Amerikanisierung als komplexer Transferprozess
Dass Amerikanisierung in der älteren Literatur in aller Regel als "one-way street from a western direction to the east" gilt, ist zu Recht häufig kritisiert worden.1 Angesichts der kontinuierlich geäußerten Skepsis bezüglich der Zulässigkeit des Begriffs haben zahlreiche Forschungsbeiträge die Vorstellung revidiert, Amerikanisierung bedeute eine sukzessive und kompromisslose Angleichung europäischer Gesellschaften an das zivilisatorische Modell der USA. Amerikanisierung muss vielmehr als komplexer Transferprozess gesehen werden, der keineswegs für eine direkte und lineare Übernahme im Sinne einer Kolonisierung europäischer Lebenswelten durch die USA steht. Vielmehr zeigen empirische Untersuchungen die Amerikanisierung als einen höchst selektiven Prozess der Aneignung von Institutionen, Werten, Gebräuchen und Verfahrensformen, auch von Techniken, Produkten, Bildern und Symbolen. Dieser geht mit einer aktiven Auswahl einher, mit Akzeptanz, Adaption und auch mit Ablehnung. Als wissenschaftlicher terminus technicus erweist sich Amerikanisierung daher dann als sinnvoll, wenn er einen Entscheidungsprozess seitens der Rezipienten mit einschließt. Dies lässt sich anhand von Fallstudien exemplarisch veranschaulichen.2
Der Aufstieg des amerikanischen Kapitalismus seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und sein Einfluss auf die Produktions- und Konsumtionsregime in Europa
"Unser europäisches Leben gewinnt immer mehr einen Zug ins Amerikanische", so fasste der deutsche Ingenieur Gustav W. Meyer (1873–?) im Jahr 1920 seine "kritischen Beobachtungen und Betrachtungen" über die "Amerikanisierung Europas" zusammen.3 Zu dieser Zeit war der Begriff der Amerikanisierung aus den politischen und intellektuellen Diskursen der europäischen und vor allem auch der deutschen Öffentlichkeit bereits kaum mehr wegzudenken. Die USA hatten sich im Ersten Weltkrieg als Weltmacht profiliert und sollten im Verlauf der 1920er Jahre durch ihr wirtschaftliches Engagement in Form von Krediten und Direktinvestitionen verstärkt auch in Europa Einfluss gewinnen.4 Wie Gustav Meyer erkannten viele Zeitgenossen in den Jahrzehnten zwischen den Weltkriegen, dass an Amerika kein Weg mehr vorbei führte.
Dabei war der wirtschaftliche Aufstieg der USA für Unternehmer, Ingenieure und Wissenschaftler bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem unumstößlichen Faktum geworden, als etwa die Weltausstellungen in Philadelphia 1876, Chicago 1893 und vor allem in Paris im Jahr 1900 den Europäern einen Eindruck von der rasanten technologischen Entwicklung jenseits des Atlantik lieferten.5 Fortan strömten kontinuierlich zahlreiche Besucher in die Industriezentren von Ohio, Michigan und Pennsylvania, in denen die neuesten Produktionstechnologien sowie eine rationalisierte Arbeitsorganisation besichtigt werden konnten. Diese charakterisierten seither die Wirtschaft der USA in den Augen der Europäer, ohne dass letztere indessen eine lineare Anpassung europäischer Verhältnisse an das amerikanische Vorbild anstrebten.6
Das erscheint wenig verwunderlich, denn schließlich hatten die Vereinigten Staaten noch bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als ein primitives Wirtschafts- und Gesellschaftssystem gegolten. Doch die überdurchschnittlich schnell zunehmende Produktivität und ein damit verbundener rapide steigender Lebensstandard schufen das geflügelte Wort von einem "American miracle",7 als dessen Schlüssel das American System of Manufacturing (AMS) und die damit in Verbindung stehenden Economies of Scale galten. Angesichts der gegebenen natürlichen Ressourcen bei einem spürbaren Mangel an Arbeitskräften wurden in den USA noch mehr als in den europäischen Staaten frühzeitig rationelle Produktions- und Organisationsmethoden notwendig, wie sie z.B. Frederick Winslow Taylor (1856–1915)[] oder Henry Ford (1864–1947)[] konzipierten. Amerikanische Hersteller konzentrierten sich darum vielfach darauf, Güter in großen Mengen auf der Grundlage standardisierter Bauteile mit möglichst wenig manpower zu produzieren. Vor allem die Massenproduktion von Waffen und Landmaschinen wie auch von Näh- und Büromaschinen bildete das Aushängeschild des amerikanischen Produktionsregimes des mass manufacturing.8
