Kunstbegriff
Kunst ist ein umstrittener Begriff, dessen Inhalt über Jahrhunderte mehrere Wandlungen durchlief. Der griechische Urbegriff techné und sein lateinisches Äquivalent ars bezeichneten handwerkliche Fertigkeiten, die es ermöglichten Objekte nach bestimmten Regeln herzustellen. Somit gehörten die Gegenstände, die aktuell als Kunstwerke gelten, zu einer umfassenden Gruppe der Artefakte, d.h. materiellen, von Menschen geschaffenen Objekten. Ihre Herstellung hatte den Status der artes mechanicae, d.h. mechanischen bzw. praktischen und damit – im Gegensatz zu den artes liberales – untergeordneten Künste. In der Renaissance gab es die ersten Versuche Malerei, Skulptur und Architektur als "Künste der Disegno" (d.h. verbunden durch die Entwurfspraxis der Zeichnung) einen speziellen Status zuzuschreiben. Der moderne Begriff der schönen Künste (Malerei, Skulptur, Dichtung, Musik und Tanz), der sich erst seit dem 18. Jahrhundert formierte, wurde im 20. Jahrhundert durch die unbegrenzte Erweiterung der Kategorie und die Infragestellung des ästhetischen Leitprinzips der Naturnachahmung durch die moderne und zeitgenössische Kunst herausgefordert.1 Auch die Begegnungen mit anderen Kulturen stellten den hier zusammengefassten europäischen bzw. westlichen Kunstbegriff immer wieder in Frage. Folge davon ist u.a. ein erweiterter Kunstbegriff, der neben den traditionellen "hohen Künsten" auch andere Gattungen der Artefakte (z.B. die sogenannten "angewandten Künste") umfasst und die – im Sinne der Bildwissenschaft – unhierarchisch betrachtet werden. In diesem Beitrag stehen die sogenannten "bildenden Künste" im Fokus.
Kunst in Bewegung und ihre Akteure
Was die spezifische Kategorie der Artefakte verbindet, die als Kunst bezeichnet wird, ist ihr Potential durch diverse ästhetische Eigenschaften emotionale Reaktionen hervorzurufen, also Menschen zu bewegen. Bewegung ist auch – auf unterschiedliche Art und Weise – dem Begriff Kunst eigen: Menschen reisten, um Kunst zu schaffen und um sie an anderen Orten zu bewundern, begehrte Kunstwerke wurden exportiert, von Reisen als Souvenirs mitgebracht oder als Kriegsbeute verschleppt. Durch ihre Mobilität haben Kunst und ihre Akteure die interkulturellen Kommunikations- und Transferprozesse in der europäischen Geschichte beeinflusst und hervorgebracht.
Mobile Künstler
Gesellenwanderung und Bildungsreisen
Die Mobilität tritt als wesentliches Merkmal des künstlerischen Berufs hervor. Im Rahmen des bis in das frühe 19. Jahrhundert die Kunstproduktion regulierenden Zunftsystems stellte die Gesellenwanderung meistens ein Pflichtelement der Künstlerausbildung dar.2 Durch das Verlassen des vertrauten Umfeldes sollten die in den Lehrjahren erlangten Fertigkeiten durch das Kennenlernen und Erlernen von neuen Technologien, Themen und Formen erweitert werden. Die Gesellenwanderung, die je nach Zunftvorschriften zwischen ein und sechs Jahren dauerte, konnte sowohl in die benachbarten Städte als auch in die weitgelegenen Kunstzentren führen.3 Die Kunstadepten erfuhren jedoch oft Schwierigkeiten bei der Aufnahme in eine erwünschte Werkstatt, weil Zünfte den Zufluss fremder Fachkräfte einschränkten, um die Interessen der lokalen Meister zu schützen.4
Der Architekt, Maler und Künstlerbiograph Giorgio Vasari (1511–1574) beschrieb in seinem einflussreichen Werk Die Leben der hervorragendsten Maler, Bildhauer und Architekten (Erstausgabe 1550) einen solchen Vorfall: Der Maler Taddeo Zuccari (1529–1566) aus Sant'Angelo bei Urbino wollte in das römische Atelier von Perino del Vaga (1501–1547) aufgenommen werden. Obwohl er ein Empfehlungsschreiben vorlegte, wurde er von seinem dort arbeitenden Verwandten Francesco Il Sant'Angelo brüsk abgelehnt.5 Im Rahmen einer Zeichnungsserie, die das frühe Leben Taddeos darstellt, zeichnete Zuccaris jüngerer Brüder Federico (1541–1609) um 1595 die Szene eindrucksvoll vor der Kulisse der römischen Bauten.
Es waren aber nicht nur die Zunfteinschränkungen oder die Unwilligkeit fremder Meister, die Gesellen aus anderen Städten in ihre Ateliers aufzunehmen, die deren Weiterbildung gelegentlich im Wege standen. Oft konnten sich Wanderkünstler die Aufnahme in eine renommierte Werkstatt nicht leisten. So musste sich der in Königsberg geborene und später in Schlesien tätige Barockmaler Michaël Willmann (1630–1706), der 1650 nach Amsterdam reiste, um die zeitgenössische Kunst dortiger Meister zu studieren, mit dem Ankauf von Stichen zufriedenstellen, um anhand dieser die Technik von Jacob Adriaenszoon Backer (1608–1651) oder Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606–1669) zu studieren. Ein Vergleich seines radierten Selbstbildnisses mit dem Bildnis Rembrandts, zeugt davon, dass sich Willmann nicht nur technisch, sondern auch motivisch durch den niederländischen Meister inspirieren ließ.6 In den darauffolgenden Jahren reiste Willmann weiter durch Europa und verweilte länger in Prag, wo er weitere Impulse für sein Schaffen erhielt.7 Diese Eindrücke wusste Willmann in ein höchst individuelles Stilidiom umzuwandeln, welches ihm einen prominenten Platz in der Malerei Mitteleuropas des 17. Jahrhunderts gewährte.
