Einführung
Trotz aller Nähe, die Christentum und Islam verbindet, und obwohl es immer wieder Phasen der Verständigung und der kulturellen Beeinflussung gab, ist die Geschichte der Interaktion zwischen den europäisch-christlichen Gesellschaften und den nahöstlich-muslimischen immer auch eine Geschichte von Konflikten und Aggressionen, von Polemik und Abgrenzung gewesen. Denn die Muslime, die im Frühmittelalter die syrischen und nordafrikanischen Provinzen des Oströmischen Reiches, Spanien und Sizilien eroberten und im Spätmittelalter ihren Herrschaftsbereich über den Balkan bis Ostmitteleuropa ausweiteten, waren nicht nur ein politisch-militärisches Problem für die Staaten in Europa, sondern stellten auch eine religiöse und kulturelle Herausforderung für die lateinischen Christen dar.1
Dieses konfliktträchtige Verhältnis ist ein Grund, warum der Islam seit dem Mittelalter als das wohl wichtigste "Andere" der Europäer bzw. der lateinischen Christen wahrgenommen und konstruiert wurde. Dies bedeutet, dass Europäer – oder lateinische Christen – ihre eigene Identität immer wieder in Abgrenzung zum Islam und den Muslimen bestimmten, neu definierten und weiterentwickelten. So entstanden im Laufe der Geschichte unterschiedliche Alteritätsdiskurse, die die religiöse, kulturelle und gesellschaftliche Distanz zwischen Europäern und Muslimen bestimmten. Dieser diskursive Prozess der Selbst- und Fremdkonstruktion soll im Folgenden durch die Rekonstruktion von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern des Islam gezeigt werden. Dies erfolgt in drei chronologischen Schnitten: Erstens wird das von Angst und religiösen Diskursen geprägte "Türkenbild" in der Zeit von der osmanischen Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 bis zum Ende des 16. Jahrhunderts dargestellt. Zweitens werden der Wandel dieses Bildes in der Zeit um 1700 und die neuen Wahrnehmungsmuster der Zeit der Aufklärung thematisiert. Als drittes schließlich geht es um die Wahrnehmung von Islam und Muslimen bzw. der "Orientalen" und des "Orients" im 19. Jahrhundert, der Zeit des europäischen Imperialismus. Die Leitfrage ist stets jene nach der Konstruktion von (kultureller, religiöser, politischer, gesellschaftlicher) Differenz und Abgrenzung zum Islam und muslimischen Gesellschaften sowie deren Konstruktion als "Antithese" zu Europa. Die Leitkategorie, unter der die Muslime bzw. der Islam als das "Andere" gefasst werden, unterliegt im Laufe der Zeit einem Wandel: Muslime können als "Türken" etikettiert werden, oder der Islam kann hinter der umfassenderen Kategorie "Orient" zurücktreten.
Alteritätskonstruktion, die Konstruktion eines "Anderen", "Fremden" in Abgrenzung vom "Selbst", vom "Eigenen" ist nicht spezifisch europäisch. Alle größeren Gemeinschaften definieren sich in irgendeiner Art und Weise in Abgrenzung von anderen. Die Konstruktion von Alterität erfolgt in der Regel über Dichotomien, also asymmetrische Begriffspaare, die über Oppositionsstrukturen und binäre Leitbegriffe organisiert sind.2 Die Konstruktion einer Alterität in Abgrenzung zum Eigenen impliziert in der Regel eine Vorstellung von der eigenen Besserwertigkeit oder Überlegenheit. Diese kann religiös, moralisch, intellektuell oder technisch definiert werden.3 Natürlich ist immer auch eine Kombination unterschiedlicher Elemente von Besserwertigkeit möglich.
Alterität – und damit auch ihr Gegenstück Identität – wird diskursiv konstruiert, das heißt über sprachlich (literarisch/textuell) und/oder bildlich (visuell/ikonographisch) hergestellte Sinnzusammenhänge und Bedeutungszuweisungen.4 Auch wenn sich Diskurse durch eine gewisse Festigkeit auszeichnen, unterliegen sie doch einem steten Wandel; sie werden den jeweiligen Bedürfnissen angepasst und modifiziert. Bestimmte Diskurse können sich durchsetzen und eine hegemoniale Dominanz erlangen, andere bleiben marginal. Durch binäre Leitbegriffe strukturierte Diskurse über Alterität und Identität transportieren zahlreiche Topoi, Stereotypen und Klischees. Sie sind Phänomene mit großer Persistenz;5 sie sterben nur langsam. Fassbar werden Alteritätsdiskurse in ganz unterschiedlichen Textgattungen: Reiseliteratur, Gesandtschaftsberichten, wissenschaftlichen Abhandlungen, literarischen Texten, Predigten usw.
Das Islambild in der Zeit der "Türkengefahr"
Die Eroberung der byzantinischen Metropole Konstantinopel durch die osmanischen Türken im Mai 1453 löste im christlichen Europa, vor allem in Italien,6 einen Schock aus. Zwar war das Byzantinische Reich seit langem keine Großmacht mehr, aber das Prestige und die Bedeutung von Byzanz als "Zweites Rom" war nach wie vor groß. Die Berichte über den Fall Ostroms verbreiteten sich rasch und verstärkten das Negativbild, das man sich seit den Kreuzzügen von den Muslimen machte. Sie enthielten ausführliche Schilderungen über die bei der Eroberung begangenen Gräuel (sogenannte "Türkengräuel"), die in der Folgezeit als Stereotypen in den Diskurs über die Osmanen einflossen und die Wahrnehmung einer "Türkengefahr"7 und die aus ihr genährte "Türkenfurcht" prägten.8 Diese Berichte wurden sehr schnell propagandistisch genutzt, um zu einem neuen Kreuzzug als "Türkenkrieg" aufzurufen. Bereits 1454 hielt Kardinal Enea Silvio Piccolomini (1405–1464), der spätere Papst Pius II. (1458–1464)[], als kaiserlicher Legat auf dem Reichstag in Regensburg eine Türkenkriegsrede.9 Als einer der einflussreichsten Redner seiner Zeit wies er auf die welthistorische Dimension der Türkengefahr hin, auf die kirchengeschichtliche, machtpolitische und strategische Bedeutung Konstantinopels und appellierte an moralische und politische Grundwerte der christlichen Fürsten. Diese "Wiedergebrauchsrede" verwendete Enea Silvio in überarbeiteter Form auf weiteren Reichstagen; als gedruckter und handschriftlicher Text wurde sie weit verbreitet.10
In Zusammenhang mit dem Fall Konstantinopels und der daraus entstehenden päpstlichen Türkenkriegs- und Kreuzzugsrhetorik konstruierten italienische Humanisten Europa als eine Identität stiftende Einheit.11 Wichtig in diesem Prozess war insbesondere Flavio Biondo (1392–1463). Er deutete noch vor dem Fall Konstantinopels die Kreuzzugsgeschichte und insbesondere den ersten Kreuzzug, der 1099 zur Eroberung Jerusalems geführt hatte, sowie den Aufruf Papst Urbans II. (1035–1099) zu diesem Kriegszug in Clermont 1095 um: In seiner Darstellung nahm der erste Kreuzzug den Charakter eines gesamteuropäischen Unternehmens an, statt eines Unternehmens der Franken, wie ihn die mittelalterlichen Quellen tradieren. Er definierte die lateinische Christenheit als eine europäische und setzte die Kreuzzüge in Analogie zum Türkenkrieg im Sinn der Abwehr einer Gefahr, die Europa von außen bedroht. Der erste Kreuzzug wurde so zu einem erfolgreichen Abwehrunternehmen der gesamten europäischen Christenheit umgedeutet und trug in dieser Form zur europäischen Identitätskonstruktion und zur kulturell-religiösen Selbstvergewisserung der Europäer bei.12 So konnte die neu gedeutete Geschichte dieses Unternehmens "für die Wahrnehmung und Einordnung der osmanischen Expansion, für ihre Apperzeption als eine die gesamte lateinische Christenheit bedrängende Türkengefahr und für die Ausbildung des Deutungsmusters 'Europa und die Türken' eine spezifische Rolle" spielen.13 Auch die zahlreichen Kreuzzugsaufrufe von Papst Pius II. gegen die Osmanen14 wurden zu einem wichtigen Vehikel, das Vorstellungen von den Türken und Muslimen als Feinde Europas prägte und verbreitete.15 Pius II. ging in seinen Kreuzzugsaufrufen von einer geeinten Christenheit aus und ignorierte, wie Flavio Biondo, die Spaltung zwischen östlichem und lateinischem Christentum. Er argumentierte, dass die Christen schon oft in Asien von Ungläubigen angegriffen worden seien, dass sie nun aber durch die Türken auf ihrem ureigenen Territorium Europa bedrängt würden. Jerusalem als Ziel und heilsgeschichtlicher Erwartungsort der Kreuzzüge verlor zugunsten von "Europa" an Bedeutung.16
Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde es üblich, Türken und Muslime gleichzusetzen: Wenn in frühneuzeitlichen Texten zu lesen ist, dass jemand "Türke geworden" sei, so bedeutete dies, dass er zum Islam übergetreten war. Die ethnische Kategorie "Türke" war also gleichbedeutend mit der religiösen Kategorie "Muslim". Dieser Sprachgebrauch entsprach weitgehend der ethnischen Beschreibung der Muslime im Mittelalter als "Sarazenen",17 ein Begriff, der in der Frühen Neuzeit zunehmend außer Gebrauch kam. Das Oppositionspaar (europäische) Christen vs. Türken löste nun die mittelalterliche Dualität Christen vs. (heidnische bzw. häretische) Sarazenen ab.18 Bei der Konstruktion dieses Oppositionspaares spielte die Frage nach der Herkunft der Türken eine wichtige Rolle. Italienische Humanisten vertraten hierbei zwei gegenläufige Thesen. Die eine besagte, dass die Türken von den Trojanern abstammten, was sich aus der Ähnlichkeit der Bezeichnungen "Turci" und "Teucri" (für Trojaner) ableiten ließ. Diese These wurde allmählich verworfen, weil sie die Türken in die Nähe der Europäer rückte, beriefen sich doch die alten Römer ebenfalls auf eine Abstammung von den Trojanern.19 Eine zweite These, die sich besser eignete, um die Türken als das Fremde und Andere zu beschreiben, setzte sich ab Ende des 15. Jahrhunderts durch. Dies war die These von der skythischen Herkunft der Türken. Sie bot sich an, um die Osmanen als Barbaren hinzustellen, die mit Rom, dem Christentum und Europa nichts gemeinsam hatten, denn mit dem antiken Reitervolk der Skythen verband sich das ganze Repertoire der Barbarei von der Unzivilisiertheit über Grausamkeit und Wollust bis zur gänzlichen Widerwärtigkeit.20 Wiederum waren es Flavio Biondo und Pius II., die maßgeblich an der Ausarbeitung und Verbreitung dieser These beteiligt waren.21
In den Schriften und Reden italienischer Humanisten der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde "Europa" als eine Einheit entworfen, die in scharfem Gegensatz zu den Türken stand. Die Rückführung der Türken auf das Barbarentum der Skythen, die Umdeutung des ersten Kreuzzugs in ein europäisches Unternehmen, das der Verteidigung gegen Barbaren diente, sowie die Übertragung von politisch-moralischen Verpflichtungen auf die Großeinheit "Europa" als "Vaterland" in Türkenkriegsreden22 konstruierten Europa als eine Identität stiftende Einheit. Damit wurde "Europa" eine Bedeutung zugewiesen, die der Begriff zuvor nie gehabt hatte, und dies in Opposition zu den Türken.
