Die Niederlande im Kontext der europäischen und globalen Geschichte
Das Goldene Zeitalter, Phönix aus der Asche, A Miracle Mirrored oder The Enigma of the Republic – so lauten nur einige Titel und Kapitelüberschriften wichtiger Studien zur Geschichte der Niederlande, die nicht an Superlativen sparen.1 Schon Johan Huizinga (1872–1945) fragte 1932 in seiner Kulturgeschichte der Niederlande, wie es möglich gewesen sei, "daß ein so kleines und ziemlich abgelegenes Gebiet, wie Holland im Europa des 17. Jahrhunderts es war, als Staat, als Handelsmacht und als Quelle der Kultur so sehr im Vordergrund hat stehen können".2 Schon im 17. Jahrhundert wurde diese Entwicklung weit über die Grenzen der Republik hinaus wahrgenommen und bestaunt. So schrieb der Brite William Aglionby (gest. 1705) 1669 im Vorwort seiner Geschichte der Niederlande:
Scarce any Subject occurs more in the learned discourse of ingenious man than that of the marvelous progress of this little state … which has grown to a height infinitely transcending all the ancient Republicks of Greece but not much inferior in some respects even to the greatest Monarchies of these latter Ages.3
Auf der Suche nach Erklärungen für dieses Phänomen verweist Aglionby auf eine Reihe von Gründen, die sich auf die politische Verfassung, die Erfolge im Handel, eine perfekte Infrastruktur aufgrund der vielen Wasserstraßen, Kanäle und des Meeres, die religiöse Gewissensfreiheit, den Wohlstand und den Arbeitseifer beziehen: "[They] are rather given to Trade and getting, and they seem as if they had suck'd in with their milk the insatiable desire of acquiring".4 Sir William Temple (1628–1699), britischer Gesandter in Den Haag in den 1660er Jahren, führte die Erfolge der kleinen Republik in seinem Bestseller Observations upon the United Provinces of the Netherlands auf ähnliche Faktoren zurück und urteilte: Das Land sei nicht reich geworden
by any native commodities, but by force of Industry; by Improvement and Manufacture of all Foreign Growth; by being the general magazine of all Europe, and furnishing all parts with whatever the Market wants or invests; and by their Seamen, being, as they have properly been called, of the World.5
Auch wenn zeitgenössische Wahrnehmungen und Urteile nicht losgelöst von mentalen und intellektuellen Vorprägungen und Einstellungen sowie spezifischen politischen und gesellschaftlichen Konstellationen verstanden werden können, so lassen sich dennoch einige Tendenzen für die Wahrnehmung der Niederlande im 17. Jahrhundert verallgemeinern. Frühneuzeitliche Beobachter aus ganz Europa waren generell beeindruckt von den vielfältigen Neuheiten und Erfindungen in nahezu allen Lebensbereichen und bewunderten technische Innovationen und wirtschaftliche Erfolge ebenso wie Sauberkeit und Ordnung, Kunst und Architektur, Armenfürsorgeund religiöse Vielfalt.6
Nicht selten war diese Bewunderung allerdings durchmischt mit Befremden über Sitten und Bräuche, die den Besuchern nicht vertraut waren und ungewöhnlich, wenn nicht lächerlich oder schlichtweg falsch anmuteten. So beschreibt Aglionby die sprichwörtliche Sauberkeitder Niederländer leicht amüsiert:
The married Women and maids are very fair and chaste. They have a great care of their house, and keep all their Cupboards, Cabinets, even the Floors, extream neat: some of them are so curious, as not to let you come into their rubb'd Rooms, without putting on a pair of Slippers, or making your own Shoes very clean.7
Schließlich konnte sich Bewunderung in das Gegenteil verkehren, wenn etwa die Handelserfolge der Republik der Niederlande in Konkurrenz zu den wirtschaftlichen Ambitionen und politischen Herrschaftsansprüchen Englands traten.8 Ein anonymer Einblattdruck aus London beschimpfte die "Hogg-lander" als "Lusty, Fat, Two Legged Cheese Worms"9 und beschuldigte sie, auf Kosten anderer zu Wohlstand gekommen zu sein; eine Ballade mit dem Titel The Dutch Bribe besang die "ill gotten Wealth" der Niederländer.10 Auch die Handelskonflikte in Asien zwischen der Republik der Niederlande und England beeinflussten die Wahrnehmung der Niederländer durch die Zeitgenossen. Ein englisches Flugblatt warf den Niederländern "the most Villanous and Barbarous Cruelties used on the English Merchants … in the East Indies" vor.11 Obwohl die religiöse Toleranz immer wieder auf Anerkennung stieß, wurde dennoch Kritik an den Folgen der religiösen Vielfalt geübt. So pries ein anonymer Autor in Manier eines Marktschreiers die Religionsvielfalt in den Niederlanden an und zog sie dabei zugleich ins Lächerliche:
If you be unsettled in your Religion, you may here try all, and take at last what you like best; If you fancy none, you have a Pattern to follow of two that would be a Church to themselves: It's the Fair of all the Sects, where all the Pedlars of Religion have leave to vend their Toyes, their Ribbands, and Phanatique Rattles: their Republick is more to them than Heaven; and God may be more safely offended there than the States General.12
Die Verwischung sozialer Grenzen stieß auf Unverständnis, zeitgenössische Beobachter stellten mit Erstaunen fest, dass sich Dienstmägde wie ihre Herrinnen kleiden würden13 und ein Staat ohne Monarchen und klare hierarchische Strukturen schien im Zeitalter absoluter Souveränität und Fürstenherrschaft eine Anomalie. Geringschätzig wurde geurteilt "where every Burger is a King, its fit every Minister should be a Bishop".14 Trotz kritischer Stimmen überwogen allerdings Bewunderung und Sympathie für die junge Republik. Der Franzose Jean-Nicolas Parival (1605–1669), der mehr als vierzig Jahre in den Niederlanden lebte, stand sicher nicht allein mit seiner Einschätzung: "In der Tat, wer Holland nicht gesehen hat, kann sich nicht rühmen, überhaupt etwas gesehen zu haben."15
Aglionby macht in seiner überwiegend positiven Darstellung allerdings noch eine weitere Beobachtung und führt das Ansehen und die Erfolge der Republik der Niederlande im 17. Jahrhundert auf die handels- und migrationsbedingten Verflechtungen der Republik innerhalb Europas und weltweit zurück. Während die Holländer lange als "Block-Heads" und "eaters of Cheese and Milk" verschrien waren und für dumm gehalten wurden, erachtete man sie nun für ebenso feinfühlig und klug wie andere europäische Nationen.16
This I think proceeds from that Commerce they drive through all the world, and from the mixture made amongst them by divers Strangers that have setled in these parts; for above half those that do inhabit the Towns are either Strangers, or descended from them.17