Spuren solcher Bildungsreisen der Frühen Neuzeit, deren Stationen nur selten genau dokumentiert wurden, pflegte die Kunstgeschichte früher durch die Stilkritik oder Analyse der in den Werken vorkommenden Motive zu rekonstruieren. So wird beispielsweise anhand der stilistischen Analyse vermutet, dass der im Horb am Neckar geborene Bildhauer Veit Stoß (1447–1533) im Rahmen seiner Gesellenwanderung mit dem Schaffen des Nicolaus Gerhaert von Leiden (1420–1473) in Berührung kam, bevor er sich in Nürnberg und später in Krakau niederließ.8
In einigen Fällen dokumentieren Handzeichnungen oder seltener ganze Skizzenbücher solche Reisen. Eine Gruppe der 1494–1496 datierten Zeichnungen von Albrecht Dürer (1471–1528) gibt einen Einblick in seine Erfahrungen auf der Reise, die der junge Maler – im Anschluss an seine Gesellenwanderung – nach Oberitalien unternahm.9 Auf der Durchreise porträtierte er unter anderen in einem Aquarell die Stadt Innsbruck.
Die seit dem späten 16. Jahrhundert auch unter den reisenden Künstlern populären Stammbücher (alba amicorum),10 die datierte Einträge der auf der Reise begegneten Persönlichkeiten beinhalten, können Aufschluss über die besuchten Orte und gesammelten Erfahrungen geben. So hat der Augsburger Malergeselle Johann König der Jüngere, laut seines Stammbuches zwischen 1647 und 1653 Nürnberg, Ulm, Stuttgart, Kempten, Nördlingen und Coburg besucht und dabei illustrierte Einträge, u.a. von seinen Kollegen, gesammelt.11 Der Maler und Zeichner Mathias Strasser (gest. 1659) schenkte ihm eine lavierte Federzeichnung, die das berühmte Torso Belvedere darstellt.12 Die Zeichnung sollte sicherlich als Hinweis auf die Italienreise Strassers fungieren und stellte ihn somit vor dem weniger weltläufigen Kollegen als Kenner der antiken Kunst dar.13
Nach der Gründung der ersten Kunstakademien im 16. Jahrhundert (Accademia delle Arti del Disegno in Florenz 1563; Accademia di San Luca in Rom 1593, Académie royale de peinture et de sculpture in Paris 1648; Maler-Akademie in Nürnberg 1662, u.a.) stellten diese eine attraktive Alternative zum Ausbildungssystem innerhalb der zunehmend schwächenden Zünfte dar.14 Durch die Landesherren gefördert, die damit die Attraktivität ihrer Städte steigern wollten, wurden Kunstakademien zu Magneten für auswärtige Künstler und damit zu einflussreichen Begegnungs- und Austauschorten. Nach dem Beispiel der durch die französische Akademie verliehenen Prix de Rome, die den bildenden Künstlern einen mehrjährigen Studienaufenthalt in Rom ermöglichten,15 wurden auch in anderen Ländern staatliche oder private Stipendien gestiftet, die die künstlerische Weiterbildung an den renommierten Kunstschulen und das Kennenlernen wichtiger Kunstzentren ermöglichte. Während Florenz und Rom bis in das 18. Jahrhundert die beliebtesten Ziele der Kunststudierenden waren, wurden sie seit dem 19. Jahrhundert durch Paris abgelöst.16 Auch die Akademien in Düsseldorf und München zogen internationale Kunstadepten an, wobei die letztgenannte insbesondere als Ort fungierte, an dem sich viele europäische Nationalschulen der Malerei herausbildeten.17
Mit wenigen Ausnahmen waren Frauen bis in das frühe 20. Jahrhundert von der akademischen Kunstausbildung ausgeschlossen, womit ihre Teilnahme am interkulturellen Austausch stark eingeschränkt blieb. Persönlichkeiten wie die erfolgreiche schweizerisch-österreichische Malerin Angelika Kauffmann (1741–1807), die als Künstlertochter ihre Ausbildung genießen und sie auf zahleichen Reisen erweitern konnte, um schließlich ein Gründungsmitglied der Royal Academy in London zu werden, stellten eine Ausnahme dar.18 Kaufmanns speziellen Status dokumentiert das Gemälde von John Zoffany (1733–1810), das die Akademiker der Royal Academy bei einer Aktstudie darstellt. Die zwei weiblichen Akademiemitglieder Kaufmann und Mary Moser (1744–1810)[] sind in dem Raum durch ihre an der Wand hängenden Porträts repräsentiert, da ihre Teilnahme am Zeichnen eines nackten männlichen Modells als unangebracht betrachtet wurde.19
Wanderkünstler
In dem Bild Zoffanys wurde ein weiterer "Außenseiter" dargestellt: der Bildhauer Chitqua (auch Tan Chet-Qua, 1723–1796) aus Kanton (Guangzhou), der 1769–1772 in London verweilte und dort seine Tonplastiken ausstellte.20 Den exotischen Gast begleitete in London ein großes Interesse seitens des Kunstpublikums und seiner Kolleg:innen, wofür sein Porträt von John Hamilton Mortimer (1740–1779) steht. Die wenigen vorhandenen Werke Chitquas geben Aufschluss darüber, welchen Blick der chinesische Künstler seinen europäischen Zeitgenossen entgegenbrachte.
