Einleitung
Die Herausbildung spezifisch sowjetisch geprägter Organisationsformen in den Bereichen Wirtschaft und Landwirtschaft erfolgte in der Zwischenkriegszeit. Sie griff auf die vorhergehende Russifizierung der in Westeuropa entwickelten Konzepte von Industrialisierung und Modernisierung der Landwirtschaft und die Vorstellungen des Marxismus über die Organisation der Wirtschaft im Sozialismus zurück. Die Übertragung dieses Wirtschaftsmodells auf die unter sowjetischen Einfluss geratenden osteuropäischen Staaten in Form einer Sowjetisierung vollzog sich nach dem Zweiten Weltkrieg.
Das sowjetische Modell zeichnete sich durch ein besonderes Ausmaß staatlicher Kontrolle aus und beanspruchte dadurch für sich, ein hohes Entwicklungstempo bei der Industrialisierung und der Modernisierung der Landwirtschaft zu erreichen. Von den westlichen Vorbildern setzte es sich durch eine grundlegende Veränderung der Eigentumsverhältnisse mittels der entschädigungslosen Verstaatlichung der Produktionsmittel ab. Es behauptete, die "Marktanarchie" durch den Übergang zur planmäßigen Lenkung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prozesse zu überwinden. Daraus ging Anfang der 1930er Jahre die "administrative Kommandowirtschaft" hervor. Für die Modernisierung des Agrarbereichs wurde das Modell der Kollektivlandwirtschaft entwickelt. Das "sozialistische" Wirtschaftskonzept nahm für sich in Anspruch, der kapitalistischen Marktwirtschaft überlegen zu sein.
Der Beitrag untersucht die Ausprägung der administrativen Kommandowirtschaft und der Kollektivlandwirtschaft. Er fragt insbesondere nach ihren realen Funktionsmechanismen. Dabei wird deutlich, dass diese stark von der offiziellen Systembeschreibung abwichen. Die nach außen inszenierte totale Kontrolle über die Ökonomie gab es in der Praxis nie. Um die auf ihr basierende Herrschaftslegitimation nicht zu gefährden, mussten in allen Wirtschaftsbereichen Korrekturmechanismen geduldet werden, die dem Regime letztlich Nachhaltigkeit verschafften. Das Standardnarrativ geht bisher kaum darauf ein. Es folgt weitgehend der affirmatorischen Selbstbeschreibung der Regimes und stellt die Sowjetisierung einseitig als sowjetisches Diktat dar. Beschrieben werden die äußeren institutionellen Veränderungen, dabei wird die mangelnde Funktionsfähigkeit des Wirtschaftssystems betont. Das Erkenntnisinteresse dieses Beitrages richtet sich hingegen auf die realen Funktionsmechanismen, um zu verstehen, wie die administrative Kommandowirtschaft und die Kollektivlandwirtschaft trotz ihrer offensichtlichen Schwächen in der Praxis bestehen konnten. Aus dieser Perspektive erweisen sich die beschriebenen Dysfunktionen eher als integraler Bestandteil der Regimes. Wirtschaftliche Prozesse konnten sich nicht allein auf Terror und Repression gründen. Das zwingt dazu, bei der Betrachtung des Transfers stärker die Akteure in der Wirtschaft in den Blick zu nehmen. Die unentbehrlichen Korrekturmechanismen lassen sich als "korrupte Praktiken" bezeichnen. Dieser Begriff reflektiert, dass der Tatbestand der Korruption nicht erfüllt wurde, weil es keine wirklich Geschädigten gab. Da sie das Regime erst funktionsfähig machten, profitierten letztlich alle.1 Der Korrekturmechanismus musste mit einem Tabu belegt werden, weil ansonsten die Legitimation der Regimes auf dem Spiel stand. Wer hätte Vertrauen entwickeln können zu einer Regierung, die eingestand, auf korrupte Praktiken nicht verzichten zu können? Die Bevölkerung vermochte sich nach Stalins (1878–1953) Tod mit den Verhältnissen zu arrangieren, indem sie die offiziell bekämpften korrupten Praktiken bei der Verfolgung eigener Interessen nutzte.
Das russische Erbe
Russland befand sich Mitte des 19. Jahrhunderts in Bezug auf die Entwicklung von Wirtschaft und Landwirtschaft gegenüber West- und Mitteleuropa deutlich im Rückstand. Das wurde von der zahlenmäßig zwar kleinen städtischen Gesellschaft auch so wahrgenommen und bestimmte maßgeblich die öffentliche Diskussion. Nach der Niederlage im Krimkrieg (1856) stand die Großmachtposition in Europa auf dem Spiel. Dies erhöhte den Problemdruck so, dass der Staat (in der Person des Finanzministers und des Zaren) die Initiative zur Modernisierung des Landes ergriff. Dabei wurde auf westliche Vorbilder zurückgegriffen, die im Transferprozess der Russifizierung mit eigenständigen Lösungen angereichert und der spezifisch russischen Wirtschaftskultur angepasst wurden. Sie prägten wiederum das spätere sowjetische Modell. Der Staat musste substituieren, was zum Anstoß der Industrialisierung fehlte: eine kaufkräftige Nachfrage, Kapital für Investitionen in die Infrastruktur und Industrieanlagen sowie Unternehmertalent. Zur Kapitalbeschaffung wurde eine Politik des "Zwangssparens" eingeschlagen, wobei der Staat den Konsum der Bevölkerung trotz ihrer Armut mit hohen Steuern belegte. Die infrastrukturelle Erschließung des Landes setzte auf den Eisenbahnbau in staatlicher Regie. Um die Ansiedlung von Betrieben der Schwerindustrie zu fördern, wurden Schutzzölle erhoben. Sie schützten die neuen Industrien vor der Weltmarktkonkurrenz und erlaubten ihnen, ihre zunächst deutlich höheren Kosten durch hohe Preise abzudecken. Die Finanzpolitik zielte darauf, Vertrauen in die Währung zu schaffen, um zur Entwicklung des Landes Auslandskapital zu gewinnen. Die gezielte Förderung des Exports von Agrarprodukten hielt die Außenhandelsbilanz positiv. Im Vergleich zu Westeuropa blieb die Großindustrie stark auf die Staatsnachfrage fixiert. Marktwirtschaftliche Strategien kamen kaum zum Einsatz. Nur der Nähmaschinenproduzent Singer weitete mit Erfolg seinen Absatzmarkt durch Preissenkungen aus.2
Das Anstoßen des Industrialisierungsprozesses von staatlicher Seite war erfolgreich. Seit den 1880er Jahren erzielte Russland für die damalige Zeit außergewöhnlich hohe Wachstumsraten in der industriellen Produktion. Mitte der 1880er Jahre vollzog sich der take-off zu einem sich selbst tragenden Wachstum. In der zweiten Boomphase nach 1907 reduzierte sich durch die steigende Nachfrage der Kommunalwirtschaft und der Landwirtschaft die Bedeutung des Staats als Motor des industriellen Wachstums. Doch bis 1914 kam es nicht zum Abschütteln der "Krücken". Der Staat versäumte es, die Abschottung der russischen Produzenten vom Weltmarkt durch Schutzzölle zu reduzieren. Die Schwerindustrie blieb auf die sichere Einnahmen versprechende staatliche Nachfrage fixiert und begann, Syndikate zur Absprache von Preisen und Produktionsmengen zu gründen. Die Staatseinnahmen konzentrierten sich ungewöhnlich stark auf die Besteuerung des Massenkonsums. Dennoch stieg wie in allen kapitalistischen Industrialisierungsprozessen auch in Russland der Lebensstandard der Bevölkerung langsam an. Letztlich bewahrte der Erste Weltkrieg die russische Industrie davor, sich offen einer marktwirtschaftlichen Konkurrenz und unabhängigen Effizienzkontrolle zu stellen.3
Auch im Agrarsektor sind Besonderheiten festzustellen, die nachhaltig eine Angleichung bäuerlicher Einstellungen und Verhaltensweisen an westeuropäische Muster verhinderten und die Politik über die Oktoberrevolution hinaus beeinflussten. Der nahezu europaweite Prozess der Agrarreform zu Beginn des 19. Jahrhunderts, der den Bauern nicht nur persönliche Freiheit brachte und Eigentumsrechte verlieh, sondern mit den Gemeinheitsteilungen und dem Übergang zur Sommerstallhaltung des Viehs auch die landwirtschaftliche Produktivität und Produktion deutlich ansteigen ließ, erreichte Russland nur bedingt. Hier war die Möglichkeit zur extensiven Ausdehnung der Ackerfläche noch nicht erschöpft. Die Bauernbefreiung von 1861 verfolgte weder das Ziel einer Ertragssteigerung noch das der Freisetzung von ländlichen Arbeitskräften für die Industrialisierung. Die abgelösten Bauernhöfe wurden als Selbstversorgungswirtschaften konzipiert, obwohl sie schon zu diesem Zeitpunkt einen wichtigen Anteil an der Vermarktung von Agrarprodukten hatten. Lediglich der Bodenbesitz sollte zwischen Gutsherren und Bauern sozialverträglich getrennt werden. Unter den Freiheitsrechten blieb den Bauern das Recht auf Freizügigkeit versagt, weil der Staat vermeiden wollte, durch die Abwanderung der Bauern in die Städte die in Westeuropa zu beobachtende soziale Unruhe in das eigene Land zu holen. Als die Revolution von 1905 zeigte, dass dies nicht geglückt war, holte die von Petr Stolypin (1862–1911) durchgesetzte Agrarreform von 1906 nach, was in Westeuropa nahezu ein Jahrhundert zuvor wachstumsfördernd vollzogen worden war: Gemeinheitsteilungen, Flurbereinigung und Eigentumsverleihung. Ins bäuerliche Bewusstsein drang die Bedeutung dieser Reform aber nicht mehr. Zwar nahmen die Bauern die Flurbereinigung an, Eigentumsrechte blieben ihnen aber suspekt. Den Boden betrachteten sie als "Gottesacker", der denen zustand, die ihn bestellten. Sie wollten die adligen Gutsbesitzer vom Lande vertreiben und respektierten deshalb deren Eigentumsrechte nicht. Der erst 1861 geschaffene Zwangsverband der Umverteilungsgemeinde vermittelte ihnen sozialen Schutz, und sie sahen in ihm eine Institution, die ihnen die Verfolgung eigener Interessen gegenüber dem Staat erlaubte.4
Niemand wäre 1914 auf die Idee gekommen, Russlands Modell der Organisation von Wirtschaft und Landwirtschaft als Vorbild für andere Teile Europas zu betrachten. Die Besonderheiten erschienen eher als zeitweilige Krücken für ein Land, das verspätet in die Moderne gestartet war und sich mit ihrer Hilfe in eigener Regie auf den Weg der Industrialisierung begeben hatte.5 Eine Entwicklung hin zur Markt- und Eigentumsakzeptanz war durchaus in Gang gekommen, hätte aber noch Jahrzehnte gebraucht, um sich in den Einstellungen der Masse der Bevölkerung festzusetzen.
