Europäische Badeorte im späten Mittelalter und in der beginnenden Frühen Neuzeit
Die lange Tradition der europäischen Badeorte begann mit den Römerbädern, allerdings gab es kaum direkte Verbindungslinien zu dem Interesse an Thermen, das im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit von Norditalien bis England wieder aufkam. Aachen (Aquae Grani), Baden-Baden (Aquae Aureliae), Bath (Aquae Sulis), Vichy (Aquae Calidae), Wiesbaden (Aquae Mattiacae) und andere waren römische Badeorte; ihre Traditionen brachen mit dem Zusammenbruch des Römischen Reiches jedoch ab und wurden erst im späteren Mittelalter wieder aufgenommen.1 Seit dem späten 14. Jahrhundert entwickelte sich die "Badenfahrt" in solche wieder- oder auch neu entdeckten Heilquellen zu einem "neuen Muster des Badeverhaltens" in Mitteleuropa.2 Die neuen Badeorte, z.B. Wildbad im Schwarzwald oder Karlsbad, lagen meist in freier Natur und bargen damit in vielerlei Hinsicht Gefahren für die Badegäste. Das berühmteste Beispiel dafür ist der Überfall auf Graf Eberhard II. von Württemberg (1315–1392) und seinen Sohn Ulrich (1343–1388) in Wildbad im Jahr 1367.3 Vor diesem Hintergrund und angesichts der zunehmenden Popularität der Badenfahrt erfuhren zahlreiche Badeorte bereits im 15. Jahrhundert einen fundamentalen Wandel, der meist von den jeweiligen Landesherren initiiert wurde: Sie wurden mit einer Mauer befestigt und als eigenständiger Rechtsbezirk definiert, Badeordnungen wurden erlassen.4 Zugleich wurden Badebecken und -herbergen angelegt sowie die Quartiere für Gäste ausgebaut. Auch waren die spätmittelalterlichen Badeorte bereits von vielfältigen Formen der Rekreation und Kommunikation zwischen den Badegästen geprägt, die mit der Krankheitsheilung verbunden wurden.5 In Humanistenkreisen wurden beispielsweise die auch sonst üblichen Badgeschenke insbesondere auf "literarische Aufmerksamkeiten" konzentriert, die zur Unterhaltung und Zerstreuung am Badeort beitragen sollten.6
Angesichts dieser Chronologie der Badeortentwicklung wird deutlich, dass die wiederholt vertretene These, der Aufstieg der Kurorte habe in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Niedergang der Badehäuser in den Städten und insbesondere dem Vorgehen städtischer Obrigkeiten gegen diese Einrichtungen im späten Mittelalter und der beginnenden Frühen Neuzeit gestanden,7 nicht aufrechterhalten werden kann. Badeorte und städtische Badestuben existierten vielmehr zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert parallel, und die Gründe für den Niedergang der städtischen Badehäuser waren vielfältig.8 Allerdings wurde den natürlichen warmen Wassern, den Thermen, ungleich größere Heilkraft zugesprochen als künstlich zubereiteten Bädern.
Balneologie und Kurpraktiken
Während sich in Italien bereits seit dem 13. Jahrhundert die Wissenschaft der Balneologie, der Bäder- und Wasserheilkunde, entwickelt hatte, dauerte es bis in das 15. Jahrhundert, bis deren Schriften nördlich der Alpen rezipiert wurden.9 Auf der Wende zur Neuzeit erschienen dann rasch – neben balneologischen Schriften in lateinischer Sprache, die sich vornehmlich an Ärzte richteten – auch Kompendien und balneologische Abhandlungen über einzelne Badeorte in den europäischen Landessprachen. Diese zielten auf ein Laienpublikum, das sich über die Bandbreite der verfügbaren Badeorte und Heilwasser informieren wollte oder eine "Anleitung zur Selbstmedikation" suchte.10 Bekannte Badekompendien auf Deutsch sind: Dises puchlein saget uns von allen paden die von natur heisz sein des Nürnberger Meistersingers und Barbiers Hans Folz (1435–1513)[] aus dem späten 15. Jahrhundert, das Tractat der Wildbeder natuer des Arztes Lorenz Fries (1489–1531) von 1519, Paracelsus' (1493–1541)[] Badenfahrt Büchlin von 1566 sowie Jacobus Theodorus' (1522–1590) Neuw Wasserschatz von 1581.11 Die englischsprachige Tradition der balnelogischen Schriften begann mit William Turners (1508–1568) A booke of the natures and properties as well of the bathes in England as of other bathes in Germany and Italy von 1562.12 Die Balneologie wurde in der Frühen Neuzeit zu einem wichtigen Zweig der medizinischen Wissenschaften und erfuhr einen weiteren Aufschwung im 19. Jahrhundert, als Lehrstühle für Wasserheilkunde an europäischen Universitäten eingerichtet wurden.13