Nach der Eroberung Konstantinopels 1453 ist die erste (erfolglose) Belagerung Wiens durch die Osmanen im Herbst 1529 das zweite wichtige Stichdatum, das die Formierung des Türkendiskurses entscheidend mitprägte. Der osmanische Vorstoß, der im Licht der osmanisch-habsburgischen Hegemonial- und Grenzkonflikte in Ungarn zu sehen ist, blieb aus osmanischer Sicht Episode. Er stand jedoch im Kontext der Rivalität zweier Reiche mit Weltherrschaftsanspruch. Sowohl der römisch-deutsche Kaiser Karl V. (1500–1558) als auch Sultan Süleyman I. (ca. 1494–1566)[] ließen sich von ihren Propagandisten als Endzeitherrscher aufbauen, was die habsburgisch-osmanische Rivalität auf eine apokalyptische Ebene hob.23 Der zweite wichtige Kontext, in dem die erste Belagerung Wiens zu verorten ist, ist jener der Spaltung der lateinischen Christenheit in der Reformation.
Die erste Belagerung Wiens löste im deutschen Sprachraum, aber auch in anderen Gegenden Europas, eine wahre Flut von "Türkendrucken" aus.24 Die mit der osmanischen Expansion Richtung Mitteleuropa ziemlich gleichzeitige Verbreitung der Buchdrucktechnik ist dann auch neben Türkengefahr und Türkenfurcht als wichtige Voraussetzung für das Zustandekommen des frühneuzeitlichen Islamdiskurses zu sehen. Erst der Buchdruck führte zu einer Kommunikationsverdichtung, die es ermöglichte, ein bestimmtes Bild von den Türken und den Muslimen innerhalb relativ kurzer Zeit und über große Distanzen hinweg zu verbreiten.25 Der Buchdruck trug die Türkenfurcht aus den unmittelbaren Grenzgebieten, die bereits seit dem späten 15. Jahrhundert unter wiederkehrenden Kriegs- und Beutezügen, vor allem von osmanischen Hilfstruppen zu leiden hatten, ins Heilige Römische Reich und darüber hinaus.26 Druckschriften über die Türkengefahr schilderten angebliche oder wirkliche Kriegsgräuel in grellen Farben; oft flochten sie auch apokalyptische Motive mit ein.27 Die Türken erschienen als unmittelbare und große Gefahr für die sozialen, politischen und religiösen Verhältnisse, als eine Gefahr, der alle gesellschaftlichen Gruppen ausgesetzt waren. In den habsburgischen Erblanden, aber auch in anderen Teilen des Reiches wurden Türkenfurcht und Türkengefahr im 16. Jahrhundert von der weltlichen und kirchlichen Obrigkeit propagandistisch eingesetzt und politisch instrumentalisiert.28 Die Propaganda in Form von Flugblätternund anderen Texten, vermittelt über die kaiserliche Kanzlei, wandte sich primär an Adel und Klerus als Vertreter der Stände und sollte dazu beitragen, finanzielle Mittel für den Krieg gegen die Osmanen zu generieren. Die bäuerliche Bevölkerung erreichte die Propaganda indirekt über Adel und Klerus, insbesondere Predigten waren wichtige Multiplikatoren.29 Der Diskurs der Türkenfurcht konnte vielerlei Funktionen übernehmen: Er konnte genutzt werden, um Steuererhebungen zu legitimieren (Türken- und Kriegssteuern), um den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit und das Vertrauen in sie zu fördern und um die Stände zu kontrollieren. Er konnte auch eingesetzt werden, um Frömmigkeit und kirchenkonformes Verhalten zu fördern. So gesehen kam der propagandistischen und politischen Instrumentalisierung der Türkenfurcht eine erhebliche Rolle bei der Stabilisierung der politischen und sozialen Ordnung zu.30
Das Türkenbild des 16. Jahrhunderts war voller Topoi und Stereotypen. Nicht religiös oder wenig religiös geprägte Texte und Bilder verbreiteten in erster Linie den Topos der Grausamkeit. Die Schilderungen von Türkengräueln (Mord, Vergewaltigung, Verschleppung von Gefangenen, Zerstörungen, Brandschatzung, Plünderungen, Schändung von Kirchen etc.) dienten dazu, die Bereitschaft zum Kampf gegen die Osmanen zu wecken.31 Die Grausamkeiten des Feindes konnten auch mit biblischen Motiven kombiniert werden, so mit der Ikonographie des Betlehemer Kindermordes.32 Die Türken und damit die Muslime wurden so zum Inbegriff des Bösen stilisiert.33 Solche Schreckbilder vom "Erbfeind der Christenheit" waren nicht nur im Heiligen Römischen Reich, in Italien und anderen Gebieten an der Grenze zum Osmanischen Reich verbreitet, sondern wahrscheinlich in ganz Europa. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass das Thema der Türkengefahr im 16. Jahrhundert in der Publizistik ganz Europas zu finden war.34 Obwohl in Westeuropa nie eine unmittelbare Bedrohung durch osmanische Armeen bestand, wich "die in der französischen Bevölkerung verbreitete Einstellung nicht wesentlich von dem traditionell abendländischen 'Türkenbild' einer totalen Perhorreszierung ab".35 Vergleichbare Negativbilder kursierten auch in England,36 obwohl dort das Bild der Türken als Feinde des christlichen Glaubens neben einer positiveren Sicht existierte, die das Osmanische Reich als potentiellen Bündnispartner gegen die katholischen Mächte und als staatspolitisches Vorbild sah. Hier spielte auch der Diskurs eine Rolle, der aufgrund der gemeinsamen Ablehnung der Bilderverehrung eine Nähe zwischen Protestantismus und Islam postulierte.37
Der militärisch-politisch gefärbte Diskurs der Türkengefahr des 16. Jahrhunderts wurde durch den religiösen bzw. theologischen Diskurs über den Islam und die Türken ergänzt, erweitert und entscheidend mitgeprägt. Aus theologischer Sicht bestand keine Einhelligkeit darüber, wie der Islam als Glaubenspraxis zu interpretieren sei. Zwar dominierte die aus der mittelalterlichen Tradition der Häresienlehre stammende Interpretation, die den Islam als eine christliche Ketzerei betrachtete,38 ihr stand jedoch die Tendenz gegenüber, den Islam als eine eigene secta oder lex und damit als einen vom Christentum geschiedenen heidnischen Ritus zu interpretieren. Als dritte Möglichkeit konnten Theologen des 16. Jahrhunderts über den Islam sprechen, ohne die Frage "Häresie oder heidnischer Ritus?" zu beantworten.39 Der religiös-theologische Alteritätsdiskurs, der den Islam – wenn auch mit unterschiedlichen Argumenten – einhellig negativ bewertete und ihn als etwas dem Christentum diametral Gegenüberstehendes darstellte, konnte aus allen drei Interpretationsmöglichkeiten heraus entwickelt werden. Thomas Kaufmann hat gezeigt, wie deutsche, vor allem evangelische Theologen, ausgehend von der Grundannahme, dass es sich beim Islam um ein "diabolisch pervertiertes Derivat" des eigenen Glaubens handele, die islamische Religion als "Kirche des Antichrists"40 darstellten, die den christlichen Glauben in ihr Gegenteil verkehre und durch List und Heuchelei versuche, die Christen dem Teufel zuzuführen. Analogien zum Christentum wurden als äußerlich und als Perversion des Eigenen beschrieben.41 Damit wurde der Islam in einen endzeitlichen Erwartungshorizont gestellt; er galt als eine heilsgeschichtliche Notwendigkeit, wobei die Christen gewiss sein konnten, dass der Islam am Tag des Jüngsten Gerichts untergehen würde. Die Konversionen in den von den Osmanen eroberten Gebieten stellten zwar eine große Herausforderung für das christliche Selbstverständnis dar und fügten sich in das "Gesamtbild des Christentums als einer eminent bedrohten Religion",42 sie bestätigten aber auch die apokalyptischen Vorgänge: Nur die Ungefestigten im Glauben, die ungebildeten und primitiven Massen seien leicht durch den Antichristen zu verführen, während die wenigen Rechtgläubigen ihrer Rettung gewiss sein könnten.43