Der Blick auf die Stadientheorie Walt Whitman Rostows (1916–2003)6 unterstreicht die noch frühe Phase der Modernisierung. Russland verließ erst in den 1860er Jahren das Stadium der traditionellen Gesellschaft und begann, institutionelle Rahmenbedingungen zu schaffen, die zur Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise erforderlich waren. Besondere Bedeutung hatten dabei die Schaffung einer landschaftlichen und städtischen Selbstverwaltung nach preußischem Vorbild, der Aufbau einer Finanzverwaltung sowie eines Banken- und Kreditsystems und der Ausbau der Infrastruktur. Dieser staatliche Aufgabenbereich weitete sich mit dem Erreichen der Schwelle des take-off Mitte der 1880er Jahre aus. In das nachfolgende Stadium, der "Entwicklung zur Reife", trat Russland erst um die Jahrhundertwende ein. Dabei musste der Staat zur Unterstützung des mit der Industrialisierung einhergehenden gesellschaftlichen Strukturwandels das öffentliche Bildungssystem ausbauen, um qualifizierte Arbeitskräfte bereitzustellen, und Grundlagen einer staatlichen Sozialpolitik schaffen.7
Der Industrialisierungsprozess wurde vor allem durch den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften behindert. Die traditionelle Unterentwicklung der Städte und des städtischen Handwerks nahmen Russland die Möglichkeit, wie die industrialisierten Länder Westeuropas Unternehmer, Kapital und Fachkräfte aus dem gewerblichen Sektor zu beziehen. Die Fixierung des Blicks bei der Industrialisierung auf Großbetriebe übersieht diese eigentliche Strukturschwäche Russlands, die im weitgehenden Fehlen von Klein- und Mittelbetrieben zum Ausdruck kam. Wenige moderne Großbetriebe produzierten neben dem in der gewerblichen Produktion weiterhin dominierenden, vergleichsweise primitiven ländlichen Kustargewerbe, das sich noch nicht im Prozess der Spezialisierung aus dem agrarischen Bereich abgetrennt hatte. Die Bolschewiki sollten dieses Problem sogar noch verschärfen, indem sie Handel und viele Dienstleistungen als parasitär und damit nicht der Förderung bedürfend einstuften.
Das Projekt einer sozialistischen Modernisierung der Wirtschaft
Lenin (1870–1924) stufte in seiner Imperialismustheorie Russland als das schwächste Glied in der Kette der imperialistischen Staaten ein. Entsprechend erwartete er den kulturellen Transfer eher von West nach Ost: Gestützt vor allem auf die deutsche Arbeiterklasse sollte Sowjetrussland in internationaler Zusammenarbeit modernisiert werden. Ihre Vorstellungen über die künftige Wirtschaft entlehnten die Bolschewiki von Karl Marx (1818–1883). Die "Marktanarchie" sollte durch den Übergang zu einer planmäßigen Lenkung von Wirtschaft und Gesellschaft überwunden und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen mittels der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln beseitigt werden. Von der neuen sozialistischen Wirtschaftsordnung erwarteten sie eine Entfesselung der Produktivkräfte aus ihrer vermeintlich vom Kapitalismus gesetzten Beschränkung. Die Überlegenheit der neuen Ordnung sollte sich sofort in einer wesentlichen Steigerung der Arbeitsproduktivität niederschlagen, so dass der daraus resultierende Überfluss an materiellen Dingen eine sozial gerechtere Ordnung und der gesamten Bevölkerung ein wesentlich höheres Niveau der Lebenshaltung ermöglichen würde.8 Diese utopische und durch keine realen Fakten zu stützende Erwartung sollte wesentlich für die katastrophale Erschütterung der sowjetischen Wirtschaft während der "Revolution von oben" Anfang der 1930er Jahre verantwortlich sein.9
Die ersten wirtschaftlichen Maßnahmen nach der Oktoberrevolution dienten allerdings der Machtsicherung und Herrschaftslegitimierung, nicht der Umsetzung wirtschaftspolitischer Ziele. So duldeten die Bolschewiki die häufig spontane Enteignung der Gutsbesitzer und die Aufteilung ihres Bodens durch die Bauern, obwohl ihr Wirtschaftsprogramm die direkte Überführung der Güter in staatliche Musterbetriebe vorgesehen hatte. Die Duldung der Bodenaufteilung erwies sich als entscheidender machtpolitischer Schachzug, der es den Bolschewiki ermöglichte, sich im Bürgerkrieg gegen die Weißen durchzusetzen. Die Verstaatlichung der Banken, die Annullierung der in- und ausländischen Staatsanleihen und die entschädigungslose Enteignung der Großindustrie folgten im Verlauf des Winters 1917/1918. Mit der Gründung des Obersten Volkswirtschaftsrats begann der schnelle Aufbau einer umfangreichen staatlichen Wirtschaftsbürokratie. Im April 1918 wurde die Transformation mit der Errichtung des staatlichen Außenhandelsmonopols abgeschlossen. Während des Bürgerkriegs ging im Prozess des wirtschaftlichen Niedergangs die Verstaatlichung der Industrie weiter und bezog 1920 selbst Kleinbetriebe ein. Das als "Staatskapitalismus" bezeichnete Modell ging über das Konzept des Interventionsstaates hinaus, wie es sich während des Weltkriegs in Europa verbreitet hatte, und versuchte, die Wirtschaft durch den Staat direkt zu lenken. Im Winter 1920/1921 wurde begonnen, sogar die bäuerliche Produktion unter staatliche Regie zu stellen.10
Für die spätere Ausprägung des sowjetischen Wirtschaftsmodells erlangte das 1920 entwickelte wirtschaftspolitische Konzept des "Kriegskommunismus" (auch als "proletarische Naturalwirtschaft" bezeichnet) entscheidende Bedeutung. Dieser erste Versuch, die kommunistische Wirtschaft aufzubauen, orientierte sich an den von Marx genannten Prinzipien. Er sollte die Vorstellungen und das konkrete Handeln der Bolschewiki über Stalin bis hin zu Nikita Chruščev (1894–1971) nachhaltig prägen. Hierauf gründete, dass der Aufbau des Kommunismus mit kriegerischen Methoden und einer militärisch geprägten Sprache begonnen wurde. Es war ein eigenartiges Produkt revolutionärer Ungeduld, im wirtschaftlichen Zerfall, dem inflationsbedingten Geldwertverlust und der bittersten Not der Bevölkerung ein Anzeichen für die in der kommunistischen Gesellschaft angestrebte Gleichheit der Menschen und die Abschaffung des Geldes zu erblicken. Marx hatte dagegen den Übergang zum Kommunismus erwartet, nachdem der Kapitalismus sein Entwicklungspotential erschöpft hatte.11
Dieses Programm der "proletarischen Naturalwirtschaft" beschrieb in keiner Weise die reale Wirtschaftssituation des Jahres 1920. Es belegt, wie stark das Wunschdenken der Bolschewiki bereits ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit trübte. Dieses Muster findet sich in der Beschreibung der Kommandowirtschaft und der Kollektivlandwirtschaft unter Stalin wieder. Das Unvermögen, die Funktionsweise des Regimes real zu beschreiben, sollte für den Transfer des Wirtschaftsregimes besondere Probleme aufwerfen. Wie stark die offizielle Beschreibung und das reale Funktionieren auseinanderklafften, zeigte sich daran, dass die offizielle Wirtschaft in keiner Weise imstande war, die ihr zugeschriebenen Leistungen, insbesondere den Produktaustausch zwischen den Assoziationen von Arbeitern und Bauern, zu erbringen. Um zu überleben, musste die gesamte Bevölkerung auf den illegalen Schwarzmarkt zurückgreifen.
Die Etablierung der Kommandowirtschaft an der Wende zu den 1930er Jahren
Die Anfang 1921 gegründete staatliche Plankommission nahm zielstrebig den Aufbau einer planmäßigen Wirtschaftslenkung in Angriff. Lenin betrachtete dafür die deutsche Kriegswirtschaft als Vorbild. Das Zusammentragen von Daten wurde in ersten Schritten zur Prognoseplanung genutzt, mit der man allmählich Einfluss auf die zukünftige Wirtschaftsentwicklung nehmen wollte. Dabei ergab sich in den 1920er Jahren eine enge Kooperation mit dem neu gegründeten Berliner Konjunkturinstitut.12
Mit der Vorlage erster Entwürfe für Fünfjahrpläne krönte die staatliche Plankommission ihre Tätigkeit. Sie orientierte sich kapital- statt arbeitsintensiv an der Nutzung der modernsten Technik. Dass Vladimir Groman (1874–1932) und seine Mitarbeiter nicht für die im Namen der Partei erzielten Erfolge ausgezeichnet, sondern verhaftet und als Spione und Saboteure abgeurteilt wurden, hat mit der Logik der Errichtung von Stalins Diktatur zu tun. Die Plankommission drohte mit ihrer Fachkompetenz den Spielraum der Partei für die Gestaltung der Wirtschaftspolitik einzuengen. Um zu verhindern, dass die Partei von den Planern abhängig wurde, übte Stalin enormen Druck auf sie aus, "köpfte" die Leitung und degradierte die staatliche Plankommission zu einem willfährigen Gremium, das die Befehle des Diktators auszuführen hatte.13 Der Ökonom Stanislav Strumilin (1877–1974) äußerte, dass seine Kollegen es vorgezogen hätten, für ein hohes Entwicklungstempo "einzustehen", als für ein niedriges "einzusitzen".14
Der Beschluss der 15. Parteikonferenz im April 1929, die nicht erfüllbare "Optimalvariante" des Ersten Fünfjahrplans in Kraft zu setzen, markierte einen Bruch in der Wirtschaftskonzeption. Das Marxsche Konzept, planmäßig Einfluss auf die Wirtschaftsentwicklung zu nehmen, wurde nun nicht länger verfolgt, sondern durch die grundlegend andere Konzeption der Kommandowirtschaft ersetzt. Die gleichzeitig ausgegebene Parole, den Fünfjahrplan in vier Jahren zu erfüllen, illustriert die Radikalität des Bruchs: Wenn der Plan die optimale Verteilung der Ressourcen vorsah, musste jede Übererfüllung genauso schädlich sein wie die Untererfüllung. Moshe Lewin (1921–2010) spricht "vom Verschwinden der Planung mit dem Plan".15 Damit legte Stalin Ende 1929 zugleich den Grundstein dafür, dass die realsozialistische Wirtschaft zur "Mangelwirtschaft" wurde, die durch den verschwenderischen Umgang mit den verfügbaren Ressourcen Schindluder mit dem Volksvermögen trieb. Der zum Produktionsbefehl verkommene Plan war zu erfüllen, koste es, was es wolle, denn "man brauche vor allem das Produkt, nicht den Mehrwert".16 Der verschwenderische Umgang mit allen Produktionsfaktoren (Kapital, Arbeit, Rohstoffe) beruhte auf den Konstruktionsprinzipien der administrativen Kommandowirtschaft. Er ist deshalb nicht auf das Fehlverhalten einzelner Manager zurückzuführen, wie das die offizielle Version behauptet. Das Versagen der Kommandowirtschaft zeigte sich besonders im Faktor Arbeitsproduktivität. Alle Kommandowirtschaften weisen gerade bei diesem Kriterium, das nach Marx ihre Überlegenheit gegenüber dem Kapitalismus ausmachen sollte, einen katastrophalen Rückstand gegenüber dem Westen auf, der sich zudem ständig vergrößerte.17 In der offiziellen Beschreibung des Regimes wurde aus Gründen der Legitimation am Begriff "Planwirtschaft" festgehalten, obwohl die nun zur Abstützung von Stalins Diktatur errichtete administrative Kommandowirtschaft das Gegenteil einer planmäßigen Lenkung verkörperte.
