Einleitung
Europa ist heute folglich der angenehmste Aufenthaltsort der Welt. Hier finde ich nicht mehr jenes Dornengestrüpp, jene kargen Heiden, jene Sümpfe, jene Abgründe, die den Blick beleidigten und den Reisenden verzweifeln ließen. Die reichsten Fluren erblicke ich, die lieblichsten Lustgärten, die schönsten Aussichten und die angenehmsten Straßen, und Frankreich hat mehr als jedes andere Land zu dieser glücklichen Verwandlung beigetragen. …
Bewohner der verschiedenen Teile Europas – wenn dieses Buch in eure Hände gelangt, dann sagt euch selbst: es existierte nicht, wenn wir es nicht ermöglicht hätten. Es rückt der Allgemeinheit nur das vor Augen, was wir tun. Es beweist, dass wir Franzosen sind – was die Sprache betrifft, die Manieren, die Kleider, die Lektüre, die Ansichten, und wir drücken es unablässig durch unsere Lebensart aus.
Die Ausländer konnten nichts Besseres tun, als sich nach dem Vorbild Frankreichs zu formen, dem unstreitig am bequemsten eingerichteten, angenehmsten und lieblichsten Land.1
Dieses Bild von einem französischen Europa stammt vom französischen Marquis Louis-Antoine Caraccioli (1719–1803). Er beschließt damit seine 1777 veröffentlichte Schrift Paris, le modèle des nations étrangères, ou l'Europe françoise. Frankreich, französische Sprache, Sitten und Lebensart hätten, so Caraccioli, überall in Europa Einzug gehalten und den Kontinent geeint.2
Dieser Meinung folgte, mit Bezug auf den Hof Ludwigs XIV. (1638–1715)[], auch der deutsche Germanist und Barockkenner Richard Alewyn (1902–1979). 1957 schrieb er: "Bis hinüber nach Warschau und Stockholm und Petersburg verwandeln sich alle Höfe in Trabanten eines Sonnensystems, das nicht um die staatliche Macht, das um den festlichen Glanz von Versailles kreist."3
Der vorliegende Text fragt danach, inwieweit tatsächlich von einem französischen Europa im ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert gesprochen werden kann. Dabei beschränke ich mich auf das "Modell Versailles", gehe also nicht auf Rolle und Einfluss der französischen Aufklärung ein, die gerade im 18. Jahrhundert neben das Vorbild des französischen Absolutismus unter Ludwig XIV. getreten ist. Es geht hier demnach vorrangig um die Modellwirkung des französischen Absolutismus4 in Europa und die von ihm inspirierten Transfers auf unterschiedlichen Gebieten.
Ludwig XIV. hatte nach der Übernahme der Alleinregierung im Jahr 1661 seinen Hegemonialanspruch in Europa unmissverständlich kundgetan. Er betrieb zum einen eine offensive Expansionspolitik, für die er sich in den Anfangsjahren noch auf ein breites Bündnissystem, insbesondere im Reich, stützen konnte. Andererseits setzte er eine zunehmende Machtentfaltung und Machtrepräsentation in Gang, die in Frankreich und in ganz Europa wahrgenommen wurde.
Voraussetzung für diese Machtentfaltung war ein ganzer Fächer von Reformen, den Ludwig XIV. und sein "Erster Minister" Jean-Baptiste Colbert (1619–1683)[]5 unter Anknüpfung an die Politik der Kardinäle Armand-Jean du Plessis de Richelieu (1585–1642) und Jules Mazarin (1602–1661) seit 1661 entfalteten. Mit diesen Reformen schufen sie eine Reihe neuer Institutionen in Frankreich. Die Forschung hat zwar in den letzten Jahren herausgearbeitet, dass Ludwig XIV. auf vielen Feldern weit vom Ideal einer absoluten Herrschaft entfernt blieb, dass viele Reformen rudimentär geblieben sind und bestimmte wichtige Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft kaum tangiert wurden.6 Die für die Zeitgenossen offensichtliche Stärkung Frankreichs hat nichtsdestoweniger dazu geführt, dass das System der neuen bzw. reformierten Institutionen in Europa rezipiert und zum Anlass für eigene Initiativen genommen wurde.
Unter das Schlagwort vom "Modell Versailles" fasse ich demnach die unterschiedlichen Institutionen des französischen Absolutismus, in deren Zentrum sich zwar Versailles befand, die sich aber nicht allein darauf reduzieren lassen.
Die ludovizianische Staatsreform
Frankreichs Aufstieg zur Hegemonialmacht auf dem europäischen Kontinent in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ging einher mit dem Abstieg Spaniens, das mit seinem kolonialen Reich in der neuen Welt zunehmend demographisch und wirtschaftlich überfordert war. Frankreich hatte sich bereits bei den Friedensverhandlungen von 1648 dank seiner überlegenen Diplomatie als dominierende Macht gezeigt. Innenpolitisch geriet das Land dann durch die Fronde, eine Revolte des parlement von Paris und des Hochadels, an dem sich auch Teile des Volkes, insbesondere von Paris, beteiligten, noch einmal in eine schwere Krise. Aber das Königtum konnte letztendlich aus diesem Konflikt gestärkt hervorgehen. Mit dem Abschluss des Pyrenäenfriedens7 mit Spanien im Jahr 1659 und der Regierungsübernahme Ludwigs XIV. wurde diese Konsolidierung nachdrücklich unterstrichen.
Ludwig XIV. übernahm beim Tode Mazarins 1661 zu einem günstigen Zeitpunkt die Regierung. Durch die Friedensschlüsse von 1648 und 1659 hatte sich die internationale Lage beruhigt. Innenpolitisch war die Opposition nach dem Scheitern der Fronde ruhiggestellt worden. Zudem konnte Ludwig an die unter den Kardinälen Richelieu und Mazarin bereits unternommenen Vorleistungen bei der Zentralisierung und inneren Stabilisierung des Staats anknüpfen.