Diese heilsgeschichtliche Gewissheit über den Islam und das Osmanische Reich konnte in der Reformationszeit nicht nur genutzt werden, um zum Widerstand gegen die Osmanen aufzurufen. Sie war auch ein Kampfmittel in innerchristlichen Auseinandersetzungen. Der konfessionelle Gegner konnte mühelos "türkifiziert" werden, indem man ihn und seine Lehre in die Nähe des Islam rückte oder ihn als gleichermaßen gefährlich für den eigenen Glauben darstellte. Martin Luther (1483–1546)44 setzte den Papst mit "dem Türken" gleich, indem er Elemente der katholischen und der islamischen Lehre in Analogie setzte. Auch die Reformierten wurden von lutherischer Seite der Affinitäten mit dem Islam bezichtigt. Auf der anderen Seite polemisierten katholische Autoren gegen die Lutheraner als "neue Türken" oder machten sie für die Erfolge der Osmanen verantwortlich. Ebenso ließen sich individuelle moralische oder andere Verfehlungen "türkifizieren".45 Der religiös-theologische Alteritätsdiskurs, der die Muslime zur Antithese der europäischen Christenheit – oder genauer gesagt der jeweils eigenen Konfessionsgruppe – machte, generierte neue Identität stiftende Selbstbilder. Das Feindbild "des Türken" wurde zum integralen Bestanteil der "europäischen Abgrenzungsidentität".46
So diente Luther die Türkenfurcht auch als Mittel, um seine eigene Lehre zu profilieren.47 In verschiedenen Schriften und Predigten hob Luther immer wieder die heilsgeschichtliche Dimension der Türkengefahr hervor. In seiner apokalyptischen Sicht waren die Türken die letzten Feinde Gottes. Er sah in ihnen aber immer auch die Geißel Gottes, mit der die Christen für ihre Verfehlungen bestraft würden. Vertrat Luther anfänglich die Auffassung, dass jeder militärische Widerstand gegen dieses Werkzeug Gottes vergeblich sei und dass allein innere Umkehr, Gebet und Buße sowie die Überwindung des innerchristlichen Gegensatzes Gottes Zorn mildern und damit die Türkengefahr beseitigen könne, entwickelte er später eine Theorie des Verteidigungskrieges gegen die Türken.48 In der Schrift Vom Krieg wider die Türken von 1529 wandte er sich aber auch gegen die päpstliche Kreuzzugsideologie, da aus seiner Sicht nur die weltliche Obrigkeit Kriege führen dürfe, und zwar ausschließlich zur Verteidigung. Daneben strich Luther die unüberbrückbaren theologischen Unterschiede zwischen Islam und Christentum heraus. Unter dem Hinweis auf die Gewalttätigkeit der Türken als eine ihrer Religion inhärente Eigenschaft sprach er ihnen jegliche rechtmäßige Herrschaft ab. Seine Kritik an der im islamischen Recht erlaubten Polygamie zielte darauf ab, die soziale Ordnung der Muslime auf der Ebene der Familie als unrecht zu denunzieren. In Luthers Sicht "gehen den Türken also die wahre Religion, die wahre Obrigkeit sowie der wahre Hausstand und damit die tragenden Strukturen der Gesellschaft ab."49
Reiseberichte und ethnographische Schriften des 16. Jahrhunderts fügten dem Alteritätsdiskurs über die Muslime und Türken weitere Facetten hinzu und brachten wichtige Elemente für dessen Weiterentwicklung. Reisende thematisierten in ihren Publikationen weniger die Türkengefahr als die von ihnen beobachteten kulturellen und sozialen Gegebenheiten im Osmanischen Reich, vor allem natürlich solche, die sich von jenen in ihrer Heimat unterschieden. "Die Türken erscheinen hier nicht als die heilsgeschichtlichen Erbfeinde, sondern als Objekte des ethnographischen Blicks."50 Obwohl Berichte über Sitten und Gebräuche der Muslime oftmals eingesetzt wurden, um die Verhältnisse und Normen in der Heimat zu bestätigen und zu stärken,51 erweiterten die empirischen Informationen den europäischen Wissensstand über den Islam und flossen in einen ethnographischen Diskurs ein, der distanzierter und sachlicher mit dem Islam umging als der religiös-theologische. Empirisch gewonnene Erkenntnisse und die Verwendung von wissenschaftlichen Beschreibungskategorien für den Islam legten die Basis für ein neues Religionsverständnis, das es zuließ, den Islam als eine dem Christentum gleichwertige Religion gelten zu lassen.52
Reiseberichte des 16. Jahrhunderts berichteten zuweilen auch über positive Aspekte, die sie in Staat und Gesellschaft des Osmanischen Reiches beobachteten. Ogier Ghiselin de Busbecq (1522–1592), der 1554 bis 1562 in Diensten eines habsburgischen Gesandten in Istanbul stand, beschrieb das Osmanische Reich als eine Meritokratie, die er in positiven Kontrast zu den in seiner Heimat vorherrschenden Privilegien des Adels setzte. Auch die Ordnung und Regelhaftigkeit in der politischen und sozialen Organisation des Reiches bewertete er positiv und als vorbildlich.53 Dies zeigt, dass die Verhältnisse im Osmanischen Reich auch als Schablone genutzt werden konnten, um die eigene Gesellschaft zu kritisieren. Stereotypen blieben aber in vielen Reiseberichten erhalten, so wurde die Herrschaft des Sultans vielfach als Tyrannei beschrieben, die vor allem die christlichen Untertanen treffe. Oder es entstanden neue Stereotypen, wie das Bild des starken Sultans und des unschlagbaren Staatswesens.
Das Islambild im Zeitalter der Renaissance und der Reformation war von der Türkengefahr geprägt. Es transportierte einerseits althergebrachte religiöse Topoi (der Islam als Häresie, als Macht des Antichristen), andererseits ethnische Stereotypen (die Türken als Barbaren), die ebenfalls in einer langen Tradition standen. Immer erschienen die Türken als das fundamental Andere und als eine existentielle Gefahr für das Eigene. Das Feindbild "Türke" wurde zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Vorstellungswelt vieler Europäer, verbreitet und gestärkt durch Predigten, Flugblätter und verschiedene Arten der Literatur. Der Islam und "der Türke" mochten die Antithese des Eigenen sein, sie standen aber nicht gänzlich außerhalb der Welt der Mittel- und Westeuropäer, vielmehr waren sie ein Bestandteil ihrer Welt; sie konnten propagandistisch gegen den konfessionellen Gegner eingesetzt oder als Spiegel für Missstände in der eigenen Gesellschaft genutzt werden. Meist aber diente das Bild vom muslimischen Anderen der eigenen Selbstvergewisserung, sei es als evangelischer oder katholischer Christ oder als "zivilisierter Europäer".