Solche Begegnungen mit außereuropäischen Künstler:innen stellten in der Vormoderne in Europa in der Regel eine Seltenheit dar. Dagegen begaben sich europäische Künstler:innen auch nach dem Abschluss ihrer Ausbildung oftmals auf Reisen. Ihre Hintergründe und Formen waren dementsprechend sehr unterschiedlich. Auch die Künstler:innen, die ihr offizielles Berufstraining abgeschlossen hatten, wollten sich weiterbilden und suchten deshalb nach Inspiration in den berühmten Kunstzentren. Dabei stellten die direkten Kenntnisse der antiken Kunst ein wichtiges Element der Selbstdarstellung und Vermarktung dar. Der niederländische Maler Maarten van Heemskerk (1498–1574) verbrachte die Jahre 1532 bis 1537 in Rom, wo er in den Ateliers der dortigen Malern (z.B. Antonio da Sangallo d. J. (1484–1546)) Anstellung fand und sich zugleich dem Studium antiker Kunst widmete, wovon eine große Anzahl von Skizzen antiker Bauten und Skulpturen zeugt.21 Wie nachhaltig diese Reise auf ihn wirkte, zeigt sein Selbstbildnis, das beinahe zwei Jahrzehnte nach seiner Rückkehr nach Haarlem entstand und das den Künstler vor dem Hintergrund des römischen Kolosseums zeigt.
Van Heemskerk steht hier für eine ungezählte Schar internationaler Künstler, die nach Italien reiste, auch mit der Hoffnung, dort lukrative Aufträge zu erlangen und sich niederlassen zu können. Die Niederländer unter ihnen bildeten in der Frühen Neuzeit eine besonders reisefreudige Gruppe.22 Der wahrscheinlich erfolgreichste von ihnen war der Bildhauer Jean de Boulogne (1529–1608) aus Douai in Flandern, bekannt unter seinem italianisierten Namen Giovanni da Bologna bzw. Giambologna.23 Als Hofbildhauer der Medici und Mitglied der Florentiner Accademia erlangte er – insbesondere in seinen Bronzeplastiken – Meisterschaft, die seine Werke zu den begehrtesten in Europa machten. Die großen Kunstmäzene Medici wussten Giambolognas Talent im Dienst ihrer politischen Interessen einzusetzen. Eine strikt limitierte Anzahl seiner Bronzen wurde als diplomatische Geschenke an die befreundeten bzw. konkurrierenden Höfe verschickt, womit sie nicht nur den Ruhm des Künstlers, sondern auch den seiner kunstliebenden Mäzene verbreiteten.24 Dabei fungierten sie ebenso als Medien des kunsttechnologischen Transfers, weil die Werke Giambolognas insbesondere für die damals einzigartige Perfektion des Bronzegusses weltweit bewundert waren.
Das Beispiel des erfolgreichen Kunstmigranten Giambologna ist aus einem weiteren Grund charakteristisch. Sein Ruhm zog junge Künstler nach Florenz, für die das Atelier des Meisters in Palazzo Vecchio zum bedeutenden Begegnungs- und Ausbildungsort wurde sowie zum Sprungbrett für ihre weitere Karriere. Giambolognas ehemalige Mitarbeiter und Schüler, die an den Höfen Europas angestellt waren, haben zur Verbreitung seines Stils beigetragen. Neben Italienern wie Pietro Tacca (1577–1640), wurden auch viele Landsmänner des Meisters in seiner Werkstatt aufgenommen: Pierre Franqueville (1548–1615) aus Kamerich wurde später zum sculpteur du roi von Heinrich IV. (1553–1610) ernannt,25 Adriaen de Vries aus Den Haag (um 1556–1626) wurde vom Kaiser Rudolf II. (1552–1612)[] nach Prag berufen,26 Hubert Gerhard aus 's-Hertogenbosch (1550–1620) trat in den Dienst des Herzogs von Bayern, Wilhelm V.27
Die Präsenz vieler Niederländer in der Werkstatt Giambolognas oder am Hof in Prag zeugt von einem starken Zusammenschluss nordischer Künstler im Ausland, was generell für die Künstlerdiaspora verschiedener Herkunft charakteristisch ist.28 Eingewanderte Künstler:innen bildeten oft geschlossene Gruppen, die nicht selten eine ernstzunehmende Konkurrenz für die Einheimischen darstellten. Dies war beispielsweise der Fall bei einer Kolonie italienischer Baumeister und Bildhauer, die die künstlerische Szene Krakaus im 16. Jahrhundert dominierte.29
Einwanderer konnten auch oft mit der Unterstützung ihrer Landsleute als Auftraggeber:innen rechnen. So vermutet man, dass der bereits erwähnte Bildhauer Veit Stoß durch die Vermittlung der süddeutschen (hauptsächlich Nürnberger) Kaufleute, die in Krakau des 15. Jahrhunderts ihre Handelsniederlassungen gründeten und dort wichtige Positionen in dem Stadtrat innehatten, den lukrativen Auftrag für das Hochaltarretabel der dortigen Marienkirche 1477 erhielt. Auch nach der Rückkehr Stoß' nach Nürnberg (1496) blieb er offensichtlich mit seinem Krakauer Netzwerk im Kontakt. Davon zeugt die Bestellung eines Holzmodels für das Epitaph des italienischen Humanisten und Professor der Krakauer Akademie Philippus Bonaccursius gen. Callimachus (1437–1496) bei ihm, das – in der Nürnberger Peter-Vischer-Werkstatt in Bronze gegossen – nach Krakau zurückgeschickt wurde, um in der dortigen Dominikanerkirche ausgestellt zu werden.30 Dieser Fall demonstriert, dass die Mobilität der Künstler:innen, die dazu beitrug, dass sich transregionale Netzwerke ausbildeten, auch eine große Mobilität der Kunstwerke und damit die Intensivierung des kulturellen Austausches innerhalb Europas nach sich zog.
