Einordnung
Die Verbreitung der außereuropäischen Religion "Christentum" ist während der ersten 1400 Jahre ihrer Geschichte polyzentrisch betrieben worden. Während des 14. und 15. Jahrhunderts führten mehrere Entwicklungen dazu, dass sie vorübergehend zu einer fast ausschließlich europäischen Angelegenheit wurde: Die fast flächendeckende Christianisierung Europas erreichte im 14. Jahrhundert im Nordosten des Kontinents ihren Abschluss, auch die Iberische Halbinsel war durch die Reconquista wieder weitgehend christlich geworden. Gleichzeitig wurde das Christentum in Asien entscheidend geschwächt. Die Apostolische Kirche des Ostens, die wichtigste außereuropäische Trägerin von Mission, verlor durch die Machtübernahme der Ming-Dynastie in China 1368 und durch die Islamisierung weiter Teile Zentralasiens um 1400 den größten Teil ihres Kirchengebietes und Verbreitungsraums. Ihr verbliebenes Kirchengebiet in Indien fand sich weitgehend abgeschnitten von der Zentrale in Mesopotamien und von Europa. Die lateinische Kirche des Westens, die sich im 13. und 14. Jahrhundert in Indien, Zentralasien und China um Kirchengemeinschaft mit der Apostolischen Kirche des Ostens bemüht hatte, reagierte auf die neue Situation durch mehrere päpstliche Verlautbarungen (die wichtigste davon ist die Bulle Romanus Pontifex von 1455), die Portugal damit beauftragten, entlang der Küsten Afrikas einen alternativen Weg nach Indien zu erkunden, diesen Weg durch Inbesitznahme von Stützpunkten zu sichern und den christlichen Glauben zu verbreiten.1 Dies war der Beginn einer europäischen Expansionsbewegung, die nach der Entdeckung Amerikas 1492 und nach der päpstlichen "Teilung" der Welt zwischen Spanien und Portugal 1494 – im Vertrag von Tordesillas hatten sich die beiden rivalisierenden iberischen Mächte unter päpstlichem Einfluss auf eine völkerrechtlich verbindliche Demarkationslinie zwischen ihren Interessensphären geeinigt – geradezu eskalierte. Die Entstehungszeit des Protestantismus ist fast identisch mit dieser Epoche der Europäisierung christlicher Mission. Während eine Reform der Kirche schon seit Jahrhunderten Thema von Konzilen, Päpsten, Ordensgemeinschaften und Laienbewegungen innerhalb der römischen Kirche gewesen war, entstanden mit den Waldensern im 12. Jahrhundert, den Lollarden im 14. Jahrhundert und den Hussiten im 15. Jahrhundert erste Gemeinschaften, die dauerhaft von der römischen Kirche getrennt bleiben sollten. Die von Wittenberg und Zürich ausgehenden Reformationen des 16. Jahrhunderts führten zu einer wohl entscheidenden Stabilisierung der reformerischen Bewegungen in Europa, indem nun erstmals größere politische Territorien "protestantische" Versionen des Christentums zu ihrer offiziellen Religion erklärten und sie dadurch schützten. Gleichzeitig entstanden weiter radikalere Richtungen der Reformation, die wie die älteren Bewegungen ohne staatliche Autorisierung lebten.
Das Fehlen von Mission in den Anfängen des Protestantismus
Das zeitliche Zusammentreffen von Europäisierung christlicher Mission und Pluralisierung des europäischen Christentums sollte eigentlich erwarten lassen, dass die von Europa ausgehende Mission der Neuzeit von Anfang an konfessionell vielfältig ist. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der europäische Protestantismus hat sich erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung an der weiteren Verbreitung des christlichen Glaubens außerhalb Europas beteiligt. Die wichtigsten Gründe dafür sind erstens die territoriale Verfasstheit des europäischen Protestantismus in Landeskirchen, die sich jeweils als an ein politisches Territorium gebunden verstanden, mit der Neuordnung und Selbstbehauptung in ihren jeweiligen Gebieten beschäftigt waren und denen eine länderübergreifende Organisationsstruktur fehlte. Im Luthertum wurde die territoriale Selbstbezüglichkeit unterstützt durch eine Theorie, derzufolge der Missionsbefehl obsolet sei, da die Apostel Jesu bereits zu allen Völkern vorgedrungen seien. Zweitens ist die Vormachtstellung der beiden katholischen Mächte Spanien und Portugal in der Anfangsphase der kolonialen Expansion Europas zu bedenken. Drittens schließlich führte die Auflösung der monastischen Orden in den Gebieten der Reformation dazu, dass im Protestantismus anfangs keine potenzielle soziologische Trägergruppe von Mission vorhanden war.