Die Anweisungen der Badeführer an die Kurgäste waren während der gesamten Frühen Neuzeit von der so genannten Diätetik geprägt, den Grundregeln zu einer geregelten, ausgeglichenen Lebensweise, die zur Gesunderhaltung oder Krankheitsheilung entscheidend beitragen sollte. Galen (129–199)[] hatte diesen hypokratischen Ansatz in den "sex res non naturales" zusammengefasst: Licht und Luft, Speisen und Getränke, Arbeit und Ruhe, Schlafen und Wachen, Ausscheidungen und Absonderungen sowie die Zustände des Gemüts. Die Diätetik wurde im Mittelalter, in der Renaissance und in der Frühen Neuzeit von Ärzten propagiert und vielfältig an die Laien vermittelt.14 Sie fand dementsprechend auch Eingang in die Balneologie und wurde ein fester Bestandteil der ärztlichen Anweisungen zur erfolgreichen "Brunnenkur". In keinem Badeführer der Frühen Neuzeit fehlt ein Kapitel zur Diätetik.15 Die Diätetik der Balneologie kombinierte die allgemeine Diätetik mit den Spezifika der Brunnenkur: Es werden Anweisungen gegeben über das richtige Essen und eine ausgeglichene Gemütsverfassung, aber auch über die Länge des Badens und die Zahl der zu trinkenden Gläser. Es wird immer wieder davor gewarnt, dass die Nichteinhaltung dieser medizinisch wohlbegründeten Regeln den Erfolg der Kur zunichtemache. Im Laufe der Frühen Neuzeit änderte sich die Schwerpunktsetzung der Diätetik. Im Gegensatz zu den balneologischen Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts, die vor allem den Umgang mit Speisen und Getränken in den Vordergrund ihrer diätetischen Ausführungen stellten, fand im 18. Jahrhundert eine Verschiebung hin zur "Diätetik der Seele" statt: Arbeit sollte am Kurort ebenso vermieden werden wie alle Formen der Überanstrengung oder Erregung (beispielsweise durch Glücksspiel), und generell wurden belastende Gemütsbewegungen und -eindrücke als Gefahr für den Erfolg der Kur angesehen. Auch wenn insgesamt die Diätetik nun deutlich weniger Raum in den Kurortschriften einnahm, verlor sie bis weit ins 19. Jahrhundert nicht ihre Legitimität und war im Denken sowohl der Ärzte als auch der Laien zutiefst verankert.16
Kennzeichnend für die Badepraktiken in den Badeorten des Spätmittelalters und der beginnenden frühen Neuzeit waren offene, dann zunehmend auch überdachte Badebecken, in denen das gemeine Volk badete, wogegen für die höheren Stände bereits abgetrennte, doch auch in Gruppen und teilweise geschlechterübergreifend genutzte Bäder bereitgestellt wurden.17 Die empfohlenen Badezeiten waren sehr lang – täglich vier bis zehn Stunden, bis sich der so genannte "Badeausschlag" zeigte, den man, gemäß der zeitgenössischen Vorstellung von der Durchlässigkeit der Haut, für ein Zeichen der inneren Reinigung und damit für die beginnende Heilung hielt.18 Im Verlauf des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts fanden zwei grundlegende Wandlungsprozesse statt, die entscheidende Auswirkungen auf die Geschichte der Kurorte im weiteren Verlauf der Frühen Neuzeit hatten. Zum einen interessierte man sich zunehmend neben den Thermen auch für die Sauerbrunnen und andere kalte Mineralwässer, die sogenannten "Gesundbrunnen", wodurch die Zahl der zu Heilzwecken zur Verfügung stehenden Quellen stark zunahm. Zum anderen wurden im Zuge dessen zunehmend die Trinkkur und die "Dusche" als Ergänzung zur Badekur eingeführt.19 Im Verlauf des 17. Jahrhunderts trat die Trinkkur dann in den Vordergrund, wobei das Baden jedoch keineswegs aufgegeben wurde. Vielmehr blieb die Badekur – mit deutlich verkürzten Badezeiten, die nun bei ein bis zwei Stunden lagen – ein wesentlicher Bestandteil des Aufenthaltes am Kurort. Auch Neubauten von Kurorten im 18. Jahrhundert kamen deshalb nicht ohne Badehäuser aus. Allerdings wandelte sich der äußere Rahmen für das Einnehmen der Bäder ganz erheblich, denn die Entwicklung führte vom Gemeinschaftsbad hin zum Einzelbad für Bürgertum und Adel. Armenbäder blieben dagegen noch für lange Zeit Gemeinschaftsbäder.20 Im 19. Jahrhundert kamen zu diesen Kurformen Schlamm- bzw. Lehmbäder und andere Arten von Bädern, beispielsweise in Asche oder Fichtennadeln, hinzu.21
Was ist ein Kurort?