Rationalisierung und Produktivität avancierten somit aus wirtschaftlich-technologischer Sicht zu den Kernelementen einer "American ideology"9 und zogen eine spezifische, auf Massenmärkte abgestimmte Absatzpolitik nach sich.10 Märkte wurden systematisch mit Techniken der Marktforschung und Absatzwerbung expandiert. Gustav Meyer beschreibt 1920 die "großzügige Propaganda" amerikanischer Anbieter, die sich eklatant etwa von den deutschen Werbestrategien unterscheide. Sie beschränke sich nicht "wie bei uns […] auf Erteilung von Drucksachen und Reklame in Form von Zeitungsinseraten", sondern gebrauche "viel wirksamere Mittel" wie z.B. Gratis-Proben, Zugaben, Installationen und Kinospots.11 Um den Absatz zu rationalisieren und auch große Distanzen zu überwinden, entwickelten sich zudem im ausgehenden 19. Jahrhundert spezielle Handelsformen wie der Versandhandel bei Sears, Roebuck & Co.; der Filialhandel, wie ihn etwa die 1859 gegründete Great Atlantic & Pacific Tea Company (A&P) betrieb; oder die Selbstbedienungsläden, die sich in Europa erst im Laufe des 20. Jahrhunderts verbreiteten.
Es war diese Kombination aus Produktivität, Massenwohlstand und Konsumkultur, die die USA zum "irresistible empire" des 20. Jahrhunderts machte.12 Ob sie zugleich auch zu einem "seedbed for Americanization" wurde, sollte indessen am Einzelfall geprüft werden.13 Neben Großbritannien schien gerade das Deutsche Reich unter den europäischen Staaten besondere Affinitäten zu den USA aufzuweisen. Als industrieller Nachzüglerstaat erlebte Deutschland seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert nicht nur eine vergleichbar rapide wirtschaftliche Entwicklung wie die USA, sondern nahm zudem durch die engen (kapital-)wirtschaftlichen bzw. (militär-)politischen Beziehungen zu den USA nach dem Ersten bzw. Zweiten Weltkrieg eine Sonderrolle unter den europäischen Nachbarn ein. Dennoch blieb das eigenständige Produktionsregime der spezialisierten Qualitätsproduktion erhalten, das als Alternative zum amerikanischen Produktionsmodell bezeichnet worden ist.14
Amerikanisierungsdiskurse und Amerikanisierungswellen
Die europäische Auseinandersetzung mit dem Wirtschaftsmodell Amerikas begann somit nicht erst nach dem Ersten Weltkrieg, sondern lässt sich bis in das ausgehende 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Im Hinblick auf seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit avancierte das "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" spätestens im frühen 20. Jahrhundert zu einem Modell für die Industriestaaten des Westens,15 obwohl es zugleich im wirtschaftlichen Kontext immer ein Kulminationspunkt von Überfremdungsängsten und Anti-Amerika-Polemik blieb,16 die mehr über die Eigenwahrnehmungen, Erwartungen und Ängste der Europäer aussagten als über die tatsächlichen amerikanischen Einflüsse in Europa.
Mit Blick auf diese Diskurse lassen sich verschiedene "Amerikanisierungswellen" klassifizieren.17 Nach dem "Auftakt" im ausgehenden 19. Jahrhundert fällt "the first wave of Americanization" in die Zeit der 1920er Jahre. Amerikanisierung kann hier vor allem als Rationalisierungsäquivalent angesehen werden. Die davon erfassten Bereiche der Produktion und Organisation wurden so die Grundlage für die Errichtung moderner Produktions- und Konsumtionsregime, die in Europa allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg Einzug hielten. Daher lässt sich eine weitere Welle der Amerikanisierung in den 1950er und 1960er Jahren benennen, die etwa im Hinblick auf den Transfer von Management-Know-how oder einer amerikanischen Wettbewerbskultur als Wegbereiterin der Globalisierung im späten 20. Jahrhundert gelten kann.