Das Islambild in den Diskursen der Aufklärung
Das europäische Türken- und Islambild, das sich im 15. und 16. Jahrhundert herauskristallisierte, war recht stabil. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts begann sich jedoch eine Veränderung abzuzeichnen.54 Die Voraussetzungen dafür sind einerseits in der distanzierteren Sicht und dem neuen Wissen zu suchen, das Reiseberichte vermittelten, andererseits auf der militärisch-politischen Bühne. Die Niederlagen der Osmanen bei der zweiten Belagerung von Wien (1683) und im "Großen Türkenkrieg" (1683–1699) gegen die Heilige Liga55 markierten das Ende der osmanischen Expansionskraft gegen Mitteleuropa. "Türkentriumph" und "Türkenspott" lösten in den habsburgischen Ländern Türkenfurcht und Türkengefahr ab, bestätigten aber gleichzeitig das Negativbild vom Türken.56 Während in den wenig gebildeten und sozial tiefer stehenden Schichten das Feindbild des Türken noch lange konstant blieb, zeichnete sich in den Vorstellungen der Oberschicht und der Gebildeten allmählich ein Wandel zu einem positiveren Bild ab.
Dieser Wandel vollzog sich zunächst im Westen Europas.57 In der Umgebung des Hofes Ludwigs XIV. (1638–1715) kamen "Turquerien" auf, im französischen Theater und in der Literatur traten galante Mauren und muslimische Helden auf und das muslimische Spanien (al-Andalus) wurde mit positiven Konnotationen besetzt.58 Die Türken, Mauren und alles Orientalische wurden in der Elitekultur als etwas Exotisches betrachtet. Diese auf das Exotische gerichtete "Orientbegeisterung" lässt sich in Frankreich mit der osmanischen Gesandtschaft nach Paris 1669 und mit einer marokkanischen Gesandtschaft wenig später ansetzen. In der Literatur begann die Orientmode wohl mit Jean Racines (1639–1699) Tragödie Bajazet (1672). Einen Höhepunkt erreichte sie kurz nach 1700, als Antoine Gallands (1646–1715) Übersetzung der Märchen aus 1001 Nacht (1704–1711) einen Standard des exotischen Orientbildes setzte.59 Zu derselben Zeit versuchten auch Reisende überkommene Stereotypen zu korrigieren, so zum Beispiel Lady Mary Wortley Montagu (1689–1762) in Bezug auf das von Haremklischees verstellte Bild der osmanischen Frauen.60
Mit der Frühaufklärung begann sich in der Wissenschaft eine objektivere und positivere Sichtweise des Islam als Religion zu etablieren.61 Richard Simon (1638–1712) wandte sich gegen die Beschreibung von Religionen im Nahen Osten als Häresien und anerkannte den Islam als eine Variante desselben monotheistischen Glaubens.62 Das Werk Bibliothèque orientale von Barthélemy d'Herbelot (1625–1695), das 1697 von Antoine Galland fertiggestellt wurde, war die erste Enzyklopädie des Nahen Ostens, die keinen Gegensatz zwischen Islam und Christentum, Orient und Okzident konstruierte oder Aussagen verallgemeinerte.63 Im Jahre 1730 erschien die erste seriöse Biographie des Propheten Muḥammad (ca. 570–632) aus der Feder Henri de Boulainvilliers (1658–1722).64 Viele Intellektuelle der Aufklärungszeit sahen den Islam als eine tolerante Religion oder strichen seine Rationalität und Einfachheit heraus und stellten diese in Kontrast zum Christentum mit seinen vernunftmäßig schwer fassbaren Dogmen. Die Historisierung des Islam und das vielseitige Interesse, das Vertreter der Aufklärung dem Islam entgegenbrachten,65 hatten aber auch Kehrseiten. Aufklärer verwendeten den Islam und seinen Propheten oft als Argument in ihrer Kritik an kirchlichen Autoritäten und deren Lehren. Dabei verwendeten sie nicht selten althergebrachte Stereotypen66 oder entwickelten neue. So stellte Voltaire (1694–1778) in seiner allgemeinen Religionskritik den Propheten als Betrüger und Fanatiker dar, um ihn so als Spiegel für das, was er an der katholischen Kirche kritisierte, einzusetzen. Denis Diderot (1713–1784) und andere stellten einen Zusammenhang zwischen Islam und Fanatismus her oder setzten Vorwürfe gegen den Islam als indirekte Angriffe auf die katholische Kirche ein.67
"Fanatismus" war ein neuer Begriff, der über die Religionskritik der Aufklärung in den Islamdiskurs einfloss.68 Er trat an die Stelle älterer wertender Begriffe wie Falschheit, Häresie, Schwindel und Rechtlosigkeit, mit denen der Islam bzw. die Muslime zuvor in Beziehung gesetzt worden waren, also jener Stereotypen, gegen die sich Boulainvilliers in seiner Muḥammad-Biographie wandte.69 Er und andere Aufklärer wie Voltaire und Simon Ockley (1678–1720) schätzten zwar die Qualitäten der Araber und Muslime des Mittelalters und lobten deren Beitrag zu Philosophie, Medizin und anderen Wissenschaften,70 gleichzeitig beklagten sie aber die angeblichen Verwüstungen, die der muslimische Fanatismus im Nahen Osten verursacht habe. Akzentuiert wurde diese Sicht auf die muslimische Vergangenheit durch die Wahrnehmung eines politischen, militärischen und wirtschaftlichen Niedergangs des Osmanischen Reiches seit der Niederlage vor Wien. Der Kontrast zwischen glorreicher Vergangenheit und düsterer Gegenwart konstruierte eine neue Alterität: Nun konnte argumentiert werden, dass die Muslime nicht mehr zeitgemäß seien, da sie am Fortschritt, den Europa durch die Aufklärung erziele, nicht partizipierten. Als Argument für den angeblich desolaten Zustand der Länder im Nahen Osten wurde oft der Islam angeführt, da er wissenschaftsfeindlich sei und Aufklärung und Fortschritt verhindere.71 Damit war der Rahmen für ein neues Bild geschaffen, das Bild des fanatischen, unwissenden, obskurantistischen und rückständigen Muslim als Gegenbild des aufgeklärten und fortschrittlichen Europäers.
Ein weiteres wichtiges Vorurteil neben Fanatismus und Wissenschaftsfeindlichkeit, das sich in jener Zeit etablierte, war Despotismus. Die Verwendung der Begriffe "Despotismus" und "orientalischer Despotismus" zur Charakterisierung politischer und gesellschaftlicher Systeme in Asien, insbesondere im Nahen Osten, setzte sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts durch.72 Bereits Ende des 16. Jahrhunderts lässt sich jedoch beobachten, dass Eigenheiten der soziopolitischen Struktur des Osmanischen Reiches, die ehemals positiv oder neutral bewertet worden waren, ins Negative gewendet wurden. Berichte von venezianischen Diplomaten stellten bis etwa 1575 das Osmanische Reich als ein legitimes, ja normales Herrschaftssystem dar. Sie sprachen mit einer gewissen Faszination und Bewunderung vom Reich des Sultans, wenn auch stets gepaart mit Aversion. Die osmanische Zentralmacht und der Sultan galten als stark, Untertänigkeit und Gehorsam der Menschen lobte man als vorbildlich und es wurde anerkannt, dass (religiöses) Recht und Gesetz Machtmissbrauch genügsam verhindere.73 Während es vor 1575 in venezianischen Gesandtschaftsberichten nur wenige isolierte Bemerkungen über Tyrannei im Osmanischen Reich gab, wandelte sich später das Bild radikal: Die Andersartigkeit der politischen und sozialen Organisation der Osmanen wurde stärker herausgestrichen und mit abwertenden Adjektiven belegt; die Osmanen wurden als Gegenteil des Eigenen und ihr Reich als "die größte Tyrannei auf Erden" charakterisiert.74 Dieser Wandel in der venezianischen Wahrnehmung hängt primär mit einem neuen politischen Selbstverständnis der venezianischen Eliten als Angehörige einer freiheitlichen Republik zusammen, wobei auch europäische Debatten um legitime Regierungsformen in diesen Imagewandel des Osmanischen Reiches mit hineinspielten.75
Es war Charles-Louis de Secondat, Baron de Montesquieu (1689–1755)[], der in seinem Werk De l'esprit des lois (1747) eine umfassende Theorie, einen Idealtypus des Despotismus schuf. Montesquieu charakterisierte Despotismus nicht nur als eine Form politischer Herrschaft, sondern auch als eine Gesellschaftsform, da despotische Herrschaft das ganze Gemeinwesen durchdringen könne. Von der Despotie geprägte Gesellschaften weisen in Montesquieus Idealtypus folgende Merkmale auf: Der Herrscher (Despot) steht über dem Gesetz bzw. sein Wille ist Gesetz; es gibt keine Kräfte wie einen Adel oder eine erbliche Aristokratie, die seine Herrschaft einschränken; der Despot kann so mittels einer völlig abhängigen Verwaltungselite herrschen; diese, wie auch die Untertanen, haben ein "Sklavenbewusstsein"; im Verhältnis zwischen Herrscher und Untertanen wie auch zwischen den Untertanen dominiert die Furcht, so dass die Despotie auch in Haushalt und Familie vorherrscht; weiter gibt es in einem von Despotie geprägten Gemeinwesen kein Privateigentum an Grund und Boden (alles gehört dem Despoten); schließlich führt despotische Herrschaft zur unbeschränkten Ausbeutung der Natur.76 Laut Montesquieu werde die Ordnung in von Despotie geprägten Gesellschaften durch Angst und blinden Gehorsam aufrechterhalten; eine Möglichkeit für einen politischen Wandel sah er nicht.77 Zudem stellte er die Despotie als jene Herrschaftsform dar, die für Asien charakteristisch sei und begründete dies mit der Weite des Landes, die große Reiche begünstige, und vor allem mit dem in Asien vorherrschenden heißen Klima. Er vertrat (wie lange vor ihm schon Aristoteles [384–322 v. Chr.]) die Ansicht, dass heiße Klimata die Menschen verweichlichten und daher zu Sklaven werden ließen, während Menschen in gemäßigten Klimazonen (lies: Europa) zu Tapferkeit neigten und so in der Lage seien, ihre Freiheiten zu wahren und zu verteidigen.78 Daher herrsche in den Weiten und der Hitze Asiens die despotische Herrschaftsform vor, während in Europa die gemäßigten Regime Monarchie und Republik die Regel seien. Despotie entstehe also in Asien quasi aus einer Naturgesetzlichkeit heraus. Durch die Situierung der Despotie in Asien, vor allem in den muslimischen Großreichen der Osmanen, Safawiden und Moguln, auf die Montesquieu in seiner Analyse immer wieder verweist,79 konstruierte er wie auch seine Interpreten eine unüberbrückbare Differenz zwischen West und Ost, zwischen europäischen und muslimischen Gesellschaften. Die despotische Herrschaftsweise und die durch Sklavenmentalität und Furcht geprägte Gesellschaft des Orients werden als Antithese zur freien europäischen Gesellschaft konstruiert, in der das Gesetz herrscht und Tugend (in der Republik) bzw. Ehre (in der Monarchie) die politische Kultur bestimmen.