Jüngere Studien haben diese Einschätzung bestätigt.18 Im nordeuropäischen Vergleich verzeichnete die Republik der Niederlande im 17. Jahrhundert die höchste Rate an Immigration – vor allem Calvinisten aus den spanisch dominierten südlichen Niederlanden und sephardische Juden, die sich seit dem späten 16. Jahrhundert in Amsterdam und in der Provinz Holland niederließen, hatten neben Saisonarbeitern aus angrenzenden deutschen Territorien den größten Fremdenanteil am Arbeitsmarkt.19 Innerhalb der Republik der Niederlande wiederum erlebte die Provinz Holland die höchste Zuwanderungsrate und die größte wirtschaftliche und kulturelle Blüte.20 Amsterdam konnte aufgrund der maritimen Lage, der Privilegien und weitreichender Religionsfreiheit für Migranten das größte Bevölkerungswachstum verzeichnen.21 Der englische Botschafter Dudley Carlton, Viscount of Dorchester (1573–1632) hat das sich verändernde Bild der zukünftigen Metropole 1616 treffend beschrieben:
I saw the whole town and observed this difference from Antwerp, that there was a town without people and here a people as it were without a town. Such are the numbers of all nations, of all professions and all religions there assembled, but for one business only, of merchandise.22
Für viele Zeitgenossen spielte die religiöse Toleranz eine wichtige Rolle beim Aufstieg Amsterdams. So bemerkte der Verfasser einer amüsanten englischen Abhandlung über die Niederlande:
they countenance only Calvinisme, but for Trades sake they Tolerate all others, except the Papists, which is the reason why the treasure and stock of most Nations is transported thither, where there is full Liberty of Conscience: you may be what Devil you will there, so you be but peaceable: for Amsterdam is an 'University of all Religions', which grow here confusedly without either Order or Pruning.23
Diese Toleranz wurde auch von Migranten wahrgenommen. Aus der Feder eines der berühmtesten jüdischen Gelehrten Amsterdams, Baruch de Spinoza (1632–1677), stammt diese positive Beurteilung der Religionsfreiheit und ihrer Auswirkungen auf die wirtschaftliche Prosperität:
Die Stadt Amsterdam bietet dafür ein Beispiel. In ihrem prächtigen Gedeihen und in der Bewunderung aller Völker erfährt sie die Früchte dieser Freiheit. In diesem blühenden Staate, in dieser herrlichen Stadt leben alle Menschen, welchem Volke und welcher Sekte sie auch angehören, in der vollkommsten Eintracht. Will man jemandem sein Vermögen anvertrauen, so braucht man nur zu wissen, ob er reich oder arm, ob seine Handlungsweise ehrlich oder unehrlich befunden; um die Religion oder die Sekte kümmert man sich nicht, weil sie beim Richter für die Entscheidung über Recht und Unrecht nicht in Betracht kommt. Eine Sekte mag noch so verhaßt sein, ihre Anhänger werden, sofern sie nur niemanden schädigen, jedem das seine zukommen lassen und anständig leben, durch die öffentliche Autorität und die Hülfe der Behörden geschützt.24
Die Migrationsbewegungen, die sich nicht auf die nördlichen Niederlande beschränkten, waren eng verknüpft mit politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen in Europa, die dazu führten, dass sich Nordeuropa seit dem späten 16. Jahrhundert zu einem der wichtigsten Wirtschaftsräume mit weltweiten Handelskontakten entwickelte und damit die ökonomische Vormachtstellung Südwesteuropas ablöste.25 Die jüngere Forschung hat den Aufstieg der Republik der Niederlande als Ergebnis dieser gesamteuropäischen Prozesse interpretiert und damit die Perspektive auf die Niederlande als Sonderfall und als Miracle relativiert.
Als Teil der "Baltic and North Sea regions" waren die Niederlande bereits vor der Entstehung der Republik verflochten mit einer grenzüberschreitenden ökonomischen Kultur, deren Dynamik manifest war in dem Austausch von Ideen und Wissen sowie
the expansion of economic and social networks, commercial and technical innovation, the mobility of goods, capital and labour force, and even in diplomacy and the mobilization of coercive means.26
Mit dem Fall Antwerpens als Handels- und Wirtschaftszentrum übernahm Amsterdam in kürzester Zeit diese Funktion, allerdings unter neuen Vorzeichen.
To put it baldly, the merchants who flocked to Amsterdam brought capital, expertise, and contacts with them, but they now used these assets differently than before, as they came into direct contact with new resources, institutions, and opportunities.27
Zu den grundlegenden Unterschieden gehörte die dezidiert maritime Ausrichtung Amsterdams, die sich auf die gesamte Republik auswirkte. Als Teil der "Atlantic World"28 und des Asienhandels waren die Niederlande eingebunden in ein enges Netz globaler Handelsbeziehungen. Gestützt auf eine aggressive Handelspolitik sowie Innovationen im Schiffsbau und in der Handelsorganisation drängte die Republik der Niederlande die Vormachtstellung Spaniens und Portugals auf den Weltmeeren an der Wende zum 17. Jahrhundert zurück. Zwischen 1595 und 1601 schickten insgesamt acht Vorcompagnien der Vereenigde Oost-Indische Compagnie (VOC) 65 Schiffe zu den Gewürzinseln (Molucken) im Indischen Ozean. Mit der Gründung der VOC im Jahre 1602 dominierte die Republik den Handelsverkehr zwischen Europa, Indien und Asien im 17. Jahrhundert, bis England als maritime Großmacht zur ernsthaften Konkurrenz wurde, und versorgte die Europäer mit Gewürzen. Der Erfolg gründete sich auf unterschiedliche Faktoren, die sich zum einen auf die Organisation der VOC als kapitalintensive Aktiengesellschaft beziehen, zum anderen auf die Errichtung weit verzweigter Handelsstützpunkte und den Aufbau eines innerasiatischen Handelsnetzwerkes.29 Im Unterschied zum Asienhandel war der Atlantikhandel weniger von staatlich privilegierten Handelskompanien dominiert, sondern lag in den Händen einzelner Unternehmen,30 unter denen Handelsnetzwerken sephardischer Juden eine bedeutende Stellung zukam.31
Die wirtschaftliche Infrastruktur und ein perfekt funktionierendes Informationssystem, die Anfang des 17. Jahrhunderts in Amsterdam entstanden, waren eine entscheidende Voraussetzung für den Aufstieg. Die Gründung der Wechselbank 1609 ermöglichte eine schnelle und sichere Abwicklung bargeldloser Zahlungen, 1612 wurde eine städtische Kammer für Schiffsversicherungen eingerichtet und 1614 entstand die Getreidebörse. Um 1612 gab es bereits 300 spezialisierte und lizenzierte Makler. Sie führten Verzeichnisse über sämtliche Waren, Angebote und Nachfragen sowie Preislisten und koordinierten so gewissermaßen die Handelsgeschäfte inländischer und ausländischer Händler. Seit 1613 erschienen offizielle, abonnierbare, wöchentliche Preislisten.