Ludwig XIV. ist auf dem Weg der Zentralisierung der Staatsgewalt dann weiter vorangeschritten. Nach der Fronde, die er bereits bewusst miterlebt hatte,8 strebte er danach, alle intermediären und autonomen Gewalten auszuschalten. Besonders mit Hilfe der Intendanten, nur von der Krone abhängigen Beamten, sollte die monarchische Autorität im Land wiederhergestellt und gefestigt werden. Bereits Heinrich II. (1519–1559) hatte erstmals Intendanten genutzt, um die königliche Autorität in den Provinzen durchzusetzen. Unter Richelieu war die Institution des Intendanten, der Vollmachten im Bereich der Finanzen, der Justiz und der Polizeigewalt besaß, nach und nach permanent geworden, aber auch auf den scharfen Widerstand der Opposition gestoßen und dann zu Beginn der Fronde 1648 abgeschafft worden.9 Mazarin hatte sich daraufhin mit kommissarischen Abgesandten in die Provinzen beholfen. Ludwig XIV. und Colbert bemühten sich seit 1661 um die Wiederherstellung der Institution des Intendanten, 1666 wurde sie endgültig verstetigt. Die adligen Provinzgouverneure wurden gleichzeitig entmachtet, ihre Ämter aber nicht abgeschafft. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass Ludwig die überkommene gesellschaftliche Hierarchie nur vorsichtig in Frage stellte. Überhaupt nahm der König auf die Befindlichkeiten des Hochadels große Rücksicht.10 Neben der definitiven Verankerung der Intendanten wurden auch die Befugnisse der Parlamente eingeschränkt, was zusammen mit der königlichen Gesetzgebungstätigkeit die Rechtsvereinheitlichung vorangetrieben hat.
Die zentralisierte Bürokratie war besonders darum nötig, weil sie die Mittel für den von Ludwig forcierten Aufbau und die Reform des Heeres sichern sollte. Bei der Schaffung dieses Heeres erzielte er unbestreitbar die größten Erfolge.11 Seit 1670 besaß Frankreich ein stehendes Heer, das nach Friedensschlüssen nicht mehr demobilisiert wurde und sich im Laufe der Regierungszeit von Ludwig XIV. bis auf 400.000 Mann vergrößerte. Zugleich wurde das Heer gründlich modernisiert – durch die Übernahme neuer Kriegstechniken, die Schaffung von Besoldungs- und Versorgungseinrichtungen sowie durch neue Bewaffnung und Uniformierung. Durch eine systematische Ausbildung von Offizieren an Kadettenschulen und zahlreiche Disziplinarordnungen wurde das Heer der Krone bedingungslos untergeordnet und zum wichtigen Instrument der monarchischen Machtausübung nach außen wie nach innen.12 Die neuere Forschung geht davon aus, dass das Heer als Disziplinierungsorgan des Adels eine weitaus wichtigere Rolle spielte als der Hof. Zudem gelang durch die Schaffung des Festungsgürtels ab 1660 nicht nur eine Sicherung vor Angriffen von außen, sondern auch eine Befriedung der französischen Provinzen.13
Die Verstaatlichung des Heerwesens besaß eine große Bedeutung für die Herausbildung des frühmodernen Staates, verursachte der Krone allerdings auch hohe Kosten, die teils durch die von der staatlichen Fiskalverwaltung erhobenen Steuern, für deren Eintreibung nicht zuletzt die Intendanten zuständig waren, gedeckt wurden. Daneben kam es unter Colbert zu einer aktiven, systematischen merkantilistischen Wirtschaftspolitik. Colbert förderte zahlreiche staatswirtschaftliche Unternehmen wie Rüstungs- und Luxuswarenmanufakturen, den Ausbau der Infrastruktur, die Schaffung von Handelskompanien. Er holte ausländische Spezialisten nach Frankreich, förderte neue Industriezweige, unterband die Einfuhr von Fertigprodukten aus dem Ausland und baute das französische Kolonialreich aus. Auch wenn Colbert keinen einheitlichen französischen Binnenmarkt schuf, das Privilegiensystem nicht reformierte und den landwirtschaftlichen Bereich, in dem immerhin neun Zehntel der Bevölkerung beschäftigt waren, gänzlich ignorierte, hatte seine Politik anfangs durchaus Erfolge, und es gelang, einen ausgeglichenen Staatshaushalt zu erreichen. Die zahlreichen Kriege ab 1667 haben dann aber ein chronisches Staatsdefizit verursacht.
Colbert kümmerte sich aber nicht nur um die Wirtschaft. Er schuf auch ein System von Institutionen, welche die französische Führungsrolle in Europa propagieren sollten. Hier ist zum einen das System von Akademien zu nennen, das Colbert im Laufe der 1660er Jahre in Paris gründete. Es diente dem künstlerischen und wissenschaftlichen Schaffen, sollte aber auch stets von der königlichen Förderung künden bzw. direkt die königlichen Ziele propagieren. Insbesondere die 1663 gegründete Académie des Inscriptions, von Zeitgenossen auch als "kleine Akademie" bezeichnet, war von Colbert als Einrichtung der höfischen Propaganda konzipiert worden. Sie befasste sich vor allem mit der Erstellung von Inschriften für Monumente zu Ehren des Königs sowie von Devisen auf königlichen Medaillen. Erst ab 1701 entwickelte sie sich zu einer Forschungseinrichtung für historische und philologische Disziplinen, was auch zur Umbenennung in Académie des inscriptions et belles lettres führte.14
Der Hof unterstützte neben den Akademien zudem zahlreiche Schriftsteller und Publizisten, auch aus dem Ausland, die mit Geschick für die Führungsrolle Frankreichs im Abendland fochten.15
Versailles als Ort der Repräsentation und der Integration
Das Schloss Versailleswurde im Besonderen zur Selbstdarstellung des Herrschers und zur Demonstration des Machtanspruchs herangezogen. Ludwig XIV. verfolgte den Bau mit großer Anteilnahme16 und nutzte das Schloss als Kulisse für künstlerische Aufführungen, diplomatische Demonstrationen und auch zur kulturellen und politischen Integration des Hochadels, wenn auch nicht in der von Norbert Elias (1897–1990) vertretenen Weise, die im Hof ausschließlich ein Domestizierungs- und Disziplinierungsinstrument des Herrschers sah.17 Tatsächlich stieg die Zahl der am Versailler Hof weilenden Adligen von 1664 bis in die 1680er Jahre stark an,18 welche den Hof dann auch zur Bühne adliger Repräsentation machten.19 Das Schloss diente zudem der Herrschersakralisierung und überhaupt der Mehrung seines Ruhmes, wozu Ludwig u.a. auch Darstellungen des Schlosses veröffentlichen und verbreiten ließ. Auf diese Art und Weise gelang es ihm, seinen Machtanspruch umso glanzvoller zum Ausdruck zu bringen.