Jedoch konnten nicht alle Wanderkünstler:innen mit der Unterstützung ihrer Landsleute rechnen. Unter den künstlerischen Migranten gab es auch "einsame Streiter" die sich dem Widerstand der lokalen Meister stellen mussten. Der Elfenbein- und Bernsteinschneider Christoph Maucher (1642–1707) aus Schwäbisch Gmünd ließ sich 1670 in Danzig (Gdańsk), einem Zentrum der künstlerischen Bernsteinbearbeitung, nieder. Trotz zahlreicher Klagen der Danziger Bernsteindreher-Zunft gegen die Tätigkeit des talentierten Einwanderers, führte er in der Handelsmetropole an der Ostsee eine erfolgreiche Werkstatt und belieferte die benachbarten Höfe in Berlin, Warschau und Wien mit Kleinskulpturen in Elfenbein und Bernstein.31
Neben der Reiselust, sich an renommierten Kunstzentren weiterzuentwickeln oder der Aussicht, eine profitable Bestallung an einem kunstfreudigen Hof zu erhalten, gab es noch andere Gründe, die die Künstler:innen dazu bewegten, ihre Heimat zu verlassen. Dazu zählten nicht selten auch negative Push-Faktoren, wie die fehlenden Aufträge lokaler Stifter:innen, verursacht durch starke Konkurrenz am einheimischen Arbeitsmarkt, wirtschaftliche Krisen, Krieg oder Verfolgung. Folglich wurde die Arbeitsmigration zum strukturellen Merkmal einiger europäischen Kunstregionen. Seit dem Frühmittelalter bis in die Frühe Neuzeit verließen Baumeister, Steinhauer und Stuckateure aus der Region um den Comer See (daher Komasken genannt) ihre Heimat, um in Norditalien, Mittel- und Nordeuropa Beschäftigung zu finden. Die oft in Gruppen wandernden Kunsthandwerker, nicht selten im familiären Verbund reisend, brachten in die ferngelegenen Gebiete bautechnisches Know-How und stilistische Innovationen, die sie für die ausländischen Auftraggeber:innen besonders attraktiv machten.32 Der Stuttgarter Baumeister Aberlin Tretsch (um 1500–1577) berichtete 1561 dem Herzog Christoph von Württemberg (1515–1568) über die maestri comacini folgendes:
Kommen dann Frühlingszeit herab in das Land wie die Storchen, wollen den landsässigen Meistern nicht gesellenweis schaffen, müssen dennoch gut bezahlt werden. Zu Herbst- und Winterszeit ziehen sie hin mit ihren vollen Seckeln, lassen den armen Meistern im Land mit ihren Beschwerden sitzen.33
Nicht alle Komasken kehrten tatsächlich jeden Winter in ihre Heimat zurück. Einige zogen auf der Suche nach attraktiven Aufträgen von Hof zu Hof. Die aus Bissone bei Lugano stammende Baumeisterfamilie Parr-Niurion begann ihre (nachweisbare) Kunstwanderung in Schlesien, setzte sie in Mecklenburg fort und endete in Schweden. Die von ihnen erbauten Schlösser in Brieg (Brzeg, 1548–1557), Schwerin (1558–1573) und Kalmar (1574–1582) demonstrieren die Fähigkeit der Fachleute, sich jeweils an die spezifischen Wünsche und Geschmäcker der lokalen Auftraggeber anzupassen.34
Als Beispiel für eine Künstleremigration großen Ausmaßes, die auf religiöse Verfolgung, Krieg und die daraus folgende wirtschaftliche Krise zurückzuführen war, kann die große Auswanderung der Niederländer:innen in den ersten Jahrzehnten des Achtzigjährigen Krieges (1568–1648) dienen. Vielsagend sind in diesem Kontext die Worte des spanischen Agenten, Caspar de Castillo, der Antwerpen 1585 besuchte, um dort Helfer für den Bildhauer Leone Leoni (1509–1590) zu finden: "in den ganzen Staaten gibt es keine Handwerker dieser Kunst [gemeint ist Skulptur] wegen des langen Krieges".35 Dieser Verlust für die (hauptsächlich südlichen) Niederlande brachte zugleich den Aufstieg anderer Zentren mit sich, wie etwa Amsterdam, das im 17. Jahrhundert primär dank der Immigration zur Weltmetropole und zu einem herausragenden Kunstzentrum wurde. Niederländische Künstler:innen fanden Zuflucht und eifrige Auftraggeber:innen auch in Deutschland, Dänemark, England und Polen, deren Herrscher:innen qualifizierte Fachkräfte aufnahmen. Folglich prägten sie das Bild der europäischen Spätrenaissance nördlich der Alpenentscheidend mit.36