Diese Handelsverflechtungen mit allen strukturellen Voraussetzungen waren kein "nationales Phänomen", sondern führten vielmehr zu einer kaum gekannten Mobilität von Gütern und vor allem Personen. Die großen Handelskompanien des 17. Jahrhunderts – die Vereinigte Ostindienkompanie der Niederlande und die East India Company Englands – waren mit Blick auf die Stockholder, die Direktoren wie die Schiffsbesatzungen mit dem dazu gehörigen Tross an Ärzten, Geistlichen, Handwerkern, Bäckern, Dolmetschern europäisch, teilweise global zusammengesetzt. Die Schiffsbesatzungen fungierten als kulturelle Mittler und ihre Reiseberichte, Briefe und Bilder thematisieren diese grenzüberschreitende Zusammensetzung und sind zugleich Belege für die Wahrnehmung und Konstruktion der Welt in einem konstitutiven Wechselspiel von Selbst- und Fremdbildern. Besonders anschaulich werden diese Verflechtungsprozesse in den Berichten von Bildungsreisenden sowie von Geschäftsleuten und Arbeitsmigranten. So beschreibt Johann Jacob Saar (1625–1664), deutscher Seefahrer auf einem der Handelsschiffe der niederländischen Vereinigten Ostindienkompanie, die aus vielen Nationalitäten zusammengesetzte Schiffsbesatzung:
Unser Provoß [Aufpasser/Vorgesetzter] auf unserm Schiff war ein Christlich und von vielen Sprachen gebohrner Mohr: aber aus West-Indien / einem Ort / Angola Namens / und der erste / den Ich mein Tag gesehen hatte / gantz schwartz / von kleinen grausen Haaren / grosser breiter Nasen / von zimlichen Lippen / und so roth als Blut / schneeweisen Zähnen … Zu Middelburg war Er zum Christlichen Glauben gebracht / auch daselbst getauft / und mit einer Seeländischen Frauen verheyrathet / mit welcher Er zwey Kinder … Er hat sieben Sprachen reden können … Welche Sprachen Er / durch Sein Reisen hin und wieder an solche Ort / erlernet hatte. Ich habe Mich sonderlich an Ihn gemacht / und Freundschaft gesucht / ein und anders zu erfahren / die Er Mir auch so getreu / so beständig / und redlich erwiesen / als meine rechte Blutverwanten können und mögen.32
Auch wenn in einzelnen wissenschaftlichen Studien an der Sonderstellung der niederländischen Wirtschaft als "the first modern economy" festgehalten wird,33 so hat sich in der Forschung dennoch weitgehend die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich der Aufstieg der Niederlande im 17. Jahrhundert nicht losgelöst von übergreifenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Verflechtungsprozessen erklären lässt.34
Zurückhaltender bei der Revision gängiger Geschichtsbilder sind bislang Studien zu den politischen Strukturen der Republik der Niederlande. Lange dominierte die Interpretation des 19. und frühen 20. Jahrhunderts die Historiographie, die der Republik der Niederlande ähnlich wie dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation eine defizitäre Staatswerdung und konstitutionelle Monstrosität zuschrieb. Diese negative Sicht wurde abgelöst durch eine weitgehend wertfreie Betonung der Andersartigkeit. So wurde die republikanische Verfassung der Niederlande als abseits der politischen Norm Europas beschrieben,35 der Republik eine "conspicuously anomalous position as a mercantile republic squeezed between absolutist monarchies"36 attestiert oder die Republik gar, gemessen an den "standards of the modern state, with its centralized decision making and beaurocratic apparatus" als "political freak" bezeichnet.37 In den Niederlanden war die Staatsbildung nicht charakterisiert von Herrschaftszentrierung mit einem starken Monarchen an der Spitze, Aufbau einer zentralen Bürokratie, Vereinheitlichung des Rechts- und Steuerwesens, sondern fußte vielmehr auf der politischen und rechtlichen Eigenständigkeit der sieben Provinzen und einzelnen Gemeinden, deren politisches Dach die Generalstände mit Sitz in Den Haag bildeten. So wurde die Entstehung der Republik der Niederlande vor diesem Hintergrund als "a contradiction in terms since they had come into being as a nation expressly to avoid becoming a state" umschrieben.38 Erst die Absolutismuskritik der letzten Jahre und die Wiederentdeckung republikanischer Traditionen in der politischen Theorie der Frühen Neuzeit machen es möglich, die politische Verfasstheit der Republik der Niederlande durchaus in dem ideengeschichtlichen Kontext des 17. Jahrhunderts zu verorten und nicht als exotischen Sonderfall zu interpretieren.39 Bei aller Kritik konnten die Zeitgenossen der politischen Verfasstheit der Niederlande durchaus Positives abgewinnen.40
In einer Neubewertung des Staatsbildungsprozesses der Niederlande wurde betont,
the Republic had been a unique combination of old and new: unique, not because similar combinations did not occur elsewhere, but because of the period of history in which it manifested itself.41
Wie der wirtschaftliche und kulturelle Aufstieg der Republik der Niederlande, so ist auch die Staatsbildung, angefangen von der Loslösung aus dem habsburgisch-spanischen Herrschaftsbereich bis zur Errichtung einer Republik ohne Monarchen an der Spitze, eng verflochten mit der europäischen Geschichte. In dem Prozess nationaler Selbstvergewisserung suchte die junge Republik ihre Wurzeln zum einen in den Mythen Batavias, zum anderen entwarf sich die Republik als protestantische, freiheitsliebende Nation in Abgrenzung zum katholischen Spanien, das in Anlehnung an die koloniale "Black Legend" als tyrannisch und brutal im Freiheitskampf der Niederlande porträtiert wurde.42
In den nachfolgenden Abschnitten sollen die hier angedeuteten Verflechtungsprozesse, Bilder und Wahrnehmungen der Republik der Niederlande genauer beleuchtet werden mit Blick auf die Entstehung und die politische Kultur der Republik der Niederlande; Migration und Gesellschaft; Globalisierung und Kommerz und schließlich die Frühaufklärung.
Entstehung und politische Kultur der Republik der Niederlande
Das Kernland der Niederlande bildeten im 16. Jahrhundert die wohlhabenden und bevölkerungsreichen Provinzen Flandern, Brabant, der Hennegau und Artois mit zahlreichen Städten. Im Norden, abgetrennt durch Seen und Flüsse, lagen die Provinzen Friesland, Seeland, Holland und Utrecht; im Osten und Nordosten schlossen sich die dünn besiedelten Provinzen Overijssel, Limburg, Gelderland, Namur, Luxemburg und Groningen an. Hinzu kamen die Stadtstaaten Tournai und Mechelen; begrenzt wurde das Gebiet im Süden durch die Habsburger Besitzungen Franche-Comté und Lothringen. Die Städtelandschaft in den südlichen Niederlanden gehörte am Beginn der Frühen Neuzeit neben Oberitalien zu den wirtschaftlich und kulturell am weitesten entwickelten Gebieten Europas.43 Mit insgesamt 17 Provinzen und einer Gesamtfläche von etwa 90.000 Quadratkilometern waren die Niederlande aufgrund dynastischer Verflechtungen Teil des Habsburgerreiches, bis sich in den Aufständen gegen die Herrschaft und Religionspolitik der spanischen Habsburger der nördliche Teil der Niederlande mit sieben Provinzen abtrennte und mit der Union von Utrecht 1579 die Grundlage der Republik der Niederlande legte.
Die Entstehung der Republik, die hier so geradlinig scheint, war allerdings keinesfalls intendiert. Zunächst war die Union von Utrecht nur ein militärisches Zweckbündnis mit dem Ziel, die spanischen Truppen aus dem Land zu vertreiben. Der politische Antrieb war die weitgehende politische Unabhängigkeit von Spanien. Theoretisch untermauert wurden diese Forderungen mit der monarchomachischen Lehre, das heißt dem Recht auf Widerstand gegen einen tyrannischen Herrscher. Auf dieser Grundlage setzten die Generalstaaten (Ständeversammlung) der sieben Provinzen im Jahre 1581 den spanischen König Philipp II. (1527–1598)[]und mit ihm seinen Generalstatthalter als Herrscher über die nördlichen Niederlande ab. Dieser Schritt markierte die endgültige Trennung zweier politisch, kulturell und konfessionell sehr unterschiedlicher Machtbereiche innerhalb der Niederlande – der südlichen Provinzen unter Führung Brabants und der nördlichen Provinzen unter Führung Hollands – die sich während der Revolte zu zwei rivalisierenden Bündnissen zusammengeschlossen hatten, so dass die Forschung von einer "Holland style revolt" und einer "Brabant style revolt" spricht.44 Das übergeordnete politische Ziel der südlichen Provinzen waren katholische Niederlande mit einer starken ständischen Vertretung unter spanischer Krone. Der Norden dagegen kämpfte unter Führung des Statthalters Prinz Wilhelm von Oranien-Nassau (1533–1584) für einen protestantischen Norden, religiöse Toleranz im überwiegend katholischen Süden, die Absetzung des spanischen Königs und dessen Generalstatthalters, eine konstitutionelle Monarchie mit einer starken politischen Stellung der Generalstaaten und schließlich eine Einheit der Niederlande unter Führung Brabants.45 Der Friede von Gent 1576, dem eine eigenmächtige Einberufung der Generalstände unter Umgehung des Königs vorausgegangen war, sollte mit seinen Forderungen nach Rückkehr der Flüchtlinge, was de facto auf die Anerkennung des reformierten Bekenntnisses hinauslief, und Rückzug der spanischen Truppen hierfür eine Grundlage liefern. Als die Vision so geeinigter Niederlande am Widerstand der spanischen Krone und der Zerstrittenheit der südlichen Provinzen zerfiel, setzte sich Wilhelm von Oranien an die Spitze der rebellierenden nördlichen Provinzen.