Amerikanisierung als "Rationalisierungsäquivalent" nach dem Ersten Weltkrieg
Während der "Inkubationsphase" der großen europäischen Amerikadebatte vor dem Ersten Weltkrieg wurde die Amerikanisierung im Sinne eines direkten Transfers amerikanischer Massenkultur oder Produktionsmethoden in die Alte Welt nur gelegentlich thematisiert. Dies änderte sich jedoch nach dem Ersten Weltkrieg, denn die "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts stürzte die europäische Kultur in eine tiefe Krise und veränderte auch erheblich das Selbstverständnis der USA. Der Krieg bewirkte gravierende Verschiebungen im internationalen Staatengefüge und läutete somit erst das "American Century" ein.18 Diese neue Rolle der USA spiegelte sich unter anderem in ihrem enormen wirtschaftlichen Potenzial und neuen Interessen wider, die in den 1920er Jahren zu einem erheblichen Kapitaltransfer und wirtschaftlichen Aktivitäten in den europäischen Staaten führten. So betrug die Gesamtsumme amerikanischer Direktinvestitionen in Europa im Jahr 1930 rund 1,35 Milliarden US-Dollar. Davon entfielen 485 Millionen auf Großbritannien, gefolgt von Deutschland mit 216,5 Millionen USD an zweiter Stelle vor Frankreich mit 145 Millionen USD und Italien mit 113 Millionen USD.19
Eine "industrial Americanization of Europe" findet daher bereits in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg statt, wobei
the type of industry which has developed in the US differs from that in Europe, in its emphasis on standardization, mass or serial production, time studies, technical division of labour, advertising, and […] relatively high wages.20
De facto eröffnete das Engagement amerikanischer Firmen in Europa einheimischen Firmen zunächst in einem überschaubaren Maße neue Produktions-, Absatz- und Wettbewerbspraktiken. Vor allem bei solchen europäischen Unternehmen fiel der American gospel of productivity auf fruchtbaren Boden, die die europäische Wirtschaft modernisieren und revitalisieren wollten. Vielfach waren dies liberale Unternehmer der sogenannten neuen Industrien wie der Elektro- und Chemieindustrie oder des Leichtmaschinenbaus, die sich neuen Technologien gegenüber aufgeschlossen zeigten oder die unter dem Druck amerikanischer Mitbewerber deren Wettbewerbsmethoden adaptierten. Dies gilt auch für Firmen der Schweizer Uhrenindustrie oder der europäischen Schuh- und Fahrradindustrie, die ihre Produktionseinrichtungen frühzeitig standardisierten und mechanisierten.21 Firmen wie der Schweizer Uhrenhersteller Longines, der französische Automobilhersteller Renault oder die Schuhhersteller Bally und Bata führten in den 1920er Jahren Methoden der Standardisierung und Fließbandfertigung in sogenannten "amerikanischen Sälen" ein.22
Zudem hatten in der deutschen Maschinen- und Elektroindustrie tayloristische Arbeitsmethoden bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Beachtung gefunden. Der Berliner Unternehmer Ludwig Loewe (1837–1886) z.B. hatte auf Reisen in die USA intensiv die dortigen Produktionsverhältnisse studiert und wandte sie in seinem 1886 gegründeten Maschinenbauunternehmen, der Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken AG, an. "Die Idee, die das Fundament unserer Unternehmung bildet […], haben wir in Amerika in großem Ausmaß vorgefunden". Um einen optimalen Transfer zu gewährleisten, stellte Loewe sogar amerikanische Ingenieure ein und schickte seine Angestellten auf Studienreise in die USA. Loewe baute sein Unternehmen von Grund auf nach amerikanischen Maßstäben auf. Es hätte sich als ungleich schwieriger erwiesen, eine etablierte Firma zu amerikanisieren.23