Als Quellen seiner Analyse der politischen Systeme Asiens zog Montesquieu europäische Reiseberichte des späten 17. Jahrhunderts heran.80 Seine Einschätzung des Osmanischen Reiches basiert in erster Linie auf Sir Paul Rycauts (1626–1700) Present State of the Ottoman Empire (1668).81 Rycaut, der von 1667 bis 1678 als englischer Konsul in Smyrna (İzmir) tätig gewesen war und dessen Buch im 18. Jahrhundert "kanonischen Status" hatte, zählte willkürliche und grausame Herrschaft, das Fehlen eines Adels bzw. einer Aristokratie, strengen Strafvollzug und blinden Gehorsam der Untertanen unter die osmanischen "Staatsmaximen"; die tyrannische Herrschaft sah er als Quell von Macht und Größe des Reiches.82 Die Informationen über das Reich der Moguln in Indien entnahm Montesquieu den Schriften François Berniers (1620–1688), der die dortigen Verhältnisse mit jenen in Frankreich verglich und so ein Bild von zwei unterschiedlichen Kulturen zeichnete, von denen die eine – die muslimisch-orientalische – aufgrund des despotischen, Ausbeutung und Korruption begünstigenden Regimes im Niedergang begriffen sei, während die andere – die französische – dank erblichem Adel, privaten Besitzrechten, wirtschaftlich unabhängigen Städten und Schutz aller Stände durch das Gesetz prosperiere.83 Montesquieus Bewertung der Verhältnisse in Persien basiert auf den Schriften Jean Chardins (1643–1713).84 Dabei unterschlug er Chardins vielfältige Differenzierungen der Situation im Reich der Safawiden, insbesondere, dass der Despotismus am Hof verbreitet sei, aber nicht die Masse der Untertanten betreffe, die auch keine Sklaven des Königs seien, und dass es in Persien sehr wohl privaten Landbesitz gebe.85 Montesquieu nutzte also seine Quellen äußerst selektiv; er griff an Informationen heraus, was seine Theorie stützte, ließ weg, was ihr widersprach,86 und verdichtete sie zu einer asymmetrischen Typologie zwischen Ost und West.87 Zwar kann Montesquieus Motivation nicht als islamfeindlich bezeichnet werden, dennoch transportierte er Stereotypen der islamischen Religion und setzte sie zur Despotie in Beziehung: Der Islam begünstige willkürliche und grausame Bestrafung und veranlasse die Menschen, ihren Herrscher zu verehren; Muslime neigten aufgrund ihres Prädestinationsglaubens zu Faulheit und Fatalismus.88 So schuf er eine deterministische Dichotomie und akzeptierte als selbstverständlich, dass es eine große Differenz zwischen Europa und dem Orient gebe. Despotismus wurde so zu einer "Achse, um die sich das Bild des Anderen dreht".89
Montesquieus politische Theorie ist in erster Linie als Kritik an absolutistischen Tendenzen in Frankreich zu begreifen. Sein Despotiebild, das "wie eine Karikatur der schlimmsten Momente der persischen und osmanischen Geschichte wirkt",90 war ein Schreckbild, das den Franzosen vor Augen führen sollte, wozu eine uneingeschränkte Königsherrschaft führen kann. Dies zeigt die Polyvalenz von Debatten, die in der Zeit der Aufklärung geführt wurden: Die Diskussion um den Despotismus ließ sich einerseits nutzen, um Kritik an Entwicklungen und Zuständen in Europa anzubringen, andererseits stellte sie einen Interpretationsrahmen für die Verhältnisse in asiatischen Gesellschaften zur Verfügung. Ähnliches gilt auch für Fanatismus und Wissenschaftsfeindlichkeit: Sie dienten nicht nur der Analyse angeblicher Zustände in muslimischen Gesellschaften, sondern ließen sich auch in der Heimat gegen die Macht der Kirche ins Feld führen.
Montesquieus Despotismustheorie war keineswegs unumstritten. Voltaire kritisierte den Klimadeterminismus, auf dem sie aufgebaut war, und machte auf die Unhaltbarkeit vieler Verallgemeinerungen aufmerksam.91 Auch der empirischen Überprüfung hielten die Aussagen Montesquieus nicht stand. Abraham-Hyacinthe Anquetil-Duperron (1731–1805) und Charles William Boughton Rouse (1747–1821), die – der erste für das Osmanische Reich, Persien und Indien, der zweite für Bengalen – Montesquieus Generalisierungen Punkt für Punkt widerlegten, konnten sich jedoch gegen die vorherrschende Akzeptanz der These vom orientalischen Despotismus nicht durchsetzen.92 Gleiches gilt für den britischen Botschafter in Istanbul, Sir James Porter (1710–1776), der nachzuweisen versuchte, dass das Osmanische Reich eine beschränkte Monarchie sei, in der Rechts- und Religionsgelehrte ('ulamā') den Herrscher kontrollieren und seine Macht begrenzen.93
Montesquieus Theorie konnte zur Verunglimpfung von Nicht-Europa als Hort der Despotie genutzt werden. Viele Reiseschriftsteller suchten denn auch im Nahen Osten nach Belegen, die ihre vorgefasste Meinung von der orientalischen Despotie und damit Montesquieus These bestätigten – und sie fanden sie auch. François de Tott (1733–1793) traf überall im Osmanischen Reich auf Despotismus, da er glaubte, dass der Despotismus ein grundsätzliches Merkmal der osmanischen Gesellschaft sei, und dass Despotismus und Sklavenmentalität, die er im Prädestinationsglauben der Muslime begründet sah, Charakterzüge der Türken seien.94 Auch weniger bekannte Autoren wie William Eton suchten und fanden im Osmanischen Reich Despotismus. Für Eton stand der Despotismus des Sultans in enger Beziehung zum "Aberglauben" und den "Vorurteilen" des Volkes, die er ihrerseits vom Islam herleitete, den er für "absurd" hielt. Dem Despotismus der Osmanen stellte er als Antithese die rechtlich gebundene Herrschaftsform Englands gegenüber.95
Immer wieder wurde auch eine Verbindung zwischen der im islamischen Recht zulässigen Polygamie und dem Despotismus hergestellt, so bereits von Montesquieu, der den Harem als eine Despotie im Kleinen beschrieb.96 Laut Arnold Hermann Ludwig Heeren (1760–1842) baute der Despotismus auf der Polygamie auf: Sie begründe einen "Familiendespotismus", da sie die Frau zur Sklavin das Mannes mache, der dadurch zum Despoten werde. Despotismus komme also von unten, aus der Familie, nicht von oben, vom Herrscher. Daher sei es in muslimischen Gesellschaften unmöglich, dass sich häusliche Tugenden entwickeln, und daher könne es auch kein Bürgerbewusstsein geben.97 Hier scheint ein viel älteres Argumentarium auf: Bereits Luther hatte aufgrund der Polygamie die soziale Ordnung der Muslime als illegitim dargestellt. Polygamie, Unfreiheit der Frauen sowie ihre Abschottung im Harem galten gemeinhin als ein "Makel des Islam", dem die moralisch höherwertige Monogamie in Europa gegenübergestellt wurde.98
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Despotismustheorie auch herangezogen, um der bestehenden Herrschaft im Nahen Osten die Legitimität abzusprechen. Dies tat zum Beispiel Constantin-François Chassebœuf de Volney (1757–1820). Volney zufolge war das Osmanische Reich ein illegitimer Ausbeutungsstaat.99 Die ganze Bevölkerung sei der Willkür und dem ausbeuterischen Despotismus der militärischen Eliten schutzlos ausgeliefert. Despotismus und Ausbeutung hätten dazu geführt, dass die Länder des Nahen Ostens gänzlich verödet seien, ein Topos, der nicht nur in der Zeit der Aufklärung herumgereicht wurde, sondern bereits in Reiseberichten des 16. Jahrhunderts zu finden ist. Dabei stellte Volney eine enge Verbindung zwischen Despotie und Islam her, da sie beide "die Menschen in die Fesseln der Ignoranz schlügen".100 Der Islam war für ihn ein Fortschrittshindernis, der Koran überwiegend ein "vages Gewebe sinnentleerter Phrasen", eine "Ansammlung kindischer Geschichten, lächerlicher Fabeln", in denen der Geist des Fanatismus wehe, der seinerseits den "vollständigsten Despotismus" hervorbringe.101 Anders als Montesquieu sah Volney die Despotie nicht als ein irreversibles, klimabedingtes Phänomen, sondern als ein politisches und damit als ein behebbares. Volney konstruierte auf der Basis des Despotievorwurfs eine Dichotomie zwischen Fortschritt und säkularer Rationalität in Europa und Rückständigkeit, Ignoranz und religiös-politischer Irrationalität im Nahen Osten, in der ein deutlicher Überlegenheitsdiskurs mitschwang. Durch die Dämonisierung des Despotismus sprach er der osmanischen Herrschaft die Legitimität ab. Durch den Überlegenheitsdiskurs wurde zudem eine "wohlmeinende" europäische Intervention im Nahen Osten denkbar, denn um den Despotismus zu bekämpfen und die desolaten Zustände zu beheben, sei die Einführung europäischer Wissenschaften notwendig.102