Der sozialistische Großbetrieb in der Landwirtschaft
Die Festlegung auf den Großbetrieb als künftige sozialistische Form auch in der Landwirtschaft geht auf Marx zurück. Obwohl er diese Anschauung theoretisch nicht überzeugend begründete, und sie bereits vor Ende des 19. Jahrhunderts von den Entwicklungstrends widerlegt wurde,18 setzte sie sich im Marxismus fest. Sie verleitete zu der problematischen Annahme, die Bauern würden sich aus Einsicht in die Unvermeidlichkeit des Untergangs ihrer Kleinbetriebe freiwillig in Großbetrieben zusammenschließen. Indem mit der Konzeption des Großbetriebs einseitig die Mechanisierung der Agrarproduktion betont und diese zudem noch Anfang der 1930er Jahre mit der Traktorisierung gleichgesetzt wurde, verengte sich die Perspektive. Anhaltspunkte dafür, dass der Großbetrieb auch in der Tierproduktion Vorteile bieten würde, gab es zu Beginn der 1930er Jahre nicht.19
Die wissenschaftliche Diskussion über den rationalen Agrarbetrieb beruhte auf einer anderen Grundlage. Sie ging entweder von komplexen Überlegungen zur optimalen Betriebsgröße aus, die insbesondere auch Wegekosten einbezog,20 oder strebte eine Kombination von Betriebsmittelversorgung, Produktion, Verarbeitung und dem Absatz von Agrarprodukten an, wie sie ansatzweise auf Gütern und in der Agrargenossenschaftsbewegung zu finden war. Daraus entwickelte sich Ende der 1920er Jahre die Projektierung von Agrar-Industrie-Komplexen, für die auch westliche Erfahrungen studiert wurden. Mit der Vision von Agrostädten wurden speziell die Vorstellungen von Marx aufgegriffen, die Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land anzugleichen.21 Wie die Optimalplanung sollten auch die Agrar-Industrie-Komplexe über Jahrzehnte utopische Projekte bleiben. Erst in den 1970er Jahren wurde dieses Konzept wieder aufgegriffen.22
Stalins Kollektivlandwirtschaft hatte mit den Vorstellungen von einer modernen landwirtschaftlichen Großproduktion nichts gemein. Sie diente allein dazu, dem Staat eine stabile Menge pflanzlicher Agrarprodukte zu sichern, ohne dass er voll für die Kosten der Produktion aufkommen musste. Die entstehenden Kolchosen waren keine rational durchorganisierten Großbetriebe. Sie konzentrierten sich auf die Getreideproduktion und die Erzeugung von Industriepflanzen, deren Anbau zugleich den Kolchosniki untersagt wurde. In anderen Produktionsbereichen erlangten sie unter Stalin keine nennenswerte Bedeutung. Die ansatzweise mechanisierte Getreide- und – in Mittelasien – Baumwollproduktion stand neben einer primitiven und fast vollständig auf Handarbeit beruhenden Hoflandproduktion. Dort konzentrierte sich die Erzeugung auf Tierprodukte und Obst. Kartoffeln hatte auf Staatsbefehl praktisch jedermann anzubauen. Der Kolchos erhielt keine mechanische Technik. Diese verblieb in Form der Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS) in staatlicher Hand und diente vor allem als Druckmittel gegenüber den Kolchosen. Die Mähdrescher erlaubten, die Ernte von den Kolchosfeldern direkt in die staatlichen Scheunen zu bringen. Mitte der 1930er Jahre wurde es den Kolchosen untersagt, nichtlandwirtschaftliche Produkte zu erzeugen. Aufgrund der Nichtbezahlung des Getreides hätten sie sonst die Agrarproduktion eingestellt und wären vollständig auf einträgliche gewerbliche Produktion (Bau, Handwerk) oder Dienstleistungen umgestiegen. Mit der Unterbindung einer Kombination von Agrarproduktion und Verarbeitung entfiel gerade das, was eigentlich die Überlegenheit des Großbetriebs in der Landwirtschaft begründen sollte.23
Die Einleitung der Zwangskollektivierung in einer Situation, in der auf dem Lande ein gewaltiger Überschuss an Arbeitskräften herrschte, nahm den Hungertod "überflüssiger Esser" in Kauf. Agrarspezialisten hatten vor diesem Problem etwa in der Diskussion über den "Bauernsowchos" Mitte 1928 in dem Parteiorgan Prawda gewarnt. Bereits die Verlagerung der Produktion aus den Einzelbetrieben in den Kolchos musste den Bedarf an Arbeitskräften reduzieren. Zusätzlich setzte die Mechanisierung Arbeitskräfte frei. Die Zwangsanwendung verschärfte die Lage noch. Sie verschuldete die Vernichtung von nahezu der Hälfte des Viehbestands und reduzierte vor allem den dauerhaften Bedarf an Arbeitskräften über das Jahr weiter.24
Das Kolchossystem war zur Jahreswende 1932/1933 die Antwort auf die zugleich mit einem Tabu belegte Hungersnot und die Erkenntnis, dass ohne radikale Änderung der Agrarpolitik die Industrialisierung gescheitert war.25 Es beendete den willkürlichen Abzug von Getreide, der den Bauern in den bisherigen Überschussgebieten häufig nicht einmal genug zum Überleben belassen hatte. Das neue System der Pflichtablieferung ab 1933 hatte den Charakter einer Naturalsteuer, weil die vom Staat dafür gezahlten Preise nur einen Bruchteil der Produktionskosten deckten. Die Kolchose hatten nach festen Hektarnormen Getreide, die Kolchosniki zusätzlich Kartoffeln, Fleisch und Milch an den Staat abzuliefern. Um zu vermeiden, dass sie weiterhin ganz ohne Getreide blieben, waren ab 1933 10 bis 15 Prozent des gedroschenen Getreides als "Vorauszahlung" auf ihren Anteil am "Kolchosgewinn" an die Kolchosniki nach den erarbeiteten Tagewerken auszugeben. Abgesehen von dieser geringen Getreidemenge wurde der Arbeitseinsatz im Kolchos praktisch nicht entlohnt. Er berechtigte lediglich dazu, eine Hoflandwirtschaft in eigener Regie zu betreiben. Die Kolchosniki mussten hier nicht nur alle Nichtgetreideprodukte, die sie zur Selbstversorgung benötigten, erwirtschaften, sondern zudem noch einen Teil ihrer Hoflandproduktion vermarkten, um überhaupt die staatlichen Steuern zahlen zu können. Durch die Verweigerung der 1932 eingeführten Inlandpässe beschränkte der Staat die Mobilität der Kolchosniki. Ohne ausdrückliche Genehmigung der Behörden durften sie ihren Kolchos nicht verlassen. Mit der Schollenbindung erinnerte ihr Rechtsstatus an den eines Leibeigenen.26
Der Kolchos diente dem Regime als administrative Kontrollinstanz, um die Bauern politisch zu neutralisieren und in ein Arbeitsregime hineinzupressen, das von ihnen gewissermaßen Zwangsarbeit am Heimatort verlangte. Faktisch war der Kolchos ein Staatsbetrieb. Über die Produktion und die Verteilung der Ernte verfügte allein der Staat, der den Kolchosen auch alle übrigen Entscheidungen diktierte. Das Konstrukt "Kollektiveigentum" diente also nur dazu, den Kolchosniki monatliche Lohnzahlungen zu verweigern, indem sie fiktiv zu "Miteigentümern" erklärt wurden. Statt des Arbeitslohns stand ihnen nur zu Jahresende ein Anteil am "Gewinn" zu, der vom Staat durch Pflichtablieferungen und die willkürlich niedrig festgesetzten Erzeugerpreise so manipuliert wurde, dass die Kolchose im Normalfall keinen Gewinn erzielten. Zudem blieben die Kolchosniki von der staatlichen Sozialversicherung ausgeschlossen.27
Die Funktionsweise der Kommandowirtschaft
Die Neue Institutionenökonomik liefert mit dem Diktatormodell des "stationären Banditen" eine Anleitung zum Verständnis der inneren Systemlogik der administrativen Kommandowirtschaft. Zur Festigung seiner Macht musste Stalin als Diktator wirtschaftliche Erfolge vorweisen und sich zugleich unentbehrlich machen. Jede Berechenbarkeit seiner Entscheidungen hätte ihn ersetzbar und damit überflüssig gemacht. Zur öffentlichen Inszenierung seiner Bedeutung als Regulator der Wirtschaft bediente sich Stalin der Schiedsrichterrolle zwischen den widerstreitenden ökonomischen Interessen. Um Erfolge seines Handelns vorzeigen zu können, benötigte er die Erfüllung seiner Pläne. Zusätzlich diente die Aufdeckung von "Volksfeinden" als Beleg für seine Wachsamkeit und Unentbehrlichkeit.28 Stalin war deshalb auf fähige Betriebsleiter angewiesen, die seine Planbefehle ausführten. Diese konnten sich im Erfolgsfall im Gegenzug weitgehend darauf verlassen, nicht gefragt zu werden, wie sie die Befehle ausgeführt hatten. Angesichts der Unvollkommenheit der Pläne war dies ohne die Nutzung korrupter Praktiken nicht möglich.