An den ersten protestantischen Expansionsbewegungen außerhalb Europas ist folgerichtig eher das Fehlen von Mission denn eine gezielte missionarische Strategie auffällig: Nachdem die Briten 1577 die spanische Vormachtstellung auf dem Atlantik beendet hatten, begannen in erster Linie Briten und Holländer überseeische Kolonien zu erwerben, oft auf Kosten der Portugiesen bzw. Spanier. Die Holländer definierten die in den neuen Kolonien lebenden römisch-katholischen Christen gemäß dem europäischen Prinzip "cuius regio, eius religio" (wessen das Land, dessen (ist) die Religion) kurzerhand zu Calvinisten um (so auf den Molukken ab 1605 und in Sri Lanka ab 1638) und begannen theoretische Konzepte zur Missionierung der nichtchristlichen Bevölkerung zu entwickeln. Die personellen Kapazitäten ihrer Geistlichen reichten jedoch offenbar nur knapp dafür aus, die calvinistischen Siedler zu versorgen. Für Sri Lanka belegt eine Studie, wie es indischen katholischen Priestern gelang, eine katholische Untergrundkirche zu organisieren, durch die eine weitgehend katholische Prägung des Christentums auf Sri Lanka bis heute erhalten geblieben ist.2
Anfänge protestantischer Mission im 17. und 18. Jahrhundert
Eine spezifisch andere Entwicklung nahmen die britischen Kolonien in Nordamerika. Da mehrere dieser Kolonien von religiösen Minoritäten aus England gegründet worden waren, die auf der Suche nach eigener Religionsfreiheit ausgewandert waren, bestand hier eine breitere Basis für eigenständige Initiativen hinsichtlich der Gestaltung der religiösen Situation im Lande. In Massachusetts war der Puritaner John Eliot (1604–1690) ab 1632 als leitender Geistlicher eines Kirchenbezirks eingesetzt und baute in dieser Eigenschaft von 1646 bis zu seinem Tod christliche Gemeinden unter der einheimischen Bevölkerung auf. Seine Vorstellung war, dass der christliche Glaube mit einem bürgerlichen Leben verbunden sein müsse, und so gründete er eine Reihe von selbstverwalteten Siedlungen für "Betende Indianer". Der Quäker William Penn (1644–1718) gründete 1682 die Kolonie Pennsylvania und initiierte dort das "Heilige Experiment" einer Gesellschaft, in der einheimische Irokesen und Siedler jeder Konfessionszugehörigkeit in "Brüderlichkeit" und vollständiger Glaubensfreiheit zusammenleben sollten.
Das älteste von Europa aus geplante protestantische Missionsprojekt entstand aus der Kooperation zwischen der dänischen Krone, den ab 1695 von August Hermann Francke (1663–1727)[] in Halle aufgebauten "Franckeschen Stiftungen" (einer der wichtigsten Einrichtungen des deutschen Pietismus), und der 1698 in London gegründeten "Society for Promoting Christian Knowledge" (SPCK).3 1706 wurden die beiden Missionare Bartholomäus Ziegenbalg (1682–1719) und Heinrich Plütschau (1676–1747) in die dänische Handelskolonie Tranquebar an der Südostküste Indiens entsandt. Die Tranquebarmission war zwar formell eine Kolonialmission, aber dennoch gekennzeichnet von scharfen Gegensätzen zwischen Missionaren und Kolonialverwaltung, was die Behandlung der einheimischen Tamilen betraf. Bartholomäus Ziegenbalg verfasste eine Studie über die tamilische Religion, die bis heute eine wertvolle Quelle ist.4 Die Mission wirkte weit über das dänische Kolonialgebiet hinaus und kooperierte in Bildungsfragen mit tamilischen Herrschern.