Kunstrezipient:innen als Akteur:innen des Austausches
Wichtige Akteur:innen des europäischen Kunstaustausches waren selbstverständlich auch die Kunstrezipient:innen. Es waren primär Herrscher:innen und Adelige, für die die Prachtentfaltung, u.a. durch den Besitz von Kunst und deren Kennerschaft, ein wichtiger Teil des fürstlich-aristokratischen Selbstverständnisses und der Machtrepräsentation darstellte. Franz I. (1494–1547) erkannte während seiner italienischen Feldzüge das Potential dortiger Kunst für seine politischen Zwecke. Durch die Einladung italienischer Künstler nach Amboise (Leonardo da Vinci (1452–1519)) und Fontainebleau,37 und die Anschaffung italienischer Meisterwerke (Raffael (1483–1520), Tizian (1490–1576), Michelangelo (1475–1564)) positionierte er Frankreich auf der Karte der europäischen Renaissance. Dabei blieb für ihn auch das spezifische Angebot der Künstler aus dem Norden nicht unbeachtet.38
Unter den europäischen Herrscher:innen gab es auch leidenschaftliche Kunstförderer und -sammler:innen, die einen besonderen Beitrag zum Kulturtransfer leisteten. Durch eine präzise Auslese der zeitgenössischen Künstler und Wissenschaftler unterschiedlicher Herkunft und durch den Ausbau des Netzwerks von Kunstagenten, die ihm sowohl Kunstwerke als auch Naturalia aus der Neuen Welt oder wissenschaftliche Instrumente besorgten, baute Kaiser Rudolf II. (1552–1612) an seinem Hof in Prag um 1600 ein einzigartiges intellektuelles Milieu auf. Seine berühmte Kunstkammer wurde zum materiellen Ausdruck seines sehr individuellen Geschmacks und Kunstverständnisses und zugleich zum Spiegelbild der Erweiterung der Welt im Zeitalter der großen Entdeckungsfahrten.39
Das sich zunehmend in der Frühen Neuzeit emanzipierende Bürgertum eignete sich die Formen der adeligen Repräsentation durch Kunst an.40 Paradigmatisch ist in dieser Hinsicht die Augsburger Kaufmannsfamilie Fugger, deren Vertreter sich der Kunst als Instrument der Prestigebildung, insbesondere nach der Erhebung in den Adelsstand (1511), zu bedienen wussten.41 Ihre weltumspannenden Netzwerke ermöglichten ihnen aus der Vielfalt der europäischen Renaissance und der aus der neuen Welt strömenden Güter für ihre Kunststiftungen zu schöpfen. Sie galten darüber hinaus als Kunstvermittler für ihre hochrangigen Kunden, wie die Herzöge von Bayern. Dies lässt sich an einem Objekt veranschaulichen: Eine kleine Dose mit gewirkten Porträts der Kinder des Erbprinzen Wilhelm V. (1548–1626), Maximilian und Christina, die seinen Eltern Herzog Albrecht (1528–1579) und Anna von Bayern (1528–1590) geschenkt wurde. Die Dose ist aus einer Reihe von exotischen Materialien (Elfenbein, Koralle, Lapislazuli, Perlen, Rubine) angefertigt, die wahrscheinlich durch Hans Fugger (1531–1598) in Venedig besorgt wurden. An ihrer Herstellung hat ein internationales Künstlerteam gearbeitet: Den Entwurf lieferte der Maler Friedrich Sustris (ca. 1540–1600), ein in Italien geborenes Kind niederländischer Emigranten, der an den Kunstliebhaber Wilhelm V. durch Hans Fugger vermittelt wurde.42 Das Drechseln des Elfenbeins, eine seinerzeit exklusive Fertigkeit, wurde dem Mailänder Giovanni Ambrogio Maggiore (1550–1598) anvertraut.43 Die feinen Reliefs in Koralle und Lapislazuli fertigte der Steinschneider Valentin Drausch (1546–ca. 1610) aus Straßburg an.44 Auch die Ausführung der Porträtwirkereien in Miniatur erforderte ein sehr spezifisches Know-How, das insbesondere in den Niederlanden vorhanden war. Daher wurde diese Aufgabe dem Brüsseler Tapissier Jan de la Groze (1575–1583 in München belegt) übergeben.45 Das kleine Objekt, das scheinbar für den familiären Kreis geschaffen wurde, spiegelt zugleich das paneuropäische Netzwerk der bayerischen Herzöge und seiner Bankiers Fugger sowie die globale Zirkulation der Luxusgüter und Ressourcen wider.