Die Wirtschaftspläne stellten für die Betriebe Produktionsbefehle dar, gewissermaßen revolutionäre Kampfaufgaben, für deren Erfüllung der Direktor persönlich haftete. Bei Nichterfüllung des Plans drohte ihm die Ablösung und Bestrafung als Volksfeind und Saboteur. Das Dilemma ergab sich daraus, dass sich der Direktor weder auf das vollständige noch das rechtzeitige Eintreffen der in den Plänen ausgewiesenen Zulieferungen verlassen konnte. In der Praxis waren Klagen über ausbleibende Zulieferungen zwecklos. Sie bargen zudem ein hohes Risiko, als Querulant zu gelten und Repressionen ausgesetzt zu sein. Die alternative Strategie, auf korrupte Praktiken zurückzugreifen, um die Erfüllung des erteilten Produktionsbefehls vermelden zu können, versprach mehr Erfolg. Das Risiko einer fast immer mit der Ablösung endenden externen Kontrolle war gering, wenn die Direktoren die Produktionsbefehle erfüllt hatten. Dabei kam ihnen zu Hilfe, dass zur Messung der Planerfüllung die in Wert ausgedrückte Bruttoproduktion diente, so dass die Untererfüllung einzelner Positionen durch die Übererfüllung anderer ausgeglichen werden konnte.29 Die Repressionsdrohung des Diktators schweißte zudem Betriebsdirektoren und Ministerien bis hinauf zum Minister zusammen. Da diese bei der Nichterfüllung der ihnen erteilten Produktionsbefehle ebenfalls mit Strafen rechnen mussten, waren sie bei internen Kontrollen bemüht, erfolgreiche Direktoren unter ihren persönlichen Schutz zu stellen.30
Die Betriebsdirektoren setzten die korrupten Praktiken im öffentlichen Interesse ein, denn sie dienten vorrangig dazu, die zur Produktion erforderlichen Ressourcen in die Hand zu bekommen, erfüllbare ("weiche") Pläne auszuhandeln und bei der Meldung der Produktionsergebnisse die Erfüllung des Plans suggerieren zu können. Zu den Strategien, die Pläne trotz ihrer eklatanten Mängel zu erfüllen, gehörte das Horten von Vorräten und Arbeitskräften, um das zeitweilige Ausbleiben von Zulieferungen überbrücken zu können. Eine zweite Strategie bestand in der Nutzung des Schwarzmarkts: Schieber wurden beauftragt, bestimmte Rohstoffe oder funktionierende Maschinen zu besorgen. Die Bestechungsgelder wurden aus den Lohnfonds abgezweigt, durch Umwandlung der eingeräumten Kredite in Geld oder durch Einnahmen aus der eigenen Belieferung des Schwarzmarkts erlangt. Die dritte Strategie bestand im Aushandeln der Pläne mit den übergeordneten Kontrollinstanzen der Ministerien. Die so entstehenden informellen Netzwerke bildeten bis zum Ende der Sowjetunion das entscheidende Rückgrat der zentralen Kommandowirtschaft. Für die unter diesen Bedingungen arbeitenden Direktoren wurden diese Verhaltensweisen kulturprägend. Die Fähigkeit, über sein Netzwerk "weiche" Pläne auszuhandeln, war entscheidend für den Erfolg eines Direktors. Sein Informationsmonopol über die tatsächlichen Verhältnisse in seinem Betrieb erlaubte ihm, die Meldungen über die Planerfüllung zu manipulieren.31 Der Nutzen für potentielle Kunden spielte grundsätzlich keine Rolle. In den eigentlichen Funktionsmechanismus der Kommandowirtschaft war nur eine kleine Gruppe von Führungskräften einbezogen.
Obwohl nach außen suggeriert wurde, Stalin lenke die Produktion mit seinen Befehlen, war die Kommandowirtschaft tatsächlich in keiner Weise geeignet, Prioritäten zu setzen. Die zentralen Regelungen über die Zuteilung von Ressourcen hatten mit der Realität wenig gemein. Erst die nicht von oben steuerbare Umverteilung der Ressourcen über die korrupten Praktiken bestimmte, welcher Betrieb zu welchem Zeitpunkt erforderliche Ressourcen erhielt und ob die gelieferten Maschinen tatsächlich funktionierten. Begehrte Ressourcen landeten bei den fähigsten Organisatoren, nicht notwendigerweise bei den mit Priorität zu versorgenden Betrieben. Wenn Betriebe der Schwer- und Rüstungsindustrie bei dieser horizontalen Umverteilung dennoch erfolgreicher waren als Betriebe der Leicht- und Lebensmittelindustrie, so ist das auch auf die drastischen Unterschiede im Lohnniveau zwischen den Branchen zurückzuführen. Hohe Gehälter lockten die fähigsten und risikofreudigsten Manager auf Direktorenposten in die Schwer- und Rüstungsindustrie. Ihre zudem besonders reichlich bemessenen Lohnfonds verschafften ihnen bei der Speisung der schwarzen Kassen für die Schattenwirtschaft Vorteile.32 Auch die Kommandowirtschaft war also auf risikofreudige Unternehmer angewiesen, nur dass diese sich eben nicht am Markt, sondern in informellen Netzwerken durchzusetzen hatten.
Die Etablierung der administrativen Kommandowirtschaft in der Sowjetunion verlief Anfang der 1930er Jahre nicht ohne Krisen. Der Diktator musste zunächst lernen, dass er seine Produktionsbefehle nicht zu hoch schrauben durfte, um ihnen nicht jegliche Wirksamkeit zu nehmen. "Bacchantische" Produktionsbefehle verschuldeten 1929 und 1930 einen dramatischen Abfall des wirtschaftlichen Wachstums, das 1932 nahezu auf Null sank.33 Vor dem Hintergrund der sich in der Weltwirtschaftskrise ausdrückenden Krise des Kapitalismus gelang es allerdings, dies vor der Weltöffentlichkeit zu vertuschen, zumal die meisten Pläne fortwährend geändert wurden und zu diesem Zeitpunkt eine Vielzahl von neuen Großbetrieben aus dem Boden gestampft wurde. Erst die pragmatische Korrektur des Jahres 1931 schuf Spielregeln, an denen sich die Handelnden in der Folgezeit orientieren konnten.34 Tatsächlich begann die Bevölkerung bereits in den 1930er Jahren, korrupte Praktiken im Überlebenskampf zu nutzen. Trotz aller Sanktionsdrohungen war es unerlässlich, sich über seine blat-Netzwerke ("Freundeskreise") den Zugang zu lebensnotwendigen Waren zu sichern. Sonst nicht erhältliche Dinge ließ man aus den Betrieben mitgehen.35
Die Funktionsweise des Kolchossystems unter Stalin
Die Kollektivlandwirtschaft erlaubte es Stalin, nach außen zu suggerieren, alles stehe unter seiner Kontrolle: Die Kolchosen mussten die staatlichen Anbau- und Tierproduktionspläne beachten, die Ablieferung richtete sich nach der vom Plan vorgeschriebenen, nicht der faktischen Aussaat. Der zwangsweise Zusammenschluss der Bauern in Kolchosen erhöhte zwar nicht die Agrarproduktion, erleichterte aber dem Staat ihren Abzug. Tatsächlich konservierte die Kollektivlandwirtschaft aber Rückständigkeit: Der erzwungene "Marktanteil" war zwar hoch, doch der Staat vermittelte keinen Anreiz zur Steigerung der Produktion. Die Stagnation der Agrarproduktion unter Stalin war auch darauf zurückzuführen, dass eine Produktionssteigerung angesichts der nicht kostendeckenden Preise nur die Betriebsverluste erhöht hätte.
Die offizielle Beschreibung des Kolchossystems spottete der Realität: Stalin sprach schon 1931 davon, dass der Kolchos die Bauern wohlhabend gemacht habe und die Kolchosniki kein anderes Interesse verfolgten, als das Land mit Lebensmitteln zu versorgen; nur einzelne böswillige Saboteure störten dieses Bild trauter Eintracht.36 Tatsächlich herrschte in den Kolchosen bitterste Armut, und es fehlte an ausreichenden Lebensmitteln. Zum Abzug der Ernte und zum Einzug der Steuern mobilisierte der Staat jedes Jahr seinen Repressionsapparat. Der Kolchosvorsitzende hatte vor allem Kontrolle über die Kolchosniki und die Kolchosproduktion auszuüben. Zugleich hatte er eine "Sündenbockfunktion" zu erfüllen: Sowohl die Kolchosniki als auch das Regime schrieben ihm die Schuld für alle möglichen Fehler zu.37
Ähnlich wie die Kommandowirtschaft benötigte auch das Kolchossystem korrupte Praktiken, andernfalls waren das Überleben der Agrarproduzenten und damit die Fortsetzung der Agrarproduktion in Frage gestellt. Obwohl das Gesetz über den "Schutz des sozialistischen Eigentums" – die Rede ist von den Produkten der Arbeit der Kolchosniki – die Todesstrafe auf Mundraub zuließ, diktierte das Überlebensinteresse den Kolchosniki, trotzdem Produkte vom Feld zu stehlen und sich so häufig wie möglich der Arbeit im Kolchos zu entziehen. Die scheinbar hohen Zahlen der hart Bestraften relativieren sich, wenn man in Rechnung stellt, dass praktisch alle Kolchosniki vom Feld stahlen. Während sonst mit Gewissheit Hunger drohte, war das Risiko, dafür bestraft zu werden, eher zu vernachlässigen. Auch moralisch sahen sich die Kolchosniki im Recht, sich einen Teil der Produktion ihres Kolchos anzueignen, weil der Staat sie praktisch nicht bezahlte.38
Allein staatlicher Zwang ermöglichte den Fortbestand der Kollektivlandwirtschaft. Sie "neutralisierte" die Bauern in ihrem Überlebenskampf, dessen Regeln sie festsetzte. Nach der Etablierung des Kolchossystems gab es trotz der erbärmlichen Lebensumstände der Kolchosniki keine nennenswerten Unruhen. Dafür war entscheidend, dass die Repressionen nicht dauerhaft, sondern nur punktuell während des Einzugs der Agrarproduktion zur Anwendung kamen. Die Vielzahl der Zwangsablösungen erschütterte den Herrschaftsapparat.