Im Gegensatz zu Loewe lehnten die meisten europäischen Hersteller eine zu weitgehende Standardisierung ihrer Produkte ab, um weiterhin dem individuellen Geschmack der Kunden gerecht werden zu können. Schon aus diesem Grunde war sowohl in der Schweiz und in Frankreich als auch im Deutschen Reich offenkundig, dass man in Europa "nie so weit" werde "gehen können wie die Amerikaner".24 Im Gegensatz zu den amerikanischen und auch französischen Automobilherstellern hielten so z.B. deutsche Fahrzeugbauer wie Daimler und Benz an der kapitalintensiven Einzelfertigung fest. Ihren traditionellen Qualitätsüberzeugungen gemäß vertraten sie die Ansicht, dass
jede Automobilfabrik, welche die Handarbeit vernachlässigt, wie es die Amerikaner machen, […] sich selbst dadurch am meisten [schädige], denn gerade durch die notwendige Handarbeit [...] ist die Firma in der Lage, auch die moralische Garantie für ihre Fabrikate zu übernehmen.25
Erst nach dem Ersten Weltkrieg implementierte Opel 1924 als erste Firma die fordistische Fertigung im deutschen Fahrzeugbau, was das Unternehmen wenige Jahre später zu einem attraktiven Übernahmekandidaten für General Motors machte.26
In Einzelfällen hatten die expansiven amerikanischen Produktionsmodelle bereits Konsequenzen, auch für die Organisationsstrukturen der Betriebe. So beobachtet Meyer auch in Europa die zunehmende Anlage von Großbetrieben "nach amerikanischem Muster".27 Die Neuerrichtung der Bayer'schen Farbenfabriken in Leverkusen etwa folgte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts amerikanischen Vorbildern. Die Einrichtung eines Bahnanschlusses wie auch innerbetrieblicher Transportsysteme zählte zu den Aushängeschildern eines modernen Betriebes und orientierte sich am Beispiel der Schlachthöfe von Chicago. Die in den 1920er Jahren gegründeten europäischen "Superfirmen" wie die Vereinigte Stahlwerke AG (VSt), die IG Farben, die französische Alsthom oder auch die britischen Imperial Chemical Industries (ICI) gelten als Aushängeschilder der Economies of Scale und folgten dezidiert den Organisations- und Finanzierungsmodellen des amerikanischen Big Business.28
Amerikanisierung nach dem Zweiten Weltkrieg: Liberalisierung des Welthandels, "Produktivitätsmission" und amerikanische Wettbewerbskultur
Nach dem Zweiten Weltkrieg erreichte der Amerikanisierungsdiskurs ein neues Stadium. Die Bewältigung der wirtschaftlichen Not und der gesellschaftliche Wiederaufbau machten die Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten und der amerikanischen Militärregierung zu einer Überlebensfrage.29 Im Rahmen ihres Aufstiegs zur politischen und wirtschaftlichen "Supermacht" entfalteten die USA auch in ihrer Eigenschaft als Besatzer großen Einfluss auf die europäische Wirtschaftspolitik und Wettbewerbskultur. Dies betrifft vor allem das Modell der liberalen Marktwirtschaft, das insbesondere in der Bundesrepublik analog zu einer demokratischen Gesellschaftsordnung implementiert wurde.30
Obwohl derartige Interpretationen in der Forschung vielfach Kritik ausgelöst haben31 und manches dafür spricht, den Begriff der Amerikanisierung angesichts der "Mannigfaltigkeit und Komplexität von Prozessen transnationaler Grenzüberschreitung" als "unbrauchbare" Kategorie aufzugeben,32 erfreut sich der Terminus als wirtschaftshistorisches Paradigma insbesondere für die Zeit nach 1945 großer Beliebtheit. Dies bezieht sich etwa auf das European Recovery Program (ERP) als Referenzobjekt für Produktivität, technischen Fortschritt und wirtschaftliche Prosperität. Denn der nach dem US-Außenminister George C. Marshall (1880–1959) benannte "Marshallplan" verpflichtete die Teilnehmerländer nicht nur zu politischem, sondern auch zu "ökonomischem Wohlverhalten" und trieb so einen institutionellen wie auch mentalen Transformationsprozess