Europäische Oberschichten unternahmen auch selbst Reisen, die Gelegenheit boten, die Kunst anderer Länder kennenzulernen und eigene Sammlungen zu bereichern. Der polnische Kronprinz Władysław Wasa (1595–1648) unternahm 1624–1625 incognito eine Kavalierstour, die über Österreich und Süddeutschland nach Italien und schließlich in die südlichen Niederlande führte. In Antwerpen ließ er sich in dem Atelier von Peter Paul Rubens (1577–1640) porträtieren, besuchte das berühmte Verlagshaus von Christophe Plantin (1514–1589) und die Kunstsammlung von Cornelis van der Geest (1575–1638).46 Der letzte Besuch wurde in einem Gemälde dokumentiert, das die berühmte Sammlung und die hochrangigen Gäste van der Geests darstellt.47 Nach seiner Rückkehr nach Warschau ließ Władysław sein Kunstkabinett mit den vielen auf der Reise gesammelten Kunstschätzen in einem Gemälde darstellen.
Es waren nicht nur Großkaufleute und -unternehmer wie die Fugger, für die die Sammlertätigkeit als Medium der Selbstdarstellung und als Zeichen des gesellschaftlichen Aufstiegs galt. Auch die bürgerliche Mittelschicht und der Kleinadel, zunehmend durch die akademische Ausbildung an dem intellektuellen Diskurs beteiligt und durch die Kavalierstour (später Grand Tour) mit der weiten Welt vertraut, trug entscheidend zum kulturellen Austausch in Europa und darüber hinaus bei. Der Jurist und spätere Bürgermeister von Danzig Bartłomiej Schachmann (1559–1614) bereiste nach seiner peregrinatio academica und Kavalierstour durch Deutschland, Frankreich, und Italien auch das Osmanische Reich.48 Auf seinen Reisen baute er eine reiche Kunst-, Bücher- und Kuriositätensammlung auf und ließ die Eindrücke aus seiner Orientreise in einem einzigartigen Reisetagebuch darstellen.49
Mobile Kunstwerke
Kunstwerke sind seit jeher Objekte der Sehnsucht gewesen: Sei es wegen ihrer ästhetischen Qualitäten, des materiellen Wertes, einer besonderen Herstellungstechnik, ihrer Herkunft, oder wegen ihrer Geschichte. Die Tatsache, dass sie als Instrumente der Machtlegitimation und der gesellschaftlichen Positionierung fungierten, förderte ihre Mobilität und folglich auch den durch sie ausgelösten transkulturellen Austausch. Der Aufwand, mit dem die monumentalen altägyptischen oder römischen Spolien (z.B. Säulen, Obelisken) nach Europa transportiert und in neue Bauwerke (z.B. Aachener Pfalzkapelle) oder städtische Räume (z.B. Plätze von Rom oder Paris) integriert wurden, zeugt sowohl von dem enormen symbolischen Potential, das sie in sich trugen, als auch von dem Willen, sich dem Fremden durch Aneignung zu nähern.50
Luxuswaren wie chinesisches Porzellan, venezianisches Glas oder Marketerie-Möbel der Pariser Boulle-Werkstatt wurden nicht nur als ästhetische Objekte wahrgenommen, sondern auch als Träger eines exklusiven und ausschließlich an einem bestimmten Ort vorhandenen technologischen Know-Hows. Ihr Besitz bedeutete folglich Weltgewandtheit und zugleich den Zugang zu bestimmten, nur den Eliten vorbehaltenen Ressourcen und zu dem entsprechenden Wissen. Durch ihre Ausstellung in den Repräsentationsräumen oder durch ihre Aufnahme in Sammlungen bekamen diese Objekte einen neuen Kontext und unterlagen einer Auslegung, die auf ihre Wahrnehmung rückschließen lässt. Ein gutes Beispiel für ein solches transcultural framing liefern chinesische Porzellangefäße, die in Europa eine Fassung von vergoldetem Silber bekamen. Der Zweck dieser goldschmiederischen Ergänzungen war es, die oft henkellosen Gefäße an die Gebrauchsgewohnheiten der europäischen Rezipienten anzupassen, die ästhetische Qualität des Porzellans durch den Kontrast mit dem glänzenden Metall zu betonen und sie auf diese Weise aufzuwerten, oder aber auch Sets von unterschiedlichen Objekten zu vereinheitlichen.51 Eine solche Geste der Rahmengebung war zweifelsohne Ausdruck der Wertschätzung und einer aktiven Aneignung, die zur Entstehung hybrider Objekte führte.