Die Schattenseiten dieses verstärkten Repräsentationsaufwandes waren die immer höheren Kosten des Hoflebens. Sie trugen neben den Kriegen ab den 1670er Jahren erheblich zum Staatsdefizit bei – zwischen 1661 und 1683 beanspruchte allein die Bautätigkeit in Versailles durchschnittlich elf Prozent des Staatsetats.20 Aber auch nach 1683 gingen der Aus- und Umbau des Schlosses weiter.21
Versailles wurde zum Symbol Ludwigs XIV. ausgebaut. Das Schloss diente Ludwig XIV. aber nicht nur zur Selbstdarstellung, es wurde im absolutistischen Frankreich zugleich zu einer Staatsinstitution. Es bildete das Zentrum des Gesamtstaats, ordnete ihn geometrisch. Versailles war seit 1682 permanenter Sitz des Herrschers mitsamt der zentralen Verwaltung und der adligen Elite.22
Ludwig hat sich beim Schloss wie übrigens auch beim immer ausgeklügelteren Hofzeremoniell am Vorbild Spaniens orientiert, das er zugleich zu übertreffen suchte. Das Schloss knüpfte in seiner Anlage und Ausschmückung an den Madrider Palast Philipps IV. (1605–1665) Buen Retiro an, der Spiegelsaal von Versailles hatte sein Vorbild im Alcázar, dem Königspalast in Sevilla.23 Da Ludwig über eine weitaus kürzere Herrschaftslinie als Philipp IV. verfügte, schließlich war er erst der dritte Bourbonenkönig auf dem französischen Thron, suchte er dieses Defizit durch repräsentative Mittel auszugleichen.24 Zugleich wurde in Versailles ein neuer, repräsentativer Stil geschaffen, der als Louis-Quatorze in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Er war durch eine bis dahin noch nicht verwirklichte Einheit von Architektur, Ausstattung und Landschaftsgestaltung gekennzeichnet. Weite, Helligkeit, Größe und dekorative Ornamentik besonders auch bei der Inneneinrichtung des Schlosses waren für ihn ebenso charakteristisch wie die symmetrisch gegliederten und meist mit Einlegearbeiten versehenen Möbel, die prunkvoll, aber nicht überladen wirkten. Eine wichtige Voraussetzung dafür waren die enormen Mittel, die Ludwig für das Schloss zur Verfügung stellte und die es möglich machten, neue Techniken zu erproben und zu entwickeln.25
Der französische Herrscher strebte seit der Übernahme der Herrschaft 1661 danach, seinen Vorrang vor Spanien durchzusetzen. Diese Rivalität mündete bereits 1661 in einen Konflikt zwischen dem französischen und dem spanischen Botschafter in London, bei dem es um die Frage des Vorrangs ging, wobei Ludwig seinen Botschafter nachdrücklich unterstützte. Der spanische Botschafter in Frankreich musste sich schließlich für diesen Vorfall entschuldigen.26 Die Anlage des Versailler Schlosses mit symmetrisch angelegten Flügeln für den König und die Königin, eine Tochter Philipps IV., drückte zugleich den Anspruch der französischen Krone auf die spanische Krone nach dem Ableben des letzten Habsburgers in Madrid aus.27
Versailles spielte daher beim Streben nach europäischer Vormachtstellung eine zentrale Rolle. Konflikte zwischen den Herrschern wurden eben nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch auf dem Feld der Symbole, durch Kunst, Architektur, höfische Feste und das Zeremoniell ausgetragen. Gerade die Architektur war in einer Zeit, in der die schriftliche Kultur eine untergeordnete Rolle einnahm, von großer Bedeutung. Colbert drückte das in einem Schreiben an Ludwig XIV. sehr eindringlich aus: "Votre Majesté sait qu'à defaut des actions éclatantes de la guerre, rien ne marque davantage la grandeur et l'esprit des princes que les bâtiments et toute la postérité les mesure à l'aune de ces superbes maisons qu'ils ont élevées pendant leur vie."28
Die Wahl der Sonne als Herrschaftssymbol macht Ludwigs Anspruch und Selbstverständnis als Herrscher und Stellvertreter Gottes auf Erden deutlich. Die Sonne fungierte als Sinnbild seiner zentralen Stellung innerhalb des Staates sowie auch seines theoretischen Anspruchs auf Weltherrschaft und Vorrang unter den Monarchen Europas. Auch die Sonnensymbolik hat Ludwig von den Habsburgern übernommen und er geriet mit deren österreichischem Zweig in der Folge darüber auch in einen Symbolkampf.
In Versailles wurde die Ideologie des Sonnenkönigs am intensivsten vorgeführt.29 Der Kunsttheoretiker André Félibien (1619–1695) konstatierte 1689, dass alles in Versailles eine Beziehung zur Sonnensymbolik habe.30 Das betraf auch den weiträumigen Park,der vom Gartenarchitekten André Le Nôtre (1613–1700) gleichzeitig mit dem Schloss konzipiert wurde. Schloss und Garten von Versailles bildeten eine untrennbare Einheit, in der der Lauf der Sonne bildlich für die Herrschaft des Sonnenkönigs stand. Die geometrische Anordnung des Gartens, die beschnittenen Bäume, Sträucher und Hecken demonstrierten die Macht des Herrschers über die Natur.31 Der Garten wurde auch zum "Symbol mathematisch-kosmischer Gesetzlichkeit und hierarchischer Staats- und Weltordnung".32
Der Plan von Versaillesverdeutlicht noch einmal die wohlgeordnete geometrische Anlage von Schloss und Park. Damit sollte symbolisch auch die (Unter-)Ordnung der Natur und des ganzen Landes unter die Macht des Königs ausgedrückt werden. Auch die neben dem Schloss geplante Stadt Versailles sollte diesem Muster folgen. Die Ansiedlung wurde großflächig auf das Schloss ausgerichtet und in den Gesamtplan integriert. Zwar konnte sie nicht wie geplant vollendet werden, war aber trotzdem Vorbild für verschiedene Residenzstädte.
Versailles verherrlichte also sowohl den Machtanspruch des Herrschers als auch seine Regierung, die hier ebenfalls residierte und arbeitete. Das Schloss war Teil einer breiten Propagandakampagne Ludwigs XIV., die von Peter Burke ausführlich analysiert worden ist. Die von Jules Hardouin-Mansart (ca. 1646–1708) geschaffene Grande Galerie wurde so mit Bildern ausgestattet, welche die Geschichte der Könige vom Pyrenäenfrieden (1659) bis zum Frieden von Nimwegen (1678)33 erzählen. Diese Darstellungen der königlichen Herrschaft wurden dann durch Beschreibungen im Mercure Galant sowie in verschiedenen Büchern an ein größeres Publikum herangetragen.34 Wichtige, neu fertig gestellte Bauten wurden durch Drucke bekannt gemacht. Von den in Versailles veranstalteten Festen wurden von Beginn an Darstellungen gefertigt, die dann den ausländischen Höfen zugesandt wurden.35
Frankreich als Modell?