voran, der gleichfalls unter dem Aspekt der Amerikanisierung diskutiert werden kann.33 Durch die Implementierung einer liberalen Weltwirtschaftsordnung nahmen die USA einen erheblichen Einfluss auf die wirtschafts- und ordnungspolitischen Vorstellungen der Teilnehmerstaaten. Dies hatte zur Folge, dass, teilweise mit sanftem Druck, zentrale Inhalte des modernen westlichen Kapitalismus nach Europa transferiert wurden, etwa eine einheitliche Weltwährungsordnung, die im Bretton-Woods-Vertrag von 1944 vereinbart wurde, ein integriertes Außenhandelsregime gemäß dem General Agreement on Tariffs and Trade (GATT 1947) sowie ein liberales Wettbewerbsverständnis.34 Man kann daher von "dictated Americanisation" sprechen, sofern mit europäischen Traditionen wie etwa der weit verbreiteten Praxis von Kartell- und Marktabsprachen oder der staatlich dominierten Notenbankpolitik gebrochen wurde.35
Die Korrelation von Produktivität, Wirtschaftswachstum und Wohlstand, die die US-Wirtschaft seit dem frühen 20. Jahrhundert prägte, war in den europäischen Staaten bis zum Zweiten Weltkrieg geringer ausgeprägt.36 Um zu einem selbsttragenden Wirtschaftswachstum zu kommen und um als Absatzmarkt für amerikanische Produkte zu fungieren, benötigten die Europäer aus der Sicht der USA die entsprechende Kaufkraft, die sie nur erwerben konnten, wenn sie entsprechende Erlöse erzielten. Darum zielte die Initiative zur Steigerung der Produktivität, die der OEEC-Ministerrat Ende August 1951 beschloss, darauf, die Produktion in den Marshallplan-Ländern bis zum Mitte der 1950er Jahre um ein Viertel zu steigern. Im Rahmen der US Technical Assistance and Productivity Mission sollte der Produktivitätsrückstand in den europäischen Staaten z.B. durch technologische und organisatorische Schulungen von Unternehmern, Ingenieuren und Wirtschaftsfachleuten reduziert werden.37 Dazu vermittelten Produktivitätsagenturen in den einzelnen Staaten Europas amerikanische Wirtschaftsvertreter und Gewerkschaftsfunktionäre, die in Betrieben und Institutionen den "Gospel of Productivity" verbreiteten.38 Gleichzeitig nahmen mehrere Tausend Unternehmer, Manager und Ingenieure aus den europäischen Staaten an Studienreisen in die USA teil, wo sie einen Eindruck von der Leistungsfähigkeit des amerikanischen Industriekapitalismus erhielten.39 Die Gründung von Wirtschaftsuniversitäten nach dem Vorbild amerikanischer Business Schools wie etwa die französische Eliteschule INSEAD (Institut Européen d'Administration des Affaires) in Fontainebleau bei Paris gehören ebenso zu den Inhalten des Transfers amerikanischer Wirtschaftskultur.40
Auch wenn der amerikanischen Produktivitätsinitiative in Europa nur ein geringer messbarer Erfolg (etwa im Hinblick auf eine unmittelbar ansteigende Produktivität) attestiert worden ist, sollten ihre langfristigen modernisierenden Auswirkungen nicht unterschätzt werden. Sie förderte grundsätzlich ein liberales Marktverständnis und eine moderne Produktivitäts-, Expansions- und Absatzorientierung, die zu einem wesentlichen Baustein für den Wohlstand der westlichen Welt werden sollten. Und selbst wenn dieses Selbstverständnis je nach Branchen- und Wettbewerbslage oder Generationenzugehörigkeit der Akteure differieren mochte, so kann grundsätzlich von einer Annäherung der westlichen Wirtschaftskulturen im Hinblick auf Werte und Strategien ausgegangen werden, die sich für die Globalisierung des späten 20. Jahrhunderts als unverzichtbar erweisen sollte.41
Dazu trug nicht zuletzt auch die verstärkte Präsenz amerikanischer Konzerne in Europa bei. Denn mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft entstand 1957 ein Markt, der nach Größe und Entwicklungsperspektiven dem amerikanischen ähnelte:
Historically American investment dollars have followed growth, and the most spectacular growth area in the world today is that provided by the international market of the European Economic Community.42
Allerdings waren die wirtschaftlichen Aktivitäten der USA z.B. in Deutschland und Frankreich nicht unumstritten. Denn mit Blick auf die Wettbewerbssituation in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, die den Amerikanern im Hinblick auf Entwicklungspotenzial und Absatzmärkte einen erheblichen Vorteil verschafft hatte, befürchteten zahlreiche einheimische Unternehmen, dass der Marshallplan lediglich ein "Trojanisches Pferd" für amerikanische Investoren und Mitbewerber darstelle, um die europäischen Märkte zu erobern. In der Tat bedeutete das Engagement amerikanischer Konzerne in Europa einen bislang ungekannten Wettbewerbsdruck für alteingesessene Anbieter.43 In den 1960er Jahren zog die EWG mehr amerikanische Investitionen an als jede andere Region der Erde. Nicht zuletzt die anfangs hohen Außenzölle der EWG ließen es vorteilhafter erscheinen, vor Ort Produktionsstätten aufzubauen, als in diesen Markt zu exportieren. Damit wurden privatwirtschaftliche Kapitaltransfers in Form von Direktinvestitionen aus den USA zu einem wichtigen Bestandteil internationaler wirtschaftlicher Verflechtungen, die aus Europa ein "ökonomisches Gravitationszentrum" machten.44
Die Kapitalströme aus den USA nach Europa werden in der Literatur als ein zentrales Transfermedium von Amerikanisierung angesehen:45
Vom Sonderfall der militärischen Besetzung abgesehen gibt es wohl keine andere Verbindung, durch die gewisse Besonderheiten einer Gesellschaft gleich schnell und wirksam auf bestimmte Bereiche einer anderen übertragen werden könnten.46
Amerikanische Unternehmen im Ausland bildeten "Brückenköpfe" und "Schaukästen amerikanischer Wirtschaftskultur".47 Wie schon vor und nach dem Ersten Weltkrieg konzentrierte die amerikanische Industrie ihre Investitionstätigkeit auf Branchenschwerpunkte wie den Erdöl- oder den Automobilbereich. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Maschinenbau, Aluminium, Chemie, Kunststoffe, Reifenherstellung und Pharmazeutika hinzu.48 Das Engagement amerikanischer Konzerne implementierte in den europäischen Staaten stärker als jemals zuvor ein amerikanisiertes Wettbewerbsverständnis, das sich etwa durch ein offensiv risikoorientiertes und expansives Vorgehen auszeichnete. Dies dokumentieren zeitgenössische Veröffentlichungen wie die des französischen Publizisten Jean Jacques Servan-Schreiber (1924–2006), Le Défi Americain, aus dem Jahr 1967. Servan-Schreiber verstand das massive amerikanische Direct investment als ökonomische Herausforderung für die europäischen Staaten und eine Lektion für europäische Unternehmen.49
Vor diesem Hintergrund befürworten Wirtschafts- und Unternehmenshistoriker zu Recht die Verwendung des Terminus Amerikanisierung als analytische Kategorie, insbesondere für die Zeit nach 1945.50 Es wird etwa unter "Amerikanisierung" "die Übernahme [...] von Werten, Verhaltensformen, Verfahrensweisen, Normen und Institutionen, die [...] in den USA [...] verbreitet waren", in die europäische Wirtschaft subsummiert. Demnach meint Amerikanisierung nicht nur den Einfluss amerikanischen Kapitals in deutschen Unternehmen, etwa in Form von Direktinvestitionen, sondern insbesondere die Adaption von Werten und Rechtsinstitutionen, Geschäftspraktiken und Strategien in die Bereiche von Marktorganisation, Wirtschaftspolitik und Unternehmensführung.51 Als Formel für die transatlantische Transfergeschichte des 20. Jahrhunderts eignet sich der Terminus Amerikanisierung für den wirtschaftlichen Kontext.