Die Begriffe "Badeort", "Kurort", "Kurstadt", "Bad", "Heilbad", "Gesundbrunnen" u.a. werden häufig synonym und undifferenziert verwendet. Gewisse chronologische Trends kann man jedoch in den Quellen identifizieren, die zugleich auf entscheidende Entwicklungsstufen hinweisen. Bis um 1800 verwendete man zur Bezeichnung der Thermen den Begriff "Wildbäder". Es ist ein in der Literatur immer wiederkehrendes Missverständnis, dass dieser Begriff auf deren Lage "in wilder Natur" verweise.22 Vielmehr befanden sich zahlreiche Wildbäder in Städten, z.B. in Aachen, Karlsbad, Wiesbaden und Baden-Baden, und der Begriff bezog sich auf die "wilden", d.h. "natürlichen" Ursprünge der warmen Heilwässer.23 Die neu aufkommenden kalten Heilwasser wurden dagegen mit den Begriffen "Sauerbrunnen" (auch Acidulae bzw. Eau minerale) und "Gesundbrunnen" belegt. Das Wort "Gesundbrunnen" ging dann zunehmend auf die jeweiligen Orte über, so dass der Begriff im 18. Jahrhundert zum meistverwendeten Terminus zur Bezeichnung von Kurorten in Mitteleuropa wurde. Zugleich formte sich im Deutschen Ende des 18. Jahrhunderts der "Kur"-Begriff aus und wurde nun zunehmend auch in Wortverbindungen wie "Kurgast" und "Kurort" etabliert. Im Englischen dagegen wurde der Begriff "spa" (or "spaw") im Laufe der frühen Neuzeit immer häufiger gebraucht. Abgeleitet von dem Namen des bei Engländern bereits im 16. Jahrhundert bekannten Ortes Spa im Fürstbistum Lüttich, führte seine zunehmende Verwendung in Kurortschriften dazu, dass er sich als Gattungsbegriff durchsetzte.24
Allerdings kann die Anwesenheit von als heilend angesehenen Quellen und von Angeboten zur gezielten Anwendung von deren Wassern gegen Krankheiten nicht alleine als Definition für einen Kurort dienen. Denn heilende Wasser waren in Europa allgegenwärtig, und ihre Zuschreibungen beruhten auf gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, die sich in unterschiedlichen sozialen Praktiken niederschlugen. Nicht zuletzt hatten auch zentrale Differenzierungsprozesse der Frühen Neuzeit wie die Konfessionalisierung Einfluss auf die Deutungsmuster von Orten mit heilenden Quellen. Während beispielsweise im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation eine Ausdifferenzierung zwischen katholischen Wallfahrtsstätten mit einer Wunderquelle, lutherischen Wunderbrunnen und "profanen" Kurorten zu konstatieren ist,25 wurden im protestantischen England die Wunderquellen des Mittelalters nach der Reformation zunehmend zugunsten von Kurorten zurückgedrängt.26
Im Gegensatz zu anderen Orten mit heilenden Quellen, die auch "Bauernbäder" mit lokalem Einzugsgebiet und minimaler Infrastruktur umfassten,27 zeichneten sich Kurorte seit dem 16. Jahrhundert zunehmend dadurch aus, dass sie neben der Gesundheitsfunktion im engeren Sinne der saisonal in sie eintretenden Kurgesellschaft als urban zu charakterisierende Güter, Dienstleistungen und Infrastruktur bereitstellten. Dies schloss ein umfassendes Angebot an Vergnügungen und Zerstreuungen ein, was wiederum eng damit verknüpft war, dass ein Kurort mit einem bestimmten Architektur- und Raumensemble identifiziert wurde.28 Dagegen wiesen Kurorte in Größe und rechtlichem Status eine große Bandbreite auf. Sie waren häufig keine Städte im rechtlichen Sinne, und ihre Erscheinungsformen reichten von Kurvierteln in einer großen Reichsstadt wie Aachen über mittlere und kleine Städte und Dörfer bis hin zu Anlagen, die auf dem "freien Feld" entstanden waren. Im Gegensatz zu England, wo die Privatinitiativen und private Investoren für die Entwicklung der Kurorte eine zentrale Rolle spielten, war die überwiegende Zahl von Kurorten in Mitteleuropa von den Impulsen des Staates und des Hofes bestimmt. Nur wenige Kurorte waren unter der Aufsicht von städtischen Obrigkeiten (Aachen, Karlsbad) oder sind als reine Privatunternehmungen (Driburg) zu charakterisieren.29