Sowjetisierung nach dem Zweiten Weltkrieg: Was hatte die Sowjetunion zu bieten?
Wie war es möglich, dass zwei so wenig für die Erzielung von wirtschaftlicher Effizienz und der Vermittlung von Anreizen zur Steigerung von Produktion und Qualität geeignete Produktionsregime wie die administrative Kommandowirtschaft und die Kollektivlandwirtschaft nicht nur Ende der 1940er Jahre in die osteuropäischen Länder exportiert wurden, sondern sich dort genauso wie in der Sowjetunion selbst bis Ende der 1980er Jahre halten konnten? Allein mit Zwang ist das nicht zu erklären. Wir müssen auch fragen, was die Sowjetisierung mit ihrer Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft der Masse der Bevölkerung zu bieten hatte.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs stand ganz Europa vor der Herausforderung, den Technologierückstand zu den USA aufzuholen und die vorhandenen Strukturen in Wirtschaft und Landwirtschaft zu modernisieren. Dabei bestand in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Verunsicherung über die beste Gestaltung der Wirtschaftsordnung. Nach den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise war das Vertrauen in den Kapitalismus und das uneingeschränkte Wirken von Marktkräften erschüttert. Die schnelle Industrialisierung der Sowjetunion, die durch ihren Sieg im Zweiten Weltkrieg unter Beweis gestellt war, erschien als Kontrastbild zur Krisenanfälligkeit der anderen Volkswirtschaften.39 Dass der Wirtschaftsaufschwung genauso wie unter dem Nationalsozialismus auf einer reinen Rüstungskonjunktur beruhte, blieb dabei außer Acht.
Die Sowjetisierung wurde nach 1945 durch individuelle Erfahrungen beeinflusst. Der Weltkrieg gab Gelegenheit dazu, die wirtschaftliche Leistung des jeweils anderen Regimes in den Blick zu nehmen. Viele Soldaten hatten den trostlosen Zustand der sowjetischen Landwirtschaft mit eigenen Augen gesehen. Umgekehrt sahen Millionen sowjetischer Staatsbürger als Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene oder bis Berlin vorrückende Rotarmisten die wirtschaftlichen Verhältnisse westlich der sowjetischen Grenze.40 Wenig ist darüber bekannt, in welchem Maße dies ihr sowjetisches Weltbild erschütterte. Ihre Erfahrungen waren unter Stalin unerwünscht. Er unterband mit neuerlichem Terror und Aufopferungsverlangen die Hoffnung auf eine Liberalisierung. Das grobe Wissen um den realen Zustand der Kollektivlandwirtschaft in der Sowjetunion trug nachhaltig zur Ablehnung dieser Betriebsform durch breite Bevölkerungskreise in Osteuropa bei.41 In vielen Staaten forderten linke Parteien und Gewerkschaften eine Verstaatlichung der Schwerindustrie und sympathisierten mit den Ideen einer planmäßigen Lenkung der Wirtschaft. Sie billigten dem Staat eine aktivere Rolle im Wirtschaftsprozess zu.42
Der Übertragung des Modells der Kommandowirtschaft und der Kollektivlandwirtschaft ging weder eine Analyse ihrer tatsächlichen Funktionsweise noch ihrer Errungenschaften voraus. Die sowjetische Propaganda betonte die Fortschrittlichkeit dieser Organisationsformen. Die Glaubwürdigkeit der offiziellen Beschreibung litt bedingt unter der Diskrepanz zur Realität: der offensichtliche Mangel in der Sowjetunion gegenüber dem Überfluss in den USA; die Propagierung mechanisierter Agrargroßbetriebe trotz des krassen Mangels an Agrartechnik.
Phasen der Sowjetisierung ab 1945
Die Politik in den ersten Nachkriegsjahren unterschied zwischen den Territorien, die vor 1939 zur Sowjetunion gehörten, den in das sowjetische Territorium eingegliederten annektierten Gebieten, und den 1945 unter sowjetischen Einfluss gelangenden osteuropäischen Staaten. Während des Kriegs war das Kolchossystem auch aus Gründen des Machterhalts etwas gelockert worden. Die über Gerüchte in Aussicht gestellte Liberalisierung der Agrarpolitik wurde nicht eingelöst. Auf dem Territorium von 1939 wurden sofort nach Kriegsende die Kolchose wiederhergestellt und die Hoflandflächen reduziert. In den annektierten Gebieten erfolgte die Kollektivierung Ende 1947 nach sowjetischem Muster einschließlich der Deportation der wohlhabenderen Bauern, der "Kulaken".43 In den osteuropäischen Ländern setzte die definitive Sowjetisierung von Wirtschaft und Landwirtschaft dagegen erst 1948/1949, in der DDR aufgrund der Offenheit der Deutschen Frage erst 1952 ein.
Die erste Phase der Politik in Osteuropa war also bis 1948 noch nicht auf Sowjetisierung ausgerichtet. Die Sowjetunion konzentrierte sich in allen osteuropäischen Staaten zunächst auf die Eroberung der politischen Macht, indem sie häufig verdeckt mit Terror und Diskreditierung von Politikern die Weichen zur Machtübernahme der Kommunisten stellte. Damit gelangten in allen Ländern Personen in die Regierungen, die das sowjetische Modell uneingeschränkt befürworteten.44 Zur Strategie der Machtsicherung gehörte auch das Werben um die Bevölkerung. Aus herrschaftslegitimatorischen Gründen wurden nur wenige Elemente des sowjetischen Ablaufschemas bereits in dieser Phase implementiert: die Bodenaufteilung in der Landwirtschaft und eine zumeist beschränkte Verstaatlichung der Schwerindustrie, wobei sich die Enteignungen, soweit sie nicht wie in der Tschechoslowakei und Jugoslawien im Zuge einer "Selbstsowjetisierung" betrieben wurden, vor allem legitimitätsheischend gegen Kollaborateure und Kriegsverbrecher richteten.45 Dass die Bodenaufteilung selbst dort erzwungen wurde, wo bei vorherigen Bodenreformen schon der gesamte Großgrundbesitz beseitigt worden war, deutet auf die Dogmatisierung des sowjetischen Modells hin.46
Bei der Übertragung des sowjetischen Ablaufschemas sind nur geringfügige Modifikationen festzustellen. So wurde die Bodenaufteilung in keinem osteuropäischen Land mit einer "Nationalisierung" des Bodens verbunden. Das trug der deutlich anderen Einstellung der osteuropäischen Bauern zum Privateigentum Rechnung. Die Bodenaufteilung sollte vor allem für die Sowjetmacht werben und keinen Traditionsbruch erzwingen. Die Herrschaftslegitimation hatte zu diesem Zeitpunkt unbedingten Vorrang. Auch das Bodenreformland wurde in der Regel als persönliches Eigentum der Neusiedler eingetragen.47 Die später erstellten Satzungen der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) hoben das Privateigentum am Boden nicht auf. Mit Abschluss der Kollektivierung verlor dieser Rechtstitel aber jede Bedeutung, da die Eigentümer über den in die LPGs eingebrachten Boden nicht länger verfügen konnten.48
In der Wirtschaftspolitik wurde zunächst am Status quo festgehalten. Vorrang hatten Maßnahmen zur Überwindung der Versorgungskrise und zur Wiederherstellung der Vorkriegsproduktion. Zu diesem Zeitpunkt war das politische Schicksal Osteuropas noch bedingt offen. Man knüpfte an dem vorgefundenen Bewirtschaftungssystem an, das Ähnlichkeiten mit der Zentralverwaltungswirtschaft aufwies. So basierte die Pflichtablieferung von Agrarerzeugnissen in der DDR auf dem Erfassungssystem der Kriegswirtschaft und schrieb die Ablieferung bestimmter Mengen je Hektar vor.49 Dennoch gelang es zunächst nicht, die elementarsten Lebensbedürfnisse zu decken. Ein staatlicher Apparat zur Lenkung und Behörden zur zentralen Verwaltung der Wirtschaft koordinierten die Wiederaufbaumaßnahmen. In den meisten Ländern wurden Enteignungen in den wichtigsten Wirtschaftsbereichen fortgesetzt; Mittel- und Kleinbetriebe und das Handwerk blieben in der Regel aber noch verschont. Die Einladung auch der osteuropäischen Staaten zur Teilnahme an der Marschall-Plan-Konferenz setzte Moskau im Sommer 1947 unter Zugzwang. Gegebene Zusagen mussten wieder zurückgezogen werden. Der sogenannte "Molotovplan" und die Gründung des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe waren die Antwort. Die Untätigkeit dieser Institution bis zu Stalins Tod demonstrierte Ratlosigkeit und mangelnde Ressourcen, um den neuen Blockländern unter die Arme zu greifen, ähnlich wie die USA es taten. Stalins Denken war auf Autarkie gerichtet. Er verfügte über kein Konzept, den Handel innerhalb des Blocks zu nutzen, um Wachstum zu erzielen.50
Die Sowjetisierung wurde nicht nur von außen aufgezwungen, sondern auch von den an die Macht gebrachten Kommunisten in den einzelnen Ländern befürwortet. Sie drängten zur Kopie des sowjetischen Vorbildes, wobei sie die Übertragung der Kommandowirtschaft vorbehaltloser anstrebten als die Kollektivierung der bäuerlichen Landwirtschaft. Auch vielen Kommunisten war bewusst, dass es nicht einfach sein würde, die Bauern von den Vorteilen der Kollektivlandwirtschaft zu überzeugen.51 In der ersten Phase bremste Stalin die Kommunisten und untersagte ihnen, direkte Sowjetisierungsmaßnahmen einzuleiten oder offen von der Absicht zu sprechen, die Landwirtschaft zu kollektivieren. Nur in Südosteuropa, wo Tito (1892–1980) von Beginn an ein Konzept der "Selbstsowjetisierung" verfolgte, begann die Kollektivierung ebenso wie in Bulgarien und Albanien schon 1945/1946. Diese eigenmächtige Art sollte 1948 zum Bruch mit Tito führen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass diese hinhaltende Politik ein Ausdruck von Nationalkommunismus war, also die Suche nach einem eigenen, wirtschaftskulturell angemessenen Weg der einzelnen Länder in den Kommunismus. Auch bei selbstständigeren Entscheidungen war nie der Kurs auf eine faktische Sowjetisierung strittig. Der Eindruck, es habe sich um Nationalkommunismus gehandelt, entstand erst nachträglich. Denn ab 1948/1949 verband Stalin mit dem Beginn der Sowjetisierung eine empfindliche ideologische Verschärfung, nicht zuletzt um Misstrauen zu säen. Dadurch gerieten genau diejenigen kommunistischen Führer in die Angriffslinie, die, wie der polnische Parteichef Władysław Gomułka (1905–1982), Stalins flexible Politik mit der Scheindistanzierung vom sowjetischen Modell umgesetzt hatten.52
Der Übergang in die zweite Politikphase von 1948/1949 bis zu Stalins Tod 1953 erschien als abrupte Kehrtwende. Dass mit Ausnahme der DDR alle osteuropäischen Länder jetzt die gleichen Politikmaßnahmen nach sowjetischem Muster durchführten, verstärkte den Eindruck einer von Moskau diktierten "Sowjetisierung". Es handelte sich dabei um die formale Übertragung sowjetischer Politikinhalte und des sowjetischen Ablaufmodells. Alle Länder begannen jetzt, administrative Kommandowirtschaften einzurichten und das sowjetische Modell der forcierten Industrialisierung in Fünfjahrplänen zu kopieren. Diese liefen zu Beginn der 1950er Jahre an. Der Umbau zur sozialistischen Wirtschaft sollte schnellstmöglich abgeschlossen werden. Die Länder brachten dazu 1948/1949 die Verstaatlichung der Wirtschaft schnell zum Abschluss und bezogen dabei nun auch – mit unterschiedlicher Untergrenze: 10 Beschäftigte in Ungarn, 50 in Polen – Klein- und Mittelbetriebe ein. Alle Länder verfolgten das Ziel, wirtschaftliche Autarkie zu erreichen. Dabei setzten sie auf den unbedingten Vorrang der Schwer- und Grundstoffindustrie vor der Konsumgüterindustrie. Die Kapitalakkumulation basierte auf einem vom Staat erzwungenen Konsumverzicht, und der Handel wurde als parasitärer Bereich eingestuft.53
Das hervorstechende Element dieser Phase war die schematische Orientierung an der dogmatisierten Übertragung eines vorgeblich sowjetischen Verlaufmodells. Dabei waren die Unterschiede in der Ausgangssituation zwischen den einzelnen osteuropäischen Ländern gravierend, etwa der Grad der Industrialisierung, die Qualifikation der Arbeitskräfte und ihre Verteilung auf die Wirtschaftssektoren. Den Anweisungen fehlte jede Flexibilität. Lernprozesse waren nicht zu beobachten, denn selbst Politikelemente, die wie die Kollektivierung eine verheerende Vernichtung von Ressourcen bewirkt hatten, wurden nicht ausgenommen.