"Amerikanisierung" als "Hybridisierung" oder "Selbstbedienung"
Amerikanisierung meint im Ergebnis abgestufte Grade der Adaption, auch im Sinne von Verbesserungen, Modifikationen, kurz der "Hybridisierung" amerikanischer Techniken und Modelle unter Berücksichtigung dezidiert europäischer Traditionen.52 Angesichts eines der amerikanischsten Unternehmen Europas, der Volkswagen AG, wird deutlich, dass sich "die Amerikanisierung" der bundesdeutschen Wirtschaft und Gesellschaft "nicht als schlichte Kopie des amerikanischen Modells vollzog, sondern als kreative Synthese aus amerikanischen Einflüssen und deutschen Traditionen".53 Man könnte darum den europäischen Amerikanisierungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg als eine Art "Selbstbedienungsmodell" beschreiben.54 Somit ist die Erkenntnis, dass es sich weder um eine "Einbahnstraße" noch um eine zwanghafte Entwicklung gehandelt hat, dem Begriff der Amerikanisierung längst implizit.
Der Terminus Amerikanisierung erweist sich somit mit Blick auf die europäische Wirtschaft als überaus fruchtbares Untersuchungsparadigma. Dennoch kann von einer grundsätzlichen "Amerikanisierung" im Sinne einer linearen Übertragung amerikanischer Methoden, Werte und Überzeugungen nicht ausgegangen werden. Vielmehr scheinen der Transfer und die Adaption von amerikanischem Know-how vor und nach dem Zweiten Weltkrieg von unterschiedlichen Konstellationen wie etwa der institutionellen und politischen Ordnung, der individuellen Haltung der unternehmerischen Akteure oder dem Wettbewerbsklima abhängig gewesen zu sein. Unabhängig davon vermittelte jedoch schon alleine die amerikanische Rhetorik von Produktivität, Kooperation und Arbeitsteilung, von Modernität und gesellschaftlichem Wohlstand eine veränderte Wahrnehmung von wirtschaftlichen Abläufen, Wettbewerbs- und Expansionsverhalten, die das Golden Age of Prosperity nach dem Zweiten Weltkrieg ideologisch unterfütterte.
Ausblick: Amerikanisierung und Globalisierung
Aus der historischen Perspektive lässt sich die Amerikanisierung als eine "Phase der Globalisierung" begreifen.55 Politologen verweisen insbesondere auf Transfer- und Adaptionsprozesse
which provided the tools for modern business management and which made companies able to cope with global competition, rapidly changing environments and challenging new market conditions.56
Ermöglicht wird das globale Engagement von Unternehmen nicht nur durch entsprechende institutionelle Grundlagen wie etwa die Deregulierung und Liberalisierung der Märkte oder die Einführung von globalen Verkehrs- und Kommunikationstechnologien, sondern auch durch den Wegfall kultureller Schranken und die Durchsetzung eines einheitlichen Normen- und Wertesystems bei allen Marktteilnehmern. Daher kommt insbesondere der Amerikanisierungswelle nach dem Zweiten Weltkrieg eine wichtige wegbereitende Funktion bei der Ausbildung der globalen Weltwirtschaft zu: "Die Schrittmacherrolle bei der Internationalisierung der Produktion übernahmen die US-Unternehmen", indem sie Managementstrategien und -innovationen implementierten und Benchmarks für ein neues Wettbewerbsverhalten vorgaben.57
Mit ihrer Politik des transnationalen Investment und des Exports universeller Massenkultur bereiteten amerikanische Konzerne außerdem den Siegeszug globaler Produkte vor. Marken wie Coca Cola oder McDonald's wurden so zu Wegbereitern einer globalen Entwicklung. Die auf Reproduzierbarkeit, universelle Herstellungsweise und schnelle Verfügbarkeit gründende Rationalisierung des Konsums führt über die Kernelemente der American ideology zu einer konvergenten globalen Gesellschaft.58