Das erstarkte und zum Teil modernisierte Frankreich übte seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts eine immer stärkere Vorbildrolle auf das übrige Europa aus. Das wurde besonders daran augenfällig, dass französische Kleidung und Sitten überall in Europa übernommen wurden. Versailles wurde zur Pflichtstation auf der Kavalierstour, auf der die jungen Adligen höfische Etikette einüben und Kontakte knüpfen sollten.36 Das Französische löste das Latein als neue Lingua franca ab. Nicht nur die adligen Führungsschichten an den europäischen Höfen begannen, in Französisch zu kommunizieren.37 Der 1713/1714 ausgehandelte Rastatter Frieden38 wurde zum ersten Mal in Französisch und nicht in Latein abgefasst. Mit ihm wurde der Übergang von Latein zu Französisch als Sprache der Diplomatie eingeleitet, ein Übergang, der mit dem Aachener Frieden von 174839 abgeschlossen wurde.40 Die frankophone Presse in Europa umfasste ungefähr 1.200 Titel. Im deutschen Sprachraum erschienen zwischen 1686 und 1789 fast 100 Zeitungen und Zeitschriften, von denen einige nur wenige Jahre, einige aber auch über Jahrzehnte hinweg existierten.41
Selbst in den Wissenschaften wurde Französisch immer wichtiger, nachdem bedeutende wissenschaftliche Periodika in Frankreich geschaffen wurden, unter anderem 1665 das Journal des Savants auf Initiative Colberts. Vom Ausmaß der Hinwendung zur französischen Sprache und Kultur zeugt bereits eine Schrift von Christian Thomasius (1655–1728) aus dem Jahr 1687, die neben anderen ähnlich gelagerten Texten aus der gleichen Zeit steht.42 Der Autor setzte sich hier sehr kritisch mit der Tendenz auseinander, sich bei Kleidung, Sitten und anderen Lebensformen zu stark am französischen Vorbild zu orientieren, empfahl dagegen die französischen Tugenden wie Höflichkeit und Gelehrsamkeit.43 Trotzdem blieb diese Vorbildrolle auf vielen Gebieten auch im gesamten 18. Jahrhundert bestehen. Friedrich II. (1712–1786) kommunizierte meist auf Französisch und hielt die deutsche Sprache für vulgär.
Nun hatte die Übernahme kultureller Muster vor allem auch damit zu tun, dass diese als Ausdruck eines reformierten und rationalisierten Staatswesens und eben von gesteigerter Macht gesehen wurden. Deshalb wurde in Europa auch das von Ludwig XIV. in Frankreich geschaffene System der Institutionen, welches den Zugriff des Staates auf seine Untertanen nachhaltig verstärkte, als Modell rezipiert und viele seiner Elemente übernommen. Das zielte zum einen darauf, angesichts der französischen Modernisierungsleistung nicht in Rückstand zu geraten, andererseits suchten die europäischen Fürsten damit ihren Machtumfang nach innen und außen zu stärken.
Übernahme von Elementen der Militärreform
Die Schaffung eines stehenden Heeres mit staatlicher Besoldung, Uniformierung, einer entsprechenden Infrastruktur, klarem hierarchischem Aufbau sowie eigenen militärischen Umgangsformen hat maßgeblich zur Machtentfaltung Ludwigs XIV. beigetragen. Die tendenzielle Entwicklung zum stehenden Heer im 17. Jahrhundert wurde durch das französische Vorbild weiter stimuliert und spätestens im 18. Jahrhundert in allen europäischen Staaten durchgesetzt.44 Dabei wurden abhängig von den jeweiligen Bedingungen ganz unterschiedliche Varianten gefunden, wie das schwedische System der Rekrutierung, das sogenannte Indelta-System, zeigt, das die Rekrutierung von Soldaten über den ländlichen Grundbesitz organisierte.45
Der Aufbau des stehenden Heeres, das die Position des Landesherrn deutlich stärkte, war oft von heftigen Konflikten mit den Ständen begleitet. Es stellte insgesamt eine erhebliche Herausforderung für die gesamte Verwaltung dar und führte zu weiteren Modernisierungen, um die Erhaltung und den Ausbau des Heeres zu ermöglichen.
In Preußen wurde das französische Modell eines verstaatlichten stehenden Heeres ins Extrem getrieben. Das ließ sich angesichts der deutlich geringeren Wirtschaftskraft nur durch die kompromisslose Ausrichtung aller Kräfte von Wirtschaft und Gesellschaft auf das Militär realisieren und führte schließlich auch zu einer gewissen Militarisierung des Gemeinwesens.46
Auch der von Sébastien Le Prestre de Vauban (1633–1707) geschaffene französische Festungsgürtel, [] der über 300 Baumaßnahmen umfasste,47 wurde in anderen europäischen Staaten bewundert und zum Teil nachgeahmt, so von den Niederlanden und Österreich, die gemeinsam die belgischen Grenzfestungen nach 1715 als Schutz gegen Frankreich verstärkten.48 Friedrich II. suchte nach französischem Vorbild das eroberte Schlesien durch einen Festungsgürtel zu sichern und gegen Österreich zu schützen. Auch wenn er sich im Prinzip am französischen System orientierte, ging er bei den Verteidigungssystemen einzelner Festungen auch über die Befestigungsmethoden Vauban'scher Prägung hinaus.49 Nichtsdestoweniger diente Vauban als wichtiges Vorbild und Friedrich II. ließ auch Vaubans Werk übersetzen.50 Aufgrund des Mangels an eigenen Ingenieuren eröffnete Friedrich II. schließlich 1775 im Berliner Schloss eine Ingenieurschule. Die Leitung übertrug er wiederum einem Franzosen, dem Professor Marsson.51
Die Unterhaltung eines stehenden Heeres erforderte eine modernere Verwaltung, die zudem stärker auf den Landesherrn ausgerichtet war. Ein solcher Umbau wurde auch tatsächlich überall versucht. Im bourbonisch regierten Spanien und in Brandenburg-Preußen wurden die französischen Institutionen am eindeutigsten als Vorbild für einen Verwaltungsumbau genommen.52
Philipp V. (1683–1746) suchte nach seiner Thronbesteigung in Madrid, das oligarchische System Karls II. (1661–1700) am Hof nach französischem Vorbild zu reorganisieren und ein hierarchischeres System zu schaffen, das seine Autorität auch angesichts des ausbrechenden Bürgerkriegs stärken sollte. Er stieß dabei auf zahlreiche Widerstände beim spanischen Hochadel, konnte sich aber nach und nach in wichtigen Fragen durchsetzen und eine gewisse Zentralisierung der Macht erreichen. Dabei erhielt Philipp anfangs nachdrückliche Unterstützung von Ludwig XIV., der ihm nicht nur Verhaltensmaßregeln empfahl, sondern ihm auch Personen seines Vertrauens zur Verfügung stellte. Philipp schuf sich eine eigene Garde du Corps nach französischem Vorbild, verkleinerte den Hofstaat und führte Staatssekretariate ein, die Vorläufer der späteren Ministerien waren. Auf diese Weise suchte sich Philipp V. einen ihm ergebenen Beamtenapparat zu schaffen, auf den er sich bei seinen Zentralisierungsbestrebungen stützen konnte. In einem zweiten Schritt schuf er eine zentrale Finanzverwaltung und baute das Steuersystem um.53 Diese Maßnahmen mündeten unter Ferdinand VI. (1713–1759) schließlich im Jahr 1749 in die Einführung eines Intendantensystems nach französischem Vorbild.54 Philipp V. war es im Rahmen des mit dem Spanischen Erbfolgekrieg verbundenen Bürgerkriegs bereits im ersten Drittel seiner Herrschaft gelungen, die Steuerprivilegien der gegen ihn aufgetretenen aragonesischen Reiche zu beseitigen und Aragon besser in die Monarchie einzubinden.55 Durch die Übernahme französischer Modelle, die zum Teil mit traditionellen Institutionen verschmolzen wurden, gelang Philipp V. eine Rationalisierung politischer, kultureller und sozioökonomischer Strukturen, die einen gewissen Wiederaufstieg der spanischen Monarchie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ermöglichte.