Mit der Absetzung des spanischen Königs war allerdings noch nicht die republikanische Struktur der nördlichen Niederlande geboren. Vielmehr begann nun eine intensive Suche nach einem neuen Monarchen, der an der Spitze der sieben vereinigten Provinzen stehen sollte. Die in der Union verbündeten Stände hatten schon 1580 dem Herzog von Anjou, einem Bruder des französischen Königs, die Landesherrschaft angeboten und zugleich eigene weitreichende ständische Mitspracherechte festgeschrieben. Nach dem Tod des Herzogs und der Ermordung Wilhelms von Oranien im Jahr 1584 wurde die Herrschaft zunächst König Heinrich III. von Frankreich (1551–1589), dann Königin Elisabeth I. von England (1533–1603) angetragen, die jedoch beide ablehnten. Elisabeth I. wollte die Konflikte mit Spanien nicht unnötig verschärfen, für Heinrich III. wäre die Herrschaft über die protestantischen Niederlande innenpolitisch problematisch gewesen. Elisabeth empfahl jedoch ihren Günstling Robert Dudley, Earl of Leicester (ca. 1532–1588), als Generalgouverneur der Niederlande und versuchte zugleich, den englischen Einfluss bei der Besetzung zentraler politischer Gremien zu sichern. Der "Staatsrat" als oberstes Organ der Ständeversammlung sollte durch zwei Engländer ergänzt werden. Die englische Krone sicherte sich ein Mitspracherecht bei der Benennung der zukünftigen Stadholders (Repräsentanten der sieben Provinzen). Allerdings hielten sich die Stände nicht an diese Vorgaben und ernannten Moritz von Oranien (1567–1625) zum Nachfolger des ermordeten Wilhelms, ohne die Zustimmung der englischen Krone einzuholen. Schon 1587 endete die Statthalterschaft Leicesters und die Generalstaaten gaben schließlich die Suche nach einem Nachfolger auf. Zu keinem Zeitpunkt wurde die Existenz des neuen Staates ausgerufen, die Republik der Niederlande wurde zwischen 1580 und 1609 einfach zur Realität.
Die politische Grundlage der jungen Republik bildeten die sieben Provinzen, die ihre jeweils eigenen Ständeversammlungen abhielten. Der Großteil der politischen Entscheidungen wurde auf dieser Ebene getroffen. Für außenpolitische Fragen, Landesverteidigung und Militärverwaltung sowie die Verwaltung der noch überwiegend katholischen Generalitätslande, die keine eigenen Ständeversammlungen abhalten durften, waren die Generalstände mit Sitz in Den Haag zuständig. Jede Provinz hatte eine Stimme. Als ausführendes Organ stand an oberster Stelle der Statthalter zusammen mit dem Staatsrat.46 Erst am Ende des 80-jährigen spanisch-niederländischen Kriegs (1568–1648) erfolgte im Westfälischen Frieden die völkerrechtliche Anerkennung der Republik der Niederlande als eigenständiger Staat, 1798 trat die erste Verfassung der Republik in Kraft. Nach einer wechselvollen politischen Geschichte mit einer statthalterlosen Zeit seit 1651, ambitionierten Regenten und der Wiedereinführung der Statthalterschaft im Jahre 1672, wurde die Republik der Niederlande im Jahre 1814 zur konstitutionellen Monarchie und die republikanische Verfassung wurde überarbeitet.
Der Prozess der Republikbildung an der Wende zum 17. Jahrhundert wurde begleitet von einer publizistisch ausgetragenen Selbstvergewisserung über die Legitimität und die kulturellen und historischen Grundlagen politischen Handelns. Damit verbunden ist die in der Forschung kontrovers diskutierte Frage, ob vor der Entstehung der Republik von einem einheitlichen kulturellen Raum der nördlichen und südlichen Niederlande unter spanischer Herrschaft gesprochen werden kann und somit die Teilung künstlich und unnatürlich war, oder ob es bereits gravierende Unterschiede zwischen Nord und Süd gab, die sich schließlich in der Teilung manifestierten.47 Die Übertragung der "Black Legend" auf den spanisch-niederländischen Krieg in Form von Bild- und Schriftpropaganda und die Darstellung spanischer Gewalttaten sollten den Bruch mit Spanien legitimieren. Darüber hinaus versuchten die politischen Protagonisten und Theoretiker der Zeit, die historischen Wurzeln und damit die historische Kontinuität, ja gewissermaßen die Wiedergeburt der jungen Republik sichtbar zu machen. Dabei ging es nicht um eine "Selbsterfindung der Republik", wie argumentiert wurde,48 sondern um das Aufspüren von Kontinuitäten und Verflechtungen.49 Das Ergebnis war die Verabsolutierung des Freiheitsgedankens, der die politische Kultur der Niederlande prägte, die Stilisierung des freiheitsliebenden und heldenhaften Bataver-Fürsten Claudius Civilis (Batavische Rebellion gegen die Römer 69–70 A.D.), der mit seinem Stamm als unmittelbarer Vorfahre gewissermaßen Modell stand für die Tugenden und Eigenschaften der sich so entwerfenden niederländischen Gesellschaft, und schließlich der Calvinismus. In Chroniken, in der Tagespublizistik, in Theaterstücken und Epik wurden zentrale Elemente der batavischen Geschichte in einen quasi proto-nationalen Text gewoben und boten der äußerst heterogenen Gesellschaft der nördlichen Niederlande eine gemeinsame Plattform kultureller Identitätsbildung an. Interessanterweise tauchen hier die Eigenschaften auf, die den Bewohnern der Republik der Niederlande im 17. Jahrhundert von Beobachtern zugeschrieben wurden.50 So wurde aus einer Analyse der einschlägigen Schriften Folgendes geschlossen:
According to this preformation version of national identity, most of the special characteristics by which the Dutch differentiated themselves from other peoples were present in embryonic or incipient form in ancient Batavia.51
Den Charme Batavias machte zudem der geographische Raum aus, der, soweit überhaupt bestimmbar, deutlich über die Grenzen der Republik der Niederlande hinausragte und somit auch den Migranten aus den südlichen Niederlanden ideelle historische Anknüpfungspunkte bot. Dennoch übersieht die Suche nach einem "proto-national text"52 Dissonanzen, die sich aus der Heterogenität und der von Migration geprägten Gesellschaft und Kultur der Republik der Niederlande ergaben und ebenfalls literarisch und publizistisch verarbeitet wurden. Stellvertretend sei hier auf das Sonnett Fürstliche Präsentation der Tiere aus dem Jahre 1617 verwiesen, in dem Joost van den Vondel (1587–1679), selbst Sprössling einer Migrantenfamilie, die von Migration geprägte Situation in den nördlichen Niederlanden umschrieb:
Veel volvkren zijn zoo wilt, zoo woerst en onbesuyst, Dat d'arme vreemdling niet bij haet magh zijn gehuyst. Al hebben zij een land tot haet behoef ghewonnen, Een ander zullen zij het aerdrijck noch misgonnen.53
Neben der Wiederbelebung batavischer Tugenden und der besonderen Rolle von Freiheit und Religion spielte die Bedeutung des Wassers – die ständige Bedrohung durch Wasser und der unermüdliche Kampf gegen das Wasser – eine wichtige Rolle in der Suche nach Identifikationsangeboten, in der sich die heterogene niederländische Gesellschaft wiederfinden konnte. Die Bezwingung des Wassers wurde in unterschiedlichsten literarischen und politischen Texten und Bildern gleichgesetzt mit der Bezwingung äußerer Feinde. Selbst ein kritischer Beobachter der Niederlande wie der Engländer Owen Felltham (1602–1668), der die Niederlande geographisch nicht nur als "general Sea-land" beschreibt, als ein "Aequilibrium" aus "mud and water" und als einen Ort, an dem man ständig Gefahr läuft zu ertrinken, gesteht den Niederländern zu, sie seien "in some sort Gods, for they set bounds to the Ocean and allow it to come and go as they list."54