Mobile Materialien
Auch Kunstmaterialien konnten reisen und auf diese Weise vielschichtige und multidirektionale Verflechtungen zwischen Kulturen spinnen.52 Für die Herstellung des Pigments Ultramarin, mit dem die intensivsten Blautöne in der Malerei erzeugt werden können, wurde das Mineral Lapislazuli gebraucht, das in der erforderlichen Qualität nur in Afghanistan vorkommt. Mit großem Aufwand und Kosten wurde das Material folglich aus Zentralasien importiert und seine ferne Herkunft in dem Namen des Pigments (lat. ultramarinus, dt. überseeisch) festgehalten.53
Die Herkunft der Materialien musste jedoch nicht immer im Bewusstsein der Kunstbetrachter:innen präsent sein. Die holzarmen Niederlande importierten seit dem Mittelalter aus dem Ostseeraum wetterbeständiges Eichenholz für den Schiffbau, das Bauwesen und für die Kunstproduktion (Tafelmalerei, Skulptur).54 Durch die jahrhundertelange Tradition der künstlerischen Verwendung des baltischen Eichenholzes in den niederländischen Werkstätten und dank ihrem Ruhm, wurde das Material stärker mit dem Bearbeitungszentrum als mit der Herkunftsregion assoziiert. In dem Vertrag für ein Altarbild für die Kapelle des Rathauses von Barcelona, der mit Lluís Dalmau (um 1400–1460) geschlossen wurde, wünschten sich die Auftraggeber ausdrücklich die Verwendung von Eichenholz aus Flandern. Der Maler, der von König Alfons V. (1396–1458) 1431 nach Flandern geschickt wurde, um die revolutionäre Maltechnik dortiger Maler zu studieren, knüpfte in seiner Madonna der Ratsherren sowohl an die charakteristische Darstellungsweise der altniederländischen Malerei an als auch an die dort verwendeten Materialien und Techniken.55
Kunstmarkt als Austauschfaktor
Die Tatsache, dass die spanischen Kunden so gut über die Qualitäten der niederländischen Kunst informiert waren, hängt mit der präzedenzlosen Reichweite des dortigen Kunstmarkts zusammen. In den südlichen Niederlanden des 15. und 16. Jahrhunderts wurden Luxusgegenstände wie Tapisserien, Kirchenausstattungsstücke, etwa geschnitzte Holzaltäre,56 oder die für den breiteren Abnehmerkreis erschwingliche Druckgrafik57 sowohl als individualisierte Auftragsarbeiten als auch seriell für anonyme ausländische Kunden produziert. Niederländischen Ateliers war es möglich eine breite und diversifizierte Kundschaft im Ausland zu erreichen, weil sie die logistische und finanzielle Infrastruktur der Handelsmetropolen Brügge, Gent oder Antwerpen in Anspruch nehmen konnten. Dies begünstigte die Entstehung von frühen Distributionsformen, wie dem ganzjährigen Kunstmarkt (z.B. das sog. Pand der Dominikaner in Antwerpen) oder Kunstlotterien, sowie die graduelle Herausbildung des Berufes eines spezialisierten Kunsthändlers.58 In den nördlichen Niederlanden, insbesondere im boomenden Amsterdam, das die Rolle der Kunst- und Handelsmetropole im 17. Jahrhundert übernahm, setzte sich die Tradition fort.59 Seit dem 18. Jahrhundert stammten dagegen die in Europa meist begehrten Statusobjekte (Möbel, Ausstattungsstücke, Kleider) aus Paris. Dass die französische Hauptstadt zum Zentrum des europäischen Kunst- und Luxuswarenmarktes werden konnte, verdankte sie nicht nur der tonangebenden Rolle des königlichen Hofes, sondern auch den innovativen Produktions- und Vermarktungsstrategien der marchands-merciers.60 Die in Paris gedruckten Kataloge der zu verkaufenden Luxuswaren lockten die internationalen Besucher:innen an und verbreiteten das Image eines weltgewandten, modischen Kunstrezipienten.61
Kunstraub
Kunstwerke wechselten ihre Standorte nicht nur aufgrund eines effizient organisierten Kunstmarktes und der Nachfrage ausländischer Abnehmer:innen. Sie wurden auch unter unterschiedlichen Umständen geraubt. Die Geschichte des Triptychons des Jüngsten Gerichts von Hans Memling (ca. 1430–1494) kann hier stellvertretend für tausende von anderen Kunstwerken herangezogen werden, weil das Werk in seiner über fünfhundertjährigen Geschichte mehrere Ortswechsel und Formen von Kunstraub erfahren hat. Entstanden um 1467 in der Brügger Werkstatt des aus Seligenstadt stammenden Meisters, im Auftrag von Angelo di Jacopo Tani (1415–1492), des Vertreters der Medici-Bank in Brügge, war das Altargemälde für die Michaelskapelle in Badia Fiesolana bei Florenz bestimmt. Die Galeere, die das Werk nach Italien liefern sollte, wurde jedoch 1473 von einem Danziger Schiff gekapert und das erbeutete Retabel wurde von dem Kapitän Paul Beneke (ca. 1440–1480) an die Stadt Danzig verschenkt, um in der dortigen Marienkirche ausgestellt zu werden. Trotz der Interventionen der höchsten Instanzen, des Herzogs von Burgund Karls des Kühnen (1433–1477) und des Papstes Sixtus IV. (1414–1484), wurde das Werk dem rechtmäßigen Eigentümer nie zurückgegeben.62 Der Ruhm des Meisterwerks, das vor Ort durch zahlreiche Reisende, die die Handelsmetropole an der Ostsee besuchten, bewundert wurde, verbreitete sich und ambitionierte Kunstsammler, wie Kaiser Rudolf II. oder Zar Peter der Große (1672–1725), boten dem Stadtrat von Danzig dafür erfolglos große Abkaufsummen.