In den preußischen Staaten entwickelte sich im 18. Jahrhundert eine auch im Vergleich mit Frankreich zahlenmäßig starke Verwaltung, die zwar stärker kollektive Züge hatte, deren Kompetenzen aber mit denen der französischen Intendanten durchaus vergleichbar waren.56 Auf bestimmten Feldern gelangte Brandenburg-Preußen dabei sogar weiter als Frankreich. So war in Preußen der Staat am Ende des 18. Jahrhunderts in den Provinzen durch Verwaltungsbeamte zahlenmäßig deutlich präsenter als in Frankreich.57 Zudem wurde unter Friedrich II. die Trennung von Verwaltung und Rechtsprechung und auch die Professionalisierung der Juristen weit vorangebracht.58 Ausschlaggebend für diese Reformen war, dass die preußischen Landesherren gerade durch eine einheitlich organisierte, durchsetzungsfähige Verwaltung eine gewisse Homogenisierung des heterogenen Korpus der preußischen Staaten anstrebten.59 Gerade Friedrich II. bezog sich dabei nachweislich auf französische Vorbilder.60 Er strebte danach, die ökonomische Basis seines Staats (nach westeuropäischem Vorbild) zu stärken, um die durch militärische Kraft geschaffene Stellung (die Eroberung Schlesiens) zu stützen. Die Schaffung der Generalakziseverwaltung, der sogenannten Regie, in den Jahren 1765 und 1766 erfolgte nicht nur nach dem Vorbild der bürokratischen Verwaltungsprinzipien Frankreichs und auf Anregung von französischer Seite. Auch wurden zentrale Positionen dieser nur formal dem Generaldirektorium unterstehenden Einrichtung von Franzosen besetzt. Durch die Regie wurden die Staatseinnahmen signifikant vermehrt.61 Sie regte im Übrigen die alte Bürokratie zu mehr Effizienz an, indem westeuropäische Ideen, neben französischen vor allem niederländische und englische, bei der Restrukturierung der Verwaltung einbezogen wurden.62
In Preußen fand auch der Kameralismus als deutsche Spielart des Merkantilismus im 18. Jahrhundert die deutlichste Ausprägung und wurde zudem eng an die staatliche Verwaltung gebunden. Der Bedarf an fähigen Beamten wurde durch kameralwissenschaftliche Studiengänge gedeckt. Für die preußische Beamtenausbildung wurde die 1694 gegründete Universität Halle sehr wichtig,63 an der 1727 der erste Kameralistiklehrstuhl in den deutschen Staaten errichtet wurde.64 Friedrich II. und auch sein Nachfolger, Friedrich Wilhelm II. (1744–1797), warben zudem gezielt französische Facharbeiter aus der Seidenbranche an, um, mit unterschiedlichem Erfolg, eigene Manufakturen in Preußen zu schaffen und unabhängiger von Importen zu werden.65
Die merkantilistische Wirtschaftspolitik Colberts war insgesamt vorbildhaft für das übrige Europa, wenn auch nicht immer zum Vorteil Frankreichs. Seit den 1670er Jahren erschienen in deutschen Staaten eine Reihe von Schriften, die protektionistische Maßnahmen insbesondere gegen den Import französischer Waren empfahlen, um damit die einheimische Wirtschaft zu fördern. Leopold I. (1640–1705) verbot im Gefolge der Kriege gegen Frankreich wiederholt die Einfuhr französischer Waren in die österreichischen Lande, wobei er sich zum Teil auch auf Reichstagsbeschlüsse stützte.66
Versailles als Vorbild
Zum Vorbild an allen europäischen Höfen wurden Versailles, der französische Stil der Herrschaftsrepräsentation und der Hofkultur, auch wenn Versailles bereits gegen Ende der Herrschaft Ludwigs XIV. kulturell von Paris überflügelt wurde.67 Gerade die unter Colbert durch ein System von Einrichtungen entwickelte systematische Kulturpolitik zielte auf eine kulturelle Vorherrschaft, die am Ende des 17. und im 18. Jahrhundert tatsächlich weitgehend erreicht wurde. Sie war mithin viel erfolgreicher als die Versuche Ludwigs XIV., mit militärischen Mitteln die politische Hegemonie in Europa zu erringen und dauerhaft zu behaupten.
Ludwig XIV. verschaffte seiner Residenz einen herausgehobenen Platz, die bourbonische Architektur wurde für mehr als ein Jahrhundert zum Vorbild in Europa. Die Reihe der Schlösser, die sich an Versailles orientierten, Teile kopierten oder imitierten, ist sehr lang. Der Stil von Versailles veränderte die meisten Schlösser Europas. Versailles war für die Zeitgenossen ein Ideengeber und setzte neue Standards in Bezug auf die künstlerische Gestaltung.