Auch wenn die Hauptkonfliktlinien in der Entstehungsgeschichte der Republik der Niederlande zwischen Spanien und den nördlichen Provinzen der Niederlande verliefen, so waren andere europäische Staaten und Regionen auf unterschiedliche Art und Weise in die Revolten und die Befreiung der Niederlande aus spanisch-habsburgischer Herrschaft involviert.55 Diese Einbindung reichte von konkreter militärischer Hilfe über propagandistische Unterstützung der rebellierenden Protestanten gegen die "katholische Schreckensherrschaft" der Spanier bis hin zur Flucht, Migration und Re-migration tausender Menschen aus den südlichen Niederlanden in das nördliche Europa. Ein anonymes englisches Flugblatt aus dem Jahre 1672 erinnert trefflich an diese Zusammenhänge und hebt dabei die Verflechtung Englands mit den Geschicken der Niederlande hervor:
Long after, when you were all overwhelmed with the Superstitions of Rome, and began to desire a Reformation and for that were sorely persecuted by the Spanish Inquisition, insomuch that five thousand families left their houses, and fled out of the Countrey; this our Nation received most of them, appointed Churches for them, and allowed them many noble priviledges here. … In the year 1585, when the Spaniard pressed your Countrey very sore on every side, that you began to be in a most desperate condition, England took pity upon them, took them into protection, sent over to their assistance 5000 Foot, and 1000 Horse, lent them great sums of money, obtained great aids for them from the Prince Elector Palatine …56
Aufschlussreich in dieser Darstellung ist, dass England eine aktive Rolle für den wirtschaftlichen Aufstieg der jungen Republik zugeschrieben wird. Nach Darstellung des anonymen Verfassers verlagerten englische Textilhändler den Stapelmarkt für Textilien von Antwerpen nach Delft und legten damit die Grundlage späteren Reichtums:
[England] removed the great Staple of English Clothe from Antwerp to Delft in Holland, which occasioned the great wealth and many fair Buildings there to be seen at this day.57
Diese Unterstützung wurde in Krisenzeiten – etwa angesichts innereuropäischer Kriege und Handelsrivalitäten auf den Weltmeeren – im kollektiven Gedächtnis wach gehalten, um den Niederländern zugleich Undankbarkeit vorzuwerfen:
They forgot all former Kindnesses and Friendships, and began not onely to undermine us treacherously and wickedly to supplant us in our Trade there, but also utterly to exclude us out of those parts.58
Darüber hinaus wurden den Niederlanden nun Gewaltexzesse in den Handelskolonien angekreidet "in a more cruell and horrible manner then ever Turcks used Christians".59
Eine andere Dimension der Verflechtung entstand mit der Krönung Wilhelms III. von Oranien (1650–1702), Statthalter der Niederlande, im Jahre 1689 zum König von England, nachdem in der "Glorious Revolution" der katholische Thronfolger aus der Stuart-Dynastie erfolgreich abgesetzt worden war. Aufgrund dynastischer Verbindungen auf den englischen Thron gekommen, war der "protestantische Champion" aus der Republik der Niederlande zunächst ein politischer Hoffnungsträger für viele Engländer. Allerdings änderte sich das Bild Wilhelms III. in der englischen Publizistik während der 14 Jahre seiner Regentschaft. Er wurde insbesondere von seinen Gegnern als "landes- und dynastiefremder Ausbeuter britischer Finanzen und Soldaten" porträtiert und geriet unter Tyranneiverdacht.60 In den Niederlanden wiederum wurde der Oranier Wilhelm III. als erster Statthalter nach einer statthalterlosen Zeit (1651–1672), die von vielen als "ware vrijheid" stilisiert worden war, ebenfalls kritisch gesehen. Seine Gegner warfen ihm vor, in der Republik wie ein Monarch und in England wie ein Statthalter zu regieren statt umgekehrt. Zugleich allerdings war der quasi-monarchische Herrschaftsanspruch der Oranier Teil der politischen Kultur der Niederlande und die Oranierverehrung war Bestandteil des bürgerlichen Alltags.61
Eine besondere transnationale Breitenwirkung entfaltete das Druckereiwesen und die weitgehende Pressefreiheit in den Niederlanden, die zumindest indirekt auch die politische Kultur in anderen Ländern, insbesondere in England in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, prägen sollte und zugleich eine Grundvoraussetzung für den wirtschaftlichen Aufstieg der Niederlande und Amsterdams als "Information Exchange" bildete.62 Die Pressezensur in England veranlasste viele Autoren, politische und religionspolitisch ausgerichtete Schriften und Pamphlete anonym oder mit erfundenem Namen in Amsterdam zu drucken und nach England bringen zu lassen. Der Drucker und Publizist Matthew Simmons hat in seinen handschriftlich überlieferten Aufzeichnungen "Notes of some thinges I have observed in the Low Countries" die verborgenen Wege unerlaubter Druckereierzeugnisse zwischen der Republik der Niederlande und England festgehalten.63 Diese Austauschprozesse bezogen sich nicht nur auf Artefakte, sondern waren auch das Ergebnis von Menschen in Bewegung.
Migration und Gesellschaft
Sowohl die Zeitgenossen im 17. Jahrhundert als auch die Forschung sind sich darin einig, dass die Migration in die nördlichen Niederlande einen entscheidenden Einfluss auf die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Republik der Niederlande hatte, auch wenn der Anteil der Migranten von der jüngeren Forschung relativiert wird.64 Dieser Einfluss beruht nicht allein auf dem oft hohen wirtschaftlichen Potential der Migranten oder ihrer großen Zahl – in einigen Städten wie etwa in Haarlem oder Leiden führten sie um 1600 zu einer Verdopplung der Einwohnerzahl65 – der Einfluss fußt auch auf der Tatsache, dass sie unternehmerisch sehr gut vernetzt waren und dass die Wohlhabenden unter ihnen einen Lebensstil pflegten, der für die städtischen Mittelschichten der nördlichen Republiken durchaus attraktiv war und zur Nachahmung einlud. Viele der Migranten verfügten über weit verzweigte Netzwerke wirtschaftlicher und familiärer Beziehungen, deren Kern sie von ihren Herkunftsorten in den südlichen Niederlanden, in Portugal und Frankreich nach Nordeuropa und Skandinavien verlagerten und dort neue Netzwerke außerhalb korporativer Handelsstrukturen wie etwa der Hanse oder der großen Handelskompanien etablierten. Zugleich nutzten sie bereits bestehende Wirtschaftskontakte und alte Netzwerke weiter.66 Teilweise in Folge dieses Migrationsverhaltens, teilweise unabhängig davon entstanden Handelshäuser, die transnational agierten und regelrechte Handelsdynastien bildeten.67