Während sich die Übertragung der administrativen Kommandowirtschaft für die Bevölkerung weitgehend im Verborgenen abspielte, waren die Menschen von den implementierten Politikinhalten sofort und elementar betroffen. Von dem hohen industriellen Wachstum profitierte fast ausschließlich die Schwer- und Grundstoffindustrie. Nachdem die in der unmittelbaren Nachkriegszeit verfolgte Politik in allen Ländern die Versorgungslage der Bevölkerung verbessert hatte und erlaubte, sich der Vorkriegsproduktion wieder anzunähern, kam der Erholungsprozess nun abrupt zu einem Ende. Der Politikwechsel schlug sich in drastischem Konsumverzicht und in einem fühlbaren Einbruch des Lebensstandards nieder. 1952/1953 kam es in vielen Staaten zu Versorgungsengpässen.54
Ende 1948 wurde auch der Beginn der Kollektivierung erzwungen. Sie folgte ebenfalls dem sowjetischen Ablaufschema. Zunächst musste der "Klassenkampf" auf dem Lande vorangetrieben werden, bevor in einem zweiten Schritt eine Beitrittswelle in die LPGs zu beginnen hatte. Der "Klassenkampf" beruhte auf Justizterror: Massenhaft wurden Bauern wegen der Nichterfüllung der hohen Ablieferungsverpflichtungen bestraft. Dabei wurde bewusst angestrebt, dass die Großbauern durch die unter den Produktionskosten liegenden Staatspreise in den wirtschaftlichen Ruin getrieben wurden. Vielfach kam es zu Verhaftungen und zur Konfiskation des Besitzes. Das traf selbst dort auf den erbitterten Widerstand der ländlichen Bevölkerung, wo wie in Südosteuropa die Kollektivierung schon 1945 begonnen hatte. Dass der Druck zur Kollektivierung in keinem der betroffenen Länder zu einer ähnlichen Ressourcenvernichtung wie in der Sowjetunion führte, ist darauf zurückzuführen, dass sich der Prozess länger hinzog. Außerhalb des sowjetischen Territoriums war es nicht möglich, die Großbauern zu deportieren. Der Widerstand der weniger vom Justizterror betroffenen Klein- und Mittelbauern konnte trotz des Terrors in vielen Ländern nicht gebrochen werden. Sie traten nur zögerlich oder – wie in Polen – praktisch gar nicht in die LPGs ein.55
Der Zustand der sowjetischen Landwirtschaft Ende der 1940er Jahre kann nicht erklären, warum Stalin die osteuropäischen Staaten zwang, das Modell der Kollektivlandwirtschaft auf ihre Länder zu übertragen. In Osteuropa fehlten Ende der 1940er Jahre alle wirtschaftskulturellen Voraussetzungen zur Übertragung dieses Modells. Die osteuropäischen Bauern sahen den Boden als Privateigentum an. Es war undenkbar, sie in einen an die Leibeigenschaft erinnernden Rechtsstatus zurückzuversetzen, wie ihn die sowjetischen Bauern in Fortführung der staatlichen Zwangsorganisation der Umverteilungsgemeinde zu erdulden hatten. Ein freiwilliger Beitritt der Bauern zu den LPGs war nicht zu erwarten, wenn diese ihnen nur unbezahlte Zwangsarbeit boten. Übertragen wurde deshalb nicht die Funktionsweise des sowjetischen Kolchos, sondern lediglich das nach dem Zweiten Weltkrieg geltende sowjetische Ablieferungsregime.56 Der gegen die Großbauern ab 1949 eingesetzte Justizterror verschlechterte allerdings die Ernährungssituation und gefährdete damit die Herrschaftsausübung der Kommunisten. Aus der DDR flohen von der Verhaftung bedrohte und ruinierte Bauern in den Westen.
Die in allen osteuropäischen LPG-Satzungen garantierte persönliche Nebenwirtschaft hatte es während der Kollektivierung in der Sowjetunion nicht gegeben. Sie war Anfang 1930 ein Zugeständnis an die protestierenden sowjetischen Bäuerinnen gewesen. Ihre Förderung begann Ende 1932 mit der Etablierung des Kolchossystems in Reaktion auf die Hungersnot; 1935 wurde sie in der Satzung detailliert festgeschrieben. Indem alle LPG-Satzungen den Mitgliedern von Beginn an Hofland zur Selbstversorgung und zur Erzielung von Zusatzeinkommen durch Vermarktung zugestanden, reflektierten sie das Scheitern der Kollektivierung in der Sowjetunion. Indirekt war das ein Eingeständnis, dass die Kolchosproduktion allein nicht die Ernährung sichern konnte und der Ergänzung durch private Nebenwirtschaften bedurfte. Damit wurden auch die LPGs zunächst nicht als Agrargroßbetriebe konzipiert, die alle Produktionszweige umfassten.57
Der Mangel an Arbeitskräften zwang die DDR bereits 1952, eine dem sowjetischen Vorbild diametral entgegengesetzte Position in der Einkommenspolitik zu beziehen. Den LPG-Mitgliedern wurde ein fester Mindestwert der Arbeitseinheit garantiert, der in etwa dem Lohn eines Industriearbeiters entsprach. Außerdem wurden sie in die staatliche Sozialversicherung einbezogen.58 Die LPG-Mitglieder in der DDR verspürten deshalb nie am eigenen Leib, was es hieß, ein "Kolchosnik" zu sein. Ihnen blieb die soziale Entrechtung und Diskriminierung gegenüber Industriearbeitern erspart.
Es greift zu kurz, diese Abweichung alleine mit ökonomischen Zwängen zu erklären. Eine entscheidende Rolle spielte, dass sich einige Ökonomen und Kommunisten in DDR für qualifizierter als die Russen hielten, die Aufgaben des kommunistischen Aufbaus zu lösen. Dieses Überlegenheitsgefühl ist bei der Ausprägung des LPG-Systems in der DDR unverkennbar. Den Verantwortlichen war der armselige Zustand der Kolchosen bekannt. Sie konstruierten in Grundzügen schon 1952 ein Gegenmodell, das nicht nur den spezifischen Bedürfnissen der DDR Rechnung trug, sondern auch Stalins Ausbeutung der Bauern beendete.
Der Tod Stalins stellte die Sowjetisierungspolitik nach dem Muster der dogmatischen Übertragung des sowjetischen Ablaufmodells unmittelbar in Frage. Die neue sowjetische Führung diktierte der DDR und Ungarn den "Neuen Kurs", der die bisher verfolgte Politik abrupt beendete. Beide Parteiführungen wurden in der ersten Junihälfte 1953 nach Moskau zitiert, weil sie noch an Stalin Bittbriefe um sowjetische Lebensmittellieferungen gerichtet hatten. Die Gespräche zeigten, wie sehr die neuen Führer vom bisherigen Konzept der Sowjetisierung abrückten. Vor den verdutzten Kommunisten aus Berlin und Budapest übten sie offene Kritik an Stalins Autarkiepolitik und am forcierten Aufbau der Schwer- und Grundstoffindustrie auf Kosten des Konsums. Scharf verurteilten sie den massenhaften Justizterror gegen die Landbevölkerung zur Erzwingung des LPG-Beitritts. Geheimdienstchef Lavrentij Berija (1899–1953) stellte sogar die Kollektivierung der Landwirtschaft überhaupt in Frage.59
Die anderen osteuropäischen Länder blieben vor ähnlichen Diktaten zur Änderung ihrer Politik verschont. Auch hier entspannte sich aber zumindest die Atmosphäre. Die weitere Kollektivierung wurde mit weniger Nachdruck betrieben und geriet ins Stocken. Eine Korrektur der Wirtschaftspläne setzte ein, die den Primat der Schwerindustrie zumindest abschwächte. Die Moskauer Führung handelte auf der Grundlage von Geheimdienstberichten. Stalins Sowjetisierungskurs hatte in vielen osteuropäischen Ländern zu erheblichen Unruhen in der Bevölkerung geführt, so dass Moskau einen Machtverlust befürchtete. Paradoxerweise führte dann aber gerade die Liberalisierung am 17. Juni 1953 in der DDR zu dem ersten Volksaufstand, weil Walter Ulbricht (1893–1973) an der Erhöhung der Arbeitsnormen festhielt. Die Aufstände nach Chruščevs Geheimrede 1956 in Ungarn und Polen waren eine Abrechnung mit dem stalinistischen Kurs, der in Polen bruchlos und in Ungarn durch Mátyás Rákosi (1892–1971) – nach Georgij Malenkovs (1902–1988) Sturz in der Sowjetunion – fortgesetzt worden war.