Das 18. Jahrhundert stellte so einen neuen Alteritätsdiskurs zur Verfügung. Der Islam und die islamisch geprägten Gesellschaften wurden nicht mehr aufgrund religiöser Parameter als das Andere definiert, sondern aufgrund säkularer. Der alte, aus dem Gefühl der militärischen Bedrohung und Unterlegenheit heraus generierte Alteritätsdiskurs wich einem Überlegenheitsdiskurs. Diesem lag ein Set von Stereotypen zugrunde, das den muslimischen Orient aufgrund von Despotismus, Fanatismus, Wissenschaftsfeindlichkeit und Rückständigkeit von Europa ab- und ausgrenzte, ein Set von kulturellen Vorurteilen, das sich im 19. Jahrhundert zu der These verfestigte, dass Islam und Moderne, Europa und Islam nicht miteinander kompatibel seien.103 Im Kontext der Entstehung der europäischen Hegemonie des späten 18. Jahrhunderts begann man in Europa, "Orient" und "Okzident" als zwei unvereinbare und gegensätzliche Zivilisationen zu sehen.104 Dabei war bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts niemandem so recht klar, wo die geographischen Grenzen Europas liegen sollten, geschweige denn die kulturellen. Das Osmanische Reich wurde jedoch zunehmend aus Europa ausgegrenzt. Es entstand die Vorstellung, dass Europa eine exklusive Wertegemeinschaft bilde, eine Vorstellung, die auf der Annahme basiert, dass seit der Zeit der alten Griechen eine essenzielle kulturelle Kontinuität und Kohärenz durch Raum und Zeit bestehe, eine Annahme, die impliziert, dass Einflüsse von "Außen" negiert oder ignoriert werden.105 Die Selbstdefinition der Europäer erfolgte so stets in Relation zum Anderen, im Kontrast zu Nicht-Europa. Europa wird zur Heimat von Freiheit, Recht, Rationalismus, Wissenschaft, Fortschritt, intellektueller Neugierde, Unternehmer- und Erfindungsgeist, alles Kernwerte der Europäer, die zu den alten Griechen zurückverfolgt werden, und die sie vom Orient, vom Islam unterscheiden.
Das Islambild im Zeichen von Imperialismus und Orientalismus
Im Sommer 1798 marschierten französische Truppen unter Napoleon Bonaparte (1769–1821) in Ägypten ein. Obwohl die Besetzung nur knapp drei Jahre dauerte, markiert sie eine Epochenschwelle in der europäischen Wahrnehmung des Nahen Ostens und des Islam. Zum ersten Mal seit den Kreuzzügen bemächtigten sich Europäer eines muslimischen Kernlandes. In der legitimatorischen Rhetorik, die das revolutionäre Frankreich für dieses koloniale Unternehmen ins Feld führte, schwang der Diskurs der Aufklärung mit: Die Franzosen erhoben den Anspruch, Ägypten vom Joch der mamlukischen und osmanischen "Despoten" zu befreien und das Licht der Aufklärung und die Freiheit in den Orient zu tragen.106 Volneys Interpretation der Zustände in Ägypten und der Levante wurde hier direkt politisch relevant, denn die Führung der Armée d' Egypte verstand sein Buch Voyage en Syrie et en Egypte von 1787 als eine Art "Führer" der Expedition.107
In derselben Zeit begann sich das Paradigma der überlegenen europäischen Zivilisation zu verfestigen. Auf akademischer Ebene entstand die große Erzählung vom Aufstieg Europas, das bald als das global gültige Modell galt. Der muslimische Nahe Osten und das Osmanische Reich wurden aus dieser Erzählung ausgeklammert. Johann Gottfried Herder (1744–1803) beschrieb in den 1780er Jahren die Osmanen als Fremde, die nicht nach Europa gehörten, da sie nicht nur unwillig, sondern auch unfähig seien, sich der europäischen Kultur anzupassen.108 Rund dreieinhalb Jahrzehnte später schrieb Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (1822–1823) die Weltgeschichte als Geschichte der Vernunft, die zu sich selber findet, wobei der Lauf der Geschichte von Ost nach West führe. Den Orient verband er mit Stagnation und Immobilität; die Geschichte des Islam sah er nur insofern als relevant an, als die Muslime in der lange zurückliegenden Blütezeit ihrer Kultur die europäischen Völker mit Ideen und Prinzipien inspiriert hätten. Jedoch erst mit deren Aneignung durch die Europäer sei es möglich geworden, dass diese sich entfalteten und zur Geltung kamen. So erscheint der Rest der islamischen Geschichte als Niedergang und der Islam als irrelevant für die moderne Geschichte.109 Diese Marginalisierung und Auslagerung der islamischen Geschichte aus der Weltgeschichte, die mehr und mehr als eine europäische verstandenen wurde, spiegelte sich auch in der zunehmenden Spezialisierung der Wissenschaften wider. Das globale Bezugsfeld der Wissenschaften der Aufklärungszeit wurde aufgebrochen und Geschichte, Kultur und Religion asiatischer Gesellschaften in regional definierte Spezialdisziplinen ausgelagert.110
Auf der politischen und wirtschaftlichen Ebene sind die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts durch die Festigung der europäischen Hegemonie über außereuropäische Gesellschaften und die Stärkung der Kolonialimperien, insbesondere des britischen, gekennzeichnet. Am Rande Europas erlangte die "Orientalische Frage" zunehmend Brisanz, nämlich die Frage, wie viel vom Osmanischen Reich – das nun zum "Kranken Mann am Bosporus" wurde – zu erhalten sei und welche europäische Macht wie viel Einfluss in den Ländern des Sultans ausüben sollte, ohne das europäische Mächtegleichgewicht zu gefährden. Im Zuge des griechischen Unabhängigkeitskrieges (1821–1830), der in Europa eine Welle von antiosmanischer Propaganda und Begeisterung für die Sache der Griechen (Philhellenismus) auslöste, verschlechterte sich das Bild der Türken. Sie wurden – wie im 15./16. Jahrhundert und durchaus konsistent mit der im akademischen Diskurs betriebenen Ausgrenzung der Osmanen aus der europäischen Geschichte – zu uneuropäischen Barbaren stilisiert.111 Die Lage der christlichen Minderheiten, die unter dem Einfluss nationalistischer Ideen nach Selbstbestimmung strebten, bot den europäischen Mächten vielfältige Eingriffsmöglichkeiten. Aufstände und ethnische Konflikte im letzten Viertel des Jahrhunderts (Bosnien, Bulgarien, Makedonien, Ostanatolien) und die dabei – von allen Konfliktparteien – begangenen Gewalttaten taten das Ihre, um das Bild von den Osmanen zu verdüstern. Die europäische Öffentlichkeit nahm praktisch ausschließlich die Gewalttaten der muslimischen/osmanischen Seite wahr: Sultan Abdülhamid II. (1842–1918) wurde zum "roten Sultan", an dessen Händen das Blut seiner Opfer klebte, die Osmanen zu "hässlichen Türken".112 Die letzten beiden Jahrzehnte des 19. und die beiden ersten des 20. Jahrhunderts waren auch die Zeit, in der fast alle muslimischen Länder der europäischen Kolonialherrschaft unterworfen wurden;113 jene Staaten, die ihre staatliche Unabhängigkeit wahren konnten (Osmanisches Reich, Persien, Afghanistan) befanden sich oft in halbkolonialen Abhängigkeiten von einer oder mehren europäischen Mächten.