In ihrem Selbstverständnis als gesellschaftliche Oberschicht präsentierten die alte und die neue Wirtschaftselite ihren Wohlstand in prunkvoller Architektur, Bücher- und Kunstsammlungen, Mode sowie einer ganzen Reihe von Statussymbolen.68 Aufgrund der Mobilität und vielfältigen Kontakte entwickelten sich viele transnational vernetzte Unternehmer zu "cultural agents" und Trendsettern in Sachen Geschmack für ganz Europa.69 Einer von ihnen war der "Engraver und Art Agent" Michel le Blon (1587–1656), der im Dienste des schwedischen Reichskanzlers Axel Oxenstierna (1583–1654) nicht nur politische Neuigkeiten nach Schweden übermittelte, sondern in dessen Auftrag Gemälde, Bücher, Skulpturen, Münzen, Karten und so weiter nach Schweden sandte und schnell zum begehrten Agenten des schwedischen Hofes wurde.70 Doch auch kleinere Höfe in eher ländlichen Regionen hatten ihre Agenten in Amsterdam. Nicht überraschend, aber noch kaum untersucht sind die Verbindungen der Herrschaft Jever und des Fürstentums Anhalt-Zerbst, der ostfriesischen Fürsten, des Oldenburger Hofes und kleinerer Herrschaften und Herrlichkeiten zu einzelnen Kaufleuten und Agenten, die in der Regel strategisch in Bremen, Hamburg oder Amsterdam ihre Niederlassungen hatten. Ihre Aufgabe war es, die verschiedenen Höfe mit Luxusartikeln zu versorgen, über neueste Trends zu unterrichten und ihre weitreichenden Handelskontakte dafür zu nutzen. Aufschlussreich sind die regelmäßige Korrespondenz und die darin enthaltenen Bestellungen des Fürsten Johann Ludwig II. von Anhalt-Zerbst (zu Jever gehörig) (1688–1746) aus dem Jahr 1744 an den Kaufmann Diederich Garlich in Amsterdam. Garlich nutzte seine vielfältigen Kontakte in Amsterdam und Leiden, um Buchkataloge bereit zu stellen, ausgefallene Ordensbänder nach einem zugesandten Muster anfertigen zu lassen oder einen "Magnet Stein" für den Fürsten zu besorgen, und informierte ihn über "Advertisements" in niederländischen Gazetten.71
Dass die Innovationskraft Amsterdams in Sachen Kunst, Mode und Raritäten kein Geheimnis war, belegen auch zeitgenössische Beobachtungen. Jean le Laboureur (1623–ca. 1675), Sekretär der späteren polnischen Königin Louisa-Maria Gonzaga (1611–1667), führte während ihrer Grand Tour im Jahre 1648 ein Journal, in dem er die kulturelle Anziehungskraft Amsterdams mit den Worten beschrieb: "Le Marché du Monde, e la Boutique des Raretez de tout l'Univers."72
Diese Einschätzung lag nicht nur an dem Handel mit Gütern. Inspiriert durch den Zustrom südniederländischer Maler entfaltete sich in der Republik der Niederlande ein Kunstmarkt, der in Quantität und Qualität alles bisher Dagewesene sprengte.73 Die Produktionszahlen für Malerei wurden für den Zeitraum von 1580 bis 1800 auf acht bis neun Millionen berechnet. Während der Blütezeit der niederländischen Kunst zwischen 1640 und 1659 wurde eine Stückzahl von 1.3 bis 1.4 Millionen und eine Jahresproduktion von 63.000 bis 70.000 Gemälden ermittelt, gefertigt von bis zu 750 Malern.74 Nicht nur die Gemälde waren vielseitig und thematisierten den Alltag, das gesellschaftliche Leben auf allen sozialen Ebenen, Konsum und Luxus, weltweite Handelsverbindungen oder die Repräsentationswünsche der urbanen Oberschicht, auch die Käufer kamen aus nahezu allen sozialen Schichten und aus ganz Europa.75 Kunst stilisierte den Alltag und wurde ein Teil des Alltags. Voller Bewunderung schilderten Reisende die reich mit Gemälden ausgestatteten Häuser auch der Mittelschicht.
Den durchaus repräsentativen Lebensstil vieler Migranten aus den südlichen Niederlanden beobachteten einige Zeitgenossen mit Sorge und spöttischer Herablassung.76 In Theaterstücken und Satiren wurden vor allem die Migranten aus Brabant kritisiert, denen luxuriöser Lebenswandel, Betrug, Scheinheiligkeit und die Nähe zu den verhassten Spaniern vorgeworfen wurde. In Gerbrand Adriaenszoon Brederos (1585–1618) Spanischem Brabanter aus dem Jahre 1610 heißt es an einer Stelle:
So steht es mit dem Brabantischen Volk, bei Männern und bei Frauen gleichermaßen. Sie kommen daher in der Manier des Herrn oder der Dame von Welt. Doch sie haben nicht einen Penny im Geldbeutel.77
Holländische Frauen wurden verspottet, sie würden unter den Einfluss modischer Damen aus Brabant geraten und nun täglich ihre Kleider wechseln.78 Wurde die Holländerin von Migranten als plump und ungehobelt (bot) bezeichnet, so sahen sich die Brabanterinnen dem Vorwurf der Leichtsinnigkeit, Zügellosigkeit und Unberechenbarkeit ausgesetzt.79 Für die Vereinigten Niederlande wurde die These aufgestellt, dass es zu Akkulturationsprozessen zwischen städtischen Oberschichten und Migranten als Kulturträgern der höher entwickelten südlichen Niederlande kam und dies zugleich als Prozess sozialer Abgrenzung und Exklusivität der Oberschichten zu werten sei. Damit richtete sich die weit verbreitete Kritik an den Migranten und ihrem luxuriösem Lebensstil, die in Predigten, in Theaterstücken und Flugblättern geäußert wurde, zugleich gegen die eigene Oberschicht, die im Begriff war, diesen Lebensstil zu kopieren – es entstand so etwas wie eine "kulturelle Alchemie".
Die Frage nach dem tatsächlichen Anteil der Migranten an Kultur und Wirtschaft der Republik der Niederlande ist in der niederländischen Forschung kontrovers diskutiert worden.80 Neuere Studien haben aufgezeigt, dass der wirtschaftliche Erfolg der Niederlande in vielen Bereichen das Ergebnis einer erfolgreichen Zusammenarbeit der alten und der neuen Wirtschaftselite war.81 Dennoch sind gesellschaftliche und auch kulturelle Veränderungen in den nördlichen Niederlanden als Folge von Migration und der damit zusammenhängenden Wahrnehmung verschiedener Lebensstile und Habitus verbunden mit wirtschaftlichen Veränderungen unbestreitbar. Auch der bereits viel zitierte Aglionby spielte als zeitgenössischer Beobachter auf diese gesellschaftlichen Veränderungen an, wenn er darauf verweist, dass aus den holländischen "Cheese eaters" nun Menschen von Welt geworden seien.82 Einen zeitgenössischen Einblick in den Lebensstil wohlhabender Kaufleute und Unternehmer in der Republik der Niederlande bietet das Itinerar des Pfälzer Kanzleidirektors Freiherr Christian Knorr von Rosenroth (1636–1689) aus dem 17. Jahrhundert, der nahezu alle Kabinette und Privathäuser wohlhabender Unternehmer in Amsterdam besuchte, Inventare anlegte und detailliert die Sammlungen beschrieb.83
Neben reichen Kaufleuten, großen Reedern, Unternehmern und hohen Amtsträgern, dem sogenannten bürgerlichen Patriziat, gab es eine relativ breite urbane Mittelschicht aus Pfarrern, Lehrern, Ärzten, städtischen Amtsträgern, Handwerksmeistern, Schiffern und größeren Händlern. Sie profitierten je nach Provinz in unterschiedlichem Maß von dem wirtschaftlichen Aufstieg der Niederlande und waren Teil einer wachsenden Konsum- und Bildungsgesellschaft.84 Welche Dynamik das Streben nach Wohlstand und Exklusivität im Stadtbürgertum erzeugen konnte, wird deutlich in der "Tulipmania" des frühen 17. Jahrhunderts.85 Nachdem Tulpen Mitte des 16. Jahrhundert aus dem Osmanischen Reich in die Niederlande eingeführt und dort erfolgreich gepflanzt und in unzähligen Varianten weiter gezüchtet worden waren, entwickelte sich die Blume aufgrund ihrer Seltenheit zu einem begehrten Statussymbol, das in den 1630er Jahren eine regelrechte Tulpenmanie auslöste. Es entstand ein schwunghafter Aktien- und Tulpenhandelund die Nachfrage ließ die Preise ins Unermessliche schießen. 1637 schließlich platzte die Spekulationsblase und löste eine der ersten großen Finanz- und Wirtschaftskrisen der Neuzeit aus.