Stalins Tod leitete zu einer dritten Phase der Sowjetisierungspolitik über. Während bis 1953 eine nennenswerte Prägung des Verhaltens der Bevölkerung nicht zu beobachten war, begann die Fortsetzung der Sowjetisierung bei deutlich abgeschwächtem Zwang und Terror nun, wesentlich tiefgreifender das Verhalten und die Einstellungen der Bevölkerung zu prägen. Diese fing an, sich unter den neuen Bedingungen einzurichten und sich an sie anzupassen.60 Die Sowjetisierung war jetzt nicht länger eine Einbahnstraße in Form eines sowjetischen Diktats. Immer stärker kam es zum Austausch zwischen gleichgesinnten Regierungen und Spezialisten, die ähnliche Ziele verfolgten. Die gemeinsamen Grundüberzeugungen der kommunistischen Führer und ihre ideologisch getrübte Wahrnehmung der Realität sorgten dafür, dass es zu keiner grundlegenden Korrektur der Sowjetisierungspolitik kam. Trotz ihrer offensichtlichen Schwächen hielten die Parteiführer unbeirrt an der administrativen Kommandowirtschaft und der Kollektivlandwirtschaft fest. Der politische Gestaltungsspielraum wurde kaum genutzt. Das zeigte sich auch in der Agrarpolitik, in der unter Stalin die Übertragung des sowjetischen Modells nicht abgeschlossen worden war. Nur in Bulgarien und der Tschechoslowakei war der Zusammenschluss der Bauern in LPGs vergleichsweise weit vorangekommen. Dagegen trat in Polen, Ungarn oder der DDR trotz des Terrors nur ein geringer Anteil der Altbauern den LPGs bei. Dennoch rückte mit Ausnahme Jugoslawiens kein Land von dem Modell der Kollektivlandwirtschaft ab.61 Dagegen gab die Sowjetunion unmittelbar nach Stalins Tod das Kolchossystem auf. Noch im Herbst 1953 verdreifachte sie im Schnitt die Agrarerzeugerpreise, um die soziale Diskriminierung der Kolchosniki zu beenden und ihnen einen wirtschaftlichen Anreiz zur Erhöhung der Produktion zu setzen.62
Sowjetisierung im Bereich der Wirtschaft
Die schematische Übertragung der sowjetischen Industrialisierungskonzeption hatte sich unter den europäischen Rahmenbedingungen der 1950er Jahre potentiell als systemsprengend erwiesen. Nur Stalins Tod und die nun erfolgende Politikkorrektur hin zu einer stärkeren Konsumorientierung retteten die Regimes. Auch nach 1953 blieb die Wirtschaftspolitik in allen Staaten im Gleichklang, sodass weiterhin von einer Sowjetisierung gesprochen werden muss. Die modifizierten Politikinhalte wurden weiterhin bedingt von Moskau vorgegeben, beruhten aber stärker auf gemeinsamer Festlegung. Erst die Ölkrise in den 1970er Jahren gestaltete die Rahmenbedingungen für die osteuropäischen Staaten anders als für die Sowjetunion. Diese konnte Konsumorientierung durch Ölexporte gewährleisten. Das wurde in den osteuropäischen Staaten nicht bedacht, so dass sie mangels einer Ausgleichfinanzierung in eine systemgefährdende Verschuldung abrutschten, was letztlich, beginnend mit Polen, zur Auflösung des Sowjetblocks führte.63
Das entscheidende Element der Sowjetisierung bestand in der Übertragung der administrativen Kommandowirtschaft. Zu ihrem realen Funktionieren in den einzelnen Ländern liegen noch fast keine Studien vor. In allen Ländern wiesen die Planbefehle aber die gleichen gravierenden Mängel auf. Insbesondere stellten sie nicht die vollständige und rechtzeitige Anlieferung der zur Produktion erforderlichen Ressourcen sicher. Um ihre Planbefehle zu erfüllen, mussten auch hier die Betriebsdirektoren zu korrupten Praktiken greifen. Sie lernten schnell, dass qualitative Indikatoren gegenüber quantitativen grundsätzlich "weich" waren. Ein überhöhter Materialverbrauch zahlte sich bei der Planerfüllung durchweg aus und ersparte einem, die lästigen Pläne für Ersatzteile erfüllen zu müssen, die kaum zu dem Indikator "Wert" der Bruttoproduktion beitrugen. In allen administrativen Kommandowirtschaften war der verschwenderische Umgang mit den knappen Ressourcen festzustellen. Entsprechend niedrig lag die Arbeitsproduktivität. Daraus ist abzuleiten, dass sich sehr ähnliche Netzwerke wie in der Sowjetunion ausbildeten, wobei die Ministerien ihre erfolgreichen Betriebsleiter schützten. Das industrielle Management hatte kaum Probleme, sich an die Kommandowirtschaft zu gewöhnen und durch korrupte Praktiken wirtschaftlichen Erfolg auszuhandeln, statt sich dem Markt als unerbittlichem Richter zu stellen.64
Die Diskussion über die Wirtschaftsreform der 1960er Jahre ging in allen Staaten von typischen Problemen der Kommandowirtschaft aus.65 Dabei zeigte sich, dass die Sowjetisierung auch in der Wirtschaftspolitik nicht länger eine Einbahnstraße war. Über Landesgrenzen hinweg kam es zu einer Debatte unter den Ökonomen. Sie thematisierten die krassen Effizienzprobleme und die Unvollkommenheiten der Kommandowirtschaft.66 Allerdings bezog sich die Erörterung auf die Symptome, nicht auf die systemischen Ursachen der Probleme. So wurde nicht angesprochen, warum sich unter der administrativen Kommandowirtschaft überhaupt korrupte Praktiken ausbilden konnten und was zu ihrer Überwindung erforderlich wäre. Die Verlagerung von mehr Rechten in die Betriebe erleichterte letztlich die Anwendung korrupter Praktiken. Dabei wurde fälschlicherweise unterstellt, die Betriebsdirektoren seien an der Erhöhung der Effizienz interessiert, obwohl die Spielregeln der Kommandowirtschaft von ihnen genau das Gegenteil verlangten.67 Auch Fabriken, die extrem unwirtschaftlich arbeiteten, drohte kein Bankrott. Verhängte administrative Strafen konnten die Direktoren über ihre informellen Netzwerke leicht entschärfen.
Wenn die DDR nun eine Vorreiterrolle übernahm, indem sie mit der Implementierung der Reform bereits 1963 begann, kam darin zunächst noch verdeckt ein bei Ulbricht und einigen DDR-Ökonomen stark ausgeprägter Überlegenheitsanspruch zum Ausdruck. Dieser wurde offensichtlich, als Ulbricht 1968 die Parole "Überholen ohne einzuholen" ausgab und mit seiner Technologie- und Wachstumsoffensive an dem ambitionierten Ziel Chruščevs festhielt, den Westen in kurzer Zeit zu überrunden. Nach Chruščevs Ablösung war in der Sowjetunion davon öffentlich nicht mehr die Rede. Die Verstimmung Leonid Brežnevs (1906–1982) machte sich Erich Honecker (1912–1994) zunutze, um Ulbricht schließlich 1971 zu stürzen.68
Nach anfänglichen Erfolgen wurde die Reform in allen Staaten aus politischen Gründen aufgegeben. Von der Tschechoslowakei abgesehen, waren die kommunistischen Parteien nicht bereit, auf ihren Anspruch zu verzichten, in der Wirtschaft zu intervenieren. Mehrere osteuropäische Staaten stimmten 1968 für eine Militärintervention zur Beendigung des "Prager Frühlings". Überall erwiesen sich die Kommandowirtschaften als unfähig, den technologischen Fortschritt anzustoßen. Selbst beim Kopieren der aus dem Westen importierten Technologie versagten sie. Der Effekt der Wirtschaftsembargos des Kalten Krieges ist im Vergleich zu dem Schaden, den die Ressourcenverschwendung anrichtete, zu vernachlässigen.69
Das Interesse an der Fortsetzung der administrativen Kommandowirtschaften erwuchs aus der Tatsache, dass die kommunistischen Parteien wie zuvor Stalin mit ihrer Hilfe ihre Bedeutung und Unersetzbarkeit unter Beweis stellen konnten. Überall verkaufte die offizielle Beschreibung die Überwindung der "Marktanarchie" als Erfolg. Mit Argusaugen wachten die Parteiführer darüber, dass keine Lenkungsentscheidungen an die Märkte abgetreten wurden. Dieses vertrauenschaffende und systemstabilisierende Image erkauften sich die Parteiführer durch Duldung der korrupten Praktiken. Diese bezogen nun allerdings einen zunehmend größeren Personenkreis ein, dem es immer mehr um persönliche Bereicherung als das Funktionieren des Wirtschaftssystems ging.70
Die administrative Kommandowirtschaft erschwerte es, Druck auf die Beschäftigten auszuüben, denen sie einen Minimallohn und einen Arbeitsplatz garantierte, weil der Bankrott unrentabler Betriebe ausgeschlossen war. Sie erlaubte dadurch vielen Beschäftigten, sich mit dem Regime zu arrangieren. Die auffällig niedrige Arbeitsproduktivität belegte die Ressourcenvergeudung genauso wie eine äußerst niedrige Arbeitsintensivität. Ein bescheidender Wohlstand in Relation zum Arbeitseinsatz führte dazu, dass sich die Beschäftigten gegen Reformen sträubten, die ihre Ruhe in Frage stellten. Die Bevölkerung tolerierte im Gegenzug die Nichteinlösung des ständig wiederholten Versprechens, die Qualität der Konsumgüter zu verbessern, zumindest solange die Regimes sie nicht dabei störten, sich einen Teil der versprochenen Konsumgüter mittels korrupter Praktiken zu beschaffen.71
Sowjetisierung im Bereich der Landwirtschaft
Nach Stalins Tod wurde zeitweilig das System der Kollektivlandwirtschaft in Frage gestellt. In der DDR forderte 1956 der Leiter des Instituts für Agrarökonomie, Kurt Vieweg (1911–1976), die Streichung der Subventionen für die LPGs und trat für einen offenen Wettbewerb zwischen den LPGs und Privatbauern ein. Damit stellte er das Ziel der Produktionssteigerung unter "optimalen Kosten" für den Staat über das der Umstrukturierung der Landwirtschaft.72 Letztlich war aber keine osteuropäische Parteiführung bereit, von der Konzeption der Kollektivlandwirtschaft abzurücken. Allerdings wurde bei der Fortsetzung der Kollektivierung zunächst auf Zwang verzichtet. Um die Bauern zum Eintritt in die LPGs zu bewegen, setzte man auf Werbemaßnahmen und Vergünstigungen. Dabei wichen Ungarn und die DDR in einem weiteren, unter Stalin dogmatisierten Punkt vom sowjetischen Modell ab. Ende 1954 verzichteten sie auf die Ausgrenzung der Großbauern.73 Gelang es, einen Großbauern von den Vorteilen einer Mitgliedschaft zu überzeugen, zog das Beitritte anderer Bauern nach sich. Der Erfolg der LPGs nach 1960 war auch darauf zurückzuführen, dass Großbauern ihre Fachkompetenz einbringen konnten.