Die erste protestantische Gemeinschaft, die ansatzweise eine Infrastruktur zu weltweiter Verbreitung entwickelte, war die Herrnhuter Brüdergemeine, 1727 gegründet von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760)[] unter Beteiligung von aus Mähren emigrierten Hussiten. Die Mission der Brüdergemeine begann 1732 durch die Entsendung von zwei Missionaren zu den afrikanischen Sklaven auf der dänischen Karibikinsel Saint Thomas. Die Missionare waren bereit, selbst Sklaven zu werden, um unter Sklaven wirken zu können. Während der Lebenszeit von Zinzendorf entstand ein Netzwerk von weiteren Gemeinden in Georgia, in der Kapkolonie (Südafrika), an der Goldküste, in Suriname, Jamaika und Grönland. Die Ikonographie der Brüdergemeine stilisierte Zinzendorf zum Weltmissionar, indem sie ihn als Prediger vor einer Menschenmenge aus allen Völkern darstellte.
Erweckungsbewegung und Missionsgesellschaften im langen 19. Jahrhundert
Ihren entscheidenden organisatorischen Schub erlebte die protestantische Mission mit einer Gründungswelle von Missionsgesellschaften ab dem Ende des 18. Jahrhunderts. Missionsgesellschaften sind Personenverbände, die eigens gegründet wurden zu dem Zweck, Spenden für die Mission einzuwerben, Missionare auszubilden, sie zu entsenden, Missionsstationen in fremden Ländern zu gründen und gleichzeitig durch eine Missionsleitung im Heimatland den Kontakt mit den Missionaren zu halten und die Aufsicht über sie auszuüben. Erst durch diese Organisationsform konnte der Protestantismus im Vergleich zur römisch-katholischen Kirche das Fehlen von monastischen Orden in seiner Missionstätigkeit wirksam kompensieren. Nachhaltig wirkte sich dabei jedoch aus, dass Missionsgesellschaften in der Regel keine Einrichtungen der protestantischen Kirchen waren, sondern private Organisationen, die sowohl ihre Geldgeber als auch ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weitgehend aus den Kreisen der Erweckungsbewegung rekrutierten und oft in Spannung zur Mehrheit der Kirchenmitglieder und zu den Kirchenleitungen im landeskirchlichen Protestantismus standen.
Wichtige Missionsgesellschaften (Gründungsdaten in Klammern) waren unter anderem in England die "London Missionary Society" (1795) und die "Church Mission Society" (1799), im deutschsprachigen Raum die "Basler Mission" (1815), die "Berliner Mission" (1824), die "Rheinische Mission" (1828, mit Vorgeschichte im "Missionsverein Elberfeld", 1799), die "Leipziger Mission" (1836), die "Norddeutsche Mission" (1836), die "Hermannsburger Mission" (1849). In den USA wäre der "American Board of Commissioners for Foreign Missions" (ABCFM, 1810/1812) an erster Stelle zu nennen.