Erst 1807 nach der Eroberung Danzigs durch die französische Armee, wurde das Werk von dem Planer des Napoleonischen Kunstraubs, Vivant Denon (1747–1825) für das Musée Napoléon konfisziert und nach Paris abtransportiert, wo es wieder großen Anklang fand. Nach der Niederlage Napoleons wurde Das Jüngste Gericht unverzüglich restituiert und 1815 nach Berlin gebracht. Auch in der preußischen Hauptstadt mangelte es nicht an Bewunderern, die das Meisterwerk behalten wollten, was jedoch durch den Stadtrat von Danzig entschieden abgelehnt wurde.63 Das Werk Memlings kehrte 1816 nach Danzig zurück. Dies sollte aber nicht seine letzte Reise sein. Während des Zweiten Weltkriegs wurde es, um es vor der Zerstörung zu schützen, nach Thüringen ausgelagert, wo es – nach dem Krieg von der Roten Armee gefunden – diesmal nach Leningrad (Sankt Petersburg) verschleppt und in der Ermitage ausgestellt wurde. Als das Werk 1956 in der Tauwetterperiode nach Polen zurückgesandt und restauriert wurde, kehrte es nicht in die Marienkirche zurück, sondern wurde ins Nationalmuseum in Danzig gebracht, wo es bis heute ausgestellt wird. Das Jüngste Gericht von Hans Memling ist also ein Kunstwerk, das wegen seiner außerordentlichen künstlerischen Qualität über Jahrhunderte zur Projektionsfläche für die Ansprüche verschiedener Akteur:innen wurde und in seinen vielfältigen Rollen – als reiner Wertgegenstand, als identitätsstiftender lokaler Schatz, als Element einer hegemonialen Kulturpolitik – diverse kulturelle Interaktionen auslöste.64
Die aus heutiger Sicht inakzeptable, dennoch immer wieder stattfindende Plünderung der Kulturgüter im Krieg, beruhte auf dem seit der Antike geltendem Recht des Eroberers, das in der frühen Neuzeit durch Rechtsgelehrte legitimiert wurde.65 Das Erbeuten der Kunstschätze eignete sich besonders gut zur Erniedrigung des Besiegten und zur Zurschaustellung des militärischen Triumpfes. Im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) kam es mehrmals und vielerorts zu solchen Plünderungen, an denen alle Parteien beteiligt waren: die Abschleppung der Bibliotheca Palatina (1622) durch die Truppen der katholischen Liga aus Heidelberg nach Rom,66 der Raub der berühmten Sammlung Rudolfs II. in Prag auf persönliche Initiative der schwedischen Königin Christine (1626–1689),67 oder die Plünderung der Sammlung Gonzaga in Mantua (1630), können hier als Beispiele genannt werden.68
Umfassender und systematisch organisierter Kunstraub ereignete sich auch während der Napoleonischen Kriege.69 Die Aneignung und Verschleppung identitätsstiftender Objekte der indigenen Kulturen durch Kolonialmächte70 und der Kunstraub der Nazi- und Sowjetregimes im Zweiten Weltkrieg, stellen weitere, leider jedoch nicht die letzten Beispiele dieser Jahrtausende alten Praxis dar. Während sie entschieden angeprangert werden müssen, ist paradoxal festzustellen, dass diese Plünderungskampagnen zur gleichmäßigeren Verteilung der Kunstschätze in Europa beigetragen haben. Integriert in die neuen Sammlungen, redistribuiert durch den Kunstmarkt, präsentiert für ein neues Publikum, stimulierten sie den Kulturtransfer und lieferten die Grundlagen für die Entstehung moderner Museen. Das Bewusstsein für die zwielichtige Basis vieler europäischer Kulturinstitutionen erfordert jedoch die Offenlegung ihrer Sammlungsgeschichte.
Fazit
Die Künste fungierten über Jahrhunderte hinweg als eine der wichtigsten Plattformen für den kulturellen Austausch innerhalb Europas und darüber hinaus. Durch die erzwungenen oder freiwilligen Reisen von Künstler:innen und Auftraggeber:innen kam es zu Begegnungen mit anderen Akteur:innen des Kunstsystems. Dadurch wurden künstlerische Ideen, Formen, Materialien und Techniken ausgetauscht, die nachhaltige Spuren im künstlerischen Schaffen und in der Kunstbetrachtung hinterließen. Auch Kunstwerke, sowohl die freiwillig vermarkteten oder verschenkten als auch die geraubten, wirkten über die Kultur ihrer Entstehung hinaus und prägten ihre Zielkulturen. Europäische Kunst kann daher als Spiegelbild interkultureller Verflechtungen betrachtet werden.
Die Künste unterliegen einem ständigen Wandel, doch ihre Tendenz zur Grenzüberschreitung, sowohl im direkten als auch im übertragenen Sinne, bleibt eine Konstante. Die Mobilität der Künstler:innen und ihrer Werke, gefördert durch die globale Erweiterung der Kunstmärkte, trägt auch heute maßgeblich zur Intensivierung des transkulturellen Austauschs bei. Gleichzeitig führt die Globalisierung oft zum Verlust lokaler Spezifika. Viel öfter als in der Vormoderne thematisieren zeitgenössische Künstler:innen neben ihrer Migrationserfahrung auch ihren Status als Vermittler:in oder als Fremde:r an der Schwelle zwischen Kulturen. Auch wenn die Erkenntnisse aus solchen Ego-Dokumenten nicht automatisch auf die historischen Verhältnisse übertragbar sind, erweitert die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kunst unseren Blick auf die künstlerischen Verflechtungen der Vergangenheit.