Aufgrund der Betonung der Freiwilligkeit traten die Bauern den LPGs nur äußerst zögerlich bei. Das schuf Probleme: Die Wirtschaftsfläche der LPGs änderte sich ständig, so dass eine vernünftige Lenkung der Betriebsentwicklung nicht möglich war. Besonders das lange Schwanken zwischen privatbäuerlicher und Kollektivlandwirtschaft bei politischer Bevorzugung der LPGs konnte nur negative Auswirkungen haben. Deshalb entschlossen sich mehrere Staaten schließlich Anfang 1960 dazu, die Kollektivierung unter massiver Druckausübung in wenigen Monaten abzuschließen, frei nach dem Motto "Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende".74
In der SBZ/DDR prägten die Bauern die LPGs bis zum Abschluss der Zwangskollektivierung nur wenig. Die Bodenreform war nicht von einem spontanen Handeln begleitet. Auch auf die Bestimmungen im LPG-Statut nahmen sie keinen Einfluss, wie dies in der Sowjetunion mit dem von den Bäuerinnen erkämpften Hofland der Fall gewesen war. Die Abweichungen vom sowjetischen Modell nahm vielmehr die SED-Führung 1952 selbst vor. Erst ab dem Frühjahr 1960 brachten die deutschen Bauern ihre Interessen ein. Nun verbreitete sich eine "Wir sitzen alle in einem Boot"-Stimmung. Sie versuchten das Beste aus einer Situation zu machen, die sie selbst nicht angestrebt hatten. Wichtig dabei war, dass die LPGs zu diesem Zeitpunkt noch überschaubare Strukturen hatten. In der Regel kannten die Mitglieder einander seit langem. Die Vorsitzenden stammten aus der lokalen Bauernschaft. Die durchschnittliche Qualifikation der Betriebsleiter war höher als in der Sowjetunion. Schwierige Fragen der Organisation wurden gemeinsam gelöst; die staatliche Bevormundung hielt sich zu diesem Zeitpunkt in Grenzen. Die Konsolidierung wurde durch steigende Einkommen und die sozialpolitische Absicherung erleichtert, weil der Staat die Agrarproduktion mit erheblichen Mitteln subventionierte. Da die Bauern nie bedingungslos ausgepresst wurden, war das Entwicklungspotential der LPGs in der DDR genauso wie in den anderen osteuropäischen Staaten höher.
Das Modell der Kollektivlandwirtschaft musste bei Aufgabe der kleinlichen Bevormundung und Reglementierung durch die Partei keineswegs der bäuerlichen Landwirtschaft unterlegen sein. Tatsächlich finden wir in den LPGs Osteuropas ein relativ breites Spektrum unterschiedlicher Verhaltensweisen. Äußerlich ähnliche Institutionen unterschieden sich in ihrer praktischen Arbeit stark. Polen wies eindeutig die negativsten Kennzeichen auf, gerade weil hier die Kollektivierung nie zu Ende geführt wurde. Denn die polnischen Kommunisten hielten unbeirrt am Ziel der Kollektivierung fest und vernachlässigten die privaten Kleinbetriebe, die deshalb auf einem extrem niedrigen Niveau fast ohne Einsatz von Technik produzierten. Ungarn und die DDR demonstrierten dagegen die Möglichkeiten der Betriebsform und erzielten in den 1960er Jahren durchaus positive Ergebnisse. Ungarn konnte in den 1970er Jahren unter Nutzung des Spielraums für die Agrarpolitik die Vorzüge des Modells demonstrieren. Es stellte unter Beweis, dass die LPGs mit vernünftigen Preisen und importierten Betriebsmitteln sehr wohl konkurrenzfähig waren.75 In der DDR versetzte allerdings ein neuerlicher Versuch, die Sowjetunion in der Kollektivlandwirtschaft zu übertrumpfen, die Landwirtschaft in den 1970er Jahren in eine schwere Krise mit explodierenden Kosten bei stagnierenden Erträgen. Die ideologisch fixierte Konzeption von der "industriemäßigen" Agrarproduktion des Sekretärs für Landwirtschaft, Gerhard Grüneberg (1921–1981), erzwang die Trennung der Tier- und Pflanzenproduktion im Zuge einer weiteren Spezialisierung. Das Arbeiten auf ständig wechselnden Anbauflächen, das die Resultate der eigenen Arbeit unsichtbar machte, verführte zur Nachlässigkeit, zu der schon in den 1930er Jahren in der Sowjetunion gegeißelten Verantwortungslosigkeit (obezlička).76 Die mehrfache Änderung der Größen der erforderlichen Stallungen verursachte lediglich erhebliche Mehrkosten, denn die Milchleistung der Kuh stieg nicht mit der Stallgröße.77
Die Kollektivlandwirtschaft litt in allen Ländern unter Mängeln, die auf die administrative Kommandowirtschaft zurückzuführen waren. Diese stellte zu keinem Zeitpunkt die von den LPGs benötigte Technik bereit. Minderwertige und häufig viel zu schwere Maschinen und das chronische Fehlen von Ersatzteilen belasteten die Kollektivlandwirtschaft. Für viele Arbeitsgänge wurden überhaupt keine Maschinen angeboten. Zu der mangelnden Qualität der Agrartechnik traten die Probleme durch desinteressierte Produzenten und die in den meisten Staaten nie nachlassende Bevormundung der Agrargroßbetriebe durch die Partei.
Resümee: Die "Sowjetisierung" in transfergeschichtlicher Perspektive
Nur die Übertragung der Kommandowirtschaft führte also dazu, dass sich weitgehend ähnliche Formen und Verhaltensweisen herausbildeten. Sie betraf nur kleine Gruppen von Funktionären, die, den gleichen Mängeln und Zwängen ausgesetzt, auch vergleichbare Verhaltensweisen ausprägten. Alle osteuropäischen Volkswirtschaften wurden zu "Mangelwirtschaften" (János Kornai) mit den gleichen Defiziten. Die informellen Spielregeln, die das Funktionieren der Kollektivlandwirtschaft sicherstellten, sperrten sich gleichwohl gegen eine Übertragung. Die Sowjetunion hatte für die Landwirtschaft kein tragfähiges Modell anzubieten. Vielmehr musste nach Stalins Tod in gemeinschaftlicher Arbeit ein neues Konzept entwickelt werden, das sich in den Grundzügen am DDR-Modell von 1952 orientierte und die Kolchosniki stufenweise Arbeitern gleichstellte.78 In allen Staaten ging man zur Subvention der Agrarproduktion über. Die Funktionsmechanismen der Kollektivlandwirtschaft blieben zu jedem Zeitpunkt von den wirtschaftskulturellen Voraussetzungen der einzelnen Länder geprägt.
Wenn es in allen Staaten nach Stalins Tod gelang, bei der Bevölkerung ein gewisses Vertrauen in die Wirtschaftsordnung herzustellen, so ist das zum einen auf die Identifikationsmöglichkeiten mit dem ursprünglichen sowjetischen Modernisierungskonzept zurückzuführen, das in den 1920er Jahren entwickelt wurde. Dessen programmatischer Anspruch, zu dem die planmäßige Lenkung der Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit gehörten, hatte seine Attraktivität bewahrt. Darauf stützte sich die 1953 eingeleitete Konsumorientierung. Zum anderen ermöglichte das zur Aufrechterhaltung der administrativen Kommandowirtschaft erforderliche Tolerieren korrupter Praktiken den Menschen, sich unter den Regimebedingungen einzurichten und mit den Mängeln zu arrangieren. Ihren vergleichsweise bescheidenden Wohlstand sahen sie in Verbindung mit den sozialen Errungenschaften als Besitzstand an, den sie zu verteidigen bereit waren.79
Während die Russifizierung im Bereich der Wirtschaft als Adaption von aus dem Westen stammenden Konzepten und Ideen an die russischen Verhältnisse verstanden werden konnte, zwingt der Begriff "Sowjetisierung" zur Unterscheidung zwischen verschiedenen Ebenen des Transferprozesses. Er bezeichnet eine Rückübertragung von ursprünglich aus dem Westen entlehnten Ideen und Konzepten in veränderter Form. Dieser Prozess war politisch stark reglementiert, dennoch fehlte nicht nur ein "Generalplan", sondern auch eine die Folgen des Tuns reflektierende Instanz. Folgende Elemente des Transferprozesses konnten unterschieden werden:
1. die schnelle, gewaltsame Eroberung der politischen Macht, dadurch befanden sich in allen osteuropäischen Ländern Kommunisten in den Regierungen, die aus eigenem Antrieb die Sowjetisierung betrieben;
2. die enge Orientierung der gewählten Schritte unter Stalin an einem dogmatisierten sowjetischen Ablaufmodell, das fast keine Rücksicht auf nationale Besonderheiten nahm und Lernfähigkeit fast gänzlich vermissen ließ;
3. die äußerliche Übertragung sowjetischer Strukturen, Institutionen und Konzepte, deren offizielle Beschreibung in krassem Gegensatz zu ihrem realen Funktionsmechanismus stand und die insofern in den Transferländern etwas ganz anderes bedeuten konnte;
4. im Zeitverlauf wechselnde Formen der Politikgestaltung, die von der einseitigen Bevormundung, dem Handeln auf spezifische sowjetische Anweisungen und Vorgaben bis hin zur gemeinsamen Suche und Ausformung der Politik reichen konnten;
5. die Sowjetisierung kultureller Praktiken, wobei sich durch das Leben und die Gewöhnung an die systemspezifischen Bedingungen ähnliche Verhaltensweisen und Einstellungen bei der Bevölkerung ausprägten.