Zeitlich parallel zur Gründungsphase der genannten Missionsgesellschaften ist im Protestantismus auch ideengeschichtlich eine verstärkte Hinwendung zur Mission zu erkennen. Die biblischen Belegstellen zur Verkündigung des Evangeliums werden in der Erweckungsbewegung interpretiert als die noch zu erfüllende Aufgabe einer weltweiten Sendung zu allen Völkern. Angelegt war dieser Gedanke bereits in der Herrnhuter Brüdergemeine, weite Verbreitung fand er durch eine Schrift des englischen Baptisten William Carey (1761–1834) im Jahr 1792.5 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde dieser Sendungsimpuls zunehmend mit Gründen für seine Dringlichkeit unterlegt. Angesichts der technischen Entwicklung und den neuen Möglichkeiten der Dampfschifffahrt wurde immer wieder argumentiert, dass die jeweilige Gegenwart günstigere Voraussetzungen für eine wirklich weltweite Ausbreitung des Evangeliums biete als jede vorangegangene Epoche der Kirchengeschichte und dass sich daraus eine besondere Verpflichtung zur Mission ergebe. Situationsbezogen spielte auch das Argument der Religionsfreiheit eine wichtige Rolle: William Carey extrapolierte aus den Ereignissen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution die Erwartung, dass sich die Gewähr von Religionsfreiheit nun weltweit ausbreiten würde. Hinweise darauf, dass in einem bestimmten Teil der Welt neuerdings ein Herrscher geneigt sei, sein Land für die christliche Mission zu öffnen, wurden immer wieder als göttliche Vorsehung interpretiert und damit als dringender Auftrag, die Chance auch tatsächlich zu nutzen.6 Hinzu trat in manchen Strömungen der Erweckungsbewegung stärker als in anderen die Erwartung, dass das Ende der Welt für die nahe Zukunft bestimmt sei und dass bis dahin noch möglichst viele Menschen für Christus gewonnen werden müssten. In Kreisen des ABCFM kursierte beispielsweise für lange Zeit die Jahresangabe 1866. Als Kulminationspunkt der Tendenz zur Dringlichkeit kann wohl ein Slogan gesehen werden, der 1886 auf einer studentischen Missionskonferenz in Mount Hermon (Massachusetts) formuliert wurde: "Evangelisation der Welt in dieser Generation!"7
Verkündigung, Bibelübersetzung und Wissenstransfer
Der Programmatik der Reformation und der Erweckungsbewegung entsprechend stand in der Arbeit der protestantischen Missionsgesellschaften die Wirksamkeit des mündlich verkündeten und schriftlich vorgelegten Bibelwortes im Zentrum. Bei allen Unterschieden im Einzelnen war das Ziel protestantischer Missionsarbeit, Menschen zu einem christlichen Glauben zu gewinnen und anzuleiten, der im Hören und Lesen der Bibel fundiert war. Nach dem Vorbild des "erwecklichen" Protestantismus in Europa und Nordamerika sollten die Getauften zu sonntäglichen Gottesdiensten mit Predigt über ein Bibelwort zusammenkommen und daneben zu Versammlungen, in denen die Bibel gemeinsam gelesen und interpretiert wurde.
Um dies zu ermöglichen, wurde Wert darauf gelegt, möglichst frühzeitig Übersetzungen zunächst von Teilen der Bibel, später auch der ganzen Bibel anzufertigen. Als Voraussetzung dafür war es in vielen Fällen erforderlich, die einheimischen Sprachen überhaupt erst zu Schriftsprachen zu machen und sie so weit zu studieren, dass die Regeln ihrer Verschriftlichung festgelegt werden konnten. Damit die Bibelübersetzungen durch die einheimische Bevölkerung selbstständig benutzt werden konnten, wie es dem Ideal der Reformation entsprach, gehörten Bildungseinrichtungen sehr regelmäßig zu den frühesten Installationen neuer Niederlassungen der Mission. Die vorhandene oder neu entwickelte Schriftsprache sollte der Bevölkerung vermittelt werden, verbunden mit anderen Inhalten, die sich am elementaren europäischen Bildungskanon orientierten. Es ist dokumentiert, dass Missionare Schulbücher für Mathematik, Geographie und Naturkunde aus der Heimat anforderten, diese als Basis für ihren Unterrichtsaufbau benutzten und teilweise nach deren Vorbild Schulbücher in einheimischen Sprachen drucken ließen.
So ist offensichtlich, dass die Missionare einen Transfer von europäischem Wissen in die Missionsgebiete intendierten. Was tatsächlich geschah, ist jedoch ein sehr viel komplizierterer Wissenstransfer in beide Richtungen und die Entwicklung von neuem, transkulturellem Wissen.8 Insbesondere die erste Generation der Missionare war sowohl für die elementaren Fragen ihres Überlebens als auch für ihr geistliches Anliegen einer adäquaten Wiedergabe des Bibelwortes dringend darauf angewiesen, Hilfe von der einheimischen Bevölkerung zu bekommen und von ihr unterrichtet zu werden. Das betraf Fragen einer dem Klima und der Vegetation angemessenen Lebens- und Ernährungsweise, Fragen der Orientierung im Gelände und des Schutzes vor Krankheiten ebenso wie Kenntnisse der einheimischen Kulturen und Religionen, die zumindest dafür benötigt wurden, bei der Bibelübersetzung mit der vorhandenen religiösen Terminologie angemessen umgehen zu können. Zahlreiche Missionare entwickelten jedoch auch ein weitergehendes Interesse an einheimischer Religion, Kultur, Geografie, Geschichte usw. Sie hielten ihr erlerntes Wissen schriftlich fest und gaben es nach Europa bzw. Nordamerika weiter, wo es in neu entstehende Wissenschaften zu außereuropäischen Kulturen (Orientalistik, Afrikanistik u. a.) einfloss. Oft sind Aufzeichnungen von Missionaren heute die einzige Quelle, aus der sich die Situation der betreffenden Kultur vor der Begegnung mit Europäern rekonstruieren lässt. An der Abfassung der Bibelübersetzungen, aber auch an der Materialsammlung für wissenschaftliche oder populärwissenschaftliche Abhandlungen waren in aller Regel einheimische Mitarbeitende unmittelbar beteiligt.