Im 19. Jahrhundert kursierten zahlreiche Stereotypen, die das Bild vom Islam und von den Muslimen zum Teil bis heute mitprägen. Der Islam kenne keine Trennung von Staat und Religion, eine säkulare Gesellschafts- und Staatsordnung sei für Muslime also nicht denkbar; in muslimischen Gesellschaften stagniere das Wissen und sei nur durch die Adaption europäischer Ideen und Normen wandelbar (Europäisierung/Verwestlichung sei notwendig); der Islam unterdrücke die Frauen; der Islam sei unmodern. Besonders raumgreifend war das Stereotyp, dass der Islam das Hindernis sei, das Modernisierung, Aufklärung und Fortschritt vom muslimischen Orient fernhalte, dass dies der Grund sei, dass er politisch, militärisch, wirtschaftlich und schließlich auch kulturell unterlegen sei.
Den negativen Vorstellungen vom Orient standen jedoch auch positive gegenüber: so die Vorstellung eines poetischen Orients als unverdorbenem Quell von Mystik und Spiritualität, nach dem sich viele Europäer sehnten.114 Im Orientbild konkurrierten also positive mit negativen Stereotypen, Klischees und Topoi; es schwankte zwischen Verklärung und Dämonisierung. Der Orient war Projektionsfläche von Wünschen und Ängsten zugleich. Und wahrscheinlich ist es gerade diese Janusköpfigkeit, die das Orientbild des 19. Jahrhunderts als Ganzes auszeichnet.115 Wenn Europäer auf der Suche nach dem poetischen Orient in den Nahen Osten gelangten (ab dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts kann man von Tourismus sprechen),116 führte die Begegnung mit dem realen Orient allenthalben zu Enttäuschung. Man fand keine Märchenpaläste, ja, in Kairo gab es nicht einmal "echte" orientalische Cafés, wie Gérard de Nerval (1808–1855) beklagte: Orientalische Cafés, die seinen Vorstellungen von Exotik und Opulenz entsprachen, könne man nur in Paris finden!117 Ein anderes Beispiel ist die französische Journalistin und Schriftstellerin Louise Colet (1810–1876), die 1869 im Rahmen der Feierlichkeiten zur Eröffnung des Suezkanals am Hof des Khediven von Ägypten weilte. Sie zeigte sich maßlos enttäuscht, dass ihr dort Theater- und Operaufführungen alla franca geboten wurden. – Der Orient, den sie erwartete, sah ganz anders aus: säbelbewehrte Orientalen in wehenden Gewändern, Kaftan, Pelz und Pantoffeln, die auf Perserteppichen und reich bestickten Kissen sitzen, Pfeife rauchen und sich bei "babylonischen Illuminationen" nubischer Sänger und Tänzer erfreuen.118
Die Desillusionierung begünstigte die Verwendung des Orients als Projektionsfläche für alles Negative, und es war ein Leichtes, den Islam für die negativen Eigenschaften des Orients verantwortlich zu machen.119 Althergebrachte Feindbilder wurden reanimiert, so lässt sich in der deutschen Unterhaltungsliteratur bereits in den 1820er Jahren eine Dominanz negativer, zum Teil religiös konnotierter Stereotypen beobachten, die die moralische Überlegenheit des Christentums und Europas postulierten. Zu diesen Stereotypen gehörten Grausamkeit und Despotismus, religiöse Militanz und Fanatismus, Trägheit und Unordnung, Wollust und Sinnlichkeit (verkörpert von Harem und Polygamie).120 Stereotype Bilder dieser Art dienten den Europäern der Selbstvergewisserung und dem Nachweis ihrer zivilisatorischen Andersartig- und Besserwertigkeit und so auch der Stabilisierung ihres kulturellen Selbstbildes.121
Die europäischen Vorstellungen vom Islam und von den Muslimen waren im 19. Jahrhundert von einer ausgeprägten Essenzialisierung gekennzeichnet. Dem Islam oder dem Orient wurde ein ewiges und unwandelbares Wesen zugeschrieben, eine Essenz, die sie grundlegend von Europa unterscheide. In noch sehr viel stärkerem Maße als oben am Beispiel der Schriften Volneys dargelegt, wurden in der Zeit des europäischen Imperialismus wissenschaftliche Erkenntnisse zur Legitimierung der europäischen Herrschaft über muslimische Gesellschaften eingesetzt. Aus der Aufklärungszeit stammende Stereotypen vom Islam (Fanatismus, Wissenschaftsfeindlichkeit, Despotismus, Stagnation und Rückständigkeit), die die Überlegenheit Europas belegen sollten, wurden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert mit rassistischen Phantasiegebilden ergänzt. Dieser Alteritätsdiskurs über den Islam wurde von wissenschaftlichen, literarischen und politischen Autoritäten reproduziert und abgesichert.122 Seit Edward W. Saids (1935–2003) Buch Orientalism von 1978,123 jener breit rezipierten und viel diskutierten Polemik gegen die britischen und französischen Orientwissenschaften,124 die im 19. Jahrhundert einen hegemonialen Diskurs über den Orient etablierten und so die westliche Herrschaft im Nahen Osten stützten, wird er meist als "Orientalismus" bezeichnet. Die orientalistischen Denkstrukturen des 19. Jahrhunderts sollen im Folgenden anhand von zwei Beispielen illustriert werden.
Eine wissenschaftliche Autorität war Ernest Renan (1823–1892), ein Philologe und Religionswissenschafter, der als einer der herausragenden französischen Intellektuellen seiner Zeit gelten kann. Seine Aussagen über den Islam im Vortrag L'islamisme et la science an der Sorbonne 1883 spiegeln in Europa gängige Vorstellungen wider.125 Für Renan war der Islam essenziell wissenschaftsfeindlich. "Den Muslim" hielt er für unfähig, selbst zu denken und zu lernen; er sei stets fanatisch, verachte andere Religionen sowie Wissenschaften und Lehren, die den "europäischen Geist" ausmachten und akzeptiere keine neuen Ideen.126 Renan stellte in seinem Vortrag die Frage, welchen Beitrag die arabisch-islamische Kultur zu Wissenschaft und Philosophie geleistet habe. Er kommt zum Schluss, dass sie allenfalls zwischen dem späten 8. und 12. Jahrhundert etwas zum Wissen der Menschheit beigetragen habe und dass dieser Beitrag nicht wegen des Islam, sondern trotz des Islam und gegen ihn zustande gekommen sei. Zudem sei das beigesteuerte Wissen weder arabisch noch muslimisch gewesen: Erstens habe man damals im Nahen Osten ausschließlich griechisches und persisches Wissen adaptiert, also nichts Eigenes geschaffen. Zweitens seien die Wissenschafter und Philosophen jener Zeit (von einer Ausnahme abgesehen) keine Araber gewesen, sondern Perser, Zentralasiaten, Spanier. Und drittens waren diese Gelehrten auch keine Muslime; es habe sich um Christen, Juden, Zoroastrier und andere gehandelt, oder dann um Muslime, die "im Innern gegen ihre Religion aufbegehrten".127 Der Islam und die Muslime hingegen hätten rationales Denken stets bekämpft und schließlich habe der Islam im 13. Jahrhundert Wissenschaft und Philosophie "erstickt".128 In diesem Moment, als in der islamischen Welt die wissenschaftliche Neugierde zum Erliegen gekommen und sie unter die Herrschaft der jeder Wissenschaft abholden "türkischen Rasse" bzw. "tatarischen und berberischen Rasse" gekommen sei, wurde das auf Arabisch tradierte griechische Wissen von den Europäern übernommen.129 Was im Nahen Osten und Nordafrika folgte, war Stagnation, religiöse Unduldsamkeit und Unterdrückung, Niedergang.