Der schwedische König unterhielt von 1693 bis 1718 sogar einen diplomatischen Vertreter auf Botschafterniveau in Paris, der den Auftrag hatte, die Kunstentwicklung in Frankreich für den königlichen Architekten zu beobachten.68 Der Einfluss, den das Vorbild Versailles in Schweden hinterließ, lässt sich z.B. am Königsschloss in Stockholmerkennen.69
Die spanischen Bourbonen haben im 18. Jahrhundert viele Elemente wie selbstverständlich übernommen. Zum Teil mischte sich Ludwig XIV. beim Umbau und der Neugestaltung der spanischen Schlösser und Gärten selbst ein. Eine ganze Reihe von Künstlern, die in Versailles gewirkt hatten, arbeiteten im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts für Ludwigs Enkel Philipp V.70 Letztlich kam es aber nur zu einer Vermischung von spanischen Elementen mit Stilelementen aus Versailles, was auch an den großen finanziellen Problemen lag, die Philipp V. der Spanische Erbfolgekrieg bereitete.71 Philipp übernahm zudem eine Reihe von Ritualen vom Versailler Hof.72
Auch in Italien war der Einfluss von Versailles durch die bourbonischen Sekundogenituren in Parma und Neapel im 18. Jahrhundert spürbar.73 So ließ Philipp I. von Parma (1720–1765) das Innere des Schlosses von Colorno vom französischen Architekten Ennemond Alexandre Petitot (ca. 1727–1801) nach Versailler Vorbild umgestalten.74 Der spätere Karl III. von Spanien (1716–1788) wiederum ließ als König beider Sizilien ab 1752 von Luigi Vanvitelli (1700–1773) den Palast von Caserta bauen. Er sollte nach dem Vorbild von Versailles neues administratives Zentrum und Herrschaftssymbol des Königreichs werden.75
Die deutschen Fürsten orientierten sich in besonderem Maße an Architektur, Gartengestaltung, Möbeln und Kunstsammlungen von Versailles. Das gilt für die durch Verwandtschaften und Bündnisse enger mit den Bourbonen verbundenen Wittelsbacher in Bayern ebenso wie für die sächsischen Kurfürsten oder die brandenburgischen Kurfürsten und dann Könige in Preußen.76
Der nach der Königskrone strebende brandenburgische Kurfürst Friedrich III. (1657–1713) hat den Hof als Ort der kulturellen Repräsentation in starkem Maße und mit großem finanziellen Aufwand gestärkt und sich dabei besonders an französischen, aber auch an burgundisch-spanischen Vorbildern orientiert.77 Friedrich Wilhelm I. (1688–1740) hat den finanziellen Aufwand für den Hof dann reduziert, den Hof aber keineswegs vollständig abgeschafft. Er blieb vielmehr auf einem Niveau, das teilweise auch die Entfaltung von Prunk ermöglichte.78 Wolfgang Neugebauer spricht von einer Rationalisierung der preußischen Hofstrukturen und weist darauf hin, dass damit eine Entpolitisierung des Hofes verbunden war.79 Dieser Zug des Hofes blieb auch unter Friedrich II. erhalten.
Friedrich II. hatte zwar für Zeremoniell und Repräsentation vor allem Spott übrig, gerade auf dem Gebiet der Architektur stützte er sich aber deutlich auf französische Vorbilder. Nach seiner Thronbesteigung schickte er 1740 seinen Oberintendanten der Königlichen Schlösser und Gärten, Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff (1699–1753), nach Paris, um sich Anregungen für seine Bauvorhaben zu holen.80 Beim Bau des Schlosses Sanssouciund auch des Neuen Palais sind französische Vorbilder unverkennbar. Ausgangspunkt für Friedrichs Pläne von Sanssouci war das Werk De la distribution des maisons de plaisance et de la décoration des édifices en général des französischen Architekten Jacques-François Blondel (1705–1774).81 Pläne zum Bau der dem Neuen Palais gegenüber stehenden Communsstammten vom französischen Architekten Jean-Laurent Legeay (ca. 1708–ca. 1790). Die Ausführung des Neuen Palais erfolgte durch den Deutschen Carl Philipp Christian von Gontard (1731–1791), der Mitte des 18. Jahrhunderts in Paris studiert hatte.82
Für den starken französischen Einfluss gerade auf dem Gebiet von Sprache und Kultur in Brandenburg-Preußen bis weit ins 18. Jahrhundert hinein waren die Aufnahme der Hugenotten und ihre rechtliche Sonderstellung eine wichtige Ursache. Dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620–1688) war es durch ihre Anwerbung gelungen, eine große Zahl von Trägern der französischen Kultur ins Land zu holen. Deren Rolle gerade im Bereich von Bildung und Kultur – viele Réfugiés waren als Hofmeister und Hauslehrer des Adels (u.a. auch Friedrichs II. selbst) tätig – stärkte die ohnehin vorhandene Modellfunktion französischer Kultur im 18. Jahrhundert in Preußen zusätzlich.83
Neben den wichtigen deutschen Landesfürsten ließen aber auch die kleineren Landesherren ihre Schlösser und Gärten nach dem Versailler Vorbild und häufig von französischen Architekten umbauen. Das gilt u.a. für Trier, Mainz, Köln, Zweibrücken, Ansbach, Bayreuth oder Kassel.84
Volker Bauer hat darauf hingewiesen, dass es sich nicht einfach um eine plumpe Imitation des französischen Vorbilds handelte, sondern dass bestimmte Elemente wie die topographische Lage der Schlossbauten, die architektonischen Grundstrukturen und die Innendekoration übernommen und adaptiert wurden. Zudem zeigen sich auch Einflüsse der spanisch-italienischen Tradition, die durch die Habsburger über das Vorbild Wien vermittelt wurden, sowie bestimmte deutsche und niederländische Traditionen. Auch das Hofleben kopierte nicht ausschließlich das Versailler Vorbild, sondern mischte in Abhängigkeit von Konfession, Finanzkraft und Anspruch des jeweiligen Fürsten französische Elemente mit deutschen und auch italienisch-spanischen. Das führte dann zu einer spezifisch deutschen Ausformung der Barockschlösser und auch des höfischen Lebens.85