Ab der zweiten Generation von Missionaren an einem Ort, wenn die neu ankommenden von den etablierten Missionaren lernen konnten, ging oft das Bewusstsein für die unmittelbare Angewiesenheit auf den beidseitigen Wissensaustausch mit der einheimischen Bevölkerung verloren. Viele Missionare meinten dann, dass man im Umgang mit einheimischen Mitarbeitenden auf Autorität setzen und die Übergabe von Leitungsverantwortung an einheimische Kräfte hinauszögern solle. Im Rückblick stellt es sich jedoch in der Regel so dar, dass die europäischen Missionare ihre Wirksamkeit hauptsächlich im Aufbau einer Missions-Infrastruktur entfalten konnten, die technische Errungenschaften wie den Buchdruck benutzte, während in der Verbreitung des christlichen Glaubens unter der einheimischen Bevölkerung sehr häufig größere Fortschritte erst dann gemacht wurden, wenn die Leitungsverantwortung an eine einheimische Elite überging.
Haltung zu einheimischen Kulturen
Im Umgang mit der einheimischen Kultur ihrer Zielländer standen viele protestantische Missionare des 19. Jahrhunderts in einer Spannung zwischen modernem Fortschrittsglauben und romantischer Verklärung von Imaginationen des "Ursprünglichen". In vieler Hinsicht waren sie kompromisslos von der Überlegenheit der westlichen Zivilisation überzeugt, etwa was die in Europa üblichen Formen von schriftlicher Kommunikation, die technischen Errungenschaften von Fortbewegungsmitteln oder die medizinische Versorgung anbelangte. Auch die von ihnen geleitete architektonische Gestaltung von Missionsstationen war oft sehr europäisch geprägt. Bereits bei den von der Herrnhuter Brüdergemeine im 18. Jahrhundert gegründeten Siedlungen ist erkennbar, wie das Vorbild der Idealsiedlung in Herrnhut (Sachsen) immer wieder kopiert wurde.9
Auf der anderen Seite hatten protestantische Missionare oft Anteil an Diskursen der Romantik, in denen manche Entwicklungen der modernen Zivilisation kritisiert und ein Idealbild der Geschichtsverbundenheit oder Naturverbundenheit verklärt wurde. Das Wachstum der Großstädte in europäischen Ländern und die mit der industriellen Revolution verbundenen sozialen Veränderungen hatten für sie oft einen negativen Klang. Dementsprechend finden sich zahlreiche Beispiele für Bestrebungen, die in der subjektiven Wahrnehmung der Missionare als wertvoll erachteten Elemente der einheimischen Gegenwartskultur zu bewahren und ihre überzeitliche Geltung zu beanspruchen. Die bereits genannten wissenschaftlichen Untersuchungen zu kulturellen Zusammenhängen dienten teilweise auch dem Zweck einer Bestandssicherung des Vorhandenen gegenüber dessen Gefährdung durch die westliche Zivilisation. Wichtigster Theoretiker eines solchen Umgangs mit vorgefundenen Kulturen wurde der erste protestantische Inhaber einer Professur für Missionswissenschaft, Gustav Warneck (1834–1910) [].
