache, als sie schrieb: "Ich soll für die Mühen und Sorgen belohnt werden, die mich das Zusammenstellen [dieser Fragmente] gekostet hat, wenn einige meiner Landsleute dadurch einem Land größere Aufmerksamkeit widmen und mit seinen Anstrengungen sympathisieren, das das erhabenste und gleichzeitig das glückloseste der Welt ist."41
Indirekte Einflüsse Italiens
Andere Autorinnen und Autoren, wie der bereits genannte Geoffrey Chaucer, griffen zwar nicht direkt auf den Topos Italien zurück, ließen aber persönliche Italien-Erfahrungen oder Italienbezüge in ihre Werke einfließen, zum Beispiel in Form von inhaltlichen oder formalen Bezügen auf italienische Werke. Dantes Divina Commedia gilt sicherlich als jenes Werk der italienischen Literatur, welches den größten internationalen Einfluss hatte. In der englischsprachigen Literatur wurde Dante nach Chaucer von den Romantikern wie William Blake (1757–1827) 'wiederentdeckt' (die katholischen Elemente in der Commedia galten zuvor lange Zeit als wenig interessant, wenn nicht gar geschmacklos). Autoren wie James Joyce (1882–1941), Ezra Pound (1885–1972), T. S. Eliot (1888–1965) oder Samuel Beckett (1906–1989) bezogen sich in der modernistischen englischen Literatur auf Dantes Werk. In der russischsprachigen Literatur verarbeiteten etwa Alexander Puschkin (1799–1837), der einige Verse der Commedia übersetzte, und Osip Mandelstam (1891–1938), neben vielen anderen, Einflüsse Dantes.
Daneben konnten bestimmte Italienerlebnisse prägend sein: So reiste John Milton (1608–1674) in den späten 1630er Jahren nach Florenz, um in die Kunst und Kultur der Stadt einzutauchen. Er traf dort unter anderem Galileo Galilei (1564–1642) und sein Aufenthalt wird als bedeutender Einfluss auf die Entstehung seines berühmtesten Werks Paradise Lost (1667) gewertet, trotz Miltons anti-katholischer Haltung, die er mit vielen protestantischen Reisenden teilte.42 Und Johann Wolfgang von Goethe schließlich nutze seinen Aufenthalt in Italien, um einige seiner Stücke zu vollenden (Iphigenie auf Tauris, 1787, Egmont, 1788 und Torquato Tasso, 1790). Wenngleich Torquato Tasso den italienischen Dichter zur Hauptfigur hat, so werden heute die Einflüsse Italiens auf Goethe meist abstrakter verstanden: Die Italienreise war für Goethe eine grundlegende Erfahrung der Antike, aber auch von Licht, Luft und Lebensgefühl, die ihm ein neues Sehen sowie Verständnis von Kunst ermöglichte und die einen Grundstein für die Weimarer Klassik legte.
Das 'andere' Italien – vom Schauer- zum Kriminalroman
Die 'fremde', 'andere' Qualität Italiens machte das Land auch zum idealen Schauplatz für unheimliche Literatur, wie die bereits genannten Schauerromane von Ann Radcliffe oder jene von Horace Walpole (1717–1797). Letzterer gilt mit seinem Buch The Castle of Otranto (1764), das in der süditalienischen Region Apulien spielt (die Walpole selbst nie besuchte, wenngleich er auf einer Grand Tour 1739–1741, unternommen gemeinsam mit dem Schriftsteller Thomas Gray (1716–1771), andere Teile Italiens sah), als der Begründer der Gothic Novel. Das katholische und abergläubische (Süd-)Italien bietet (genauso wie Spanien) in Verbindung mit angeblich historischen mittelalterlichen Ereignissen (die meist aber rein fiktional waren) den perfekten Hintergrund für übersinnliche Geschichten mit unerklärlichen Begebenheiten und mysteriösen Weissagungen. Später wird Venedig diese Rolle zugeschrieben, das für viele Autorinnen und Autoren zum Inbegriff des Geheimnisvollen und Rätselhaften wird. So bildet der Karneval den Hintergrund für Friedrich Schillers Romanfragment Der Geisterseher (1787–1789) und ermöglicht Szenen wie jene am Markusplatz, wo der maskierte Armenier dem Prinzen in der Menge die geheimnisvollen Worte "Wünschen Sie sich Glück, Prinz … um neun Uhr ist er gestorben", zuraunt. Im 20. Jahrhundert wird diese Tradition fortgesetzt, zum Beispiel in Daphne du Mauriers (1907–1989) Kurzgeschichte Don’t look now (1971, in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Wenn die Gondeln Trauer tragen bekannt), in Jeanette Wintersons (geb. 1959) Roman The Passion (1987) und in Ian McEwans (geb. 1948) Roman The Comfort of Strangers (1981). Wie bereits Schiller verwenden du Maurier und McEwan die (nahezu stereo-)typischen Attribute Venedigs – Kanäle, Gondeln, Nebel, labyrinthische Gassen, in denen man sich leicht verirrt (allerdings nicht den Karneval!) – um die unheimliche, liminale und mehrdeutige Grundstimmung ihrer Werke zu verstärken. So geht es darin zum Teil um übersinnliche Phänomene, Verwechslungen, Ahnungen und Erinnerungen. In diesem Sinne ist es nur konsequent, dass das Verwirrspiel um die Identität des Mörders Tom Ripley in Patricia Highsmiths (1921–1995) erstem Ripley-Roman The Talented Mr. Ripley (1955) in Venedig kulminiert.