Die Schicht kleinerer Beamter, Schreiber, Handwerker, Ladenbesitzer, Schiffer und Selbständiger sowie Lohnarbeiter, Seeleute, Soldaten und verschiedener Handarbeiter nahm trotz einer elementaren Bildungeher geringfügig an dem Aufschwung teil. Die unterste gesellschaftliche Schicht bildeten Bettler, Invaliden und Wanderarbeiter.86 Nahezu 50 Prozent der Bevölkerung lebte im 17. Jahrhundert bereits in den Städten, nur etwa ein Drittel lebte auf dem Lande.
Der Adel, der mit den Regenten an der Spitze der Gesellschaftspyramide stand, machte zahlenmäßig einen kleinen Prozentsatz aus, der sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts nicht zuletzt aufgrund fehlender Nobilitierungen weiter verringerte. Zu den bedeutenden Adelsgeschlechtern des 17. Jahrhunderts gehörten die Wassenaers van Duvenvoirde, die Brederodes, van Ulrum und van der Myle. Sie waren überwiegend Großgrundbesitzer und konnten ihren Status vor allem abseits der großen urbanen Zentren in den Provinzen Gelderland und Overijssel behaupten, wo sie weiter feudale Privilegien genossen und teilweise bis zu einem Drittel des Landes besaßen.87 Auch die Landbevölkerung war in sich differenziert und umfasste einfache Tagelöhner aber auch Großbauern, die aufgrund bäuerlichen Besitzrechts an Wohlstand und gesellschaftlichem und politischem Status durchaus mit dem Adel konkurrieren konnten.88
Religion, Bildung und Wissenschaft
Ein bereits im 17. Jahrhundert breit diskutiertes Phänomen war die religiöse Pluralität, die die Zeitgenossen faszinierte und zugleich irritierte – "truth can be hardly distinguished from falsehood nor Christ from the Devil".89 In der Geschichtsschreibung werden die Niederlande traditionell als "a prototypical society of plural worlds, of confessional coexistence, and of religious toleration" dargestellt.90 Die rechtliche Grundlage dieser Pluralität war die Religionsfreiheit nach Artikel 13 der Union von Utrecht (1579), die jegliche Zwangszugehörigkeit zu einer Konfession untersagte, was auch die reformierte Kirche als offizielle Kirche mit einschloss. Allerdings erstreckte sich diese Religionsfreiheit nur auf die Ausübung des Glaubens im Privaten, der öffentliche Raum war dem Calvinismus vorbehalten. Die religiöse Pluralität einzelner Städte und Provinzen hatte neben dieser Rechtsgrundlage verschiedene Ursachen. Sie war zum einen das Ergebnis von Migration, zum anderen die Folge religionspolitischer und gesellschaftlicher Veränderungen und Konflikte seit der Reformation. Religiöse Privilegien zusammen mit finanziellen Vergünstigungen gehörten zu den grundlegenden Strategien niederländischer Städte im Werben um gut ausgebildete Migranten. Haarlem beispielsweise entsandte nach der Niederlage gegen Spanien 1573 gezielt Agenten in die südlichen Niederlande und warb mit Niederlassungsprämien, Startkapital und religiösen Privilegien vor allem Weber, aber auch andere Berufsgruppen an. 1622 war die Bevölkerungszahl von 14.000 (1570) auf 39.000 angewachsen.91 Anfang des 17. Jahrhunderts gehörten 20 Prozent der Bevölkerung den Reformierten an, 12 Prozent waren katholisch, 14 Prozent gehörten zu der Glaubensgemeinschaft der Mennoniten und 2 Prozent waren lutherisch.92 Die übrige Bevölkerung war unentschieden oder gehörte zu den sogenannten Anhängern der reformierten Kirche. Sie nahmen am Kirchenleben teil und besuchten die Gottesdienste, waren aber offiziell nicht als Gemeindeglieder bestätigt, was sie vom Abendmahl und von der Kirchenzucht ausschloss.93
Die konfessionelle Topographie der Republik der Niederlande im 17. Jahrhundert zeigt ein sehr ungleichgewichtiges Bild der großen Konfessionen und einzelner Glaubensgemeinschaften.94 Auch lässt sich die konfessionelle Zugehörigkeit weder sozialen Schichten oder Gender noch Berufsgruppen eindeutig zuordnen. In allen sieben Provinzen der Republik sowie in den Generalstaaten war der Calvinismus, in sich zerstritten zwischen Remonstranten und Kontraremonstranten, als offizielle Religion eingeführt, ohne dass sich eine Staatskirche mit Konfessionszwang herausbildete. Daneben wurden Katholiken, Lutheraner, Mennoniten und Juden geduldet, allerdings war ihnen die öffentliche Ausübung ihres Bekenntnisses und die Übernahme öffentlicher Ämter versagt.95 Zahlenmäßig gewann die reformierte Kirche erst im frühen 18. Jahrhundert die Oberhand, die anderen Konfessionen konnten sich aber trotz Restriktionen zunehmend institutionalisieren.
Als "public church" nahm die reformierte Kirche in den Niederlanden eine interessante Stellung innerhalb des religiösen und weltlichen Lebens ein. Reformierte Rituale und Zeremonien wurden in den öffentlichen Raum übertragen und bildeten häufig den Rahmen politischer Ereignisse und den Wertekodex gesellschaftlichen Zusammenlebens, "the religious design of civic life."96 Dennoch vollzog sich eine Konfessionalisierung von Gesellschaft und öffentlichem Raum sehr zögerlich. Der Alltag religiösen Zusammenlebens war weniger durch konfessionelle Grenzen oder klare konfessionelle Zugehörigkeiten geprägt, sondern vielmehr durch die Wahrnehmung und Erfahrung religiöser Pluralität.97 Darüber hinaus hat die jüngere Forschung vielfache Formen religiöser Dissimulation wie auch Unsicherheiten bezogen auf die eigene konfessionelle oder religiöse Zugehörigkeit beobachtet. Fallstudien haben gezeigt, dass die Formen religiöser Koexistenz in der alltäglichen Begegnung immer wieder neu ausgehandelt werden mussten.98 Diese neueren Forschungsergebnisse haben dazu geführt, dass auch die Frage nach dem Verhältnis von Gesellschaft, Kultur und Religion neu gestellt wurde. Lässt sich für die Republik der Niederlande im 17. Jahrhundert ein spezifisch calvinistischer Charakter ausmachen?99 Es wurde aufgezeigt, dass bestimmte calvinistische Besonderheiten von anderen Konfessionen und Glaubensgemeinschaften adaptiert, dekonfessionalisiert und zu einer Konvention ohne religiöse Grundierung wurden.