Ein Kurort hatte ein mindestens regionales oder überregionales, wenn nicht sogar internationales Einzugsgebiet, und der jeweilige Grad der – insbesondere kulturellen – Urbanität eines Kurortes ergab sich aus den mehr oder weniger gehobenen Ansprüchen seiner Gäste. Der soziale Rang der Kurgesellschaft bestimmte im Allgemeinen zugleich die geographische Weite des Einzugsgebietes eines Kurortes. Die Bandbreite reichte von Kurorten mit europaweiter oder zumindest überregionaler Bedeutung mit zahlreichen Gästen aus dem hohen Adel bis hin zu Kurorten mit nur regionaler Bedeutung und einem Publikum, das vorwiegend dem mittleren und gehobenen Bürgertum angehörte. Obwohl es gerade in Mitteleuropa auch "Residenzkurorte" mit ausschließlich exklusivem Publikum gab, wurden die meisten etablierten Kurorte in Europa regelmäßig auch von mittleren und Kleinbürgern sowie von Bauern und Armen frequentiert. Diese Schichten wurden jedoch meist systematisch von dem Badepublikum der höheren Stände separiert.30 Zudem waren an den Kurorten naturgemäß viele Angehörige der unteren Schichten als Bedienstete anwesend – sowohl Bedienstete in den Gesundheits- und Freizeitinfrastrukturen des Kurortes als auch Bedienstete des anwesenden Adels und Großbürgertums.31 Durch die in sie eintretende Kurgesellschaft waren Kurorte im Laufe des Jahres extremen Schwankungen in Einwohnerzahl, Sozialstruktur und Verfügbarkeit von Gütern und Dienstleistungen unterworfen.32
Die führenden Kurorte der frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts waren Zentren des gesellschaftlichen Lebens und Treffpunkte für die höheren sozialen Schichten Europas.33 Hier trafen europäischer Hochadel, Niederadel bzw. Gentry sowie das aufsteigende Bürgertum, die "haute bourgeoisie" zusammen und pflegten sozialen Umgang, der als integrativ konstruiert und oft auch so empfunden wurde.34 Bath, der führende Kurort in England, war ein fester Bestandteil des Jahresablaufs der englischen Eliten, der sich regelmäßig zwischen einem Landsitz, London und dem Kurort aufspannte.35 Karlsbad war ein internationaler Kurort sowie ein Treffpunkt der Eliten der habsburgischen Erbländer.36 Im Reich hatten die Kurorte als Treffpunkte der Eliten eine Ersatzfunktion für die fehlende Metropole. So besaß beispielsweise Pyrmont als führender Kurort des 18. Jahrhunderts in Norddeutschland für die Eliten der norddeutschen Territorien eine Treffpunkts- und Zentralitätsfunktion, die von den Residenzen oder Universitätsstädten nicht erfüllt wurde.37 Kurorte fungierten infolgedessen auch als Heiratsmärkte und als Orte der beruflichen Kontaktpflege, insbesondere für das Bürgertum. Hier trafen sich Freimaurer, Diplomaten und Staatsmänner.38 Gerade als Ort politischer Treffen und (Geheim-)Verhandlungen sind Kurorte in der gesamten Frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert immer wieder hervorgetreten. Zu nennen sind hier u.a. der Pyrmonter Fürstensommer von 1681, während dessen die Haltung der norddeutschen Fürsten zur Reunionspolitik Ludwigs XIV. (1638–1715) verhandelt wurde,39 die Emser Punktation von 1786, die Karlsbader Beschlüsse von 1819, das "Dreikaisertreffen" 1872 in Baden-Baden und natürlich die Emser Depesche im Jahr 1870.40