Neben solch psychologischen Romanen mit Thrillerqualität bleibt die Stadt bis heute ein beliebter Schauplatz für klassische Krimis. Die Serie der amerikanischen Autorin Donna Leon um Commissario Guido Brunetti (seit 1992 bislang 28 Bände) sei als berühmtestes Beispiel dafür genannt. Doch auch andere italienische Städte haben sich als Tatorte für fremdsprachige Krimireihen etabliert, so z.B. Triest für Veit Heinichens (geb. 1957) Kommissar Proteo Laurenti oder Florenz für den von Magdalen Nabb (1947–2007) erfundenen Maresciallo Guarnaccia. Timothy Williams' (geb. 1946) Commissario Trotti hingegen ist in den sogenannten anni di piombo in einer nicht genannten norditalienische Stadt in der Nähe des Po tätig.43 Der britische Krimiautor Michael Dibdin (1947–2007) lässt seinen Kommissar Aurelio Zen in insgesamt elf Bänden in verschiedenen italienischen Städten ermitteln, unter anderem in Bologna, Neapel, Rom und Venedig. Der Vollständigkeit halber seien hier noch Dan Browns (geb. 1964) weltweite Thriller-Besteller erwähnt, die teilweise in Italien spielen und sich öfter mit Machenschaften in und um die katholische Kirche auseinandersetzen. Der Erfolg all dieser Krimireihen hat möglicherweise im Gegenzug die Popularität italienischer Krimis in Übersetzung befördert. So sind Andrea Camilleris (1925–2019) Krimis um den sizilianischen Commissario Montalbano nicht nur im Original, sondern auch auf Deutsch, Englisch, Französisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch und Türkisch berühmt. Ebenso international erfolgreich ist Gianrico Carofiglios (geb. 1961) Krimiserie um den Rechtsanwalt und Strafverteidiger Guido Guerrieri in Bari.
Ausblick – literarische Italien-Reisen
Dass literarische Reisen nach Italien trotz oder gerade wegen ihrer langen Geschichte auch heute noch beliebt sind, lässt sich durch einen Blick in die Buchhandlungen und auf die Bestsellerlisten bestätigen: So handelt Bodo Kirchhoffs (geb. 1948) 2016 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Novelle Widerfahrnis nicht zuletzt von einer Italienreise der Protagonisten. Josef Winkler (geb. 1953) verarbeitet neben seinen Indien- und Japan-Erfahrungen auch seine Italienaufenthalte literarisch; in dem Buch Friedhof der bitteren Orangen (1990), das unter anderem vom Campo Santo della Pietà in Neapel handelt, und in dem als Römische Novelle bezeichneten Natura Morta (2001), das am und um den Markt auf der Piazza Vittorio Emanuele spielt. Im gefeierten zweiten Roman Normal People (2018) der irischen Autorin Sally Rooney (geb. 1991) verbringen die studentischen Protagonisten ihre Sommerferien im elterlichen Ferienhaus in Norditalien. Und in Ali Smiths (geb. 1962) Buch How to Be Both (2014; unter anderem auf der Shortlist für den Man Booker Prize) schließlich, ist eine der beiden Hauptfiguren der italienische Renaissancekünstler Francesco del Cossa (ca. 1430–ca. 1477), dessen (historisch aufgrund fehlender Quellen nahezu unbekanntes) Leben Smith literarisch erzählt. Einige Autorinnen und Autoren haben sich dazu entschlossen, in Italien zu bleiben: Der gebürtige Brite Tim Parks (geb. 1954) lebt seit 1981 in der Nähe von Verona und verarbeitet diese Erfahrung immer wieder in seinen Werken. Eine besondere Form der literarischen Reise nach Italien sei zum Abschluss noch erwähnt: Jhumpa Lahiri (geb. 1967), eine US-amerikanische Autorin mit bengalischem Familienhintergrund, die für ihre Erzählungen und Romane auf Englisch zahlreiche Preise erhielt, ist Anfang der 2010er Jahre mit ihrer Familie nach Rom übergesiedelt und hat sich schließlich dazu entschlossen, zukünftig nur mehr auf Italienisch zu schreiben. So ist die Reflexion über ihre Beziehung zur italienischen Sprache, In altre parole (2015), entstanden, aber auch ihr erster Roman auf Italienisch, Dove mi trovo (2018). Billigflieger in Richtung exotischer Reiseziele, ferne Megastädte, die durch die Globalisierung viel leichter erreichbar geworden sind – das alles kann dem Reiz Italiens und seiner Städte, vor allem aber auch seinem kulturellen und literarischen Erbe wenig anhaben, zumindest nicht für jene Autorinnen und Autoren, die ihre Werke auch in der zeitgenössischen Literatur dort spielen lassen. Die hier beschriebenen Transferprozesse, die italienische Orte, Mythen, Personen, Literatur und Kunst sowie die eigenen Erfahrungen in Italien in die Literatur gebracht haben, wirken also noch weiter fort.44