Haltung zum europäischen Kolonialismus
Das Verhältnis der ideologischen Diskurse in der protestantischen Missionsbewegung während des langen 19. Jahrhunderts zum expandierenden europäischen Kolonialismus ist wesentlich differenzierter, als dies oft gesehen wird.10 Angesichts der formulierten Aufgabe, alle Völker der Welt erreichen zu wollen, war die Zusammenarbeit mit einer Kolonialverwaltung des jeweils eigenen Heimatlandes immer nur eine sehr begrenzt nutzbare Option, und viele Missionare haben den Kolonialismus auch als Hindernis für die Missionsarbeit wahrgenommen, insbesondere dann, wenn er von einem anderen europäischen Land ausging als dem eigenen Heimatland.
Eine positive Würdigung von Kolonialherrschaft durch Missionsvertreter und eine Kooperation von beiden entstand im britischen Zusammenhang prominent dort, wo die britische Antisklavereibewegung koloniales Eingreifen als ein geeignetes Mittel betrachtete, um den Sklavenhandel sowohl innerhalb von Afrika als auch zwischen Afrika und Amerika einzudämmen. Die Besetzung von Lagos durch England im Jahr 1851 ist glaubwürdig motiviert durch die Absicht, den größten Sklavenmarkt an der Westküste Afrikas zu beseitigen. Christianisierte und modernisierte Afrikaner plädierten im Anschluss daran für die Ausweitung der englischen Herrschaft.11 In Gebieten, die von Kriegen zwischen indigenen Bevölkerungsgruppen betroffen waren, förderten Missionare bisweilen die koloniale Inbesitznahme in der Meinung, dadurch eine Befriedung und mehr Sicherheit für die christlichen Gemeinden zu erlangen – so beispielsweise die "Rheinische Mission" in Namibia. Oft spielte auch das Argument, Kolonialherrschaft würde der Ausbreitung von Zivilisation dienen, eine Rolle.
Umgekehrt ließen sich viele Missionare bewusst in Gebiete entsenden, die unter der Kolonialherrschaft des eigenen Heimatlands standen, weil sie der Meinung waren, dass die einheimische Bevölkerung mit den durchaus ambivalent eingeschätzten Seiten der europäischen Zivilisation nur in geeigneter Weise umzugehen lernen würde, wenn man ihr gleichzeitig das Christentum brächte. Andere – beispielsweise Missionare der "Neuendettelsauer Mission" in Papua-Neuguinea – errichteten ihre Missionsstationen bewusst abseits des Wirkungskreises kolonialer Wirtschaftsbetriebe, weil sie deren Einfluss in Form von Alkohol und Zwangsarbeit für so schädlich hielten, dass sie lieber die davon noch unberührten Ethnien rechtzeitig davor schützen wollten. Unter den protestantischen Missionaren gab es neben den Befürwortern von Kolonialherrschaft immer auch deren erbitterte Gegner, die sich gegen die Interessen von Siedlern, Wirtschaftsunternehmen oder Kolonialverwaltungen für die Rechte der indigenen Bevölkerung einsetzten. Über das hinaus, was in der Absicht von Missionaren lag, hat die von ihnen vermittelte Form der Bildung (Missionsschulen) und die Bekanntschaft mit dem Evangelium insbesondere in Afrika südlich der Sahara erheblich dazu beigetragen, das Potenzial der Unabhängigkeitsbewegungen des 20. Jahrhunderts zu stärken.