Dies unterstreicht nachhaltig noch einmal, dass es sich bei kulturellen Transfers eben nicht um die einfache Imitation ausländischer Vorbilder handelt, sondern um eine Integrationsleistung bestimmter Elemente, die aus bestimmten Gründen adaptiert und mit anderen Elementen in einen neuen Kontext integriert werden.86 Die deutschen Landesherren zielten mit der Übernahme von Elementen aus der französischen Hofkultur weniger auf die Einbindung des Adels als darauf, ihre Stellung nach außen, besonders innerhalb des politischen Systems des Reiches, zu stärken.87 Letztlich sollte damit aber wohl auch ihre Stellung im Inland gefestigt werden.88
Hinzuweisen ist zudem auf die wichtige Vorbildfunktion des französischen Theaters für das deutsche Hoftheater, vor allem von den 1670er Jahren bis zum Ende des Siebenjährigen Krieges.89
In Russland ging es Peter I. (1672–1725) dagegen erst einmal darum, durch die Übernahme von Elementen französischer Repräsentationskultur westliche Lebensart in der russischen Aristokratie zu verbreiten; damit das Land zu modernisieren und ins europäische System zu integrieren. Der Peterhofbei Sankt Petersburg entsprach in seiner Funktion deutlich dem Versailler Schloss. Architektonisch spielten italienische Vorbilder eine größere Rolle. Für die Gartengestaltung griff Peter dagegen auf französische Vorbilder zurück, indem er mit Jean-Baptiste Alexandre Le Blond (1679–1719) einen Schüler André Le Nôtres mit den Entwürfen beauftragte. Le Blond brachte zudem eine ganze Reihe von Spezialisten mit nach Russland, die die Inneneinrichtung der russischen Paläste nach französischem Vorbild veränderten. Peter I. war besonders von der französischen Gobelin-Manufaktur angetan und gründete in Sankt Petersburg mit französischen Gobelinmeistern eine eigene Manufaktur, die auch bald recht erfolgreich arbeitete.90 Peters Nachfolger im 18. Jahrhundert, insbesondere Elisabeth (1709–1762) und Katharina II. (1729–1796)[], haben nahtlos hier angeknüpft.91
Auch die Gegner des Sonnenkönigs haben versucht, durch ähnliche Inszenierungen die von ihm beanspruchte hegemoniale Position in Frage zu stellen. Das gilt ohne Zweifel für den Wiener Hof, der dem französischen Beispiel deutlich nacheiferte, dabei zugleich eigene Akzente zu setzen versuchte. Leopold I., der von 1658 bis 1705 herrschte, war ein entschiedener Gegenspieler Ludwigs XIV.92 Der Bau des Schlosses Schönbrunnaußerhalb von Wien war eine deutliche Antwort auf Versailles. Schon Zeitgenossen betrachteten es fast als ein anderes Versailles. Auf der Medaille, die zur Fertigstellung im Jahr 1700 geprägt wurde, wurde es bezeichnenderweise ebenso wie Versailles als Sitz der Sonne, als Sonnenschloss dargestellt. Die Sonnensymbolik wurde von den Habsburgern bereits seit Maximilian I. (1459–1519) zur Herrschaftsrepräsentation genutzt.93 Angesichts des Hegemonialanspruchs, den Ludwig XIV. gerade durch die Sonnensymbolik formulierte, haben Leopold I. und auch sein Nachfolger Joseph I. (1678–1711) erneut verstärkt ähnliche Symbole für sich reklamiert.94 Beim Bau von Schönbrunn stützte man sich sowohl auf französische als auch auf italienische Elemente. Hier wird ähnlich wie in Versailles erneut die Rolle der Architektur als Medium zur Verdeutlichung von Machtfülle und im Besonderen der kaiserlichen Größe sichtbar. Der Bau von Schönbrunn diente der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem französischen König und sollte den Wiederaufstieg der österreichischen Habsburger zur europäischen Großmacht signalisieren.95 Auch die bei prachtvollen Einzügen seit den 1690er Jahren errichteten Triumphtore dienten der Auseinandersetzung mit Ludwig XIV.96 Wir haben es hier daher mit einem Symbolkampf zu tun, bei dem sich die Habsburger auf eine ausgeprägte eigenständige Tradition des römischen Kaisertums stützten, die insbesondere von Karl VI. (1685–1740), Leopolds Sohn, nachdrücklich aufgegriffen wurde.97 Karl VI. zog dabei alle Register und leitete die "barocke Apotheose des Hauses Österreich" ein.98 Trotz des Versuchs der dezidierten Abgrenzung von Frankreich konnte sich aber auch der Wiener Hof den französischen Modellen nicht vollständig verschließen. Leopold I. holte so verschiedene französische Spezialisten, Gartenarchitekten, Juweliere, Festungsingenieure und Kunsttischler an den Wiener Hof.99
Ähnliches gilt für einen weiteren erbitterten Widersacher Ludwigs XIV., Wilhelm III. von Oranien-Nassau (1650–1702), den Statthalter der Niederlande und ab 1689 in Personalunion König von England, Schottland und Irland. Wilhelm imitierte trotz seiner ausgeprägten Feindschaft zu Ludwig XIV. ebenfalls den französischen Stil. Er ließ das Schloss von Het Loodurch den hugenottischen Architekten Daniel Marot (ca. 1661–ca. 1752) umbauen, wobei auch eine Kopie der Escalier des Ambassadeurs von Versailles entstand. Marot wirkte als Innenarchitekt Wilhelms III. zudem in Hampton Court und Kensington.100 1697 erwarb Wilhelm III. von Londoner Goldschmieden einige Silbermöbel, die nach dem Vorbild derjenigen geschaffen worden waren, die Ludwig XIV. einige Jahre zuvor zur Bestreitung der Kriegskosten einschmelzen lassen musste. Die Gärten von Hampton Court ließ Wilhelm nach Versailler Vorbild umgestalten.101 Auch die entschiedensten Gegner Ludwigs XIV. waren demnach von dessen Inszenierung in Versailles so stark beeindruckt, dass sie seinem Vorbild nacheiferten.