Neben der unten noch zu beschreibenden typischen Raumstruktur wies der Kurort auch eine spezifische Zeitstruktur auf. Während im 16. und 17. Jahrhundert auch das Frühjahr und der Herbst als Zeiten für den Badeaufenthalt galten, setzte sich im 18. Jahrhundert die Gewohnheit der sommerlichen Kurreise durch. Diese erhielt ihren festen Platz im Jahresablauf der adeligen und bürgerlichen Zeitgenossen. Die Saison an den Kurorten reichte grundsätzlich von Juni bis August, wobei jedoch nur von Mitte Juni bis Mitte August nennenswerte Gästezahlen zu verzeichnen waren und der Monat Juli im Allgemeinen als Höhepunkt der Saison galt. Die Aufenthaltsdauer der Badegäste schwankte meist zwischen drei und sechs Wochen. Eine vierwöchige Aufenthaltsdauer war recht häufig, aber auch mehr als sechswöchige Aufenthalte waren nicht selten.41 Der "Alltag außerhalb des Alltags" am Kurort war durch eine feste Routine gekennzeichnet, in der die Anwendung (meistens das Trinken) das Heilwassers, Mahlzeiten sowie Gruppen- und Individualaktivitäten innerhalb und in der Umgebung des Kurortes ihren fest definierten Platz hatten. Die Ritualisierung des Tagesablaufs schuf sozialen Zusammenhalt durch gemeinsamen Vollzug.42
Die europäische Kurortgeographie und -hierarchie und ihr Wandel
Die Hierarchie der Kurorte sowie die "Kurortlandschaft" in den Köpfen der Zeitgenossen im Europa des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts unterschieden sich wesentlich von denen des späten 17. und 18. Jahrhunderts, die sich wiederum in der Sattelzeit und vor allem im frühen 19. Jahrhundert nochmals fundamental wandelten. Zunächst ist zu betonen, dass vor dem 19. Jahrhundert die Heilkraft einer Wasserquelle in erster Linie auf Beobachtungen und Erfahrungen – sowohl von Ärzten als auch von Laien – beruhte, so dass "Heilkraft" vor allem eine Zuschreibung darstellte und durch sozialen Konsens etabliert wurde. Das hatte zur Folge, dass unter den beliebten Kurorten der Frühen Neuzeit auch Orte waren, deren Wasser sich später als nicht heilkräftig erwiesen, wie z.B. Lauchstädt bei Halle.43
Im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, als die Badekur im Vordergrund stand, gehörten zu den fest in der Wahrnehmung der mitteleuropäischen Zeitgenossen verankerten – und auch dementsprechend besuchten – Badeorten Plombières in Lothringen, norditalienische Badeorte wie Bagni di Lucca und Orte in der Schweiz wie Pfäfers und Leukerbad.44 Führende Badeorte im Reich der ersten Hälfte der Frühen Neuzeit waren Wildbad im Schwarzwald, Wiesbaden und Aachen. Im Zuge der Ablösung der Thermen und der Badekur und dem Aufstieg der kalten Mineralwasser und der Trinkkur änderte sich diese Kurortlandschaft jedoch. Überblickt man den gesamten europäischen Kontinent, so ist festzuhalten, dass vor allem England und teilweise Mitteleuropa in der Frühen Neuzeit gegenüber anderen Regionen Europas in ihrer Entwicklung von Kurorten, die Heilung und Rekreation verbanden, am weitesten voranschritten. Die italienischen Kurorte erlebten einen erneuten Entwicklungsschub dagegen erst im 18. Jahrhundert, als Peter Leopold von Habsburg-Lothringen (1747–1792), Großherzog der Toskana, Bäder wie Montecatini Terme und San Giuliano Terme förderte.45 Kurorte in der Schweiz und Österreich, beispielsweise Baden in der Schweiz und Bad Gastein, waren regional bekannt, erlangten jedoch erst im 19. Jahrhundert einen internationalen Ruf.46 Auch die französischen Bade- und Trinkkurorte des 17. Jahrhunderts waren offenbar vornehmlich Orte der Heilung und weniger der Rekreation. Die Mitglieder des französischen Königshauses unternahmen jedenfalls regelmäßig Reisen an Kurorte, und gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts expandierten auch die französischen Kurorte. Vichy beispielsweise entwickelte sich dann im 19. Jahrhundert zu einem internationalen Kurort.47