Transformationen protestantischer Mission im 20. Jahrhundert und ökumenische Bewegung
Ein besonderes Problem der protestantischen Missionsbewegung lag in ihrer Pluralität: Aus der wachsenden Vielfalt protestantischer Denominationen heraus wurde zunächst unkoordiniert eine noch größere Vielzahl von mehr oder weniger konfessionell geprägten Missionsgesellschaften gegründet, die sich dann bei zunehmender Dichte des weltweiten Netzes protestantischer Missionsstationen als Konkurrenz in denselben Gebieten gegenüberstanden. Die Konkurrenz zu katholischen Missionen oder zu etablierten katholischen bzw. orthodoxen Kirchen war teilweise gewollt, soweit man der Meinung war, dass nur die eigene protestantische Interpretation des Evangeliums dazu geeignet sei, den Auftrag Jesu Christi zur weltweiten Verkündigung wirklich zu erfüllen. Die innerprotestantische Konkurrenz wurde jedoch zunehmend als Belastung empfunden und mit der Wahrnehmung verbunden, dass es für die Verbreitung der christlichen Botschaft von Nachteil sei, wenn das europäische und amerikanische Christentum das volle Ausmaß seiner konfessionellen Spaltungen und Streitigkeiten in den Missionsgebieten sichtbar mache. Um dem entgegen zu wirken gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt Bemühungen um eine internationale und interkonfessionelle Koordination der Missionsarbeit. Diese Bemühungen kulminierten in der Weltmissionskonferenz von Edinburgh 1910, die erstmals Vertreter eines breiten Spektrums protestantischer Missionsgesellschaften aus Europa und Nordamerika zusammenführte und die kurz vor dem Ersten Weltkrieg noch sehr geprägt war von der im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelten Geisteshaltung, bei der Verbreitung von Christentum und Zivilisation einseitig Europäer und US-Amerikaner als die Gebenden zu verstehen, alle anderen Völker der Welt als die Empfangenden. Damit verbunden war ein noch ungebrochener Glaube daran, dass die Christianisierung der ganzen Welt machbar sei, wenn man die zur Verfügung stehenden Kräfte nur hinreichend koordinieren würde.
Durch den 1921 gegründeten "Internationalen Missionsrat" wurde die Weltmissionskonferenz im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einer stehenden Einrichtung, jedoch mit einer deutlich veränderten Aufgabenstellung. Beginnend mit den Weltmissionskonferenzen 1928 in Jerusalem und 1938 in Tambaram (Indien) kam zunehmend in den Blick, dass die konfessionellen Spaltungen des europäischen Christentums nur das zweitgrößte Problem für die Einheit des weltweiten Christentums waren – das größte Problem jedoch in der bis dahin völlig einseitigen Beziehungsbeschreibung zwischen den europäischen bzw. amerikanischen Missionsgesellschaften und den von ihnen gegründeten Kirchen in anderen Regionen der Welt bestand, die denselben Eurozentrismen unterlag wie der nun zunehmend in die Kritik geratende europäische Kolonialismus.
Unter anderem aus den damit angestoßenen Impulsen ging die Gründung des "Weltkirchenrats" oder "Ökumenischen Rats der Kirchen" hervor, der auf seiner Gründungsvollversammlung 1948 noch eine überwiegend protestantische Einrichtung war, aber längst nicht mehr ausschließlich eine Einrichtung von Kirchen des Nordens. 1961 wurde der "Internationale Missionsrat" in den "Ökumenischen Rat der Kirchen" integriert.
In den 50er bis 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde das Feld der weltweiten protestantischen Mission völlig neu vermessen: Mission wurde als eine Aufgabe beschrieben, die von allen Kirchen der Welt in allen Regionen der Welt (ausdrücklich einschließlich Europas) zu leisten sei und in der es keine "Einbahnstraßen",12 keine Unterscheidung von gebenden und empfangenden Kirchen mehr geben sollte. Im Prozess der sogenannten "Integration von Kirche und Mission" wurde ein großer Teil der bisher in freier Trägerschaft operierenden europäischen Missionsgesellschaften in kirchliche Werke umgewandelt und Mission damit zur Verantwortung der ganzen Kirche gemacht. Gleichzeitig wurden die bisher einseitigen Beziehungen zwischen den Missionsgesellschaften und den von ihnen gegründeten "Jungen Kirchen" umgewandelt in multilaterale Partnerschaftsbeziehungen zwischen Kirchen in verschiedenen Regionen der Welt. Sehr weitgehend wurde dieses Programm verwirklicht in der "Vereinten Evangelischen Mission – Gemeinschaft von Kirchen in drei Erdteilen", die vor allem aus der "Rheinischen Mission" und den von ihr gegründeten Kirchen hervorgegangen ist. Leitungsstrukturen in der Organisation werden konsequent aus allen Mitgliedskirchen besetzt und auf die Beziehungen der afrikanischen und asiatischen Mitgliedskirchen untereinander wird besonderer Wert gelegt. Die Programmarbeit bezieht sich auch auf Projekte in den deutschen Mitgliedskirchen, die aus den anderen Partnerkirchen personelle Unterstützung und Monitoring durch einen kritischen Blick von außen erhalten.