Although the Calvinist Church was an integral part of the Dutch Republic's political and social identity, yet the Dutch civic community and its culture was at the same time broader and different.100
Auch das Schulwesen war von dieser religiösen und kulturellen Vielfalt geprägt. Erst nach der Dordrechter Synode 1619 wurde eine straffe reformierte Schulaufsicht landesweit eingeführt und die Voraussetzung für den Schuldienst war ein klares Bekenntnis zu den "Grundlagen der Einigkeit".101 Die Durchsetzung dieser Vorgaben stieß allerdings vielerorts auf Widerstand und wurde insbesondere durch das Privatschulwesen, das von den Familien finanziert wurde und häufig konfessionell ausgerichtet war, unterlaufen. Hinzu kamen französische Schulen, die im 16. Jahrhundert zunächst für Kaufmannssöhne gegründet worden waren und sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts durch Migration aus den südlichen Niederlanden und Frankreich weiter ausbreiteten. Wie auch in anderen Ländern Europas waren das Ausbildungsniveau der Lehrer und das eher geringe Gehalt, das einen Zuverdienst notwendig machte, ein Problem. Diesem Missstand wurde unter anderem mit der Einstellung von gut ausgebildeten Migranten begegnet, die in einigen Städten über die Hälfte des Lehrpersonals ausmachten.102
Neben den kirchlichen und privaten Lehrplänen entstanden Lehrwerke, die auf die Interessen des Stadtbürgertums und die Bedürfnisse bestimmter Berufsgruppen zugeschnitten wurden. Zu nennen sind hier insbesondere Lehrbücher für Fremdsprachen etwa für Englisch, Deutsch, Niederländisch oder Spanisch, die mit der wachsenden Bedeutung der Volkssprachen seit dem Spätmittelalter verfasst wurden.103 Ihre Bedeutung für kulturelle Transferprozesse ist erst jüngst von der Forschung betont worden.104 Verfasst wurden diese Fremdsprachenbücher für den Hof, für Kanzleien, für die bildungsinteressierte urbane Mittel- und Oberschicht, insbesondere aber für Diplomaten, Kaufleute und Unternehmer, die transnational agierten und sich polyglott verständigen mussten. Im 17. Jahrhundert wurde eine Reihe von englisch-niederländischen Lehrbüchern verfasst, die auf die Relevanz der wechselseitigen Sprachkompetenz schließen lassen. In einzelnen Lehrwerken finden sich Passagen zum Schulalltag, die Hinweise geben auf das Erlernen und Einüben von Englisch und Französisch neben dem obligatorischen Latein. In den häufig dialogisch angelegten Lehrwerken sind Gespräche zwischen Kaufleuten unterschiedlicher Nationalität enthalten, die zugleich bestimmte kulturelle Eigenheiten sowie unternehmerisches Wissen transportierten. In der Regel waren diese fremdsprachigen Lehrwerke zweisprachig angelegt. Das in Amsterdam 1646 erschienene Lehrwerk Den Engelschen School-Meester – The English Schole-Master richtet sich an englische und niederländische Leser.105 Das Buch beinhaltet einen ausführlichen Grammatikteil mit phonetischen Hinweisen, zweisprachigen Übungstexten aus der Kirchengeschichte und der Bibel, Sprichwörter und Benimmregeln und schließlich einen Abschnitt mit "Dialogues and ordinary discourses among men – T'samen-sprekingen en gemeyne coutingen onder de menchen". Darunter finden sich Dialoge zu so unterschiedlichen Themen wie "The diligence of a learned father in teaching his children at home" (mit Angaben zum Schul- und Familienalltag), "A meal of ten persons" (mit umfangreichen Einkäufen, Decken des Tisches, Empfang der Gäste und so weiter) oder "How to learne to buy and sell", "How to demand a debt", "The forme of writing letters, and making obligations, acquitances, and other such like things" und schließlich "One friend counseleth another howe to proceed wel in merchandizing which he has newly begun". Neben dem sich ausbreitenden Unterrichtswesen wurden Universitäten und verschiedene Lehr- und Forschungseinrichtungen gegründet, die im Interesse der Bürger stehen und der Pflege der Freiheit dienen sollten.
Die Universitäten in der Republik der Niederlande prägten das geistige Leben in den Niederlanden und ganz Europa. Noch während des Aufstandes gegen die spanische Herrschaft wurde die erste Universität in Leiden 1575 auf Initiative Wilhelms von Oranien "as an intellectual bulwark against tyranny and religious oppression" durch die Provinzialstände gegründet.106 In seinem Aufruf an die Stände formulierte er die Ziele der Universität und betonte ihre Bedeutung für die freien Künste und Wissenschaften sowie für die theologische Wahrheitsfindung.107 Im Laufe des 17. Jahrhunderts folgten weitere Universitätsgründungen – Franeker 1585, Groningen 1614 und Utrecht 1636. Daneben entstanden eine Reihe sogenannter Illustre Scholen oder Athenaea, unter anderem in Amsterdam, in Utrecht, in Dordrecht, in Middelburg und in Rotterdam, die nicht alle Fakultäten beherbergten und nicht über das Promotionsrecht verfügten. Einige dieser Schulen wurden bereits wenige Jahre später, wie im Fall Utrechts, in eine Universität umgewandelt. Schließlich gab es ein weit verzweigtes Netz von Seminaren, öffentlichen und privaten Institutionen für Theologie, Recht oder Medizin und Gelehrtenkreise, die das Wissen und geistige Leben weit über die Universitäten hinaus in die Gesellschaft hinein trugen. Insbesondere Leiden genoss einen weit über die Grenzen hinaus gehenden Ruf als Ort gelehrter Dispute und hervorragender Ausbildung. Eine besondere Rolle in dieser Bildungslandschaft nahm das Athenaeum Illustre in Amsterdam ein. Diese Schola verschrieb sich nicht der Stärkung des Calvinismus, stattdessen gehörten zu ihrem Fächerkanon Philosophie, Geschichte, Mathematik und Astronomie, Jurisprudenz sowie orientalische Sprachen. Erst später wurde auch Medizin gelehrt, wobei an eine lange bestehende Tradition anatomischer Forschung, im 17. Jahrhundert verbunden mit dem Namen Nicolaas Tulp (1593–1674)[], angeknüpft werden konnte.
Die besondere Zielsetzung der Amsterdamer Gründung und das Interesse, in die Gesellschaft hinein zu wirken, werden in der Antrittsvorlesung des Caspar Barleus (1584–1648) deutlich. Der ursprünglich aus Leiden stammende Gelehrte betitelte seine öffentliche Vorlesung Der gebildete Kaufmann. Über die Verbindung von Handel und Philosophie und verfolgte damit den Wunsch, den ansässigen Kaufleuten die Liebe für die Philosophie nahe zu bringen.108 Dass große Unternehmer und Kaufleute aktiv am geistigen und kulturellen Leben ihrer Zeit teilnahmen, wurde bereits erwähnt und findet in dieser direkten Ansprache noch einmal einen besonderen Ausdruck.
Insgesamt lässt sich für das 17. Jahrhundert auch unter Studierenden eine relativ hohe Mobilität innerhalb Europas nachweisen, von der auch die Republik der Niederlande profitierte. Die sogenannte peregrinatio academica diente der Bildung des Menschen und der Mehrung des Wissens und wurde allseits gefördert. Von besonderer Bedeutung war der direkte Dialog mit berühmten Gelehrten und junge Wissenschaftler begaben sich mit Empfehlungsschreiben auf den Weg.
Bei dem Versuch, die wissenschaftlichen Errungenschaften der Niederlande und ihre europäische Dimension zu skizzieren, sind neben der europäischen Zusammensetzung der Universitäten und Gelehrtenzirkel Errungenschaften unter anderem in der Kartographie, in der Medizin und in den Naturwissenschaften zu nennen. So wurde aufgezeigt, dass die wissenschaftlichen Erfolge in Medizin und den Naturwissenschaften Mitte des 17. Jahrhunderts untrennbar mit der weltweiten Verflechtung der Niederlande insbesondere nach Asien zusammenhingen und welche Rolle das Wechselspiel von Materialität, geistiger Durchdringung der Wirklichkeit und globalem Informationsaustausch spielte. Damit wurde das Augenmerk von einer an universitärer Forschung orientierten Auseinandersetzung mit Wissenschaft hin auf ein globales Netzwerk gelenkt und eine Verbindung zwischen Wissen und "erster" Globalisierung hergestellt.
The economic transformations of the first age of global commerce placed a high value on careful descriptive information about objects [which] shaped priorities for knowing about nature.109
An der Reise des Arztes Jacobus Bontius (1592–1631) nach Indien etwa lässt sich zeigen, wie neues Wissen gesammelt, verändert und in einem weltweiten Informationsnetz ausgetauscht wurde.110 Die offene Diskussionskultur, die Grundgedanken religiöser Toleranz und nicht zuletzt die Einbindung der Wissenschaft in die globale Vernetzung der Niederlande haben dazu geführt, dass von den Niederlanden wichtige Impulse der Frühaufklärung ausgingen.111