Die Entwicklungen in England und Mitteleuropa sind insofern vergleichbar, als in beiden Fällen ein Aufschwung während des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts in der Mitte des 17. Jahrhunderts durch Krieg – in einem Fall der englische Bürgerkrieg, im anderen Fall der Dreißigjährige Krieg – wieder unterbrochen wurde. Ein ungebrochener Aufschwung fand dann in beiden Regionen erneut seit dem späten 17. Jahrhundert statt, wobei in Mitteleuropa der Siebenjährige Krieg und die Napoleonischen Kriege erneut Einschnitte darstellten. In England entwickelten sich Kurorte wie Bath, Tunbridge Wells, Epsom, Buxton und Harrogate seit dem späten 16. und frühen 17. Jahrhundert. Während diese Kurorte – nicht zuletzt Bath – weiterhin Erfolg hatten, kam es im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zu einer Welle von Neugründungen, vor allem im Westen, den Midlands und dem Norden Englands.48 In Mitteleuropa reichte das Netz der überregional bekannten Kurorte in der Frühen Neuzeit von Spa und Aachen im Westen bis Karlsbad und Franzensbad im Osten, von Pyrmont im Norden bis zu den Kurorten in Franken und im Schwarzwald im Süden. (Langen-)Schwalbach im Taunus erlebte Ende des 16. Jahrhunderts als Trinkkurort einen beachtlichen Aufstieg. Spa und Aachen zogen in der Frühen Neuzeit ein internationales Publikum an, litten jedoch unter den Folgen der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege, durch die der Kurbetrieb in Mitleidenschaft gezogen wurde. Pyrmont und Karlsbad erlangten im 17. Jahrhundert zunehmende Bedeutung, um dann zu den führenden Kurorten des 18. Jahrhunderts aufzusteigen.49 Kurorte des 18. Jahrhunderts sowohl in England als auch in Mitteleuropa profitierten von verbesserten Zugangsmöglichkeiten in der Form von neu gebauten Kunststraßen – Chausseen bzw. turnpikes – und dem damit verbundenen Ausbau des regelmäßigen Personentransports im Postkutschenverkehr.50
Die Landschaft der überregional bekannten Kurorte Mitteleuropas erweiterte sich dramatisch im späten 18. und vor allem im 19. Jahrhundert, als Marienbad in Böhmen, zahlreiche Kurorte in Schlesien, der sächsischen Schweiz und Bayern, in Österreich und der Schweiz sowie viele Salzgewinnungsorte der Frühen Neuzeit die Bühne betraten. Die unten noch zu beschreibende veränderte Landschaftswahrnehmung sowie die zunehmende Zahl der Kurort-Besucher ließ die Zahl der Kurorte sprunghaft ansteigen. Zudem entwickelten sich nun Kurorte zu Weltbädern, die im 18. Jahrhundert noch gegenüber anderen Heilbädern im Hintergrund gestanden hatten: Baden-Baden, Ems, Kissingen und Wiesbaden und sind typische Beispiele für diese Entwicklung.51 Die Kurgastzahlen des 19. Jahrhunderts sprengten bald die alteuropäischen Dimensionen. Wiesbaden verzeichnete beispielweise im Jahr 1813 5.779 Kurgäste, 1817 jedoch bereits mehr als 10.000. Ein noch stärkerer Anstieg der Kurgastzahlen ist für Baden-Baden zu konstatieren. Der Aufschwung des 19. Jahrhunderts wurde vor allem durch den systematischen architektonischen Ausbau der Kurorte sowie durch den frühen Anschluss an das Eisenbahnnetz befördert.52
Das Architektur- und Raumensemble der Kurorte
In zeitgenössischen Abbildungen von Badeorten des 16. und 17. Jahrhunderts werden Anlagen, die dem Vergnügen der Badegäste dienen sollten, bereits prominent hervorgehoben. So finden wir beispielsweise in einem Kupferstich des bayerischen Bades Adelholzen aus Matthaeus Merians (1593–1650) Topographia Bavariae sowohl einen eingezäunten Garten als auch eine Kegelbahn für die Gäste. Noch aufwändigere und breiter gefächerte Vergnügungsmöglichkeiten sind auf der sogenannten "Boller Landtafel", die auch dem New Badbuch des Johannes Bauhin (1541–1613) über das Boller Bad aus dem Jahr 1602 beigegeben war, idealtypisch abgebildet.53 Hier sehen wir hinter dem Logier- und Badehaus einen großen eingezäunten Kurgarten, dazu auf der rechten Bildseite erneut das Kegelspiel sowie Verkaufsbuden und Tanz. Weitere dargestellte Vergnügungen sind ein Hindernislauf und die Jagd, die selbstverständlich eine exklusive adelige Beschäftigung war.54
Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts und nochmals verstärkt mit dem zunächst in England und dann auch in Mitteleuropa einsetzenden Aufschwung des Kurens im späten 18. Jahrhundert, der nicht zuletzt durch den Aufstieg des Bürgertums bedingt war,55 setzte sich allmählich eine typische Raumkonstruktion durch, der Kurorte gerecht werden mussten, um beim Publikum erfolgreich zu sein. "Every watering place is a kind of urbs in rure", schrieb ein anonymer Autor im Jahr 1790 im St. James' Chronicle.56 Diese Aussage wirft ein Schlaglicht darauf, dass ein erfolgreicher Kurort sowohl die Merkmale einer städtischen Existenz wie ein Theater, ein Kaffeehaus, eine Lesebibliothek bzw. einen Buchladen sowie ein angemessenes Angebot an Luxuswaren bieten musste als auch die Annehmlichkeiten eines ländlichen Aufenthalts in Form von Promenaden, englischen Gärten und Ausflugsmöglichkeiten in die Umgebung. Dazu kamen natürlich sowohl angemessene Unterkünfte für die Kurgäste, die sich vom Logierhaus der Frühen Neuzeit zum neuzeitlichen Hotel entwickelten, sowie diverse für einen Kurort typische Bauten: Kurhäuser mit zahlreichen Funktionen als Tanz- und Speisesäle, für Theateraufführungen und als Lesesäle, Kasinos und Spielsäle; Brunnenpavillons und Badehäuser; Plätze für Spiel- und Sport; sowie im 19. Jahrhundert dann auch Musikpavillons und immer aufwändigere Trinkhallen und Sportstätten, nicht zuletzt Pferdebahnen.57 In Bath, dem führenden englischen Kurort, begann der Bau von eleganten Häusern und Wohnungen für Kurgäste bereits in der Mitte der 1720er Jahre – das berühmteste Beispiel ist sicherlich der (Royal) Crescent, der in den 1770er Jahren fertiggestellt wurde.58 Die kontinentalen Weltbäder des 19. Jahrhunderts – u.a. Baden-Baden, Karlsbad, Spa, Vichy und Wiesbaden – boten ihren adeligen und großbürgerlichen Gästen die Möglichkeit, sich in neu angelegten Villenvierteln eigene Häuser zu errichten.59
Die zeitgenössische Raumkonstruktion vor allem der kontinentaleuropäischen Kurorte der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts war zudem entscheidend geprägt von der sie umgebenden Landschaft. Der Erfolg von Kurorten seit dem späten 18. Jahrhundert hing nicht zuletzt davon ab, inwieweit sie dem fundamentalen Wandel des Landschaftsideals auf dem Weg zur Moderne entsprachen und sich damit in eine neue Landschaftswahrnehmung einfügen konnten. In der gesamten Frühen Neuzeit und noch bis in die 1750er und 1760er Jahre hinein hatte der ideale Kurort in der Wahrnehmung der Zeitgenossen möglichst städtisch zu sein und die ihn umgebende Landschaft musste möglichst eine Kulturlandschaft mit sanften Hügeln und Feldern darstellen. Kurorte, deren Umgebung diesem Landschaftsideal nicht entsprachen, wie beispielsweise Karlsbad, betonten stattdessen den urbanen Charakter ihres Kurort-Innenraums. Dementsprechend erfüllte vom 16. bis zum beginnenden 18. Jahrhundert eine Allee oder ein Garten nach französischem Gartenideal mit streng geometrischer Anordnung die Anforderungen an einen angemessenen Raum für Spaziergänge.60
Doch hatte das neue Gartenideal des englischen Gartens sowie die zunehmende Alpenbegeisterung des späten 18. Jahrhunderts fundamentale Auswirkungen auf das Raumideal des Kurortes. Während die Bereitstellung städtisch-urbaner Dienstleistungen und Vergnügungen weiterhin erwartet wurde, verländlichte sich das Ideal der Raumgestaltung – zunächst durch die Integration englischer Parks in den Kurortraum und dann zunehmend durch neue Erwartungen an den Kurortumgebungsraum, der nun möglichst bergig und "wildromantisch" wirken sollte. Der Kurort wurde damit seit dem späten 18. Jahrhundert und dann verstärkt im 19. Jahrhundert nicht mehr nur durch seinen Binnenraum, sondern ergänzend durch den ihn umgebenden Landschaftsraum definiert. Dies hatte zwei weitere Konsequenzen. Zum einen erfolgte ein Wandel der Praktiken, indem "Wandern" in der bergigen Umgebung nun dem "Spazierengehen" im Kurort-Binnenraum zur Seite gestellt wurde. Zum anderen erweiterte sich dadurch die mitteleuropäische Kurortlandschaft grundlegend. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts zogen viele Kurorte, die in der Frühen Neuzeit nur geringe Bedeutung hatten, wegen ihres bergigen Umlandes zunehmend erfolgreich Gäste an: in den bergigeren Lagen der Mittelgebirge, im Schwarzwald, im Harz, in der – nun so genannten – sächsischen Schweiz, sowie österreichische und schweizerische Kurorte. Die Wahrnehmung und Beschreibung von Kurorten mündete damit langfristig in einen modernen Tourismus- und Urlaubsdiskurs.61
Seebadeorte als neuer Kurort-Typus
Auch der Seebadeort als neuer Typus des Kurortes, der im 18. Jahrhundert in England erstmals auf die Bildfläche trat, verkörpert die Entwicklung hin zu einem neuzeitlichen Tourismus- und Urlaubsdiskurs. In England setzte sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts eine neue, positive Wahrnehmung des Meeres durch: Während die Medizin die heilsamen Wirkungen des kalten Meerwassers propagierte, wurde der Blick auf das Meer und den Strand nun als "pittoresk" empfunden. Man betrachtete das Meer gerne von einem Hügel, einem Aussichtspunkt aus.62 In den neu gegründeten Seebadeorten – allen voran Brighton, gefolgt von Scarborough –, die sich bei ihren Kureinrichtungen und ihrem kulturell-gesellschaftlichen Leben an den Landkurorten wie Bath orientierten, wurden das "seabathing" und der Strandspaziergang als neue Kurpraktiken gepflegt.63 Diese neuen Praktiken und die veränderte Raumgestaltung in den entstehenden Seebadeorten, in denen nun die Häuser dem Meer zugewandt gebaut wurden und Piers in das Meer hineinragten, setzten sich dann allmählich auch in den anderen europäischen Ländern durch.64 Es entstanden Seebadeorte an der deutschen Ost- und Nordsee (beginnend mit Doberan-Heiligendamm im Jahr 1794, gefolgt vom ersten Nordseebad Norderney),65 in Frankreich (Dieppe, Boulogne, später Biarritz), Belgien (Oostende) und den Niederlanden (Scheveningen). Das Seebäderwesen explodierte im Laufe des 19. Jahrhunderts und erfasste ganz Europa. Die Anzahl der Seebäder in Preußen stieg zwischen 1870 und 1900 von 58 auf 98 und bis zur Jahrhundertwende waren bereits 39 Prozent der Kurgäste in Seebadeorten und nicht in Landkurorten zu Gast.66
Zusammenfassung
Die Kurorte der Frühe Neuzeit und des 19. Jahrhunderts stellten einen spezifischen Typus urbanen Lebens dar, dessen Charakteristika sich aus der Überschneidung eines ganzen Bündels an Funktionen in der zeitgenössischen Gesellschaft ergaben. Die Zahl der Orte mit einer Wasserquelle, der historisch Heilung zugeschrieben wurde, ist ungleich viel größer als die Zahl der Kurorte. Kurorte waren gleichzeitig Orte der Gesundheitserhaltung oder Heilung, Orte der sozialen Begegnung und des Konsums sowie Orte des Vergnügens und in der Folge zentrale Orte des sich allmählich ausbildenden Tourismus. Die Architektur und Raumgestaltung am Kurort sowie der den Kurort umgebende Landschaftsraum waren standardisierten Erwartungen unterworfen, die zugleich die Entstehung eines "touristischen Blicks" begleiten. Kurorte gab es in ganz Europa, doch hatten England und Mitteleuropa seit dem späteren 16. Jahrhundert eine Vorreiterrolle. Die kontinentaleuropäische Kurortlandschaft expandierte seit dem späten 18. Jahrhundert und nochmals im 19. Jahrhundert. Nun wurden, im Zuge der Alpenbegeisterung, Kurorte mit bergigem Umland beliebt und viele Salzgewinnnungsorte der Frühen Neuzeit wurden zu Kurorten umgestaltet. Zudem kam es zur Gründung von Seebädern an Nord- und Ostsee. Eine Reihe von Kurorten, u.a. Ems, Wiesbaden und Baden-Baden, werden zu "Weltbädern" mit internationalem Publikum und explodierenden Kurgastzahlen.