Renans Islambild steht einerseits in der Tradition der Aufklärung, weicht aber auch von ihr ab. Wie bei Vertretern der Aufklärung ist Renans Kritik am Islam in eine allgemeine Religionskritik eingebunden, die auch die katholische Kirche der Feindschaft gegen rationale Wissenschaft anklagt.130 Aufklärer konnten den Islam ihrer Gegenwart als fanatisch, rückständig, wissenschaftsfeindlich bewerten und gleichzeitig die Werke von arabischen und islamischen Gelehrten des Mittelalters wertschätzen. Renan hingegen ist zu dieser Wertschätzung kaum fähig.131
In Renans Argumentation fließen zudem rassistische Vorstellungen ein. Als der muslimische Gelehrte Ǧamāladdīn al-Afġānī (1838/1839–1897) auf Renans Verunglimpfung reagierte und ihm antwortete, dass die Muslime auf dem Weg zu einer freien, rationalen Weltinterpretation mit denselben Problemen zu kämpfen hätten wie Christen auch, nämlich mit starren Dogmen und religiösen Hierarchien, die es zu überwinden gelte, antwortete Renan in rassistischen Kategorien:
Der Scheich Ǧamāladdīn ist ein Afghane, der sich der Vorurteile des Islam völlig entledigt hat; er gehört zu jenen energischen Rassen des Oberen Iran in der Nachbarschaft Indiens, in denen unter der oberflächlichen Decke des offiziellen Islam der arische Geist immer noch so energisch lebt. Er ist der beste Beweis dieses großen Axioms, das wir oft verkündet haben, nämlich, dass die Religionen nur soviel gelten wie die Rassen, die sich zu ihnen bekennen.132
Als Philologe war Renan der Meinung, dass sich der "Geist" eines Volkes über seine Sprache und über Texte erschließen lasse, und er vertrat die Vorstellung von einer Hierarchie der Völker, Sprachen und Kulturen. Der "semitische Geist" habe den Monotheismus hervorgebracht, alles andere jedoch sei die Schöpfung des "arischen Geistes".133 Da Arabisch zu den semitischen Sprachen gezählt wird, stand die arabisch-islamische Kultur unter jener der "arischen" Griechen, Perser, Europäer. Trotz des von Renan vermittelten Überlegenheitsgefühls gegenüber den Muslimen scheint sein Islambild auch von Furcht geprägt gewesen zu sein, er glaubte aber, dass wissenschaftlich-technischer Fortschritt die Gefahr bannen könne: "Wenn Omar [der zweite Kalif], wenn Dschingis Khan vor sich eine gute Artillerie angetroffen hätten, hätten sie die Grenzen ihrer Wüste nicht überschreiten können."134 Renans Vorstellungen waren zwar nicht unumstritten,135 aber vergleichbare Sichtweisen von der europäischen Überlegenheit über die Muslime wurden im 19. Jahrhundert popularisiert.136
Als eine politische Autorität, die den europäischen Islamdiskurs absicherte und reproduzierte, kann Evelyn Baring, der erste Earl of Cromer (1841–1917)[] gelten. Cromer amtierte von 1883 bis 1907 als britischer Generalkonsul in Kairo und "beriet" in dieser Funktion den Khediven von Ägypten, dessen Land Großbritannien seit 1882 besetzt hielt. Tatsächlich regierte Cromer das Land bzw. er regierte die Regierung von Ägypten.137 Trotz seiner jahrzehntelangen Tätigkeit in Ägypten konnte sich Cromer nicht dazu herablassen, Arabisch zu lernen.138 Dennoch glaubte er sehr genau zu wissen, was die Essenz eines Ägypters bzw. eines Orientalen ausmache. "Der Orientale"/"der Ägypter" war für ihn in allem das pure Gegenteil "des Europäers"/"des Engländers": "… the Oriental generally acts, speaks, and thinks in a manner exactly opposite to the European."139 Er hielt ihn im Gegensatz zum Europäer für gänzlich irrational, eine Vorstellung die damals auf weite Akzeptanz stieß:140
The European is a close reasoner; … he is a natural logician, albeit he might not have studied logic; he loves symmetry in all things; he is by nature sceptical and requires proof before he can accept the truth of any proposition … The mind of the Oriental, on the other hand, like his picturesque streets, is eminently wanting in symmetry. His reasoning is of the most slipshod description. … The Egyptian is also eminently unsceptical. … [T]he Egyptian will, without inquiry, accept as true the most absurd rumors.141
Die Unterschiede in Denkweise, Umgangsformen, Religion und politischen Vorstellungen würden zwischen Ägyptern und Engländern unüberwindliche Barrieren errichten, so dass ein gegenseitiges Verständnis so gut wie unmöglich sei.142 Zurückzuführen waren die Unterschiede laut Cromer auf die Rasse:
Consider the mental and moral attributes, the customs, art, architecture, language, dress, and tastes of the dark-skinned Eastern as compared to the fair-skinned Western. It will be found that on every point they are the poles asunder.143
Neben der Rasse identifizierte Cromer den Islam als Grund für die gänzliche Andersartigkeit und die Rückständigkeit der Ägypter. Cromer schreibt, dass "der Islam als soziales System ein völliger Fehlschlag" sei.144 Die Gründe dafür seien die folgenden: die untergeordnete Stellung der Frauen, Polygamie und Geschlechtertrennung, die verheerende Folgen nicht nur für die Frauen, sondern – moralisch – auch für die Männer habe; die Starrheit und Irrationalität der religiösen und rechtlichen Traditionen, die keine Trennung von Staat und Religion zulasse, die Entwicklung des Kapitalismus behindere und durch die Verhängung strenger Strafen die Menschen brutalisiere; die unmoralische, aber im islamischen Recht zugelassene Sklaverei; schließlich die Intoleranz, die der islamischen Religion eigen sei. Dieser Islam sei mit der modernen Zivilisation im europäisch-christlichen Sinne nicht vereinbar; er sei auch nicht reformierbar, denn ein reformierter Islam sei kein Islam mehr. Und überhaupt seien die Orientalen derart lethargisch und konservativ, dass sie sich gegen jegliche Neuerung sträubten.145 Dennoch hätten die Engländer – eine "imperiale Rasse" mit "gediegenen Qualitäten", angetrieben von selbstloser christlicher Moral – eine Mission in Ägypten: Ordnung ins Chaos bringen, die unmündigen Ägypter, die nicht fähig seien, sich selbst zu regieren, erziehen und moralisch wie materiell auf eine höhere Stufe heben, die Korruption bekämpfen.146 Mit anderen Worten: Die Engländer sind die Ärzte einer kranken Gesellschaft, ihre Herrschaft über die aufgrund ihrer Rasse und Religion minderwertigen Ägypter ist legitim, ja sogar notwendig.
Cromers Sicht auf die Ägypter, Muslime und Orientalen exemplifiziert die enge Verquickung von orientalistischem Wissen und imperialer Machtausübung. Die von Cromer, Renan und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts postulierte Trennung von Orient und Okzident etabliert eine starre Dichotomie zwischen dem Islam und Europa, die über binäre Oppositionspaare strukturiert ist, die stets die Vorstellung der europäischen Überlegenheit implizieren: Ordnung vs. Chaos, Rationalität vs. Irrationalität, Fortschritt vs. Stagnation, Aufklärung vs. Ignoranz, Demokratie vs. Despotie, human vs. inhuman. Dem Islam, dem Orient wird so eine spezifische Essenz zugeschrieben, die ihn von Europa unterscheidet. Räumliche, soziale, historische Differenzen werden unterschlagen. Der Orient ist eine ewige Einheit; der Islam und der Muslim sind in ihrer Essenz unveränderlich und überall gleich.
Ausblick
Stereotypen und Klischees vom Islam erweisen sich einerseits als zählebig, unterliegen andererseits aber einem Wandel in Raum und Zeit. Die Abgrenzung vom Islam als Gefahr für das Eigene und die damit verbundene Selbstvergewisserung können jedoch als eine Konstante angesehen werden, die die europäische Identitätskonstruktion mitgestaltete und mitprägte. Der Alteritätsdiskurs über den Islam war stets über Dichotomien organisiert und implizierte unterschiedliche Vorstellungen von der eigenen Besserwertigkeit und Überlegenheit. Das europäische Bewusstsein, die Vorstellung von einer distinkten europäischen Identität, basierte auf christlichen Grundlagen, die in der Zeit der Aufklärung säkularisiert wurden. Die Oppositionspaare Christen—Heiden und Christen—Häretiker traten in den Hintergrund. Auch das auf antiken Vorstellungen fußende Oppositionspaar Europäer—Barbaren verlor zeitweilig an Bedeutung. Gleichzeitig setzten sich jedoch andere Dichotomien durch, die an die Vorstellung einer distinkten europäischen Zivilisation gekoppelt waren: Rationalität—Irrationalität, Gesetzesherrschaft—Despotie, Fortschritt—Stagnation, Ordnung—Chaos. Im 19. Jahrhundert schließlich traten rassistische Vorstellungen hinzu, die die europäische Überlegenheit begründen sollten. Angst- und Feindbilder vom gewalttätigen, irrationalen, fanatischen, intoleranten Islam, eine weit verbreitete "Islamophobie"147 werden auch heute problemlos politisch instrumentalisiert. Beispiele ließen sich fast beliebig nennen, sei es der "Krieg gegen den Terror" oder die Volksabstimmung über das Minarettverbot in der Schweiz. Die Vorstellung vom Muslim als dem Anderen des Europäers, vom Islam als Antithese Europas bzw. des "Westens", gestützt von pseudowissenschaftlichen Schriften wie Samuel P. Huntingtons (1927–2008) Kampf der Kulturen behindert nicht zuletzt die Integration der Menschen muslimischen Glaubens in die Gesellschaften Europas.148