Die Vorbildfunktion von Institutionen der Wissenschaft und Propaganda
Auch die zu Propaganda- und Repräsentationszwecken in Paris von Colbert geschaffene breite Akademielandschaft wurde in anderen europäischen Staaten zum Vorbild genommen, selbst wenn nicht in gleichem Maße Spezialakademien wie in Paris geschaffen wurden. Das beste Beispiel für die Imitation ist wieder der spanische Hof unter Philipp V., dem Enkel Ludwigs XIV. Er gründete nach dem Vorbild der Académie française 1713 in Madrid eine Académie espagnole,die sich daran machte, ein Wörterbuch des Kastilischen zu erstellen.102
Im deutschen Sprachraum spielte erneut Brandenburg-Preußen eine Schrittmacherrolle. 1696 wurde von dem nach der Königswürde trachtenden Friedrich III. die Academie der Mahler-, Bildhauer- und Architectur-Kunst, später umbenannt in Akademie der Künste, ins Leben gerufen.103 Sie wurde von seinen Nachfolgern, Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II., sehr vernachlässigt und erlebte erst unter der Regierung Friedrich Wilhelms II. einen Aufschwung.104 Bedeutender war die Errichtung der Berliner Akademie der Wissenschaften im Jahr 1700, die sich stark am Pariser Modell orientierte. Mit der Reform dieser Akademie unter Friedrich II. 1744 wurde die Akademiebewegung im Gebiet des Heiligen Römischen Reichs zunehmend stärker. Akademien wurden 1751 in Göttingen, 1754 in Erfurt, 1759 in München, 1763 in Mannheim und 1785 in Prag gegründet.105
Im 18. Jahrhundert spielten die Nachkommen der geflüchteten Hugenotten für die Entwicklung einer eigenständigen Wissenschaftslandschaft in Preußen eine wichtige Rolle. Berliner Réfugiés waren 1720 Mitbegründer eines auf den deutschsprachigen Raum spezialisierten Journals, der Bibliothèque Germanique. Die Zeitschrift wandte sich an eine französischsprachige Gelehrtengesellschaft in Deutschland und den nordischen Ländern und berichtete über gelehrte und wissenschaftliche Angelegenheiten. Die Gründung orientierte sich am Beispiel des Pariser Journal des savants, dem sie zugleich relativ rasch Konkurrenz machte. Auf längere Sicht führte das auch zu einer wachsenden Emanzipation der französisch sprechenden literarischen Öffentlichkeit in Preußen vom französischen Modell.106 Friedrich II. holte zusätzlich dazu weitere französische Aufklärer ins Land, so den Philosophen und Mathematiker Pierre Louis Moreau de Maupertuis (1698–1759), den er an die Spitze der re-organisierten Akademie der Wissenschaften stellte. Auch andere deutsche Akademien besaßen im 18. Jahrhundert französische Mitglieder.107
In Russland schuf Peter I. nach dem Vorbild der Académie des sciences eine Akademie der Wissenschaften. Peter befürwortete auch bereits 1724 die Gründung einer Akademie der Schönen Künste, die dann aber erst unter Katharina II. 1764 definitiv geschaffen wurde.108
Ein weiteres Mal favorisierten auch die Gegner Ludwigs XIV. solche französischen Vorbilder. Der englische Dichter und Politiker Joseph Addison (1672–1719) empfahl z.B. die Gründung einer Akademie für Inschriften in England nach dem Vorbild der Pariser Petite Académie.109
Gab es ein französisches Europa?
Die Wirkung von Elementen der ludovizianischen Reform von Staat und Gesellschaft in Europa war tatsächlich eine nachhaltige. Selbst wenn sie kein französisches Europa hervorbrachte, so hat sie die Entwicklung der europäischen Staaten doch nachdrücklich beeinflusst. Auch die Wirkung von Kunst und Kultur, insbesondere Versailles als ihre prächtigste Manifestation, hat ohne Zweifel deutliche Spuren in Europa hinterlassen. Architektonisch knüpften viele Fürsten in Europa daran an, wobei der Grad der Übernahmen sowohl von der Finanzkraft als auch davon abhing, inwieweit sich das französische Vorbild mit eigenen Traditionen und Bedürfnissen verbinden ließ. Im Bereich von Inneneinrichtung und bildender Kunst stellte Versailles ebenfalls ein wichtiges Vorbild dar. Französische Handwerker, Künstler und Architekten vermittelten diese Ideen genauso wie französische Veröffentlichungen, die rezipiert und übersetzt wurden. Diplomatische Vertreter am französischen Hof sind zum Teil direkt damit beauftragt worden, Entwicklungen im Bereich von Kunst, Wissenschaft, Manufakturen und Militär zu beobachten und französische Spezialisten anzuwerben.
Auch die schon von Ludwig XIV. durchgeplante Stadt Versailles war ein wichtiges Vorbild für im 18. Jahrhundert neu gegründete oder wiedererrichtete Hauptstädte wie Sankt Petersburg, Lissabon, Caserta oder Washington.110
Das Versailler Hofzeremoniell hingegen hatte eine geringere Halbwertzeit. Für das deutsche Reich hat Bauer bereits darauf hingewiesen, dass sich spätestens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein neuer privaterer Stil der Hofgesellschaft durchsetzte.111 Das ist im Übrigen auch für Frankreich selbst zu konstatieren.
Nichtsdestoweniger spielten französische Sprache, Kunst und Wissenschaft weiterhin eine herausgehobene Rolle. Zentral hierfür war aber neben dem französischen Absolutismusmodell auch die französische Aufklärung, die sich just in dem Augenblick Bahn brach, als Frankreichs hegemoniale Position in Europa ins Wanken geriet. Allerdings waren im Frankreich Ludwigs XIV. mit den Akademien bereits Institutionen entstanden, welche die europaweite Kommunikation der Aufklärer im 18. Jahrhundert erleichtern sollten.
Wenn also der Machtanspruch Frankreichs und die aggressive Expansionspolitik Ludwigs XIV. auch in Europa relativ rasch abgelehnt und gefürchtet wurden, so wurden die Selbstdarstellung des Sonnenkönigs und die Instrumente seines Herrschaftssystems sowohl auf der Ebene von Repräsentation, Propaganda und auch der direkten Machtausübung adaptiert und kopiert. Das trug zur Rationalisierung staatlicher, sozioökonomischer und kultureller Strukturen in den europäischen Staaten bei – wenn auch innerhalb der Grenzen des frühmodernen Feudalstaats.
Es handelte sich in den meisten Fällen um tatsächliche Kulturtransfers, bei denen europäische Fürsten Elemente des französischen Institutionen- und Repräsentationsgefüges ihren Zwecken dienlich machten und den jeweiligen Verhältnissen anpassten. Gerade im Bereich von Architektur und Kunst spielten neben französischen Modellen auch stets italienische Einflüsse eine Rolle. So mag man letztlich von einem französisch geprägten Europa im 18. Jahrhundert reden, wobei sich der französische Einfluss mit verschiedenen anderen Elementen vermischte und französische Modelle an die veränderten Bedingungen im 18. Jahrhundert adaptiert wurden. Damit gilt für das Modell Versailles Ähnliches wie für das Modell der französischen Aufklärung, das Pierre-Yves Beaurepaire jüngst unter der Überschrift des "Mythos vom französischen Europa" beleuchtet hat.112 Französische Modelle und Vorbilder haben zwar eine wichtige Rolle gespielt, wurden aber in einem dynamischen Prozess adaptiert, umgeformt und mit anderen Traditionen verschmolzen.